Sophie Wörishöffer Robert der Schiffsjunge Zu Hause Zu Hause In dem holsteinischen Städtchen Pinneberg, das damals noch ein Flecken war, stand vor ungefähr hundert Jahren am Ufer der Pinnau das Häuschen des alten Schneidermeisters Kroll. Ein Gemüsegarten reichte vom Hof bis zum Wasser herab, und mehrere baufällige Scheunen beherbergten unter ihren moosbewachsenen Ziegeldächern allerlei Tiere, die auf dem Lande die meisten Leute selbst halten und schlachten: Schweine, Hühner und Tauben; außerdem aber auch noch eine Kuh und zwei Ziegen. Daneben gab es einen Holzstall, eine Geschirrkammer und einen kleinen ausgemauerten Raum, den etwa zehn bis zwölf Kaninchen bewohnten. Sie gehörten Robert, dem fünfzehnjährigen Sohn des Meisters, der als Oberaufseher über alle Bewohner des Hofes von seinem Vater angestellt worden war, obgleich er dies Amt nicht immer zur Zufriedenheit des Alten verwaltete. Besonders an Sommerabenden brüllte, grunzte und piepste es in den Ställen jämmerlich durcheinander, bis der Meister mit der Brille auf der Nase herauskam und all die leeren Futtertröge sah. »Wo steckt nur wieder der Junge? Auf und davon, sobald die Feierabendglocke geschlagen hat, anstatt sich noch in Haus und Hof nützlich zu machen, noch einen Groschen extra zu verdienen oder wenigstens ein gutes Buch zu lesen. Der schwimmt irgendwo auf der Aue oder auf dem Mühlteich, und wenn es mir nicht gelingt, ihn zahm zu machen, so wird er ein Vagabund, ein Taugenichts.« Und kopfschüttelnd versorgte der Alte die Tiere, kopfschüttelnd nähte er wieder seine Flicken auf die schadhaften Kleidungsstücke der Ortsbewohner und überlegte zum hundertsten Male, womit er seinen einzigen Sohn zur Vernunft bringen sollte. Robert war ein so kluger Junge, konnte alles spielend vollenden, was andern die größte Mühe machte, aber er hatte »seinen eigenen Kopf«, wie der Vater seufzend dachte, und er verachtete heimlich das Schneiderhandwerk, zu dem er doch erzogen werden sollte. Ja, er verachtete es, er warf Schere und Bügeleisen in den Winkel, sobald es irgend möglich war, und lief lieber mit einem Loch im Ärmel herum, als es sich fein säuberlich zuzunähen. Meister Kroll ließ die Hand mit der Nähnadel in den Schoß sinken und schaute vom Tisch herab ganz trübsinnig auf die Straße hinaus. »Könnte es so schön haben«, murmelte er vor sich hin, »könnte so warm sitzen und will durchaus in die weite Welt laufen, um sich erst einmal mürbe machen zu lassen und auszuprobieren, wie fremder Leute Brot schmeckt. Soll aber nichts daraus werden, so wahr ich Hans Fürchtegott Kroll heiße. Den einen Jungen besitze ich nur, das Häuschen ist schuldenfreies Eigentum und die Kundschaft nährt ihren Mann, also was will der Robert weiter? Sag, Mutter, was meinst du dazu?« Die alte Frau fuhr mit der Schürze über die Augen. »Es nützt ja nichts, Vater, du kannst ihn nur halten, bis er ausgelernt hat, dann geht er zur See.« Der Alte nickte vor sich hin. »Hat dir's wohl schon alles anvertraut, nicht wahr?« brummte er, »aber daraus wird nichts.« Die Mutter schwieg, um ihren Mann nicht noch mehr aufzubringen und dadurch dem Jungen zu schaden. Sie machte Robert vielmehr, wenn er spät nach Hause kam, allerlei heimliche Zeichen, daß er nur ganz still ins Bett schlüpfen und sich gar nichts merken lassen solle. »Der Junge muß sich doch am Abend ein bißchen austoben«, dachte sie. »Er ist ja noch ein Kind, das vergißt der Alte.« Sie nahm sich auch, wenn es irgend möglich war, der Tiere an und verschwieg es dem Vater, wenn Robert heimlich fortgelaufen war. »Er mag nun einmal nicht sitzen«, überredete sie sich, »und den einzigen Jungen habe ich nur. Warum soll er immer arbeiten, als wären wir arme Leute, die das Brot trocken essen müssen? Laß ihn nur laufen.« Die Folgen dieser falschen Erziehung zeigten sich aber bald. Der Vater schlug den Jungen mehr als er verdiente, die Mutter dagegen half ihm immer wieder, sich durch kleine Lügen diesen Bestrafungen zu entziehen, und Robert selbst wurde immer trotziger und ungehorsamer. »Ich will kein Schneider werden«, erklärte er eines Tages dem Alten rund heraus, »ich habe dazu keine Lust. Das Seemannshandwerk ist auch ein ehrliches Gewerbe, nicht schlechter als sonst eins. Ich möchte mehr von der Welt sehen als nur das kleine Pinneberg.« Der Meister schüttelte den Kopf. »Ist alles dummes Zeug«, antwortete er. »Sollst in die Kundschaft hereinwachsen, dies Häuschen übernehmen und eines Tages hier begraben werden, wie schon mein Großvater selig und mein Vater hier begraben worden sind. Sie waren Schneider vom Vater auf den Sohn, und du wirst es auch, verstanden?« Robert weinte bitterlich. »Ich sehe es aber gar nicht ein!« schluchzte er. »Ich desto besser. ›Bleibe im Lande und nähre dich redlich!‹ heißt der alte Spruch. Wer's nicht getan hat, der mußte es bitter zu seinem Schaden erfahren.« Robert hob plötzlich den Kopf. »Wenn aber jeder in seinem Lande geblieben wäre, dann sähe doch die Welt ganz anders aus!« rief er. »Christoph Kolumbus und –« »Ach laß doch die greulichen Heiden. Es hilft dir alles nichts, die Krolls sind von jeher Schneider gewesen, und du wirst auch einer. Da, diese Naht nähst du mir mit einem sauberen Steppstich. Finde ich einen Fehler daran, so schmeckst du den Stock, und nun den Mund gehalten, wenn ich bitten darf. Lehrjungen plappern nicht während der Arbeitsstunden.« Robert mußte sich fügen, aber das Verlangen nach Erlösung aus diesen Verhältnissen wurde immer stärker. Hier bleiben fürs ganze Leben, nie etwas anderes sehen als den engen Hof und die enge Straße, das war schrecklich. Der Vater erlaubte gar kein Vergnügen und keine Erholung, er durfte nicht ein einziges Mal mit der Eisenbahn nach Hamburg fahren oder mit anderen Jungen eine Wanderung machen. »Das alles kostet Geld und Zeit«, war die Antwort, die er seinem Sohn gab. »Was willst du in Hamburg? Da stehen Häuser und laufen Menschen wie hier. Das Geld wäre ganz umsonst ausgegeben.« Robert senkte mutlos den Kopf. »Und die Schiffe und die Elbe?« fragte er kleinlaut. »Das ist doch sehenswert.« Der Alte wich und wankte nicht. »War mir allezeit ein Greuel, das Matrosenleben«, antwortete er. »Die Kerle fluchen und trinken und sind Verschwender; hat so einer seine Heuer empfangen, dann geht es darauf los, als könnte die Geschichte gar kein Ende nehmen. In die Sparkasse wandert kein Pfennig.« So endete jeder Versuch, etwas mehr Freiheit zu erringen, und Robert wurde endlich ganz stumm und sprach nicht mehr mit seinem Vater. Um diese Zeit machte er eine Bekanntschaft, die für seine ganze Zukunft von Bedeutung werden sollte. Der Seilermeister, dessen Bahn an den Krollschen Garten stieß, hatte einen neuen Gesellen genommen, und Georg, so hieß er, suchte sehr bald die Freundschaft des Schneiderlehrlings. Nur wenige Jahre älter als Robert, hatte er von der Welt schon ein gutes Stück gesehen, war als Schiffsjunge in fremden Ländern gewesen und kannte das Seemannsleben genau. Kein Wunder also, daß sich Robert mit ihm befreundete. Zuerst sprachen die beiden nur über den Zaun hinweg, dann aber schlüpfte Georg hindurch, und auf dem Heuboden entspann sich die lebhafteste Unterhaltung. Robert hörte auf das, was ihm der Seiler erzählte, wie auf eine Verkündigung. Endlich hatte er gefunden, was er suchte, endlich durfte er alle diese Dinge kennenlernen, nach denen er sich sehnte. Selbst an die Bootsfahrten auf dem Mühlteich dachte er nicht mehr, sondern verbrachte jede freie Stunde neben dem neuen Kameraden auf dem Heuboden oder im Holzstall. Georg mußte fortwährend erzählen. Der schlaue Bursche wußte sehr bald seinen Vorteil wahrzunehmen. »Willst du eine Zigarre?« fragte er einmal, »oder ist dir eine Pfeife lieber?« Robert errötete. »Ich – ich habe noch nie geraucht!« stammelte er. »Was? Nicht geraucht?« lachte der andere. »Darfst wohl nicht, kleiner Junge, was? Gibt dir der Alte noch Schläge?« Robert sah zur Seite. »Oh nein. Und das Rauchen verbietet der Vater auch nicht, ich – habe schon manche Zigarre verdampft, aber –« »Ha, ha, ha, und vor zwei Minuten sagtest du das Gegenteil, Bürschchen. Dich haben sie aber schön in der Zucht.« »Gib her!« rief Robert, gereizt durch den Spott des anderen. »Gib her! Auch wenn es mein Vater verbietet, würde ich mich nicht daran kehren.« »Das meine ich aber auch. Wie alt bist du eigentlich, Junge?« »Bald sechzehn«, entgegnete Robert. »Du brauchst mich übrigens gar nicht ›Junge‹ zu nennen, Georg. Ich bin fast so alt, wie du selbst.« Der Seiler lächelte überlegen. »Wirst ja noch wie ein kleines Kind behandelt, mein Bester«, sagte er, »daher kommt es wohl. Ich glaube, du mußt um Erlaubnis fragen, wenn du niesen willst. Na, da war ich ein anderer Kerl!« »So?« fragte Robert, mannhaft gegen den Tabakrauch kämpfend, »und wie fingst du die Geschichte an? Warst du da schon Schiffsjunge?« »Natürlich. Ach, das ist ein herrliches Leben, sage ich dir. Es geht nichts über die See. Sollte ich so wie du auf dem Tisch sitzen und immer mit der Nadel in die Lappen hineinbohren, das wäre mir was rechtes. Weiberarbeit und weiter nichts, – ich danke!« Robert hatte große Lust zu weinen. Die Beschäftigung, die ihm von seinem Vater aufgedrängt wurde, erschien ihm in diesem Augenblick wie eine Art Schande. »Ja, du hast gut reden«, seufzte er. »Aber was soll ich machen? Mein Alter läßt mich nicht los, sooft ich ihn auch bitte.« Er verbiß das Unwohlsein, das ihm die Zigarre verursachte. Um keinen Preis hätte Robert dem anderen eingestanden, daß ihn dies männliche Vergnügen jämmerlich über den Haufen zu werfen drohte. »Warum verspottest du mich immer?« fragte er. »Erzähle mir lieber von deinen Reisen.« Der Seiler gähnte. »Die Kehle wird einem trocken dabei«, antwortete er. »Hat dein Alter nirgends einen Schluck hinter seinen Flicken und Lappen verborgen?« »Branntwein?« fragte Robert, »den trinkt er nie.« »Welch ein Muster von einem Mann.« Robert erhob sich, etwas schwankend, aus dem Heu. »Bier haben wir«, sagte er. »Ich will dir eine Flasche holen.« »Du!« rief ihm Georg nach, »bring auch einen Bissen Brot mit und ein Stück Speck oder dergleichen. Deine Alte hat ja natürlich die Speisekammer voll.« Robert winkte ihm. »Pst, – laß es doch niemand hören.« Dann aber schlich er fort und gelangte durch eine zerbrochene Scheibe in den kleinen Vorratskeller. Sein Herz klopfte zum Zerspringen, als er eine Bierflasche und ein tüchtiges Stück Schinken an sich nahm. Das war gestohlen, sein Gewissen sagte es ihm laut genug. Jeden Augenblick glaubte er den schlürfenden Schritt des Vaters zu hören. Und nannte nicht dort jemand seinen Namen – »Robert!« Er horchte; aber alles blieb still. Leise wie ein Dieb kroch Robert wieder durch das Fenster in den Hof hinauf und brachte seinem Freund das Verlangte. »Da, nun iß«, sagte er, »und dann erzähle. Warum bist du überhaupt für immer an Land gegangen?« Der Seiler setzte die Flasche erst wieder auf den Fußboden, als sich kein Tropfen mehr darin befand. »Warum?« wiederholte er. »Hm, ich habe einmal das Bein gebrochen, – bin aus dem Mast gefallen und kann daher nicht mehr klettern.« »Aus dem Mast gefallen?« wiederholte Robert. »Binden sich denn die Seeleute nicht fest da oben?« Der Seiler wollte sich ausschütten vor Lachen. »Festbinden!« rief er, »das ist köstlich. Nein, du, sie machen sich's noch bequemer, will ich dir sagen. Die Mutter muß mit an Bord und an Deck die Schürze ausbreiten, dahinein fällt der Junge, wenn er das Gleichgewicht verliert.« Robert errötete. Das und so vieles andere waren Anspielungen auf seine abhängige Lage und auf den strengen Gehorsam, den der Vater von ihm forderte. »Du bist glücklich«, sagte er, »kannst tun und lassen, was du willst. Aber ich muß Schneider werden, weil mein Vater durchaus will. Wenn er nur erfährt, daß ich einmal auf dem Mühlenteich gefahren bin, so gibt es schon –« »Ohrfeigen!« ergänzte gleichmütig der andere. »Kann ich mir genau denken. Aber warum fährst du nicht in der Nacht? Eben jetzt haben wir die günstigste Jahreszeit dazu. Wahrhaftig, ich möchte einmal an des Müllers Segelboot meine Kunst wieder üben.« Roberts Herz klopfte. Wie mutig war Georg, wie leicht schien das alles, wenn man ihn so sprechen hörte. An das Segelboot des reichen Müllers hatte er selbst noch nicht einmal zu denken gewagt. Das lag ja mit einer Kette und einem Schloß fest an dem zierlichen, über das Wasser hinausgebauten Gartenhaus, es war das Eigentum fremder Leute, wie konnte man also davon sprechen, als dürfte es der erste beste zu seinem Vergnügen besteigen? »Ja«, sagte er ganz verwirrt, »aber das ist nicht erlaubt!« »Ach, dummes Zeug. Was schadet es den Planken, wenn wir einmal darauf herumtrampeln? Du glaubst gar nicht, wie angenehm es ist, bei stillem Wetter im Boot zu liegen und sich von den Wellen schaukeln zu lassen.« »Das weiß ich!« rief mit glänzenden Augen der Junge. »Oh, es ist ein Vergnügen wie kein anderes. Den Kahn des Holzhändlers darf ich benutzen, weil ich den Leuten manchmal einen Gefallen tue, und dann fahre ich oft nach Feierabend quer über den Teich. Der Vater darf es aber nicht wissen.« Georg kaute noch an dem mitgebrachten Schinken. »Der platte, schwerfällige Kahn«, sagte er verächtlich, »der Klotz, an dem man sich die Arme lahm rudern muß. Nein, mein Junge, was erst große Anstrengung kostet, das ist kein Vergnügen mehr. Ein Segelboot fliegt wie eine Möwe über das Wasser, aber dein Kahn ist ja wie ein Schubkarren. Versuch erst einmal den Unterschied.« Robert war bereits halb besiegt. »Meinst du, daß es ginge?« fragte er. »Ich glaube, das Boot ist angeschlossen.« »Nun, dafür hat man krumme Nägel. Wir wollen ja nicht stehlen.« »Wie komme ich nur aus dem Hause, daß es die Eltern nicht merken?« murmelte Robert. »Den Schlüssel darf ich auf keinen Fall nehmen.« »Ist ja auch gar nicht nötig. Die Hoftür hat doch einen Riegel, und den zieht man leise zurück, das ist das Ganze. Die Alten schnarchen ruhig weiter.« »Ja«, rief Robert, »aber dann stände das Haus offen!« »Nun, und was schadet das weiter? Schätze werden in dem alten Kasten nicht verborgen sein, denke ich.« Robert lächelte. »Schätze wohl nicht, aber ein paar hundert Taler hat der Alte doch im Schrank. Er bringt es immer erst zur Sparkasse, wenn das Tausend voll ist, so alle zwei oder drei Jahre.« Georg hatte aufmerksam zugehört. »Sieh an,« rief er, »also ein Krösus im kleinen. Ja, die Schneider sind kluge Leute und sparsam dazu.« Robert seufzte. »Die Schneider sind doch überall verachtet«, sagte er. »Ich mag keiner werden, und wenn es auch noch so viel Geld abwirft.« Georg nickte. »Wäre auch schade um einen so frischen, kräftigen Jungen wie du bist«, meinte er. »Gott, wenn ich mir dich als Leichtmatrosen vorstelle, – du könntest es in ein paar Jahren zum Kapitän bringen. Und ein Kapitän ist ein König im kleinen.« Robert fuhr mit der Rückseite der Hand über die Augen. »Es hilft mir ja doch nichts«, stammelte er. »Ich darf nicht fort.« »Ach, Unsinn. Komm nur erst einmal mit mir auf den Mühlenteich hinaus, dann wird dir der Mut schon wachsen. Wie wäre es, wenn wir morgen die Geschichte versuchten? Du legst dich um neun Uhr in deine Koje und schnarchst wie ein Bär, bis du merkst, daß die Alten von ihren Sparkassenbüchern träumen, dann schlüpfst du zur Hoftür hinaus.« Robert fühlte, wie ihn die Versuchung ergriff. Was wäre es denn auch weiter? Die Söhne des Müllers durften nach getaner Arbeit im Boot fahren, soviel sie wollten, er hatte es oft gesehen und auch dem Vater vorgehalten; dann schüttelte der Alte ärgerlich den Kopf. »Der Müller ist ein reicher Mann«, antwortete er, »da kann er es schon treiben, wie es ihm gefällt. Du aber bist armer Leute Kind und mußt Pfennig auf Pfennig legen. Ich hab's auch so gemacht.« Es war dem Jungen, als höre er die warnende Stimme des alten Vaters, aber doch konnte er nicht widerstehen. »Ich komme, Georg«, flüsterte er, unwillkürlich leise sprechend, als fürchte er sich vor dem Verbotenen. »Wo treffen wir uns?« »Hm, ich denke am Mühlenteich – und bring mir von dem Schinken ein tüchtiges Stück mit. Deine würdige Frau Mutter hat dies verstorbene Borstenvieh außerordentlich schmackhaft zubereitet.« Robert versprach es, und dann trennten sich die beiden Genossen. Während der Seiler zufrieden lächelnd seine Dachkammer aufsuchte, stahl sich Robert, an allen Gliedern wie gelähmt, mit brennender Zunge und schwerem Kopf zunächst wieder in den Vorratskeller hinunter, um dort die leere Flasche an ihren Platz zu stellen, und dann ging er schleunigst zu Bett. So unwohl hatte er sich noch nie im Leben gefühlt. Am folgenden Morgen sah er ganz blaß aus. Er mochte kaum essen, aber er arbeitete den Tag über mit besonderem Fleiß, um nur keinen Verdacht auf sich zu lenken, und ging früh wieder zu Bett. O wie lang wurde dieser Abend! Der Vater hatte noch spät eine fertige Arbeit ausgetragen, und die Mutter knetete das Brot, wer weiß wie lange. Es schien dem ungeduldigen Robert, als sei ein Jahr vergangen, seit er sich in die Federn legte. Zehnmal war er im Begriff wieder aufzustehen, aber immer hinderte ihn die Furcht, sich dadurch verdächtig zu machen. Sein böses Gewissen ließ ihn vor jedem Geräusch erzittern. Aber alles nimmt ein Ende, auch der längste Abend. Endlich war der Teig fertig und der Vater wieder nach Hause gekommen, endlich das Licht ausgelöscht und die Eltern zur Ruhe gegangen. Robert konnte geräuschlos aus dem Bett und in die Kleider schlüpfen. Seine Stiefel behielt er in der Hand. Nur noch rasch wieder in den Keller – heute schon viel gleichgültiger als gestern, – dann zog er den Riegel von der Hoftür. Noch einmal sah er sich ängstlich um. Sollte er wirklich die ahnungslosen Eltern hintergehen, ihr Hab und Gut preisgeben, ihr Verbot übertreten? – Noch auf der Schwelle zögerte er. »Kein guter Sohn tut das!« flüsterte die Stimme des Gewissens. Ja, aber wie wird Georg lachen, wie wird er mich morgen verspotten, dachte er. Ich höre es schon, daß er sich lustig macht. »Bist kein Kerl, du kleiner Schneider, hast keinen Mut. Geh und laß dir von den Alten die Lehren der Weisheit und Tugend vorpredigen, bis du ganz dumm geworden bist. Die Schafsköpfe leben am längsten.« Er murmelte eine Entschuldigung, als stände Georg mit seinem mageren, blassen Gesicht und dem höhnischen Blick im Mondlicht unmittelbar vor ihm. Nein, so feige und unzuverlässig konnte er sich nicht zeigen. Hingehen mußte er. Mit drei Sätzen war die Hecke des Nachbargartens überklettert, und nun ging's in eiligem Lauf weiter. Der schlurfende Schritt des einzigen alten Nachtwächters, sein Stolpern über das schlechte, unebene Pflaster waren schon von weitem zu hören, – er konnte einer Begegnung leicht ausweichen. In weniger als einer Viertelstunde hatte er die Gruppe hoher alter Linden erreicht, in deren Schatten sich der Eingang zum Garten des Müllers befand. Georg trat ihm plötzlich von der Seite entgegen, so daß er erschrak. »Ach, – du bist's«, flüsterte er. »Ich dachte schon der Müller –« »Lag hier auf der Lauer, um uns zu fangen, nicht wahr?« lachte der Seiler. »Na, komm nur; im Garten ist niemand, ich habe es schon ausgekundschaftet.« Die beiden durchschritten den langen Kiesgang und kamen an ein kleines chinesisches Gartenhaus, dessen Tür verschlossen war. Robert wandte sich bedauernd zu seinem Gefährten. »Was nun?« fragte er. Der Seiler suchte in allen Taschen. »Wirst gleich sehen«, sagte er. »So mußt du die Sache anfassen! – Das ist keine Hexerei.« Er hatte ohne große Mühe das Schloß geöffnet, noch ehe Robert eine Einwendung machen konnte. Mit pochendem Herzen folgte er ihm in den kleinen offenen Raum, an dessen Treppe das Segelboot auf dem Wasser lag. Heller Mondschein überflutete den breiten Teich und seine hübschen, von grünen Wiesen umrahmten Ufer; weiße Schwäne zogen langsam vorüber. Georg wandte sich blinzelnd zu seinem jüngeren Gefährten. »Wie angenehm ist es doch, ein reicher Mann zu sein, nicht wahr, Robert?« fragte er. »Aber der Einfältige, der Schüchterne wird es nie im Leben. Sieh, wie oft hast du schon im stillen die Söhne des Müllers um ihr hübsches Segelboot beneidet, aber hingehen und es dir nehmen, das wagtest du nicht. Jetzt fahren wir und kehren uns nicht daran, wer das Ding bezahlt hat, – so macht es der Kluge überall.« »Aha, ein hübsches Fahrzeug«, fuhr er fort, »verteufelt nett. Alles so fein gemalt und sauber gehalten, man sollte meinen, daß es richtige Teerjacken wären, die es unter den Händen haben. Wahrhaftig, auch ein Flaschenkorb! Prosit, Müller!« Er trank ein paar Schluck von dem Branntwein, den er fand, und öffnete dann das Schloß des kleinen Bootes, alles mit einer Sicherheit, als sei er der rechtmäßige Eigentümer dieser Dinge. Robert folgte ihm, der Seiler setzte das Segel, und dann stießen sie ab. Er schien so recht in seinem Element zu sein; das Vergnügen lachte ihn aus den Augen. »Paß auf, Landratte«, rief er, »so bedient man ein Boot.« Robert horchte fast andächtig. Sein Herz hüpfte vor Freude. Unter sich den blauen Spiegel des Teiches und über sich das weiße, bauschende Segel, – er glaubte, daß es auf der Welt kein größeres Vergnügen geben könne. Vergessen war der Ungehorsam, das Unrecht, fremder Leute Schlösser gewaltsam geöffnet zu haben, und die Gefahr einer etwaigen Entdeckung. Robert empfand nur die Seligkeit, in einem wirklichen Schiff, wie er es nannte, fahren zu dürfen. Langsam glitt das Boot über die Wellen dahin. »Du bist ja ganz stumm geworden«, lachte der Seiler. »Hast am Ende noch nie die Planken eines Schiffes betreten?« »Ach«, seufzte Robert, »nie eins gesehen sogar.« »Unmöglich! Du bist doch gewiß oft in Hamburg gewesen?« »Noch nie. Vater gibt keinen Pfennig unnötig aus.« Georg zog verächtlich die Schultern empor. »Dein Alter ist ein Narr«, sagte er, »aber du bist ein dreifacher. Paß nur auf, die Gelegenheit zu einem Abstecher nach Hamburg soll sehr bald kommen. – Hast du etwas zu leben mitgebracht?« Robert reichte dem Freund das Bier und den Schinken. »Sind alle Boote so eingerichtet wie dieses?« fragte er. »Ach, das Segeln ist doch ganz etwas anderes als das Rudern.« »Habe ich dir's nicht gleich gesagt, Däumling? Aber das Ei will immer klüger sein als die Henne. Was wirst du erst für Augen machen, wenn wir einmal auf einem Dampfer sind.« »Wie sind die eingerichtet?« fragte der Junge wißbegierig. Georg lachte laut. »Wie tief ist das Meer bei Grönland? Ebensogut könnte ich das auf Stecknadelbreite angeben wie ohne weiteres beantworten, wie Dampfschiffe gebaut sind. Sehr verschieden, das ist erst einmal alles, was du zu wissen brauchst.« Der Seiler zog aus der Brusttasche seiner Jacke eine kleine Flasche hervor und tat einen tüchtigen Zug. Dann reichte er Robert den Rest. »Trink aus, mein Junge«, sagte er. Der hielt verlegen das Fläschchen in der Hand. »Branntwein?« fragte er. »Natürlich, es ist kein Gift. Hast wohl noch nie ein paar Tropfen über die Zunge laufen lassen?« Robert umging die Antwort, indem er das Getränk eilends verschluckte. Es schmeckte ihm schlecht, aber er fühlte sehr bald eine angenehme Wirkung, so etwas wie ein Wachsen und Dehnen aller Kräfte, eine Unternehmungslust, wie er sie nie vorher in dem Maße gekannt hatte. »Ich möchte, daß das Amerika wäre oder Afrika«, sagte er, auf die bewaldeten Ufer deutend, »und daß dort Wilde hausten, die wir bekämpfen oder überlisten würden. Hast du wohl schon wirkliche Schwarze gesehen, Georg?« »Gesehen?« lachte der Seiler »Das ist nicht schlecht, wahrhaftig. Ich bin über ein Jahr lang als Heizer auf den Red-River-Dampfern gefahren, mit lauter Negern als Schiffsmannschaft.« Roberts Augen glänzten. »Habt ihr da Abenteuer erlebt, du?« »Mit den Schwarzen? Das sind urgemütliche Kerle, sage ich dir. Wenn ihre Arbeit getan ist, so balgen sie sich wie die Kinder und stoßen mit den eisenharten Köpfen zum Spaß wie die Ziegenböcke gegeneinander. Einmal, als bei einer großen Überschwemmung alle Holzlager weggespült waren und auch in den durchnäßten Wäldern kein brauchbares Feuerungsmaterial aufgetrieben werden konnte, nahmen wir zum Ersatz die Staketpfähle der Farmen, und unsere Neger mußten, sooft der Vorrat zur Neige ging, an Land, um wieder Nachschub herbeizuschaffen. Das war überaus komisch. Stell dir vor, daß unser harmloses kleines Gehölz der Urwald wäre, mit breiten, himmelhohen Stämmen, von Unterholz und Schlingpflanzen in eine grüne, unentwirrbare Wildnis verwandelt und von unzähligen Tieren bevölkert. Affen und Papageien in den Wipfeln, ein brauner Bär mit seiner Familie am Ufer oder ein schwerfälliger Alligator, der, so schnell es ihm seine kurzen, unbehilflichen Beine erlauben, die Flucht ergreift; dazu alle Arten von kleineren Tieren, alle möglichen Stimmen, alle erdenklichen Geräusche. Jeden Abend entzündeten wir riesige Feuer, um das Gesindel aus unserer Nähe zu vertreiben, und dann mußten die Neger in das Wasser hinein, an einzelnen Stellen sogar bis unter die Arme. Sie jauchzten dabei vor Vergnügen und trugen auf ihren Schultern größere Lasten, als sie ein Weißer auf ebener Erde fortbringen könnte.« Robert legte den Arm über die Augen. Er weinte. »Erzähle mir lieber gar nichts mehr, Georg«, schluchzte er. »Solche Abenteuer möchte ich erleben, die ganze weite Welt sehen, wilde Tiere und wilde Menschen, – aber ich soll ja Schneider werden. Am liebsten möchte ich sterben, Georg.« Der Seiler pfiff spöttisch durch die Zähne. »Du bist ein Narr, dir den Tod herbeizuwünschen. Halte dich doch lieber an das Leben und erobere es mit Gewalt, wenn andere es dir mit Gewalt aus den Händen reißen wollen. In Hamburg gibt es Kapitäne genug, die einen solchen Jungen, wie du bist, an Bord nehmen, ohne viel nach Papieren oder der Erlaubnis des Herrn Vaters zu fragen. Weil sich so ein alter Schneidermeister in den Kopf gesetzt hat, daß sein Sohn unbedingt auch mit gekreuzten Beinen auf dem Tisch sitzen und allerlei Flicken zusammenstoppeln soll, darum ist die Welt noch nirgends mit Brettern vernagelt. Laß mich nur machen.« Robert fühlte wohl, daß es nicht recht war, Reden mit anzuhören, die seinen Vater beleidigten. Georg hatte ja recht, der Vater mißhandelte sein eigenes Kind. »Es sind schon viele Jungen auf- und davongegangen, weil es ihnen in der Heimat nicht mehr gefiel«, fuhr der Seiler fort. »Ich selbst hab's ja so gemacht!« Robert fuhr auf. »Du?« fragte er ganz erstaunt. »Natürlich, ich und kein anderer. Meine Mutter war eine Milchhändlerin, die mich an jedem Morgen vor ihren Wagen spannte, bis es mir nicht mehr gefiel. Da ging ich durch die Lappen, – wer wollte mir das verdenken? Zum Hund fühlte ich mich nicht geschaffen.« Robert saß da mit heißer Stirn und unruhigen Gedanken. Seine Augen gingen sehnsüchtig über das Wasser und den dunklen Wald. »Laß uns umkehren, Georg«, seufzte er, »und am linken Ufer entlangfahren. Da liegen die kleinen Inseln, auf denen wir als Schuljungen oft Krieg spielten und denen wir Namen gaben. Ich war immer der König.« Georg musterte die Umgebung. »Vor allen Dingen müssen sich Eure Majestät die Landratten-Bezeichnungen abgewöhnen«, antwortete er. »Vom Umkehren weiß der Seemann nichts, und mit einem Segelboot so ohne weiteres einen andern Kurs einschlagen, das kann er auch nicht. Die verschiedenen Arten der Fortbewegung nennt man erstens, wie wir es bisher taten, ›vor dem Wind segeln‹, wenn er von hinten, zweitens ›bei dem Wind‹, wenn er von der Seite weht, ›mit halbem Wind‹ oder ›backstags‹, wenn er halb von hinten, halb von der Seite kommt, und ›kreuzen‹ oder ›lavieren‹, wenn er entgegenweht. Dabei kann man sein Ziel natürlich auf geradem Wege nicht erreichen, sondern segelt in stumpfem oder mindestens doch rechtem Winkel von einem Ufer zum andern. Was du eben in richtiger Fuhrmannssprache ›umkehren‹ genannt hast, heißt ›über Stag gehen‹, das Kommando lautet: ›Klar zum Wenden!‹ und dann, wenn alle Schooten bedient sind: ›Wenden!‹« Er hatte während dieser Auseinandersetzung die erforderlichen Handgriffe ausgeführt, und Robert verfolgte mit fast zärtlichen Blicken jede Bewegung seines Freundes. »Georg«, rief er, »jetzt fahren wir ›beim Wind‹, nicht wahr?« »All right, Sir«, lachte der Seiler. »Wahrhaftig, du bist zum Seemann geboren. Gib doch noch einmal die Flasche da aus dem Kasten herüber. Der Müller wird ja nicht arm werden, wenn ich mit seinem Kognak auf dein Wohl trinke.« Robert gehorchte widerstrebend, nur um in seines Freundes Augen als ein ganzer Mann dazustehen. Georg machte sich ja aus solchen Kleinigkeiten nichts, also durfte er nicht weniger mutig erscheinen. Der Seiler hielt die Flasche gegen das Licht. »Wird gar nicht bemerkt«, sagte er, »und darauf kommt im Leben alles an.« Robert verbarg aufatmend die Flasche. Obwohl niemand dabei war, so schien es ihm doch, als sähen tausend Augen den Diebstahl. – Jetzt hatte das Boot den eigentlichen Mühlenteich wieder erreicht, und Georg hielt sich links, wo verschiedene kleine Inseln wie grüne Punkte im ruhigen Wasser lagen. Durch alle diese einzelnen Arme des Teiches kreuzte das kleine, wendige Fahrzeug, während der Seiler von seinen Reisen erzählte und den lauschenden Jungen so gut zu fesseln wußte, daß er tief seufzte, als der Garten des Müllers wieder erreicht war. »Du fährst noch manches Mal mit mir, nicht wahr, Georg?« fragte er. »Sooft du willst, mein Junge. Aber für heute müssen wir es genug sein lassen, glaube ich. Mitternacht ist vorüber, und bald wird es heller Tag werden.« Die beiden brachten nun das Segel wieder in seine vorige Lage, schlossen das Boot an den Eisenring der Treppe und versperrten auch die vordere Tür. Dann schlichen sie durch den Garten auf die Straße hinaus. »Geh du allein«, flüsterte Georg, »und ich auch. Wenn dann einer gesehen wird, so ist doch wenigstens der andere nicht entdeckt. Gute Nacht!« »Gute Nacht!« gab Robert zurück. »Und vielen Dank, Georg.« »Hat nichts zu sagen«, lachte der. »Aber du, wenn einmal deine Alte ein bißchen zu essen im Küchenschrank hat, dann denk an mich. Etwas Warmes bekomme ich nie.« Robert stand vor Erstaunen still. »Nie ein Mittagessen?« wiederholte er. »Aber du verdienst doch wöchentlich dein bestimmtes Geld.« Georg zuckte die Achseln. »Fürs Verhungern zu viel und fürs Sattessen zu wenig«, antwortete er. »Ich bin ja noch ein Anfänger in diesem Handwerk, mußt du wissen. Es kommt alles durch den gebrochenen Fuß, sonst wäre ich längst Steuermann.« »Du Armer!« rief der Junge gerührt. »Ich will für dich tun, was ich kann und werde dir auch in Zukunft deine Kleider flicken. Der Schneider soll doch zu etwas gut sein.« »Es tranken ihrer neunzig, ja neunmal neunundneunzig aus einem Fingerhut!« – summte Georg spöttisch, und dann winkte er im Halbdunkel der Linden noch einen lachenden Abschiedsgruß. Robert war jetzt allein. Schnell die Flaschen ergriffen, einen letzten Blick zum Teich hinüber, eine Rundschau, ob auch alles ganz ruhig sei, und dann Fersengeld gegeben. Husch, husch, über den Bahnkörper, vorbei am hohen, alten Gefängnis, durch die Straße, an deren Ende erst der Nachtwächter daherklapperte, und dann in den Garten gekrochen. Nichts regte sich. Jetzt stand er auf dem Hofplatz seines elterlichen Hauses und probierte die Tür, – sie war offen. Pikas, der Spitz, kroch ihm wedelnd entgegen, alles atmete so tiefen Frieden, war so ganz ungestört, ganz wie immer, daß es dem Jungen mit jeder Minute leichter ums Herz wurde. Er warf Stiefel, Mütze und Jacke von sich, dann schlich er an die angelehnte Tür zur Schlafkammer seiner Eltern und sah hinein. Die beiden alten Leute schliefen fest. Robert lächelte, als er jetzt den Riegel der Hoftür vorlegte. Welche unnötigen Sorgen hatte er sich gemacht. Georg verspottete ihn wirklich nicht mit Unrecht, das begriff er erst in diesem Augenblick und beschloß, daß das nicht mehr so bleiben dürfe. »Ich will kein Stubenhocker werden, wie Georg sagt, keiner, der Branntwein und Zigarren nur dem Namen nach kennt. Andere Lehrjungen haben auch ihre freien Stunden; ich nehme also nur, was mir als mein gutes Recht zusteht.« Er schlüpfte in sein Bett und träumte in verworrenem Durcheinander von Segeln und Booten, von erbrochenen Schlössern und leeren Flaschen. Am Morgen hatte er zwar ein Gefühl, als müßte das Geheimnis der Nacht auf seiner Stirn zu lesen sein, aber das verzog sich auch bald wieder. Gegen Mittag schaute Georg verstohlen durch die Lücke im Zaun. »Hast du etwas zu essen, Kleiner?« Robert schob hindurch, was er unbemerkt hatte beiseite bringen können, und so ging es auch an den folgenden Tagen. Er bestahl seine Mutter, um sich die Freundschaft des ehemaligen Matrosen zu erhalten und um mit ihm bei jedem günstigen Wetter zu segeln. Der Gedanke, daß das Boot dem Müller gehörte, daß die Benutzung Unrecht sei, war längst vergessen. Die beiden Kameraden sprachen nur noch darüber, wie man es einrichten könnte, hinter dem Rücken des alten Schneiders einen Abstecher nach Hamburg zu machen. Robert brannte vor Begierde, wirkliche Schiffe und Schiffswerften zu sehen. »Wenn ich nur Geld hätte!« seufzte er. Der Seiler schien diesen Ausruf erwartet zu haben. »Besitzt du keinen Spartopf, Kleiner?« fragte er. »Alle wohlerzogenen Kinder haben doch einen.« Dieser Ton reizte jedesmal den ganzen Trotz Roberts. Er wollte nicht wie ein kleines Kind behandelt werden. »Ich habe Geld«, antwortete er, »aber den Schlüssel zum Spartopf gibt mir der Vater nicht. Jeden Weihnachten wird der Inhalt auf die Sparkasse getragen und für mich angelegt.« Georg lachte. »Du bist ja ein reicher Mann. Weißt du aber, daß ich es von deinem Alten sonderbar finde, dir das Verfügungsrecht über dein Eigentum zu entziehen? Ich wenigstens ließe mir das nicht gefallen.« Robert errötete. »Aber was soll ich dabei tun?« fragte er kleinlaut. »Hm, Notwehr ist erlaubt. Hat er deine Sparbüchse, so halte du dich an seinen Geldkasten. Wo er steckt, das wirst du ja wissen.« Roberts Herz pochte schneller. »Natürlich weiß ich das«, antwortete er, »aber –« »Nun, und das kleine Instrument, das über eigensinnige Schlösser hinweghilft, kennst du ja. Hier ist es.« Robert wehrte mit erhobenen Händen ab. »Du«, stammelte er, »das kann ich doch nicht tun. Es ist Vaters Geld, und nähme ich es, so wäre es gestohlen.« Der Seiler steckte gelassen den Dietrich wieder in die Tasche. »Bleib bei deinen Ansichten, Kleiner«, sagte er, »ich habe nichts dagegen. Aber sag doch einmal, für wen spart und geizt denn eigentlich dein Alter? Wem wird einmal alles gehören, was er zusammenstichelt?« Robert machte bei dieser Frage seines Freundes ein sehr vergnügtes Gesicht. »Mir natürlich«, antwortete er. »Ich bin ja das einzige Kind meiner Eltern.« Georg nickte leicht. »Siehst du«, sagte er, »es ist alles dein rechtmäßiges Eigentum, aber du läßt dich willig knechten.« Und nachdem er achselzuckend das gesagt hatte, sprach er von etwas anderem. Er wußte, daß Robert an seiner empfindlichsten Stelle getroffen war. Wirklich vergingen auch nur wenige Tage, bis der Sohn des alten Schneiders auf allerlei Umwegen wieder zu dem Geldkasten seines Vaters zurückkehrte. »Hör mal, du, wäre es eine große Sünde, wenn ich es täte?« Der Seiler sah ihn mit dem unschuldigsten Gesicht an. »Was denn?« Robert wandte sich errötend ab. »Nun, du weißt doch, – mit dem Geld!« stammelte er. »Ach! – Das hatte ich längst vergessen. Du meintest ja, es sei ein Diebstahl, also tu's um Himmels willen nicht.« »Aber man kann doch davon sprechen«, rief Robert unwillig. »Du sagtest, es sei mein gutes Recht, aus dem Geldkasten des Vaters das herauszunehmen, was er mir vorenthält. Glaubst du das wirklich, Georg, oder hast du es nur so hingeworfen?« Der Seiler lächelte. »Komische Frage, – ob dein Eigentum dein Eigentum ist. Sechs oder acht Taler wirst du wohl im Spartopf haben, und über die mußt du allezeit frei verfügen können, denke ich. Ob es nun gerade dieselben Münzen sind oder andere, was macht das? Es handelt sich ja um den Wert, nicht um das Geldstück, und mehr als acht Taler brauchst du ja nicht aus dem Kasten zu nehmen.« Robert warf stolz den Kopf zurück. »Oho, du, – sechsundzwanzig habe ich bestimmt drin«, sagte er. »Ich bekomme immer das neue, blanke Geld, das sich hier und da findet, außerdem etwas zum Geburtstag, und wenn ich den Kunden das Zeug bringe, manchmal ein Trinkgeld. Das wandert alles in die Sparbüchse.« »Hahaha«, lachte der Seiler, »weshalb lieferst du denn die Trinkgelder an den Alten ab, du dummer Junge?« Robert stutzte. Er hatte immer angenommen, daß das so sein müsse, sich aber über das »Warum« nie Rechenschaft abgelegt. Jetzt, unter dem Einfluß Georgs, hielt er sein früheres kindliches Betragen für albern. »Du hast recht!« sagte er zögernd. »Ich glaube, daß es kein so großes Verbrechen wäre, aus dem Geldkasten einige Taler herauszunehmen. Aber wir brauchen ja nur wenig.« Der Seiler zog die Stirn in krause Falten. »Hm«, machte er, »wie man's nehmen will. Die Groschen fliegen nur so, kann ich dir sagen.« »So laß uns einen ganzen Taler nehmen!« rief ungestüm der Junge. »Einen? – Unter fünf ist nicht daran zu denken.« Robert erschrak, aber das Verlangen, die Elbe und wirkliche Schiffe zu sehen, ließ sich nicht mehr unterdrücken. »So nehme ich fünf«, entschied er nach kurzem Bedenken. »Aber wie fangen wir es denn überhaupt an, unbemerkt von hier fortzukommen?« »Das ist kinderleicht. Dein Vater fährt in ein paar Tagen zum Elmshorner Jahrmarkt, um dort seinen Bruder zu treffen, der mit Schusterwaren aus Oldenburg herüberkommt. Ist er erst einmal fort, so haben wir freie Hand. Deine Mutter verrät nichts.« Roberts Augen leuchteten. »Wie du dir alles ausdenken kannst«, rief er. »Das wäre mir gar nicht eingefallen.« »Weil du dir die strenge Herrschaft deines Alten so gutmütig gefallen läßt, Junge.« Robert wechselte schnell den Gegenstand des Gesprächs. »Du, wollen wir nach Hamburg fahren oder zu Fuß gehen?« fragte er. »Natürlich fahren. Zum Gehen hätte ich keine Stiefel. Ach, es ist ein jämmerliches Leben so auf dem Trocknen, wo man bald dies und bald das Kleidungsstück anschaffen muß, – mit leeren Händen natürlich. An Bord braucht der Seemann das blaue Wollzeug und etwas Wäsche, damit Schluß.« Robert sah mitleidig auf das blasse, kränkliche Gesicht seines Freundes und auf die zerfetzten Schuhe, die Georg trug. »Ob ich fünf Taler aus dem Kasten nehme oder acht«, dachte er, »das bleibt sich im Grunde ganz gleich. Zurückgeben werde ich dem Vater alles, und zwar von meinen Trinkgeldern. Georg hat ganz recht, ich bin früher ein dummer Junge gewesen.« Er sprach nicht weiter von der Sache, aber er beschloß, für seinen Freund ein Paar neue Stiefel zu kaufen, und fühlte sich in diesem Gedanken ganz glücklich. Georg war ja doch, wie er glaubte, der einzige Mensch, der es wirklich gut mit ihm meinte. »Du verrätst aber nichts!« bat er ihn, »darauf muß ich mich verlassen können.« »Ganz bestimmt!« nickte Georg, »obwohl die Geschichte gar nichts auf sich hat. Ich sollte nur an deiner Stelle sein, Himmel noch einmal, der Alte würde einiges lernen. Kein Meister darf seinen Lehrjungen schlagen, also auch deiner nicht!« Robert errötete. »Aber er ist ja mein Vater, Georg, nicht allein mein Meister!« »Das ist gleich. Du bist konfirmiert und in der Lehre, gerade so gut wie irgendein anderer. Er kann dich ja fortschicken, sich von dir lossagen, mehr verlangst du ja nicht, glaube ich.« Robert seufzte tief. »Ach, wenn er das tun wollte!« »Siehst du, Kleiner! Laß dir alle Gewissensbisse vergehen, sie sind wirklich unnötig. Nähe und stopfe mit wahrer Andacht, bis der Alte nach Elmshorn unter Segel geht, sei recht freundlich und gehorsam, damit er keinen Verdacht faßt, und wir werden einen angenehmen Tag verleben, das verspreche ich dir. Du sollst es nicht bereuen, ein paar Taler geopfert zu haben.« »Wann ist Elmshorner Markt?« fragte der Junge. »Nächsten Mittwoch. Ich weiß, daß dein Alter am Dienstag hinfährt und am Donnerstag zurückkommt, also haben wir den ganzen Mittwoch für uns.« »Noch vier Tage!« seufzte Robert. »Ach, wäre es erst so weit.« »Das kommt alles eins nach dem anderen«, tröstete Georg. »Bleib du nur recht fleißig, und laß uns lieber während der ganzen Zeit nicht mehr miteinander sprechen, nur wenn du mir mittags ein paar Bissen durch den Zaun schiebst. Dann fährt der Alte ab und hält das heilige Grab für wohl verwahrt, während wir fort sind. Gar zu gestrenge Herren werden betrogen, das ist der Welt Lauf.« Robert sah ein, daß sein Freund einen klugen Rat gegeben hatte, und obgleich es ihm sehr schwer wurde, hielt er sich doch bis zur Abreise ganz von dem Seiler fern und arbeitete auch tapfer drauf los, so daß ihn der Vater sogar lobte, was selten oder nie geschah. »Bist doch richtiges Schneiderblut!« murmelte er, mit innigem Vergnügen eine Naht betrachtend, die sein Sohn und Lehrjunge gerade vollendet hatte, »kannst es noch weit bringen in der Welt. Vielleicht erlebe ich ja, daß der Herr Branddirektor oder der Herr Bürgermeister bei dir ihre neuen Anzüge bestellen, und das wäre eine Auszeichnung, der die Krolls bis jetzt nicht für würdig befunden wurden. Vor allen Dingen laß dich nie verleiten, irgendeinem Verein beizutreten oder das neuerfundene Ding, die Nähmaschine, im Hause zu dulden. Solch moderner Firlefanz ist mir ein Greuel, hat auch nie zum Segen geführt, das weiß ich gewiß. Wie es mein Großvater und mein Vater gemacht haben, so mache ich es wieder, und damit basta.« Der brave alte Mann sah nicht, wie sein Sohn errötete, als er ihn lobte. Robert fühlte jedes Wort wie eine Beschämung, wie einen bitteren Vorwurf. Er war fast im Begriff, dem Vater um den Hals zu fallen, ihm alles zu gestehen und ihn zu bitten »Vergib mir!« – aber dann mußte er ja zugleich den Freund verraten und mußte den Ausflug nach Hamburg aufgeben! – Nein, nein, das konnte er nicht. Die weichere Regung, das letzte Mahnen seines guten Engels wurde gewaltsam erstickt, und der Alte traf alle Vorbereitungen zur Abreise, ohne zu ahnen, welche Pläne sein Sohn im Kopfe hatte. Er bestellte und ordnete alles, als ob er mindestens ein Jahr lang ausbleiben wollte. »Mutter, vergiß das nicht, Mutter, behalte, was ich sage, und Mutter, hier auf diesen Kasten gib acht, du weißt, was darin steckt!« so klang es den ganzen Tag. Der Vater verdarb sich selbst die Freude an der kleinen Reise, weil er alles von der schwersten Seite ansah. Robert hätte lachen mögen, als er den dicken Wintermantel und das ungeheure Paket sah, das der Alte für die bei den Tage im schönsten Oktoberwetter mit sich herumschleppte. Er dachte an die Spottlieder seines Freundes und errötete für seinen Vater. Nein, unmöglich konnte er das Leben so auffassen; er wollte frei sein und genießen, nicht nur immer vorsichtige Schritte gehen und einmal sterben, ohne je gelebt zu haben. Endlich war der Alte nach vielen Ermahnungen und dreimaligem Umkehren glücklich zum Bahnhof gekommen, und Robert sah mit erleichtertem Herzen dem Zug nach, wie er am Mühlenteich vorüber ins weite dampfte. Der Vater hatte daran keine Freude, weil er vielmehr seiner ganzen Natur nach die schwärzesten Bilder entwerfen und die schlimmsten Möglichkeiten als wahrscheinlich ansehen würde. Ob Mutter auch die Schweine gehörig versorgen, ob der Junge keinen Unfug machen, und ob das Haus nicht niederbrennen wird! Robert ging durch das Gehölz nach Hause. Mochte sich sein Vater mit Grillen plagen so viel er wollte, das konnte ihn selbst nicht hindern, sein Schicksal nach Belieben einzurichten. Er wußte, mit welcher Freude er morgen nach der anderen Seite davonfahren würde. Ach, hätte doch Georg zu Fuß gehen wollen, dann brauchte man nicht bis um halb neun Uhr zu warten, sondern konnte um fünf schon unterwegs sein. Aber das ließ sich nun nicht mehr ändern, und die Hauptsache mußte überhaupt erst getan werden, bevor der ganze Plan einen sichern Boden besaß. Noch steckte das Geld im wohlverschlossenen Kasten. Robert besah pochenden Herzens den kleinen Dietrich, den ihm Georg neulich ohne weitere Bemerkungen überreicht hatte. Ein Ruck, und jeder Widerstand war besiegt. »Mein ist alles«, dachte er, »ich nehme nur, was mir gehört.« Er wartete, bis die Mutter in den Stall hinausging, um die Kuh zu melken. Dann öffnete er mit schnellem Griff den altmodischen Eckschrank, der den Blechkasten mit Geld und Papieren enthielt. Jetzt nur noch der letzte Schritt – dann war die Reise gesichert. Er schlich zum Küchenfenster und blickte vorsichtig hinaus in den offenen Stall. Die Mutter begann erst ihre Arbeit, nachdem sie das Tier mit frischem Futter versorgt hatte; sie rückte gerade jetzt den kleinen, kreiselförmigen Bock zurecht. Warum sollte sie sich auch beeilen, wie hätte sie denken können, daß ihr einziges Kind im Begriff war, die Kasse des Vaters zu erbrechen! Da erschien plötzlich am Zaun das blasse Gesicht des Seilers. Georg winkte leicht mit der Rechten. Robert nickte errötend. Schnell entschlossen eilte er in das Wohnzimmer, öffnete den Kasten und griff hinein. Seine Sparbüchse stand auch darin – wie schwer fühlte sie sich an! – aber das war zu weitläufig, er hatte keine Zeit zu verlieren. »Ob ich diese Taler nehme oder die«, dachte er, »das ist ja gleich. Eins – zwei – drei –« Die Münzen klirrten in seiner zitternden Hand, er gab daher das Zählen auf und griff nur noch einmal hinein, dann schloß er den Kasten. Das Geraubte war schnell in der Tasche verborgen. Robert war nur bei halbem Bewußtsein; er handelte wie im Traum ohne viel zu überlegen. Pfeifend schlenderte er in den Hof, wo immer noch der Seiler am Zaun stand, und winkte hinüber. »Komm!« flüsterte er. Georg verschwand und erschien in der nächsten Minute an einer Lücke hinter dem Hühnerstall. »Schnell«, raunte Robert, ihm die gestohlenen Taler zusteckend, »da, bei mir könnte es gefunden werden.« Der Seiler versteckte mit der größten Geschwindigkeit, was ihm sein junger Freund reichte. »Wieviel ist es?« fragte er. »Das weiß ich nicht, aber genug wird es sein, auch zu einem Paar Stiefel für dich. Kauf dir welche und komm später wieder hierher.« Der Seiler nickte nur, dann verschwand er geräuschlos, während Robert sich am Hühnerstall zu schaffen machte. Als nach einiger Zeit die Mutter zu ihm kam, erschrak sie über sein blasses Gesicht. »Fehlt dir etwas?« war die bange Frage. Robert wußte kaum, was er antwortete. »Ich habe Kopfschmerzen«, sagte er. »Leg dich ins Bett, Kind«, ermahnte die besorgte Frau. »Der Vater läßt dich zuviel sitzen«, fuhr sie fort, »du hast nicht genug Bewegung.« Robert ergriff die gute Gelegenheit. »Das ist es ja gerade, Mutter«, schmeichelte er, »und darum fühle ich mich auch nicht mehr so wohl wie früher. Ach, wenn du mir einen rechten Gefallen tun wolltest – – –« Er zögerte absichtlich und sah nur mit seinen fieberhaft glänzenden Augen in das Gesicht der Mutter. »Aber du erlaubst es doch nicht«, fügte er hinzu. »Nun«, lächelte die alte Frau, »erst laß einmal hören, was du auf dem Herzen hast.« »Nur ganz wenig«, bat der Junge, »einen einzigen freien Tag, – morgen. Was mir der Vater zu tun hingelegt hat, das mache ich fertig, du kannst es mir glauben.« Die Alte schüttelte den Kopf. »Wieder den ganzen Tag auf dem Wasser liegen, nicht wahr? Das geht nicht, Junge. Was sollte ich dem Vater sagen, wenn ein Unglück geschieht?« »Ich denke nicht an den Mühlenteich«, rief Robert hastig. »Nur ein bißchen herumstreifen wollte ich, weiter nichts.« »Auch nicht mit dem Kahn des Holzhändlers fahren?« forschte die Mutter. »Ganz bestimmt nicht.« »Nun, dann lauf. Mußt aber abends zurück sein, das sage ich dir.« Wer war froher als Robert? Kaum ließ er sich Zeit, dem Seiler noch durch die Hecke ein paar Worte zuzuflüstern, dann ging es an die Vorbereitungen zur Reise. Die Stiefel blank gebürstet, den Konfirmationsanzug von jedem Stäubchen gesäubert und das weißeste Hemd hervorgesucht, – auch das Taschentuch durfte nicht vergessen werden. Aber einen Stich durchs Herz gab es ihm doch, als er die Mutter an dem wenigen Wirtschaftsgeld zählen und rechnen sah, bis sie ihm endlich vier Groschen in die Hand drückte. »Da, mein Junge«, sagte sie gutmütig lächelnd, »und kauf dir etwas dafür. Ich komme schon zurecht, bis der Vater wieder hier ist.« Robert wurde dunkelrot vor Scham, dennoch aber drängte es ihn unwiderstehlich, gerade jetzt von dem Geldkasten des Vaters zu sprechen. Er wußte nicht weshalb, aber er mußte es tun. »Du hast ja die ganze Kasse«, sagte er in möglichst sorglosem Ton, »wie könntest du also in Verlegenheit kommen, Mutter?« Die alte Frau nahm ihre Brille ab und sah ihn voll Erstaunen an. »Du meinst das Geld des Vaters, Robert? – Wie dürfte ich das ohne seine Einwilligung berühren!« »Oh«, murmelte etwas fassungslos der Junge, »warum denn nicht? Was dem Vater gehört, das ist ja auch dein Eigentum, Mutter.« »Freilich«, nickte die Alte, »aber Vater ist doch der Herr im Hause, und was er mir anvertraut, das muß ich heilig halten. Berechtigte Wünsche versagt er mir nie.« Robert seufzte. »Mir versagt er alle, Mutter. Ich wollte, daß mit ihm so gut umzugehen wäre wie mit dir, dann –« Er stockte. Das, was er hinzufügen wollte, durfte ja niemand wissen, aber er gab seiner Mutter einen herzhaften Kuß und schlich sich dann zu Bett, um heimlich zu weinen. Er wußte selbst nicht weshalb, die Tränen kamen fast von selbst, und das Vergnügen des andern Tages schien ihm nun nicht mehr halb so verlockend wie früher. Am andern Morgen gingen er und Georg in aller Frühe fort, um erst auf der nächsten Station, dem benachbarten Testorf, den Eisenbahnzug zu besteigen. Da war denn freilich im hellen Sonnenlicht und während der Fahrt nach Altona aller Kummer des vergangenen Abends vergessen. Robert hatte nie eine Reise gemacht, nie in einem Eisenbahnwagen gesessen und überhaupt vom Leben noch nichts gesehen als nur das kleine Pinneberg; er war daher vor Freude ganz außer sich. Seine Fragen nahmen kein Ende, besonders als man sich der Stadt näherte. Er wollte alles sehen, alles wissen. »Du, Georg, wo ist denn hier die Elbe? Wo sind die Schiffe?« fragte er. Der Seiler zog ihn so schnell wie möglich in die nächste Straße hinein. »Erst will ich mir einmal Stiefel kaufen«, antwortete er. »Und höre, Junge, du darfst hier nicht so laut sprechen, alle Menschen sehen nach dir.« Robert stolperte jeden Augenblick über seine eigenen Füße. Er konnte sich an all dem Ungewohnten, Großartigen gar nicht sattsehen. Jeder Wagen, jedes Schaufenster erregte seine Neugier in höchstem Maße. Als Georg die neuen Stiefel gekauft hatte, ging es hinab zur Hafengegend. Der Seiler spielte immer den Kassenmeister. »Du, es waren im ganzen neun Taler«, sagte er mit einem prüfenden Blick auf Roberts glühendes Gesicht, »kannst du dich dessen erinnern?« Der Junge schüttelte den Kopf. »Das ist ja gleichgültig, Georg«, antwortete er, »wenn nur genug übrig bleibt, daß wir nicht zu hungern brauchen. Ach – da sehe ich die Elbe!« Georg nickte. »Wir haben Glück, mein Junge. Gestern ist das Kanonenboot ›Blitz‹ bei Neumühlen vor Anker gegangen – dahin wollen wir zuerst.« Robert jubelte laut. Er hatte die größte Lust, in den belebten Straßen der Hafengegend einen echt dörflichen Trab anzuschlagen, um nur desto schneller das Wasser zu erreichen. Der Seiler hielt ihn lachend am Arm. »Wir müssen uns erst einen Mann von der Besatzung aufpicken«, sagte er. »So ohne weiteres an Bord kommen, das geht nicht.« Robert stand vor Schreck plötzlich still. »Aber wenn wir keinen finden, Georg!« »Ach, dummes Zeug! Wer keinen Dienst hat, nimmt Urlaub und sieht sich die Stadt an«, sagte er. »Habe es ja selbst überall so gemacht.« Die beiden wanderten weiter, und wirklich sollte sich Georgs Vermutung schon sehr bald bestätigen. Vor der offenen Tür eines Wirtshauses mit dem Schild »Zur Seemannsheimat« saßen zwei Matrosen in Marineuniform mit blanken Knöpfen auf ihren blauen Jacken und in den Nacken geschobenen Mützen, deren flatternde Seidenbänder die goldenen Buchstaben »Königliche Marine« trugen. Die viereckigen, weißumsäumten Kragen gefielen Robert ganz außerordentlich. »Du«, flüsterte er, »du, – was sind das für welche?« Der Seiler sah hinüber. »Aha, da wäre ja, was wir suchen«, rief er. »Komm, laß uns Anker werfen; durstig bin ich auch schon.« Er zog Robert mit sich in die offene Tür des Wirtshauses hinein und bestellte zwei Gläser Bier. Es war dem Jungen wie ein Traum, besonders als ihn der Kellner mit »Herr« anredete. Er in einem Wirtshaus, das schien unerhört. Die Bekanntschaft mit den beiden Matrosen war bald gemacht, und einer erklärte sich bereit, die beiden Freunde an Bord zu führen. »Unser Leutnant ist auf Urlaub«, fügte er hinzu, »aber der Obersteuermann erlaubt schon, daß ich euch das Ding zeige. Die feine Welt von Hamburg kommt ja doch später in Schwärmen an Bord, also warum solltet ihr es nicht tun?« Er schob den Priem von einer Backe in die andere und musterte Robert halb lachend. »Du bist ja verflucht fein getakelt«, sagte er, »ordentlich in Kneifzange, Schraube und mit Leesegeln auf beiden Seiten!« Robert errötete wie ein Mädchen. Obwohl er nur ahnen konnte, daß der Matrose mit diesen Kunstausdrücken seinen schwarzen Anzug und das weiße Hemd meinte, fühlte er doch den Spott und antwortete, daß er auch Seemannszeug tragen werde, wenn erst für ihn ein Schiff gefunden sei. Der Matrose lachte. »Hast's Maul an der rechten Stelle«, sagte er gutmütig. »Na, komm nur mit, ich will dir den ›Blitz‹ zeigen.« Die drei wanderten also zum Fischmarkt hinab, und hier nahm der Matrose eine Jolle, die bald zwischen Milchewern, Schuten mit Früchten und Gemüse, Kohlenschiffen und Booten aller Art den Weg nach Neumühlen hinaus einschlug. Robert war ganz Auge und Ohr. Sobald einer der vielen Elbdampfer, wie sie diese Gegend ständig passieren, an der Jolle vorüberkam, jubelte er laut vor Vergnügen, sehr zur Freude des Matrosen, der über seine einfältigen Ausrufe nicht genug lachen konnte. Die Jolle tanzte im Wellengang der Dampfschiffe, die Oktobersonne sandte auf all das bunte, bewegte Treiben des Stromes ihre hellsten Strahlen herab, und das Herz des Jungen schlug in grenzenloser Freude. Hier ein Blankeneser Dampfer, der eine Gesellschaft hinausbeförderte in die freie Luft des Herbsttages. An Bord Gesang und Musik, Grüßen mit Taschentüchern und Hüten – dort einer der großen Hamburg-Amerika-Dampfer, die »Hammonia«. Ihr entgegen kam aus dem Hafen ein anderes, und – »was ist das? – Zwei Schiffe mit einem langen, starken Tau aneinander gebunden und noch dazu ein kleineres voran. Wie unsinnig! Sollen die so zusammen auf den Atlantik hinausgehen?« Der Matrose wollte sich ausschütten vor Lachen. »Junge, du bist Geld wert!« rief er. »Wahrhaftig, ich glaube, du hast dein Klößedorf noch niemals verlassen.« Robert behielt immer die beiden Schiffe im Auge. »Das habe ich auch nicht«, sagte er, »aber einmal muß das erste Mal sein, und anstatt mich auszulachen, könnten Sie mir wohl sagen, was das da bedeutet.« Der Matrose nickte. »Na, dann paß auf, Landratte«, sagte er. »Der Kleine ist ein sogenannter ›Schlepper‹, der die auslaufenden Überseeschiffe aus dem Hafen herausbugsiert – das kannst du zehnmal an einem Tage sehen. Dort kommt schon wieder ein Schleppzug, und dort der dritte!« Roberts Blicke flogen von einem zum andern. Wie schwimmende Häuser erschienen ihm diese großen Schiffe, wie bewunderte er die Matrosen, die er in der Takelage herumklettern sah. »Georg«, fragte er halblaut, »hast du auch so – da ganz oben gesessen?« »Natürlich, Kleiner. Auch Seine Königliche Hoheit Prinz Adalbert von Preußen hat das getan, ehe er Admiral wurde. Praktisch lernen muß jeder.« Robert seufzte. »Ach, du sagst › muß ‹, Georg, und ich denke es mir als das schönste Vergnügen von der Welt. Sich so oben im Mast schaukeln, alles sehen können und auf seine eigenen Kräfte angewiesen sein, das ist doch ganz etwas anderes, als –« »Den Ziegenbock reiten«, ergänzte äußerst ernsthaft der Matrose, indem er aus einem Augenwinkel dem Seiler vertraulich zublinzelte. »Du hast doch jedenfalls deinen Anzug selbst genäht, nicht wahr?« Robert errötete. »Woher wissen Sie – – –« »Ach, das sieht man an den Füßen«, lachte der Matrose, »sie legen sich immer übereinander, weißt du. Na und warum wolltest du denn von der Nähnadel zur Ruderpinne übergehen, mein Junge? Wird dir nicht bange bei dem Gedanken an die See?« Robert lächelte verächtlich. »Bange?« wiederholte er. »Was ist das?« »Schau, wie der junge Hahn kräht! – Na, du scheinst gerade für das Salzwasser geboren zu sein. Und nun sieh einmal dorthin, – das ist der ›Blitz!‹« Robert folgte der ausgestreckten Hand des Matrosen und konnte dann einen Ausruf des Erstaunens nicht unterdrücken. »Das da?« rief er. »Aber das ist ja ein ganz kleines, unscheinbares Ding!« Der Matrose lächelte wohlgefällig. »Unscheinbar!« wiederholte er, »unscheinbar, du Gelbschnabel? Und doch hat sich das ›Ding‹ in den flachen Gewässern bei der Insel Föhr einmal fast hundert Meter weit mit voller Maschinenkraft durch den Sand gewühlt, um im Dänischen Krieg 1864 den Kapitän Hammer zu fangen; es ist so stark gebaut, daß kein Splitter davonfliegt, wenn es in voller Fahrt auf Grund läuft. Hätte es das nicht gekonnt, so würde sich Kapitän Hammer niemals ergeben haben, weil ja schon am folgenden Tage die Waffenruhe begann. Aber unser Kapitänleutnant wußte, was sein Fahrzeug wert war.« Die Jolle hatte sich mittlerweile dem ankernden Kanonenboot so weit genähert, daß der Matrose das Fallreep ergreifen und dem Führer andeuten konnte, wie er die kleine tanzende Nußschale festmachen solle. Dann stiegen alle drei an Bord. Robert berührte Georgs Arm. »Du«, flüsterte er, etwas eingeschüchtert durch die letzte Zurechtweisung des Matrosen, »du, zeig mir alles genau und sag mir die Namen.« Georg nickte. »Du kannst es doch nicht behalten, Kleiner.« »Dann schreib' ich mir's auf«, beharrte der Junge. »Ein Kriegsschiff sehe ich ja sobald nicht wieder.« Der Matrose war inzwischen fortgegangen, um die Erlaubnis des wachhabenden Obersteuermanns einzuholen, und als er zurückkam, begann die Wanderung durch das Schiff. Wie sauber waren alle Fußböden gescheuert, wie schön das Holz in Farbe gehalten, Robert konnte es nicht genug bewundern. Nach außen hin glänzten die Wände im tiefsten Schwarz, während nur ein weißer breiter Streif um das ganze Fahrzeug herumlief und die fein gebogene Form der Reeling scharf begrenzte. Die Innenseite, in der Seemannssprache das »Schanzkleid« genannt, war schneeweiß, die Kanonenpforten feuerrot und alles sauber lackiert. Es gab zwei schwere Geschütze an Bord, und der Matrose erklärte dem lautlos horchenden Jungen, daß sie ein Panzerplatte von zwölf bis fünfzehn Zentimeter durchschlagen könnten. Robert drängte sich immer näher an seinen freundlichen Lehrmeister heran. »Dürfen Sie mir auch zeigen, wie eine Kanone bedient wird?« fragte er verlegen. »Natürlich!« lachte der gutmütige Matrose. »Sieh mal, so wird das gemacht.« Er zog eins der beiden Geschütze unter Aufbietung aller seiner Kräfte zurück, nahm den Wischer – eine Stange mit einer runden Bürste am einen und einem hölzernen Kolben zum Hineinstoßen der Granate am anderen Ende – und fuhr damit in das Rohr hinein, brachte zum Schein die Kartusche an ihren Platz, stieß mit dem Ladestock nach, zog das Geschütz mit den Seitentaljen, wie die Flaschenzüge an beiden Seiten der Lafette genannt werden, wieder nahe an die Pforte heran, richtete, befahl selbst »Feuer« und zog ab. Robert hatte mit einem fast andächtigen Gefühl zugesehen. »Ich will zur Marine«, sagte er unwillkürlich, »ich will Seemann und Soldat werden, wenn ich auch zuerst auf einem Handelsschiff anfangen muß, – zur Marine will ich doch.« Der Matrose schlug ihn ermunternd auf die Schulter. »Bleib dabei, mein Junge«, antwortete er. »Der Seemann muß geboren werden; lernen läßt sich die Vorliebe für das Wasser nicht und vergessen auch nicht. Ich halte es keine vier Wochen an Land aus, ohne trübsinnig zu werden.« Der Matrose sah zu Georg hinüber, der inzwischen mit mehreren anderen Leuten von der Besatzung ein Gespräch angeknüpft hatte. »Du«, sagte er, »ich glaube, es wäre für dich wahrhaftig das beste, wenn du hierbleiben könntest. Das Galgengesicht da will mir durchaus nicht gefallen.« Robert errötete stark. Der ehrliche Pommer mit seinen blauen, treuherzigen Augen und dem gutmütigen Gesicht sah freilich ganz anders aus, als der schmächtige, blasse Georg, aber dafür lebte der eine auch einen guten Tag, während der andere kaum das trockene Brot besaß. Robert mußte doch den unglücklichen Freund in Schutz nehmen. »Georg ist ein ehrlicher Mensch«, sagte er, »nur geht es ihm schlecht, und daher sieht er so verkommen aus.« Der Matrose schüttelte den Kopf. »Hm, hm«, brummte er, »seine Flagge deutet aber auf nichts Gutes, mein Junge, – ist eine wahre Piratenflagge, kann ich dir sagen. Wissen deine Eltern, daß du mit ihm unterwegs bist?« Robert sah zur Seite. »Die kennen ihn gar nicht«, stammelte er. »Das dachte ich mir schon. Na, laß dich von ihm in kein unrechtes Fahrwasser steuern, kleiner Kerl, darauf kommt es allein an. Hast ja den Kompaß da drinnen in der Brust, und der weist allemal auf den richtigen Kurs, wenn du nur genau acht gibst. Jetzt geh mit mir, ich werde dir ein wenig von diesen Masten und Segeln erzählen.« Robert folgte nur zu gern der Aufforderung seines neuen Freundes. Das Gespräch war ihm schon äußerst peinlich geworden, um so mehr, da er recht gut wußte, zu welchem Ungehorsam ihn Georg schon verleitet hatte. Was würde dieser ehrliche, gutmütige Seemann gesagt haben, wenn er ihm die Geschichte von dem Geldkasten des Vaters erzählt hätte! – Sein Herz klopfte lebhaft, als der Matrose den Unterricht begann. Er hörte nur halb, was man ihm vortrug. »Siehst du«, erläuterte der Pommer, »das da ist der ›Fock- oder Vormast‹, der mittlere der ›Großmast‹ und der dritte der ›Kreuz- oder Besanmast‹. Alle drei sind gleich getakelt, und alle Einzelteile tragen die Bezeichnung desjenigen Mastes, zu dem sie gehören. Dadurch wird die Sache ungemein erleichtert. Bis zum ersten Absatz, den du da oben siehst und den wir den ›Mars‹ nennen – bei euch Landratten der ›Mastkorb‹ – heißt jeder Mast der ›Untermast‹, dann folgt die ›Marsstenge‹ und darauf die ›Bramstenge‹. Die starken Taue, die auf beiden Seiten der Untermasten herabreichen, sich unten auseinanderspreizen und an den Wänden des Schiffes befestigt sind, heißen ›Wanten‹, diejenigen aber, die von den Masten nach vorn gespannt sind, nennt man ›Stage‹. Die Querstangen, an denen die Segel befestigt werden, heißen ›Raaen‹. Jede Raa hat ihr besonderes Tauwerk; worin sie hängt, nennt man den ›Hanger‹, womit sie an dem betreffenden Mast oder der Stenge gehalten wird, das ›Reck‹, womit sie auf- und herabgezogen wird, das ›Fall‹. Die Taue, durch die sie schräg, ein Ende nach unten, das andere nach oben, geheißt wird, sind die ›Topwanten‹, diejenigen, durch die sie in waagerechter Lage gedreht wird, die ›Brassen‹. Wanten und Stage nennt man das ›stehende‹, die Takelage der Raaen und Segel das ›laufende Gut‹. Das vordere Rundholz am Bug des Schiffes heißt der ›Bugspriet‹ und das darauf liegende der ›Klüverbaum‹. Von diesem gehen nach beiden Seiten die ›Klüverbackstage‹ und nach oben bis zu den Stengen das ›Bram- und Stengenstag‹, woran die dreieckig geformten Klüversegel fahren.« Es brauste in Roberts Ohren. »Das ist verwirrend«, gestand er. Der Matrose lachte. »Hast du genug, Kleiner, soll ich aufhören?« fragte er. »Nein, nein, – es kehrt mir später alles ins Gedächtnis zurück. Nur im Augenblick wollte es mich verwirren! Bitte fahren Sie fort.« »Na, dann wollen wir das Garn weiter spinnen, mein Junge. Also die unteren, größten Segel heißen ›Untersegel‹, die darauf folgenden ›Marssegel‹ und die noch höheren ›Bramsegel‹, während die letzten hoch oben in der Spitze oder vielmehr an den Stengen die ›Oberbramsegel‹ genannt werden. Die Takelage jedes Mastes erhält nach ihm die Vorbezeichnung ›Groß‹, ›Vor‹ und ›Kreuz‹. – Was nun noch die beiden Seiten des Schiffes betrifft, so heißt diejenige, von der der Wind kommt, die ›Luvseite‹, während die entgegengesetzte die ›Leeseite‹ genannt wird. An den Marssegeln von oben nach unten befinden sich vier Querabteilungen, jede mit einer Reihe dicht nebeneinander hängender Bindfaden versehen, die ›Reffbendsel‹ heißen und dazu dienen, bei starkem Wind die Marssegel zu verkleinern. Das nennt man ›reffen‹. Zum Aufholen oder Wegnehmen der Segel dienen die ›Geitaue‹, die von den Schooten bis unter die Mitte der Raaen reichen, und die ›Gordings‹. So, da hätten wir nun alles. Jetzt brummt es im Kopf wie ein Bienenschwarm, nicht wahr? Aber ich will dir sagen, daß du die Geschichte leichter im Gedächtnis behältst, wenn du sie schon einmal gehört hast, und daß dir darum dieser kleine Vorgeschmack später beim wirklichen Lernen zugute kommen wird. Steht dein Entschluß, Seemann zu werden, schon ganz fest?« Robert seufzte. »Ach, wenn mich der Vater nur fortließe?« kam es zaghaft über seine Lippen. »Aber er tut es nicht.« Der Matrose schob die Mütze in den Nacken und die Hände in die Taschen. »Das tut er nicht, dein Alter? Warum denn nicht?« »Weil die Krolls alle Schneider gewesen sind!« Der Seemann machte ein äußerst bedenkliches Gesicht. »Du«, sagte er, »das ist schlimm. Das ist eine richtige Klippe, an der der beste Segler scheitern kann. Siehst du, mein Vater war ein Seemann und mein Großvater auch, – ich glaube bis zu Adams Zeiten. Fünf Brüder habe ich, aber alle sind Seeleute.« Der Matrose spuckte mit großer Kraft seinen Priem über Bord. »Aber da sollen doch hunderttausend Teufel dreinschlagen«, rief er, »wenn das nicht zu ändern wäre. Du mußt deinem Alten nur richtig in den Ohren liegen, dann wird er schon klein beigeben, denke ich.« Robert schüttelte den Kopf. »Ich habe es oft versucht«, antwortete er, »aber nichts ausgerichtet. Was fange ich nur an, um meinen Lieblingswunsch in Erfüllung gehen zu sehen?« Der Matrose heftete auf den Jungen einen langen, ernsten Blick. »Lauf nicht bei Nacht und Nebel davon, Kleiner«, sagte er, »das bringt kein Glück. Der zähe alte Kerl ist immer dein Vater, mußt du bedenken, aber schlag einmal vor ihm auf den Tisch, daß die Schere aus Angst zusammenklappt und sage: ›Ich will kein solcher Stichelant und Lappenbohrer werden, der den ganzen Tag in der Stube hockt und einen krummen Buckel kriegt von all dem Nähen, ich bin ein Kerl und will hinaus auf die See!‹ – was denkst du, würde er dir wohl antworten?« Robert sah zur Seite. Er wußte genau, was sein Vater auf ungehörige Reden des Sohnes erwiderte, aber er wollte davon lieber nicht sprechen, sondern schüttelte nur stumm den Kopf. Der Matrose pfiff durch die Zähne. »Hat am Ende vielleicht noch ein Tauende in Bereitschaft, dieser wütende Schneider«, sagte er. »Na, heule nur nicht; was kommen soll, das kommt doch, und wenn einer keinen Wagen kriegen kann, so nimmt er mit der Speiche fürlieb, wie sie bei mir zu Hause sagen. Du mußt deine drei Lehrjahre herunternähen, und dann gehst du auf und davon. Offen am hellen Mittag nimmst du Abschied, das kann dir der Alte nicht wehren.« Robert wechselte erschreckt die Farbe. »Noch drei Jahre«, stammelte er. »Die vergehen auch, mein Junge. Und ich will dir was sagen, du kannst dich schon während dieser Zeit für deinen zukünftigen Beruf ausbilden, wenn es dir wirklich Ernst ist mit dem Seewesen. Komm, ich habe ein Spielzeug für dich!« »Ein Spielzeug?« Ungläubig folgte ihm der Junge in das »Logis«, den Schlafraum der Matrosen. Er sah sich vorher noch flüchtig nach Georg um, aber der war in so lebhafter Unterhaltung, daß er ihn gar nicht bemerkte. Unter Deck setzte sich der Matrose auf eine Seekiste und öffnete dann eine andere mit einem Schlüssel, den er aus der Tasche nahm. »Nun sieh einmal her«, sagte er, »was ist das? Sag mal, Junge, kannst du auch so etwas schnitzen?« Er hob mit spitzen Fingern aus einem Blechkasten ein ganz kleines Schiffchen hervor, das bei voller Takelage nur etwa zwanzig Zentimeter lang und entsprechend hoch war. »Das habe ich gemacht«, fügte er voll Stolz hinzu. »Sie? – Aber wie denn? Womit?« Der Pommer klopfte mit dem Knöchel des Zeigefingers auf den Blechkasten. »Darin ist das Gerät«, sagte er »und auch das Buch, aus dem ich die Geschichte gelernt habe. Willst du es einmal sehen?« Robert faltete vor lauter Begeisterung die Hände. »O bitte«, sagte er, »sind denn in dem Buch auch Bilder?« »Natürlich. Na, komm nur her und schau hinein.« Robert setzte sich zu ihm auf die Kiste, und beide blickten andächtig in das Buch. Zeichnungen aller Schiffsteile gab es da, und je weiter der Matrose blätterte, desto freudiger glänzten Roberts Augen. Zuerst war nur mit einigen Grundstrichen die ungefähre Form des Fahrzeuges angedeutet, hier als Längs-, dort als Querschnitt, oder »Spantenriß«, wie der Pommer sagte, dann weiter bis zum deutlich erkennbaren Kiel, auf dem sich nur allmählich der Rumpf erhob. Immer verwickelter wurde das Ganze, immer mehr Einzelbilder folgten; in alle Lagen, alle Verbindungen und Fugen, des Schiffes konnte man sehen, alles, was dem Jungen unverständlich blieb, erläuterte ihm in seiner derben, aber klaren Redeweise der Seemann. Wie lachte er, wenn Robert eine plötzliche Bemerkung dazwischenwarf. »Nun sieht es aus wie ein Fisch«, rief er einmal, und sein neuer Freund antwortete ernsthaft: »Gewiß tut es das. Von der Gestalt des Fisches hat der Mensch die Bauart der Schiffe entlehnt. Alle Weisheit stammt aus der Natur!« »Weiter!« drängte Robert, »da sind noch mehr Bilder. Wenn mich Georg rufen sollte, muß ich ja fort.« Der Pommer sah herausfordernd nach der Gegend der Treppe hinüber. »Wenn Georg kommt, so gebe ich ihm eins hinter die Ohren«, sagte er. »Mag den Nußknacker nicht leiden!« Und dann ging es wieder an das Buch. Abbildung neunundzwanzig zeigte schon einen bedeutenden Fortschritt. »Nun ist es eine Wiege!« rief Robert. »Aha, und hier sind die Abbildungen ganz fertiger Schiffe: Fregatte, Dreimaster, Brigg, Schoner und Kutter. Welches haben Sie denn nun nachgemacht?« »›Modelliert‹ heißt das. Sieh her, zu welchem paßt das Ding?« Robert verglich Schiffchen und Bild, aber nur einen Augenblick. Dann hatte er es herausgefunden. »Eine Fregatte!« rief er, »ein Vollschiff unter allen Segeln!« »Bravo!« rief der Pommer. »Sieh, das Buch und das Gerät will ich dir schenken. Einen Klotz Ellern-oder Lindenholz wird dir ja leicht jeder Tischler geben, und ein paar Leinwandreste deine Frau Mutter, dann kannst du dir mit Hilfe dieser Anweisungen ein ganzes Schiff von Grund auf selbst herstellen, jeden Namen, jede Einzelheit und jede, auch die geringste Kleinigkeit genau kennenlernen, bevor du Schiffsjunge wirst. Das nennen die Leute ›theoretisch‹ gebildet, und es taugt den Teufel nichts, wenn einer damit auf seiner Bodenkammer sitzen bleibt, ohne die Sache auch praktisch auf dem Wasser zu erproben, aber es kann für die Seemannslaufbahn gut vorbereiten. In New York kannte ich ganze Gruppen junger Leute, die sich ihre kleinen Boote von Grund auf selbst zimmerten und dann Wettfahrten damit veranstalteten. Na – willst du's haben?« Robert war stumm vor Freude. Er sah nur in das gutmütige Gesicht des Matrosen, und der lachte zufrieden. »Nimm's mit«, sagte er, »und lerne daraus, so gut du kannst. Wenn die Feierabendglocke schlägt, wird dir dein Alter nicht wehren, daß du ein bißchen Schiff baukunst betreibst, denke ich. Gibt es denn in dem verwünschten Dorf, wo du wohnst, gar kein Gewässer für das zukünftige Fahrzeug?« Jetzt lachte Robert und erzählte seinem Kameraden von den kleinen Reisen im Segelboot und von Georgs früheren Seefahrten. Er gestand auch, daß der Abstecher nach Hamburg heimlich unternommen sei und wartete mit Herzklopfen, was der Matrose dazu sagen werde. Merkwürdigerweise wünschte er lebhaft von ihm nicht getadelt zu werden, – das war so ganz etwas anderes als mit Georg. Um den breiten Mund des Pommern zuckte ein Lächeln. »Recht ist es nicht«, sagte er, sich hinter den Ohren kratzend, »durchaus nicht, aber einmal ist keinmal, wollen wir denken. Was hast du denn für den Rest des Tages noch vor?« Robert dachte plötzlich wieder an den Freund, den er so treulos verlassen hatte. »Ja – was Georg meint«, erwiderte er. »Ich bin noch nie hier gewesen.« »Hm, dann halte dich nur von der Flasche fern, und wenn du Geld bei dir hast, laß dich zu keinem Würfel- oder Kartenspiel verleiten. Geh auch nicht mit in die Hamburger Matrosenschenken, ich rate es dir.« Robert sah ihn mit seinen hellen Augen fragend an. »Warum denn nicht?« meinte er. »Weil du noch ein dummer Junge bist, und weil mancher von diesen Wirten ein ganz geriebener Kerl ist, der –« »Aber das verstehst du nicht«, brach er ab. »Willst du einmal eine Stelle als Schiffsjunge haben, so wendest du dich an den Kapitän selbst, aber nicht an solche Zwischenhändler, die manchmal zwar sehr brave Geschäftsleute sind, manchmal aber auch Spitzbuben, die man kielholen müßte, bis sie das Luftschnappen vergessen. Davon brauchst du deinem liebenswürdigen Kameraden mit den Eulenaugen nichts zu sagen, Junge, aber glaub mir, daß ich es aus Erfahrung weiß.« Robert steckte seufzend Buch und Kasten in die Tasche. »Ach«, sagte er, »bis dahin ist es weit. Wer kann wissen, ob jemals etwas daraus wird?« »Aber jetzt muß ich mich beeilen. Georg wird sich wundern, wo ich bleibe.« Er dankte dem Matrosen noch herzlich für das schöne Geschenk, und dann gingen die beiden wieder hinauf an Deck, wo inzwischen der wachhabende Unteroffizier mehrere Segel hatte »anschlagen«, das heißt an den Raaen befestigen lassen, um sie bei dem schönen Wetter zu lüften. Für Robert war dies Manöver wieder etwas ganz Neues. Aber dann sah er um sich und entdeckte den Seiler, der schon ungeduldig wartete. Georg winkte ihm, ohne aber näher heranzukommen; es schien, als teile er den Widerwillen des Matrosen, wenigstens wartete er ruhig, bis Robert zu ihm kam. Dem wurde der Abschied von dem freundlichen Pommer schwer genug. Er gab ihm wohl dreimal nacheinander die Hand und dankte immer wieder für das lehrreiche Buch und das zierliche, allerliebste Arbeitsgerät. »Ich will es in Ehren halten«, versprach er, »und tüchtig daraus lernen.« »Bravo, mein Junge«, antwortete der Matrose. »Wer weiß, wo wir uns noch einmal im Leben begegnen. Vielleicht bin ich dein Bootsmann, wenn du für den Flottendienst eingezogen wirst. Und nun leb wohl! Nimm dich vor deinem Kameraden in acht – ich mag ihn nicht.« Er winkte verstohlen mit den Augen zu Georg hinüber und entließ mit mehrmaligem herzlichen Händedruck den Jungen, der jetzt neben seinem Begleiter in der Jolle Platz nahm. Der Pommer sah von Bord des »Blitz« den beiden nach. »Davonlaufen wird er doch«, dachte er, »und in eine schwere Schule rennt er blindlings hinein; Junge, dir steht noch manches bevor, aber das wird nun einmal dein Schicksal sein.« Die beiden im Boot sprachen inzwischen leise miteinander. »Na, was hattest du denn so Geheimnisvolles unter Deck zu suchen?« fragte der Seiler etwas ärgerlich. »Bliebst ja eine halbe Ewigkeit da unten – und was ist denn das hier?« Robert zeigte ihm Buch und Kasten. Georg besah es mit prüfendem Blick. »Das erlaubt ja dein Alter nie«, sagte er, »du erlebst höchstens, daß er es dir vor der Nase wegnimmt und daß du einmal wieder so recht den kleinen Jungen spielst, das Kind, das Schläge bekommt. Gib den Trödelkram her, ich will ihn für dich verkaufen.« Aber Robert schüttelte den Kopf. »Laß es mich behalten, Georg«, antwortete er, »der freundliche Matrose würde es sehr undankbar finden, wollte ich sein Geschenk für wenige Groschen verkaufen – meinst du nicht auch?« »Ach, dummes Zeug, er sieht's ja nicht.« »Das ist einerlei, Georg, ich – ich müßte doch immer denken, er sähe es. Was soll ich auch mit dem Geld?« Der Seiler antwortete nicht. Er spürte offenbar den Widerstand des Jungen und gab nach. »Wollen wir uns nun eine Schiffswerft ansehen?« änderte er ohne Übergang das Gespräch. Robert jubelte laut. »Ja, ja, – ach Georg, was für ein schöner Tag ist das!« »Weil wir Geld haben!« konnte sich der Seiler nicht enthalten, beziehungsreich zu antworten. »Nach Steinwärder!« rief er dem Jollenführer zu, und schon sehr bald landeten sie an der kleinen angebauten Elbinsel, die mitten im Hafen liegt und einen so großartigen Anblick bietet. Die Schiffe aller Völker, die Gesichter aller Rassen, vom kohlschwarzen Neger durch alle Schattierungen von braun und gelb des Malaien, Mulatten, Chinesen und Mongolen bis zum blonden Engländer oder Schweden – die Flaggen und Wimpel in jeder erdenklichen Farbe, das Rufen und Sprechen in fremder Mundart, der Anblick dieser unübersehbaren Reihen ankernder Schiffe, alles zusammen überwältigte den Jungen, so daß er stumm dasaß. Welche wunderlichen Namen trugen die verschiedenen Schiffe, wie seltsam und geheimnisvoll erschienen die geschnitzten Figuren an ihrem Bug. Hier ein Greis mit Krone und Dreizack und langherabwallendem weißen Bart, dort der Oberkörper einer Frau in einen Fischschweif auslaufend, und hier sogar ein greulicher Götze, dort wieder ein Tierbild – – Das alles zog an dem Jungen vorüber und hinterließ einen einzigartigen Eindruck. Er war überwältigt von all dem Neuen. Hier begann für ihn das Leben, hier öffnete sich ihm eine Welt, von der er bisher nur geträumt hatte. Das war es, wonach er sich sehnte und was er nicht vergessen konnte, sooft auch die Eltern ihm eindringlich vorstellten, wie schrecklich und gefährlich das Seemannsleben sei. Er verschlang mit den Augen jeden neuen Gegenstand, und als ihn Georg aufforderte, aus dem Boot zu steigen, da tat er es wie im Traum. Er war wie berauscht. »Komm«, lächelte der Seiler, »du zeigst ja ganz den Neuling, Junge, das Dorfkind, das noch nie etwas anderes gesehen hat, als seine heimatlichen Gänseweiden. Hier ist die Seemannsschule, und hier die Werft der ›Hamburg-Amerikanischen Dampfschiffahrts-Aktiengesellschaft‹. Weiter hinauf kommt die weltbekannte Firma Godeffroy mit ihrer großen Werft für Handelsschiffe. Aha, da liegt ein neuer Dreimaster, dessen Stapellauf wohl in den nächsten Tagen stattfinden wird. Wir wollen doch versuchen, das Ding zu besehen.« Die beiden gingen an den verschiedenen offenen Arbeitshallen vorüber, und Robert sah in natürlicher Größe eine Menge solcher halbvollendeter Einzelteile von Schiffen, solcher Modelle und Anfänge, wie sie das Buch des Matrosen zeigte. Besonders ein halbfertiger kleiner Kutter zog ihn lebhaft an. Das Ding sah aus wie ein Gerippe von Holz, und die in seinem Innern arbeitenden Zimmerleute klopften im Takt des lustigen Liedes, das sie bei ihrer Arbeit sangen. Er wäre schon gern hier geblieben, um zu beobachten und zu bewundern, aber Georg hatte mittlerweile den Schiffszimmermann gebeten, das neue Schiff besichtigen zu dürfen, und so kletterten denn beide die Leiter hinauf, um an Bord zu kommen. Alle Türen, alle Luken waren geöffnet, um die Sonnenstrahlen recht eindringen und den frischen Lack trocknen zu lassen. Das Schiff sollte schon binnen vierzehn Tagen seine erste Reise über den Atlantik antreten. »Das hier ist die Kapitänskajüte«, erläuterte der Mann, auf einen mäßig großen Raum deutend, dessen Decke sehr niedrig schien, und durch dessen am Fußboden befestigten Tisch der Mast in schräger Stellung mitten hindurchlief. Der war aber hier nicht bloß mit Ölfarbe gestrichen, wie draußen an Deck, sondern mit Mahagoni belegt und als Träger einiger schwebender Blumengestelle eingerichtet. Dazu gab es ein behagliches Sofa und an beiden Seiten des Tisches gepolsterte Bänke, während sämtliche Wände aus beweglichem Fachwerk bestanden und große Schränke hinter ihren Türen verbargen. Den Boden bedeckte ein Strohteppich in bunten Farben, so daß das Ganze sehr wohnlich aussah. Robert hatte sich nicht träumen lassen, welche Behaglichkeit eine solche Schiffskajüte entwickeln könne. »Das hier ist die Schlafecke«, fuhr der Zimmermann fort, »denn ein Zimmer kann man es wohl kaum noch nennen. Aber an Raum muß eben gespart werden. Nur das Bett, an der Wand befestigt, das der Seemann ›Koje‹ nennt, ein Tisch und ein Bücherschrank, mehr findet sich hier nicht; gegenüber, ganz ähnlich eingerichtet, liegt die Steuermannskajüte, und das Ganze wird mit dieser Tür vollständig abgeschlossen.« »Willst wohl auch Seemann werden?« lächelte der Zimmermann. »Sieh, Junge, dort ist das ›Logis‹. Wollen es gleich näher ansehen.« Er führte seine Gäste am großen Mast vorüber nach dem Vorderteil des Schiffes, und hier sah Robert den wenig einladenden Raum, in dem die Matrosen ihre freien Stunden verbringen. Eine enge, schmale Koje, so niedrig, daß der darin sitzende Mann kaum Platz hat, sich ganz auszustrecken, die Schiffskiste als Stuhl und ein Tisch aus Tannenholz, – das ist alles, was der Matrose an Freiheit und Eigentum besitzt, wenn er auf See ist. Aber Robert fand es schön, er sehnte sich immer mehr nach dem Seemannsleben, je mehr er davon sah. Auf dem Tisch sitzen und nähen, nach genau festgesetzten Stunden, und zum Schlafen das Bett im Winkel der Diele – war denn das nicht noch viel schrecklicher als die halbe Gefangenschaft an Bord eines Schiffes? Er wäre am liebsten gleich hier geblieben, hätte sich als Kajütenjunge »anmustern« lassen und die erste Reise des neuen Seglers mitgemacht. Sein Herz klopfte ungestüm, als der Zimmermann in eine andere Tür hineindeutete. »Das da ist die Kombüse«, sagte er, »und diese eisernen Hähne, die ihr hier seht, sind die Pumpen. Wollen wir nun auch in den Schiffsraum hinabsteigen?« Unten angekommen meinte Robert, es sei fast wie in einem Grabe. Er freute sich, als ihm die Sonne wieder ins Gesicht schien. »Aber wenn das alles ganz mit Ladung gefüllt ist«, fragte er, »wie untersucht man dann, ob nicht das Schiff vielleicht ein Leck bekommen hat?« Georg und der Zimmermann lächelten. »Die Decksluken werden vor der Abreise ›kalfatert‹, ›das heißt wasserdicht verschlossen‹, und während der ganzen Fahrt nicht wieder geöffnet. Erst in dem Hafen, wo die Ladung ›gelöscht‹ wird, kommt ein Mann der Reederei an Bord, und bezeugt dem Kapitän schriftlich den Zustand, in dem sich die Luken befanden. Nur wenn dieser ganz vorschriftsmäßig; ist, trifft den Kapitän für die etwaige Beschädigung der Ladung keinerlei Verantwortung. Den Wasserstand dagegen untersucht man täglich zweimal durch die Pumpen, wobei sich bis auf einige Linien feststellen läßt, wieviel Wasser in das Schiff eingedrungen ist. Man nennt dies Verfahren ›Peilen‹.« Der Zimmermann sah sinnend vor sich hin. »Es ist schrecklich, wenn so ein Leck in das Schiff kommt«, sagte er, »unheimlich, weil man ihm nicht offen begegnen kann. Ich hab's einmal erlebt, sechs Tagereisen vor Kalkutta. Da stieg das Wasser so schnell, daß alle Arbeit auf Deck liegenblieb, daß nicht mehr gekocht und nicht mehr geschlafen wurde, weil wir nur unablässig pumpen mußten, um das nackte Leben zu retten. Wenn einer von der Mannschaft umfiel wie ein Toter, dann sprang ein anderer an seine Stelle, wortlos, ohne einen Blick auf den Röchelnden, ohne Rücksicht auf die eigenen zerfetzten Hände. Es war gräßlich, – wir brachten das Schiff nach Kalkutta, aber von unseren dreizehn Leuten lebten nur noch vier, die übrigen sind in ihren Kojen oder an Deck vor Erschöpfung gestorben, ohne daß wir uns um sie kümmern konnten. Wenn das Wasser im Schiffsraum steigt und nur zwei Minuten die Arbeit an den Pumpen eingestellt wird, dann ist das so, als stände der Tod hinter einem, und man würde nicht einmal darauf achten, wenn der eigene Bruder ein paar Schritte weit davon im Sterben läge. Nun – gottlob passiert das nicht alle Tage.« Robert hatte atemlos zugehört. »Waren Sie längere Zeit hindurch Seemann?« fragte er. Der Zimmermann nickte. »Sechzehn Jahre«, antwortete er. »Da lernt man das Meer kennen.« Robert hatte noch eine Frage auf dem Herzen, das sah der Mann und ermunterte ihn freundlich, sie aus zusprechen. »Na«, sagte er, »was wolltest du wissen, Junge, ob ich den fliegenden Holländer gesehen habe und den Klabautermann, oder das berühmte Meerweib, das sie hier auf St. Pauli jedem gläubigen Binnenländer für zwei Groschen zeigen, das aber aus Wachs und Kitt zusammengeflickt ist, wie ich dir lieber gleich sagen will.« Robert schüttelte den Kopf. »Das meine ich nicht«, sagte er schüchtern, »aber ob es wohl im Meer noch unbekannte Tiere gibt, große, fürchterliche, die man in den naturgeschichtlichen Werken gar nicht aufgeführt findet.« Der alte Zimmermann spielte mit der Hand an einer Leine, die gerade vor ihm in der Luft hing. »Ja, ja«, sagte er, »darauf sollte ich eigentlich gar nicht antworten. Das Erzählen ist leicht, wenn niemand die Geschichte widerlegen kann. Aber dennoch – ich habe so etwas Ähnliches erlebt.« »Ach«, rief Robert ungestüm, »bitte, erzählen Sie doch.« Der Zimmermann nickte. »Ich will es tun«, antwortete er, »nur fehlt der Sache eigentlich die Pointe, das heißt die Erklärung, aber wahr ist sie, darauf kann ich einen Eid leisten. Wir waren auf dem Atlantik und trieben bei fast völliger Windstille langsam dahin. Ich hatte gerade die Wache am Ruder, ungefähr um fünf Uhr morgens, da erhielt plötzlich das Schiff einen Stoß, daß ich beinahe gefallen wäre, und daß alles an Bord aus dem Schlaf auffuhr. Zugleich rumorte und tobte es in dem stillen Wasser; weiße Schaumblasen kräuselten sich am Bug, während die Wellen langsam wieder ruhiger wurden. Wir sahen uns mit bangen Gesichtern an, und dann ging es ans Untersuchen. Es wurde alle Stunden gepeilt, aber kein Tropfen Wasser war in das Schiff hineingekommen. Erst als es später zur gründlichen Überholung auf der Werft lag, sah ich, woher der Stoß gekommen war. In dem gekupferten Boden steckte bis zur Länge von fünfzehn Zentimeter ein Horn von der Dicke eines starken Männerarmes. Es war abgebrochen, und vielleicht hatte der rasende Schmerz das unbekannte Tier zu so starken Bewegungen getrieben, daß sich die Wellen ringsum auf bäumten. Jedenfalls muß es ein riesenhaftes Geschöpf gewesen sein, das einen so spürbaren Anprall verursachen und den Boden des Schiffes fünfzehn Zentimeter weit durchbohren konnte. Der Kapitän hat das Horn später überall gezeigt und bei vielen Männern der Wissenschaft angefragt, aber niemand kannte es.« Robert berührte den Arm des alten Mannes. »Haben Sie es?« fragte er mit leuchtenden Augen. »Ich möchte es so gern sehen.« Der Zimmermann schüttelte den Kopf. »Es ist in England geblieben«, sagte er bedauernd. »Da ich dir aber diesen Wunsch nicht erfüllen kann, so wollen wir dafür vielleicht einen Gang durch unsere Maschinensäle machen, mein Junge. Ich will dir ein eisernes Schiff zeigen, das ist mehr wert. Den Grund des Meeres werden wir nicht erforschen, so wenig wie den Mittelpunkt der Erde oder den Weltenraum. Aber die Welt, in der wir leben und die uns Brot geben soll, müssen wir möglichst genau kennen lernen, vor allem da, wo wir unseren Lebensberuf ausüben. Kannst ja vielleicht auf hoher See einmal einem solchen Tiefseeungeheuer begegnen, wie damals unser Fahrzeug – wer weiß? Willst du jetzt das eiserne Schiff sehen?« Robert glaubte, daß ihn der Zimmermann necken wolle. »So dumm bin ich nun aber nicht mehr«, erwiderte er. »Wie könnte denn Eisen schwimmen?« Der Alte und auch Georg lachten herzlich. »Komm nur mit, wenn du auch recht klug bist, zu lernen findet sich doch noch immer etwas.« Robert fühlte, daß er errötete. Ob es doch möglich war, daß Eisen schwämme? – Schleunigst folgte er den beiden anderen und kam nun mit ihnen an einen schmalen Arm der Elbe, wo ein eben vollendetes kleines Dampfschiff lag, ein Schraubenschiff und ganz aus Eisen, in blaugrauer Farbe, mit schlanken, schönen Linien. Der Junge sah deutlich die einzelnen Eisenplatten und ihre Vernietungen. Die Säume der oberen Platten griffen über die darunterliegenden, deren Dicke höchstens drei Millimeter betragen mochte. »Ach«, rief Robert, »also es schwimmt, weil es so dünne Platten hat? Ja natürlich –« »Das wußtest du nicht!« lachte der Alte. »Na, gib dich gefangen. Es ist nicht das letztemal, daß du deine Unwissenheit eingestehen mußt. Und was die dünnen Platten betrifft, so habe ich schon Schiffe mit zentimeterdicken Platten gesehen, wie zum Beispiel unsere jetzigen Panzerfregatten. Und wie das möglich ist, will ich dir genau auseinandersetzen. Jeder Körper schwimmt überhaupt nur dann im Wasser, wenn sein Gewicht kleiner ist, als das der Wassermenge, die er verdrängt. Ob ich also das hölzerne Schiff mit Eisen belade, oder ein Fahrzeug ganz aus Eisen baue, das muß sich in seinen Folgen vollkommen gleich bleiben.« Robert hatte aufmerksam zugehört. »Das habe ich verstanden!« rief er. »Wenn man nur ein wenig nachdenkt und sich eine Sache in ihren Einzelheiten vor Augen führt, dann scheint alles einfacher und selbstverständlicher.« »Siehst du!« nickte lächelnd der Alte. »Das ist das große Geheimnis allen Lernens. Nicht in sich hineinreden lassen muß der Mensch, sondern mit offenen Augen sehen und selbst denken, sonst bleibt das Ganze nur an der Oberfläche und wird nie großen Nutzen stiften können. Jetzt geht mit, wir wollen uns auch das Innere ansehen.« Sie stiegen, nachdem die Laufbrücke passiert war, eine hübsche gewundene Treppe hinab, und nun sah Robert den Dampfkessel. Ein langes, dickes Rohr ging vom Kessel aus und teilte sich in zwei Arme, von denen jeder in einen gußeisernen Zylinder mündete, dem er den im Kessel erzeugten Dampf zuführte. Der Zimmermann nahm von einem dieser Zylinder den Deckel herab, so daß der Kolben sichtbar wurde, auf den der Dampf seine unmittelbare Wirkung ausübt, indem er bald von oben, bald von unten in den Zylinder einströmt und so die ständige Bewegung verursacht. Fest verbunden mit diesem Kolben ist eine Kolbenstange, welche die mit einem Gelenk versehene ›Pleuelstange‹ aufnimmt. Diese übersetzt die hin- und hergehende Bewegung des Kolbens in eine drehende, die wiederum durch die ›Kurbeln‹ auf die Schraubenwelle übertragen wird und so die Schiffsschraube in Gang bringt. Robert begriff das alles weit leichter, als er es für möglich gehalten hätte, und folgte mit großem Interesse jetzt auch seinen Begleitern durch die Maschinensäle. Es war fast vier Uhr nachmittags, als sich die beiden nach einem herzlichen Abschied von dem alten Zimmermann mit der Dampffähre wieder nach Hamburg übersetzen ließen. Robert meinte etwas kleinlaut, daß er sich vor diesen Häusermassen wirklich fürchte. Es bleibe ja für Menschen gar kein Platz mehr. Georg zog ihn am Arm mit sich fort, den Baumwall entlang bis zu den Vorsetzen. »Ich bin fast ohnmächtig vor Hunger«, sagte er. »Laß uns nur erst einmal das Wirtshaus erreichen, das ich suche. Hier herum muß es sein.« Er überflog die vielen Wirtschaftsschilder und schien es dann entdeckt zu haben. »Aha, da wäre ja der ›Fliegende Holländer‹!« sagte er. »Komm nur, daß wir jetzt erst etwas essen.« Er führte den Jungen in eine niedere, unsaubere Gaststube, deren Besitzer hinter dem Schenktisch stand und die Groggläser füllte, die ein kleiner Kellnerjunge unablässig den spielenden und rauchenden Matrosen bringen mußte. Das Zimmer war Kopf an Kopf von Gästen besetzt, und Würfel und Karten gingen aus einer Hand in die andere. Man hörte überlautes Lachen, Flüche und Ausrufe in fremden Sprachen. Spanier, Engländer und Schwarze saßen hier, in verworrenstem Kauderwelsch durcheinander schreiend, neben den Hamburgern, die in breitem Platt mit ihren Kameraden sich unterhielten. Alles sang und lachte, fluchte und lärmte. Der Wirt war ein untersetzter Mann mit kurzem, dickem Hals und riesenstarken Armen, die in schmutzigen Hemdsärmeln steckten. Auf borstigen, fuchsroten Haaren saß im Nacken eine schmierige Mütze, und die Augen lagen lauernd in blutunterlaufenen tiefen Höhlungen. »Sieh da, auch mal wieder da?« redete er Georg an. »Wen bringst du mir da, mein Junge? Auch ein Früchtchen von deiner Art oder eine junge, unschuldige Landratte, die Seewasser kosten will? Da, fangt erst mit einem Glas Genever an.« Und damit bot er Georg das Glas mit dem brennenden Getränk an, das Robert mit Widerwillen ausschlug. Der Seiler winkte dem Wirt verstohlen mit den Augen. »Ein Freund von mir, dem ich Hamburg zeigen will; bei Ihnen wollen wir erst einmal etwas Vernünftiges essen.« Damit bestellte er bei dem Kellner zwei Portionen Beefsteak mit Kartoffeln und zwei Glas Bier, was auch sehr bald kam, und worüber sich die beiden mit dem ganzen Appetit der Jugend hermachten. Als sie satt waren, drängte Robert zum Fortgehen. Der Matrose vom »Blitz« hatte gewiß recht, wenn er ihn vor dieser Art Schenken eindringlich warnte, denn was er sah, das konnte ihm durchaus nicht gefallen, und vor dem Wirt empfand er geradezu Widerwillen. »Es ist einer von denen, die ›gekielholt‹ werden müßten«, dachte er. Georg stand auf und knöpfte die Jacke zu. »Bleib noch einen Augenblick sitzen«, sagte er, »ich möchte mit dem Wirt noch ein paar Worte sprechen. Der Mann ist ein alter Freund von mir.« Robert machte große Augen. »Der?« sagte er. »Nun, warum nicht?« fragte mit ungewohnter Schärfe der Seiler. »Ein solcher Wirt kann nicht mit Lackstiefeln herumgehen wie ein großer Herr. Er muß häufig genug die streitenden Gäste selbst auseinanderbringen und dazu dauernd die Gläserspülen. – Peter Volland ist ein kreuzbraver Mann, sage ich dir.« Und mit diesen Worten ging Georg, um hinter dem überschwemmten Schenktisch den Wirt aufzusuchen. Robert sah, daß sich die beiden wie alte Bekannte begrüßten, und daß die Worte seines Freundes den stämmigen Schenkwirt äußerst angenehm zu berühren schienen. Ein wiederholtes Kopfnicken, eine Handbewegung und der ganze Ausdruck des Gesichtes sagten deutlich, als habe er laut ausgerufen: »Ja! Jawohl, ganz gewiß!« Dann folgte, halb versteckt hinter einer großen braunen Kanne, eine Fingerbewegung, die des Zählens. Jetzt nickte Georg, und die beiden Vertrauten trennten sich. Der Seiler kam wieder in das Schenkzimmer. »So«, rief er, »nun laß uns gehen, Kleiner. Jetzt sollst du auf dem Weg zum Altonaer Bahnhof noch die Läden der Schiffshändler kennen lernen. Paß nur auf, es beginnt gleich hier in der Nähe.« »Was hattest du mit dem Wirt?« fragte Robert. »Ihr beide spracht und tatet so, als hättet ihr einen Handel abgeschlossen.« Der Seiler lachte etwas gezwungen. »Einen Handel? Dummes Zeug, Junge. Sieh her, hast du schon einmal solche Ankerketten gesehen und solches Ölzeug?« – Er zog Robert von Schaufenster zu Schaufenster und ließ ihn alles bewundern. Der ganze Weg neben der Hafenmauer führte an Läden und Werkstätten vorüber, die mit der Seefahrt in unmittelbarer Berührung standen. Außer den zahllosen Matrosenschenken und großen Auswandererhäusern gab es da die Niederlagen der Anker- und Kettenschmiede, Tauwerks-, Teer- und Farbenhandlungen, die Werkstätten der Blockdreher und Segelmacher, die Läden mit Schiffsproviant, Auswandererbedarf und Ölzeug, dann die Geschäfte der Makler, Agenten und Ballastlieferanten, und hundert andere mehr. An der unbebauten, dem Strom zugekehrten Seite der Straße befanden sich viele alte hölzerne, nach holländischer Art gebaute oder eiserne Kräne und Winden, dann führten Treppen in kurzen Zwischenräumen hinunter an das Wasser, und an schweren Ketten lagen die zahlreichen Jollen, die hier zwischen Schiffen und Ufer einen ununterbrochenen Verkehr herstellten. In der Straße selbst wogte es von Hafenarbeitern und Seeleuten aller Rassen, von Ewerführern, Schauerleuten, Jollenführern, Agenten der Schiffshändler und Makler. Hier sprach man alle Sprachen, hier kannte man alle Münzen der Welt. Hart an den Vorsetzen lagen Torf- und Kartoffelewer von der Unterelbe, die einen bedeutenden Teil des Bedarfs an diesen Artikeln in die Stadt bringen. Überall lebte und webte auf jedem Fußbreit der schmalen Straße das geschäftige Treiben einer Hafenstadt, überall regte sich der Handel nach allen Ländern der Welt. Es war für den Seiler keine leichte Aufgabe, seinen jungen Freund vorwärts zu bringen. Zwanzigmal blieb er stehen, um dies oder das zu bewundern oder eine neugierige Frage zu stellen. Er wollte alles sehen und alles wissen. Nur sehr ungern trennte sich der Junge von der Wasserseite Hamburgs und folgte dem Freund durch St. Pauli wieder zurück nach Altona. »Nun haben wir aber auch alles gesehen!« sagte er zufrieden. Der Seiler lächelte halb spöttisch. »Und die Museen, mein Junge, und der Zoologische Garten? – Aber ich denke, wir machen noch manche kleine Reise zusammen«, fügte er hinzu. »Wenn die Geschichte nur nicht so teuer wäre.« »Was hat uns der Tag gekostet?« fragte Robert. »Hm, wenn wir wieder in Pinneberg angelangt sind, so ist die Tasche leer. Aber du hast ja noch Vorrat in der Sparbüchse.« Robert antwortete nicht. Er mußte die vielen neuen Eindrücke dieses Tages erst in sich verarbeiten, bevor irgend etwas anderes seine Aufmerksamkeit fesseln konnte. Unterwegs im Wagen legte er die heiße Hand auf Georgs Arm. »Laß uns gleich, wenn der Zug hält, wieder umkehren«, sagte er, »ich kann es doch nicht ertragen – nun erst recht nicht.« Der Seiler zuckte die Achseln. »Hättest besser zugreifen sollen«, flüsterte er, Daumen und Zeigefinger mit einem bedeutsamen Blick gegeneinander reibend. »Ohne das kann man in der Welt keinen Schritt vorwärtskommen.« Robert sprach kein Wort mehr, aber er ging, nachdem er auf Umwegen nach Hause geschlichen war, gleich ins Bett, ohne vorher zu essen oder seiner Mutter irgend etwas zu erzählen. Er wollte nur ungestört an das, was er gesehen hatte, denken. Am folgenden Tag mußte die Arbeit, die der Vater für seinen Sohn und Lehrling zurückgelassen hatte, in aller Eile fertig gemacht werden, aber es fielen diesmal viele Tränen darauf. »Wenn mich so alle diese kräftigen Seeleute sehen könnten«, dachte er, »die Glücklichen, die in Wind und Wetter draußen ihre Arme brauchen dürfen, während ich die Nähnadel halten muß!« Der Alte fand auch, als er nach seiner Rückkehr jeden Stich musterte, die Arbeit schlecht und sparte daher nicht mit Zurechtweisungen. Zur Strafe beschränkte er die freie Zeit seines Jungen, so daß Robert nur höchst selten mit Georg einmal vertraulich sprechen oder an dem Holzklotz, den er sich heimlich in einen Winkel des Heubodens geschafft hatte, ein paar Minuten meißeln konnte. Das Buch des Matrosen vom »Blitz« gab über alles genaue Auskunft und war so verständlich geschrieben, daß es gar keine Kunst mehr schien, nach diesen Anweisungen selbst ein kleines Schiff zu bauen. Robert hatte sich in seinem Versteck eine richtige Werkstatt eingerichtet, denn die Mutter verriet ja nichts, und der Vater kam nie dort hinauf. Zwar schüttelte Frau Kroll den Kopf und meinte, das werde noch einmal ein Unglück geben, wenn es der Vater erfahren sollte, aber Robert kehrte sich nicht daran. In seinem Vater sah er ja schon längst den Feind, dessen er sich mit allen Mitteln zu erwehren suchte. Und Georg schürte das Feuer, wo er konnte. Robert lieferte jetzt kein empfangenes Trinkgeld mehr ab, stahl für seinen Freund aus der Speisekammer der Mutter alles Eßbare und hatte auch schon mehrere Male wieder mit Hilfe von Georgs Nachschlüssel den Geldkasten des Vaters bestohlen oder »von seinem Eigentum ein paar Taler verbraucht«, wie es der Seiler nannte. Alles das machte ihm kaum Gewissensbisse. Wenn der Vater gewollt hätte wie er, wenn er kein Tyrann gewesen wäre, so würde es ja nie geschehen sein, aber durch diese Halsstarrigkeit, diese Ungerechtigkeit trug er ja an allem selbst die Schuld. Schalt er, so hieß es: »Ich will ja doch kein Schneider werden. Habe ich ausgelernt, so gehe ich auf und davon.« Natürlich zog nach solchen Auftritten der Vater die Zügel nur immer straffer, und das Verhältnis zwischen ihm und seinem Sohn wurde immer schlechter. Robert hatte jetzt, als das Wetter anfing kalt zu werden, den Schiffbau oben in der Ecke des Heubodens soweit vollendet, daß er mehrere Kleinigkeiten einkaufen mußte, um weiterarbeiten zu können, aber es fand sich dazu leider kein Geld, und auch der Seiler erklärte, keins zu haben. »Nimm es doch, du weißt doch, wo es liegt«, sagte er höhnisch. Aber Robert schüttelte den Kopf. »Was ich in der Sparbüchse hatte, ist verbraucht«, antwortete er, »und das übrige gehört mir nicht.« Dabei blieb es. Georg sah zu seinem größten Ärger, daß Robert nicht umzustimmen war, aber er verbarg die Enttäuschung und half über alle entstehenden kleinen Verlegenheiten beim Bau so gut wie möglich hinweg. Man konnte jetzt das zukünftige Schiff schon ganz deutlich erkennen. Da traf es sich, daß Robert an einem Sonntag ausgeschickt wurde, um in einem ziemlich entfernten Dorf Arbeit abzuliefern, und als er zurückkam, sah er die Mutter bitterlich weinend am Herd sitzen. Nichts Gutes ahnend, fragte er sie nach dem Grund ihrer Tränen. »Geh fort«, flüsterte ängstlich die alte Frau, »laß dich beim Vater nicht sehen. Er ist furchtbar erzürnt.« Der Junge wurde rot vor Aufregung. »Hat er mein Schiff gefunden, Mutter?« stammelte er. Die Alte nickte unter ihrer vorgehaltenen Schürze. »Ja! – Ach ja!« Robert flog zum Heuboden. Alles fort, das Buch, das Gerät, die Hobelbank, die er sich mit Georgs Hilfe selbst gebaut hatte, und vor allem sein geliebtes halbfertiges Schiffchen, der beste Schatz, den er besaß. Wo mochte es der Vater gelassen haben? Dieser Gedanke nahm ihm den Atem. Wenn das Schiff – sein »Blitz« – zerstört wäre! Er sprang wieder in den Hof hinab und stürmte an der weinenden Mutter vorüber in das Wohnzimmer. Da jetzt alles entdeckt war, konnte ihm ja weder Zögern noch Leugnen helfen. Der Alte stand kerzengerade mitten in dem kleinen Raum, und neben ihm auf dem Tisch lag ein schlankes, eben erst aus der Haselnußhecke geschnittenes Stöckchen. Roberts ganze Einrichtung mit allem, was dazu gehörte, stand und lag auf dem Fußboden. Der alte Schneidermeister sah aus wie ein Toter. Seine und seines Sohnes Augen begegneten sich in einem festen, langen Blick. Der Starrsinn und die unbeugsame Art des Vaters fanden ihren Widerhall in dem Jungen, der blaß aber unbeirrt vor dem erzürnten Mann stehen blieb. Minutenlang herrschte drückendes Schweigen, das nur durch die leisen, bittenden Worte der Mutter zuweilen unterbrochen wurde, dann aber streckte der Meister die Hand aus. »Wem gehört das da?« fragte er, auf Roberts Schiff deutend. »Mir, Vater, und ich will es auch behalten.« »Still. Von wem hast du das Buch und das Gerät bekommen?« Robert hatte sich auf diese Frage bereits vorbereitet. Die Lüge flößte ihm ja schon längst keinen Widerwillen mehr ein. »Von Georg«, erwiderte er ruhig. »Das ist nicht wahr!« brauste der Alte auf. »Solch ein Bettelbube, den der Seiler, nur weil es ihm so schlecht geht, überhaupt in Arbeit behält, der kann nichts verschenken. Antworte, woher du es hast.« »Von Georg. Und willst du mir nicht glauben, so laß es, darum kümmere ich mich nicht.« Der Schneider stutzte und ließ die Hand sinken. »Ich glaube, daß du die Wahrheit sprichst«, sagte er nach einer Pause, »denn so dreist lügen könnte mein Sohn nicht. Ich wenigstens habe es, solange ich lebe, nicht gekonnt.« Robert ertrug mit äußerer Ruhe den Blick, der diese Worte seines Vaters begleitete. In ihm stürmte es, aber der Trotz hielt jede Rührung in Schranken. Er schwieg, ohne sich von der Stelle zu bewegen. »Wer hat dir die Spielerei erlaubt?« fuhr Meister Kroll fort. »Du wußtest, welches Unrecht du begingst, sonst würdest du aus der Sache kein Geheimnis gemacht haben. Du wolltest deinen Vater betrügen, nicht wahr?« »Ich wollte dir das Schiff nicht zeigen. Wenn du darin einen Betrug erkennst, so kann ich es nicht ändern.« Der Alte nickte. »Ich weiß nun genug«, sagte er kalt. »Trag das Ding in die Küche, alles, auch das Buch.« »Vater!« – – »Gehorche!« rief rot vor Zorn der Alte. »Willst du deinem Vater den Gehorsam verweigern?« In diesem Augenblick erschien die Mutter. Ohne ein Wort zu sagen, ergriff sie die verschiedenen Gegenstände und trug sie hinaus auf den Herd. Robert sah ihr zu, unfähig, jetzt einen Entschluß zu fassen. Sollte er das Äußerste tun, um seiner Mutter das geliebte kleine Schiff zu entreißen? – Er konnte es nicht, aber er folgte wie im Traum der alten Frau und sah mit starrem Blick auf den gefährdeten Schatz. Der Vater wollte ihn vernichten, das war sicher. Und wirklich betrat Meister Kroll die Küche. Er handelte keineswegs im Zorn, sondern wohlüberlegt und mit größter Ruhe; er machte aus der ganzen Sache ein förmliches Strafgericht. Zuerst warf er das Buch in die Flammen, und dann ergriff er das Beil und das Schiffchen. Robert stieß einen lauten Schrei aus. »Vater, Vater, ich bitte dich«, rief er, außerstande, noch in diesem verhängnisvollen Augenblick zu schweigen, »ich bitte dich, laß mir das Schiff. Es ist meine einzige Freude.« Der Alte schüttelte den Kopf. »Gerade darum«, entgegnete er nachdrücklich. »Liebtest du dein Fach, und wärest du ein fleißiger, gehorsamer Lehrjunge, so würde ich dir gern für deine Freistunden eine harmlose Spielerei erlauben. Hier aber handelt es sich um viel Ernsteres, und die Strafe soll so tief treffen, daß du sie nie wieder vergißt.« Er hob die schwere Axt – es war dem Jungen, als würde er selbst getroffen – und der Schlag fiel dröhnend in den fertigen Rumpf des Schiffchens. Ein klaffender Spalt hatte es der Länge nach getrennt. Robert wandte sich ab. Seine Fäuste waren geballt, seine Lippen, zuckten und aus den Augen brachen Tränen, aber er beherrschte sich doch – er versuchte keine Gegenwehr. Die Trümmer des zerstörten Baues flogen ins Feuer, die übrigen Holzstücke in den Winkel, und das Gerät packte der Alte auf den Schrank. »Das war eins«, sagte er, »und nun geh ins Zimmer, Junge. Wir sprechen uns weiter.« Robert gehorchte schweigend. Mochte der Vater tun oder lassen, was er wollte, das schien jetzt nach dem Verlust des Schiffchens und des Buches ganz gleichgültig, wenigstens glaubte es der Junge, aber er sollte sich täuschen. Meister Kroll rief auch die Mutter ins Zimmer. »Höre«, wandte er sich an seinen Sohn, »was ich dir zu sagen habe. Nach meiner ursprünglichen Absicht solltest du in drei Jahren zum Gesellen gemacht und vom Lehrling losgesprochen werden, aber das hast du nun nicht mehr verdient. Deine Lehrzeit soll erst um sein, wenn du neunzehn bist, – sie ist auf vier Jahre erhöht worden. So, das sagte ich dir als Meister, und nun kommt der Vater. Zieh die Jacke aus.« Der Junge hatte wie ein Gerichteter die schrecklichen Worte des Alten über sich ergehen lassen, fast unfähig, den neuen Schlag in seiner ganzen Schwere gleich zu fühlen, – jetzt aber richtete er sich plötzlich auf. Alles Blut schoß ihm ins Gesicht. »Vater, du willst mich schlagen?« preßte er hervor. »Das will ich, wie es meine Pflicht ist. Zieh die Jacke aus.« Robert trat hastig zurück. »Du darfst mich nicht schlagen, Vater«, rief er außer sich, »du darfst es auf keinen Fall, denn ich bin konfirmiert. Tu es nicht, Vater.« Aber der Alte zog ihn mit einem einzigen Griff zu sich. »Ist es schon so weit gekommen«, rief er, »will der junge Hahn gegen Gott und Menschen krähen, was? – Ich sollte meinen Jungen nicht mehr schlagen dürfen, nur weil er kein ABC-Schütze mehr ist? Wehre dich gegen deinen Vater, du Taugenichts, wenn du den Mut dazu findest.« Die Schläge fielen schwer und dicht auf den Rücken des Jungen. Robert fühlte etwas wie eine Erstarrung, einen schweren Schmerz, aber er ertrug die Bestrafung, ohne seine Kräfte dem Vater entgegenzusetzen; er wußte, daß jetzt sein Entschluß feststand, daß diese Stunde zwischen ihm und dem Vater das letzte Band zerschnitten hatte. Er sprach keine Silbe, als der Vater den Stock in die Ecke warf und ihm sagte, daß er nun gehen könne. Er hörte es kaum. Als aber der Abend kam, schlich er sich hinaus und suchte seinen Freund. Schluchzend vor Gram und Zorn stammelte er in abgebrochenen Lauten die Geschichte dieses Tages. Auch ohne die tiefe Dunkelheit ringsumher wäre er zu erregt gewesen, um Georgs triumphierendes, zufriedenes Lächeln bemerken zu können. »Ich will fort«, schloß er, »jetzt um jeden Preis und lieber heute als morgen. Georg, hilf mir, daß ich ein Schiff bekomme.« Der Seiler zuckte die Achseln. »Nichts leichter als das«, antwortete er, »nur mußt du Geld beschaffen. Ich besitze gar nichts.« Robert nickte. »Es ist gut«, sagte er, »ich will es tun. Der Vater sieht mich nie im Leben wieder, also kann er wohl für seinen Sohn das letzte Opfer bringen. Wieviel brauche ich?« »Hm, je mehr, desto besser. Greif nur tüchtig hinein, denn das Seezeug kostet schweres Geld. Inzwischen werde ich Erkundigungen einziehen, wann ein Schiff ausläuft, das dich brauchen kann.« Der Junge erschrak. »Bei Peter Volland?« fragte er. »Ja, bei ihm. Er kennt alle Kapitäne und alle Agenten, außerdem ist er mein bester Freund, der gewiß für dich tun wird, was in seiner Macht steht. Dein Entschluß ist also bestimmt gefaßt?« »Ganz bestimmt«, erklärte Robert. »Würdest du dir solche Behandlung gefallen lassen, Georg? – Ich glaube kaum.« Der Seiler lachte spöttisch. »Wirklich nicht«, antwortete er. »Ich wäre schon längst auf und davongegangen – aber du hattest ja nie dazu den Mut.« Robert dachte an die erlittene Strafe und ballte noch jetzt die Faust. »Ich habe Mut«, flüsterte er, »besorge du nur ein Schiff, hörst du?« Der Seiler versprach, noch am gleichen Tag an den Hamburger Baas zu schreiben; und wirklich brachte er auch nach kurzer Zeit einen Brief, in dem Peter Volland schrieb, daß das holländische Schiff »Antje Marie« zur Abfahrt bereit im Hafen liege. »Kapitän van Swieten sucht gerade einen Jungen«, schloß er, »und wenn dein Freund zur rechten Zeit eintrifft, so kann er die Stelle bekommen.« Robert jubelte laut. »Aber du gehst mit, Georg«, bat er, »du zeigst mir die notwendigsten Wege und hilfst beim Einkaufen, nicht wahr?« Der Seiler nickte. »Kannst dich darauf verlassen, Junge. Sei nur guten Mutes, jetzt ist dein Glück gemacht, wenn du das Geld erst hast.« »O – darum sorge dich nicht. Morgen abend ist bei meiner Tante Christine eine Geburtstagsfeier, und dahin gehen meine Eltern. Ich habe also Zeit genug, den Kasten zu öffnen.« »Nimm ungefähr sechzig Taler«, rief Georg. »Das brauchst du bestimmt.« Robert nickte und arbeitete dann am folgenden Tag Seite an Seite mit dem Vater, ohne ein Wort zu sprechen. Meister Kroll hatte ihm gesagt, daß er erst wie ein gutes Kind um Verzeihung bitten müsse, und dagegen sträubte sich sein Trotz. »Ich bin mir keiner Schuld bewußt«, dachte er, »warum sollte ich also nachgeben.« Der Tag schien endlos, aber er ging doch zu Ende, und aufatmend sah Robert die Eltern fortgehen. Der Vater sprach ja nicht mit ihm, nur die Mutter hatte leise gebeten, er möchte nicht fortlaufen, sondern auf alles achtgeben. Und nun war er allein. Aber noch wachte alles auf der Straße und in der Nachbarschaft, noch konnte er den Raub nicht ausführen, er wagte kaum, daran zu denken. Seine Hand fütterte die Tiere im Hof, gab der Kuh das Heu und den Schweinen ihre wenig appetitliche Brühe aus Küchenabfällen und Schrot. Es war ihm ganz eigenartig zumute. In den wenigen Worten »zum letzten Male« liegt ja immer etwas Herzbeklemmendes, und wenn das Gewissen unruhig vor der Zukunft warnt, so ist es doppelt schwer, der Entscheidung fest entgegen zu sehen. Robert glaubte, daß die Tiere noch niemals so zutraulich gegen ihn gewesen waren, daß er die enge kleine Heimat seiner Eltern noch nie so lieb gehabt hatte wie an diesem Abend. Er streichelte Pikas, den alten zottigen Hund, kraute die Köpfe der Ziegen, Träne auf Träne fiel über sein Gesicht herab. Er wollte fort, der Entschluß wankte keinen Augenblick; ihn lockte die See und die Ferne, aber dennoch – Er erschrak, als Georgs Schatten seine Stirn streifte. »Hast du's?« fragte der Seiler. Robert schüttelte sich wie im Fieberfrost. Er reichte dem Freund das Werkzeug, das er in der Tasche getragen hatte, und wandte den Blick ab. »Du«, sagte er, »mir ist das alles anvertraut, ich soll es vor Spitzbuben behüten, da kann ich unmöglich den Kasten selbst erbrechen. Tu du es für mich.« Der Seiler horchte auf. Jähe Röte überflog sein blasses Gesicht, seine Augen funkelten. »Ich?« sagte er. »Aber mir gehört ja das Geld nicht.« »Einerlei. Ich – na, nenne mich ruhig feige, Georg, aber ich habe den Mut nicht. Ich kann kein Geld stehlen. Das frühere war mein Eigentum.« Der Seiler lachte leise. »Bist ein Kind«, spöttelte er, »bist ein Muttersöhnchen, das sich vor seinem eigenen Schatten fürchtet. Aber gut – ich will hingehen und die sechzig Taler nehmen. Ist vorn an der Straße die Tür verschlossen?« »Ja. Auch die Läden habe ich vorgelegt.« »Das war richtig. Paß nur hier gut auf, daß niemand kommt.« Die schlanke Gestalt schlüpfte ins Haus, und Robert horchte atemlos. Wenn jetzt jemand klopfte, wenn zufällig die Eltern zurückkamen! Der Angstschweiß drang aus allen seinen Poren. Er stand auf dem Sprung, sich bei dem ersten Laut über den Zaun ins Freie zu retten. Mußte denn nicht jeder sehen können, daß er ein Verbrecher war, daß er den Dieb in das Haus eingelassen hatte? – Schleichende Schritte kamen über den Hof. Georg sah im Mondschein noch bleicher aus als gewöhnlich. Er war verwirrt, er schien zu zittern. »Da«, raunte er, aus seiner Mütze die blanken Taler in Roberts Hände schüttend, »da. Es ist doch merkwürdig, und man wird ein Hasenfuß dabei.« Robert schob das Geld zurück. »Behalte es«, antwortete er. »Du sollst ja für mich einkaufen, ich mag es nicht anrühren.« »War niemand in der Nähe?« flüsterte Georg. »Kein Mensch. Also morgen abend um halb sieben Uhr fahren wir nach Altona?« Der Seiler wog das Geld in der Hand. »Hm«, meinte er, »diesmal müssen wir zu Fuß gehen. Man könnte uns sehen, und die Geschichte wäre verraten. Bist du erst einmal bei Peter Volland, so laß sie dich nur suchen, dann hat es keine Not mehr.« Robert strich das verworrene Haar aus der Stirn. Er bekämpfte mit Mühe die Bewegung, die ihn durchzitterte. »Du«, sagte er, »das ist so, wie es der Lehrer in der Schule erzählte, weißt du, von dem großen Ferdinand Cortez, der hinter sich die Schiffe verbrannte! Damals habe ich das gar nicht so recht verstanden, aber nun ist mir alles klar geworden. Und ich bin gerade in der gleichen Lage, nur daß ich nicht andere vorwärtstreibe, sondern mich selbst. – Wir gehen also bestimmt um sechs Uhr abends von hier fort?« »Was mich betrifft, ja!« antwortete Georg. »Und mich, verlaß dich darauf.« Der Seiler kroch durch die Hecke, und Robert ging mit zaghaften Schritten in das Schlafzimmer. Mußte es denn nicht an dem Schrank zu sehen sein, daß ihn diebische Hände geöffnet hatten? Mußten nicht alle die stummen Zeugen der schlechten, ehrlosen Tat sich anklagend gegen den Sohn erheben, der seines Vaters Geld gestohlen hatte? Ein scheuer Blick streifte die Umgebung, selbst nach Fußspuren suchte Roberts böses Gewissen, und geängstigt ging er im Dunkeln zu Bett, aber ohne die Augen schließen zu können. Vielleicht, wenn er einschlief, kam ja der Vater, suchte zufällig in dem eisernen Kasten irgendein Papier und entdeckte alles. Er durfte nicht ruhen, seine eigene Sicherheit gebot ihm zu wachen. Die Eltern kamen ziemlich spät nach Hause, und Robert fühlte hinter den gesenkten Wimpern einen schwachen Lichtschein, der sein Auge traf. Meister Kroll schützte das Licht mit der Rechten, als er sich über den regungslosen Jungen herabbeugte. Robert hörte einen unterdrückten schmerzlichen Seufzer. »Mutter«, sagte der Alte, »es ist doch eigentümlich. Nun habe ich seit acht Tagen kein Wort mehr mit dem Jungen gesprochen, aber das rührt ihn nicht. Robert ist verstockt, er fühlt für seine Eltern keine Liebe.« Der Lichtschein erlosch, und der Junge biß in das Kissen, um nicht laut zu weinen. Oh, wäre er erst weit fort von hier, damit diese schrecklichen Qualen aufhörten. Er hatte sich die Sache so leicht gedacht, so herrlich und beglückend, jetzt dagegen fühlte er es wie eine Zentnerlast auf dem Gewissen. Was die Mutter antwortete, das hörte er nicht. Halb von wirren Träumen geschreckt, halb unruhig wachend, verbrachte er die Nacht. Jetzt endlich war ja der letzte Morgen angebrochen, und es dauerte nur noch Stunden, bis die Erlösung schlug. Er zog seinen besten Anzug an, steckte Kleinigkeiten, die ihm besonders lieb waren, in die Tasche und nahm ein Buch, scheinbar um zu lesen, in Wirklichkeit aber, um gedankenlos über die Blätter hinweg ins Leere zu sehen. Wenn ihn doch der Vater nur einmal angeredet, nur eine, wenn auch noch so geringfügige Bemerkung gemacht hätte, dann war es eine Art von Abschied, eine halbe Versöhnung, aber es geschah nichts. Stunde um Stunde verstrich; es schlug eins, zwei, man trank Kaffee, und der Alte las die Zeitung wie gewöhnlich, die Mutter saß im Sonntagsstaat strickend am Fenster, und die Uhr hinter dem Ofen tickte eintönig. Drei – vier – fünf – jetzt mußte der Entschluß gefaßt werden. »Darf ich ein bißchen fortgehen?« fragte halblaut der Junge. Meister Kroll blickte auf. »Du fragst, als hättest du während der Woche deine Pflicht getan und dich wie ein gutes Kind betragen«, antwortete er langsam und nachdrücklich. »Glaubst du wirklich, ein Vergnügen verdient zu haben?« Robert schwieg. Er fühlte den alten Trotz mit neuer Gewalt erwachen. Warum mußte der Vater jeden Augenblick benutzen, um Moral zu predigen, warum konnte es in seiner Gegenwart keine Freude, keine Freiheit geben? Es drückte wie ein Alp, das ernste, grübelnde Wesen des Alten, der von den Wünschen und den Neigungen eines Jungen nichts mehr zu wissen schien, ja, der das alles vielleicht nie im Leben gekannt hatte. Ein Pause verging, dann erhob sich Meister Kroll vom Stuhl. »Deine Tante Christine erkundigte sich gestern, warum wir dich nicht mitgebracht hätten«, sagte er, »doch als ich ihr die Gründe auseinandersetzte, stimmte sie mir vollkommen bei. Sie schickt dir aber, damit du an ihrem Geburtstag nicht vergessen seist, diesen Taler, den ich in deine Sparbüchse stecken werde. Natürlich gehst du hin und bedankst dich.« Er suchte in der Tasche den Schlüssel zum Schrank und schloß auf. Jetzt zeigte sich der eiserne Kasten. Robert stand wie gelähmt. Es brauste in seinen Ohren, seine Hände sanken schlaff herab, und alles Blut war aus seinen Wangen gewichen. Jetzt stand die Entdeckung unmittelbar bevor, jetzt sah der Vater die leere Sparbüchse und vielleicht sogar auch den Raub, der an seinem Geld begangen worden war – – Noch eine Minute, dann hatte er den Kasten geöffnet – – Roberts Knie zitterten. Er war halb bewußtlos. Da wandte sich der Alte um. »Es ist einerlei«, sagte er, den Schrank wieder schließend, »ich habe meinen Schlüssel in dem andern Rock stecken lassen. Der Taler gehört dir, du weißt es jetzt. Und nun geh meinetwegen, aber um zehn Uhr bist du zu Hause, das laß dir gesagt sein.« Er vertiefte sich wieder in die Zeitung und bemerkte daher nicht, daß Robert wie ein Betrunkener aus dem Zimmer wankte. Alles drehte sich vor seinen Augen, wohin er blickte, sah er den offenen Geldkasten, wie gepeitscht entfloh er dem elterlichen Hause. Die Gefahr war ihm so nahe gewesen, so furchtbar nahe, daß er sich fast betäubt fühlte. Also das sollte der Abschied sein? – Aber daran durfte er jetzt nicht denken. Nur fort, fort. Der Boden brannte ihm unter den Füßen. Er ging dem Seiler entgegen und traf ihn gerade, als er mit einem ziemlich großen Bündel unter dem Arm aus dem Haus trat. In der Hand hielt er einen derben Knotenstock. »Aha«, sagte Georg gutgelaunt, »da bist du ja. Weshalb läufst du denn bis hierher an das Ende von Krähwinkel? Wir müssen ja auf diese Weise an eurem Hause wieder vorüber.« Robert trieb zur Eile. »Das macht nichts«, antwortete er. »Aber weshalb siehst du so reisefertig aus? Was soll das schwere Bündel?« »Darum kümmere dich nicht, mein Junge. Es sind nur ein paar überflüssige Kleidungsstücke darin, die ich in Hamburg verkaufen will.« Er trat an Roberts Seite, und die beiden durchschritten nun schweigend den stillen Ort. Auf dem entgegengesetzten Bürgersteig gehend, sah Robert jetzt zum letztenmal sein Elternhaus. Durch die herzförmig ausgeschnittenen Fensterläden schimmerte das Licht, und Pikas saß vor der Tür. Schweifwedelnd näherte er sich in Sprüngen seinem jungen Herrn. Der Junge beugte sich herab, um die Liebkosungen des einstigen Spielkameraden und Kindheitsgefährten zurückzugeben. Es wurde ihm weich, so seltsam weich ums Herz. Wollte ihn Pikas warnen? Wollte er ihm erzählen von dem alten Vater, der drinnen im Zimmer den Kopf in die Hand legte und seufzend fragte: »Mutter, wie kann ein Kind so verhärtet sein?« – Die Stirn des Jungen und die Schnauze des Hundes berührten sich. »Leb wohl, Pikas«, flüsterte Robert, »leb wohl, altes Tier!« – Aber noch hielt er den Hund fest, noch tönte ihm sein leises Winseln wie das Weinen einer Menschenstimme ins Ohr. Er konnte sich von dem Lichtschimmer hinter den Fensterläden nicht losreißen, konnte die Tränen nicht zurückhalten, die über sein Gesicht herabliefen. Da zupfte ihn Georg am Ärmel. »Du, soll der Alte herauskommen und dir eine neue Tracht Schläge geben?« fragte er. Robert fuhr auf. Ein ungeduldiger Ruck der Hand wischte die Tränen aus den Augen. Er streckte den Arm befehlend gegen das Haus. »Geh fort, Pikas!« sagte er, seine Stimme zur Festigkeit zwingend, »geh fort!« Der Hund senkte den Kopf und trabte mit langsamen Schritten über die Straße. Vor dem Hause stand er still und sah bittend zurück. Robert riß sich gewaltsam los. Ein halblautes »kusch!« befahl dem treuen Freund sich zu legen, und dann wanderten die beiden jungen Leute in das Dunkel des Novemberabends hinein. Noch einige wenige Häuser, noch hier und da ein Gruß, und hinter ihnen lag der kleine friedliche Heimatort. Der Wind fuhr über die Stoppeln und rauschte in den laublosen Zweigen der uralten Eichen am Wege; graue Wolkenschatten huschten wie Gespenster über den Himmel. »Es ist kalt«, raunte Georg, »knöpf deinen Mantel zu.« Aber die Worte klangen, als hätten ihm die Zähne im Munde geklappert. Es war nach Mitternacht, und in Peter Vollands Schenke drängten sich Kopf an Kopf die Gäste. Der Sonntag wird ja so gern bis in den Morgen hinein ausgedehnt, und so ging es auch hier, obwohl sich die Folgen des Trinkens bei mehreren allzu deutlich zeigten. Diejenigen Matrosen, die auf den Bänken in festem Schlaf lagen, waren noch am wenigsten lästig, dagegen tobten manche, durch das Übermaß des Alkohols in streitlustige Laune versetzt, wie die Wilden im Raum herum. Das Schreien, Singen und Fluchen in allen Mundarten war betäubend. Besonders ein Spanier, den die andern »Gallego« nannten, trieb es im Trinken und Lärmen am schlimmsten. Er war ein mittelgroßer magerer Bursche von etwa fünfundzwanzig Jahren, mit kohlschwarzem, lang herunterhängendem Haar, schwarzen tückischen Augen und einem wachsgelben Gesicht. Sobald sich seine Matrosenjacke zufällig öffnete, sah man in der Brusttasche den Griff eines kleinen Dolches. Er und ein Malaie, dem auch schon zu viel Rum über die Lippen geflossen war, standen sich wie Kampfhähne gegenüber, während ein Teil der Gäste bemüht war, den Streit zu schlichten, und wieder andere fortwährend hetzten. Peter Volland schien das alles nicht zu sehen und nicht zu hören. Bis die blanken Klingen in der Luft funkelten, pflegte er sich in nichts zu mischen, dann aber begann seine Tätigkeit, die meist im Hinauswerfen beider Parteien bestand. So weit war es aber jetzt noch nicht gekommen, und Peter wartete ruhig seine Zeit ab. Gallego saß gegen die Wand zurückgelehnt und sang mit herausforderndem Ton ein spanisches Trinklied, während der Malaie leise vor sich hinmurmelte. An demselben Tisch spielten mehrere andere das beliebte »Sechsundsechzig«. Peter Volland sprach eben in der Ecke des Zimmers mit zwei Neuangekommenen, es waren Robert und Georg. Er hatte sie sehr herzlich begrüßt und dann unaufgefordert eine Flasche Wein herbeigebracht. Seine breite, nicht eben übermäßig sauber gehaltene Hand strich dem Jungen über das Haar. »Also du willst zur See gehen, mein Kleiner?« sagte er, »das ist brav von dir. Kein Beruf ist freier und männlicher als der des Seemanns. Na, trink nur erst einmal und iß tüchtig, dann werde ich euch beiden eine Koje anweisen, und morgen kannst du bei Kapitän van Swieten anmustern.« Robert sah in das Gesicht des Wirtes. Er fühlte wieder denselben Abscheu wie damals. »Haben Sie schon mit ihm gesprochen?« fragte er zaghaft. »Freilich, mein Junge. Die ›Antje Marie‹ geht nach Kuba unter Segel, und nur der Posten des Kajütenjungen ist noch unbesetzt. Du sollst ihn haben, und zwar auf meine Fürsprache hin. Ich sage dir, ein besserer Kapitän als Gerret van Swieten hat noch nie die Decksplanken eines Schiffes betreten. Er ist eine Seele von einem Mann.« »Liegt die Galliot hier in der Nähe?« fragte Georg. »Hinten beim Grasbrook«, war die Antwort. Dann ließ der Wirt seine beiden jungen Gäste mit der Flasche und dem reichlich aufgetragenen Essen allein. Die Matrosen am anderen Tisch schienen sich für den Augenblick beruhigt zu haben, und Robert gewann Zeit, ein wenig Umschau zu halten. Wie war das alles so ganz anders als in der Heimat! Pfützen von Bier, Branntwein und allen möglichen sonstigen Getränken bedeckten Schenktisch und Fußboden, die Decke war fast verräuchert, und Vorhänge fehlten ganz. Zu diesen unangenehmen Eigenschaften kam noch der Geruch von Speisen und Getränken, der Dunst der nassen, vom Regen durchweichten Jacken und der Qualm zahlloser Zigarren, kurz, es war eine höchst ungemütliche, für den Neuling geradezu abstoßende Atmosphäre. Robert wandte sich an Georg. »Du, laß uns schlafen!« flüsterte er. »Es gefällt mir hier sehr schlecht.« Der Seiler zuckte die Achseln. »Daran mußt du dich von jetzt an gewöhnen«, sagte er. »Aber die Matrosen sind doch nicht immer betrunken, Georg? Sieh dir den Spanier an, wie er die Augen rollt und die Fäuste ballt.« Georg lachte. »Laß ihn doch, Junge. Das gibt gleich eine regelrechte Keilerei – aha, da geht es schon los.« Und wirklich funkelte Gallegos Messer über den Köpfen der anderen. Wenigstens ein Dutzend Matrosen waren von ihren Stühlen aufgesprungen, die Jacke des Malaien flog unter den Tisch, und seine muskulösen Arme streckten sich. Er knirschte eine Herausforderung, deren Wortlaut niemand verstand, die aber ihrem Sinn nach nicht zweifelhaft war. Ein stummes, wütendes Ringen begann. Der Spanier war zu betrunken, um das kurze Dolchmesser gebrauchen zu können; es schwebte, von der Faust des Malaien gehalten, fast immer in der Luft, während Gallego, blutüberströmt, sich unter den Stößen und Schlägen des anderen auf dem Fußboden wälzte. Seine Augen, haßerfüllt, wie im Wahnwitz glänzend, hingen an jeder Bewegung des überlegenen Gegners. Nur eine Sekunde, eine einzige unachtsame Wendung, und der Dolch würde seinen Weg in das Herz des Malaien nicht verfehlen, davon waren alle überzeugt. Sie standen in lautlosem Schweigen um das kämpfende Paar. Niemand rührte eine Hand, um sie zu trennen. Da ertönte durch die Stille ein lautes Klopfen. »Hallo!« rief es von draußen, »aufmachen!« »Die Polizei!« raunte Peter Volland mit kreidebleichen Lippen. »Schnell, Gallego – und auch ihr beide, schnell!« Die letzte Aufforderung galt Robert und Georg. Der Wirt sah zu dem Seiler hinüber, und der zog im Fluge den Jungen durch eine Hintertür des Schankzimmers in einen dunklen Raum hinein. »Es ist zu deiner Sicherheit«, flüsterte er. »Sei ganz still!« Robert gehorchte, obgleich ihn der wilde Auftritt heftig erschreckt hatte. Er sah noch das Dolchmesser des Spaniers sich erheben und hörte dann ein dumpfes Röcheln. Ehe er sich über irgendeine Einzelheit deutliche Rechenschaft geben konnte, schleppten zehn kräftige Arme den widerstandslosen Gallego in die dunkle Küche hinein, die Tür wurde verschlossen und dann dem immer lauter werdenden Klopfen Folge geleistet. Robert und Georg beobachteten durch die Spalten eines verschobenen Vorhanges alles, was sich in der Schenke abspielte. Neben ihnen, auf dem Fußboden, lag der Spanier, schwer atmend und leise murmelnd, aber regungslos. Robert sah alles nur mit halbem Bewußtsein, wie man die Gestalten eines Traumes an sich vorüberziehen sieht. In seinem Blut schwimmend lag vorn der Malaie, bei dem zwei Polizisten standen und der trotz des langen und tiefen Stiches durch den Oberarm fortwährend Flüche hervorsprudelte. Peter Volland erklärte, daß er von dem ganzen Streit nichts wisse, sondern im Keller beschäftigt gewesen sei und das Klopfen erst nach der Tat gehört habe. Die beiden Polizisten schienen zu wissen, daß keiner dieser Matrosen die Kameraden verraten werde; sie begnügten sich damit, den Verwundeten in ihre Mitte zu nehmen und ihn zur nächsten Wache zu bringen, freilich nicht ohne vorher die Namen der Anwesenden notiert zu haben. Als sich die Tür hinter ihnen und dem knirschenden Malaien schloß, atmete Peter Volland erleichtert auf. Er ging zu dem Spanier, mit dem er lange und eindringlich flüsterte. Die Folge war, daß sich der Messerheld aus einer Hintertür hinausführen ließ, nachdem ihm vorher Hände und Kleider gereinigt worden waren und er auch seine Waffe wieder eingesteckt hatte. Der Wirt klopfte zurückkehrend auf Roberts Schulter. »Hast dich erschrocken, Kleiner?« fragte er. »Das kommt manchmal vor, man kann beim besten Willen die Hitzköpfe nicht zur Ruhe bringen, ehe Blut geflossen ist. Na, dort stehen eure Betten – geht schlafen, Kinder.« Die Schenkstube war schon während dieser Unterhaltung leer geworden, jetzt wurde das Licht ausgedreht und alles war dunkel. Robert klammerte sich an den Arm des Seilers. »Verlaß mich nicht!« bat er. »Dummes Zeug«, erwiderte Georg. »Du wirst bald selbst in die Lage kommen, dich einmal gehörig schlagen zu müssen! Aber sei jetzt ruhig und laß uns ausschlafen. Wir haben morgen noch viel zu laufen.« Robert schwieg. Es schien ihm, als sei Georg ein anderer geworden. Unfreundlich und kurz angebunden, ließ er nur wenig mit sich sprechen. – Der Junge suchte schweigend das Bett und schlief trotz der ungeheuren Aufregung bald ein. Während der vorherigen Nacht hatte er ja kein Auge geschlossen, so daß er der Müdigkeit nicht widerstehen konnte. Es schlug acht Uhr, als er am folgenden Morgen erwachte. Nachdem er munter geworden war, ging sein erster Blick zu Georg hinüber, aber er traute kaum seinen Augen, kaum unterdrückte er einen lauten Schrei, – das Bett war unberührt, und von Georg keine Spur zu sehen. Einen Augenblick fühlte er eine plötzliche Lähmung. Was nun? War es möglich, daß ihn der Seiler ohne Geld oder Schutz heimlich verlassen hatte? – Er sprang auf und zog sich so schnell wie möglich an; dann lief er in die Schenkstube, wo eine alte Frau den Fußboden scheuerte, während Peter Volland auf zwei Stühlen lag und die Zeitung las. »Guten Morgen«, stammelte Robert, noch ganz erschreckt. »Bitte, sagen Sie mir, wo Georg ist.« Der Wirt blickte auf. Ein halb spöttisches, halb gutmütiges Lächeln umspielte seine Lippen. »Georg?« wiederholte er, »Georg? – Ach, der Wolfram! Nun, der wird eben ausgegangen sein, mein Kleiner, ich weiß es nicht. Margaret, gib dem Jungen ein Frühstück!« wandte er sich an die schmutzige Frau. Robert hob angstvoll die Hand. »Aber ich habe kein Geld!« rief er. »Georg hatte alles bei sich und – der ist fort. Er hat nicht hier geschlafen?« Peter Volland zuckte die Achseln. »Meine Gäste sind keine Gefangenen«, antwortete er, »sie können kommen und gehen, wie es ihnen Spaß macht. Um das Geld kümmere dich nicht, Junge, sondern iß und trink. Wolfram wird schon zurückkommen.« Diese Zuversicht belebte seinen Mut. Er aß mit dem Appetit seiner sechzehn Jahre, was ihm die alte Margarete vorsetzte, Kaffee, Brot und Eier, nur als ihn Peter Volland fragte, ob er auch einen kleinen »Magenwärmer« wünsche, schüttelte er errötend den Kopf. Der Wirt lachte. »Sollst es schon kennenlernen«, sagte er. »Die Seeluft zehrt – sogar bis hier in die Elbe hinein. Margaret, gib die Geneverflasche.« Er nahm sie und trank ohne ein Glas in langen Zügen. »So«, sagte er, »das hält Leib und Seele zusammen. Und nun, mein Junge, wenn du satt bist – iß übrigens, solange du Hunger hast! – dann wollen wir deine Ausrüstung besorgen. Die ›Antje Marie‹ sticht um drei Uhr nachmittags in See, und daher müssen wir uns beeilen.« »Um drei?« – Robert wurde blaß wie der Tod. »Ich bin verloren«, rief er, »ich – –« Der Wirt schien durchaus nicht erstaunt. »Nun?« lächelte er, »nun? Was haben wir denn, Kleiner? – Immer ruhig Blut, das ist die Hauptsache.« »Oh«, schluchzte der Junge, »Sie wissen es doch, ich habe kein Geld! Georg hat alles.« Der Wirt erhob sich schwerfällig aus seiner liegenden Stellung. »Dieser Wolfram«, sagte er in neckendem Ton, »dieser Teufelskerl. Ich will ihm den Kopf waschen, wenn er hier wieder vor Anker geht. Na, heule nur nicht, Kleiner. Ich habe noch so manches Stück Matrosengarderobe, das mir als Pfand zurückgelassen worden ist, dahinein wollen wir dich stecken. Komm einmal mit.« Er ging voran, und Robert folgte ihm in ein halb dunkles, auf einen engen, wüsten Hof hinausgehendes Zimmer, wo alle möglichen Gegenstände übereinander geschichtet und gestapelt herumlagen. Seemannsjacken, Mützen, Lackhüte, Stiefel, Seekisten, Tauwerk und Tabakrollen, alles türmte sich bunt und regellos bis zur Decke. Peter Volland stemmte beide Hände in die Seiten. »Nun such, Junge«, sagte er, »irgend etwas wird dir wohl passen, und wenn's ein bißchen zu groß ist, so mußt du eben hineinwachsen. Auch eine Kiste kannst du dir nehmen und Wollzeug, überhaupt was nötig ist, um erst einmal den Bauernjungen abzustreifen. Pack dir alles gleich zusammen, damit wir es in die Jolle schaffen, und dann komm wieder zu mir. Deinen schwarzen Anzug kannst du mir in Verwahrung geben.« Mit diesen Worten ging er, und Robert stand allein ziemlich ratlos vor all dem Gerümpel, das ihn umgab. Draußen auf dem Hof ein großer Haufe von Scherben, Bierfässern, Flaschen, alten Körben und Packkisten – hier drinnen das wenig einladende Durcheinander von Garderobestücken, in denen Motten und Schimmel hausten, das war seine augenblickliche Umgebung. Aber zögern durfte er nicht, das wußte er. Es war ihm, als werde er verfolgt und könne in jedem Augenblick entdeckt werden. Das passende Leinen- und Wollzeug war baldge funden, ebenso ein Paar Stiefel, aber die Matrosenjacken waren alle viel zu groß. »Was hilft's«, dachte Robert und suchte sich die kleinste heraus, »ich muß hier ein Stück wegnehmen und die Ärmel kürzen. Dann geht es.« Er ließ sich heimlich von der mürrischen Margarete eine Nähnadel und etwas Zwirn geben, dann setzte er sich in der Nähe des Fensters auf eine umgekehrte Kiste und nähte drauf los. In der ersten Viertelstunde dachte er nur an die Freude, jetzt schon so bald am Ziel seiner Wünsche zu sein, dann aber kam langsam ein sonderbares Gefühl über ihn. War es nicht eigenartig – ja, mehr als eigenartig – daß er am Anfang der neuen Laufbahn gerade das tun mußte, was er so sehr haßte, nämlich schneidern? Unwillkürlich ließ er die Hände sinken. Wenn in diesem Augenblick der alte Vater das Zimmer betreten hätte, er würde sich ihm, von innerem Drang getrieben, zu Füßen geworfen haben – – Aber es war nur Peter Vollands rotes Gesicht, das sich über ihn beugte. »Was Teufel, da sitzt ja der künftige Nelson und näht wie ein echter, gerechter Meister Fips!« lachte er. »Junge, was ist das?« Robert wandte sich verlegen ab. »Oh«, stammelte er, »die Jacke war ein bißchen groß – aber nun geht es schon. Man muß sich nur zu helfen wissen.« Der Wirt lachte noch immer. »Und alles schon gepackt«, sagte er, »das ist recht. Wenn du die Jacke fertig hast, wollen wir unsere Reise antreten.« Robert blickte auf. »Ist Georg gekommen?« fragte er. »Hab' ihn nicht gesehen! Aber wir brauchen ihn auch nicht. Was willst du an Bord mit Geld? Wenn dich Kapitän van Swieten leiden mag, hast du in Kuba Geld und Freiheit soviel du brauchst. Mußt ihm nur recht zur Hand gehen, das ist die Hauptsache.« Robert versprach, seine Pflichten so pünktlich wie möglich zu erfüllen, und dann fragte er, welche Ladung die »Antje Marie« nach der Havanna zu bringen habe? Peter Volland lächelte schlau. »Welche Ladung?« wiederholte er. »Hm, hm – Mehl und Pökelfleisch, auch eine Partie Bielefelder Leinen, mein Junge. Außerdem nimmt der Kapitän in dem spanischen Hafen Ferrol noch feine Weine hinzu. Die ›Antje Marie‹ hat eine Menge von verschiebbaren Planken, einen Kohlenraum mit doppeltem Boden und Kajütenschränke, wo niemand welche vermutet. Darum braucht auch der alte van Swieten nur zuverlässige Leute, weißt du!« Er blinzelte vertraulich zu Robert hinüber, der ihn aber durchaus nicht verstand, und beendete die Unterhaltung, indem er nochmals zur Eile antrieb. Wirklich hatte der Junge schon gegen zwei Uhr nachmittags seine Arbeit fertig, die Jacke saß wie angegossen. Der schwarze Anzug wanderte in den Kleiderschrank des Wirtes. Robert seufzte, als er sein Eigentum hingab. Was würden Vater und Mutter gesagt haben, wenn sie das gewußt hätten? – Der alte Meister Kroll war nie im Leben jemand etwas schuldig gewesen, hatte nirgends ein Stück seines Besitzes aus Not verkauft – wie schrecklich würde es ihn getroffen haben, von dem einzigen Sohn dergleichen zu hören! Aber das war wieder die Geschichte des Ferdinand Cortez, seines Lieblingshelden. Er hatte auch die Schiffe hinter sich verbrannt. – Die Seekiste wurde in die Jolle gesetzt, Peter Volland ließ sich schwerfällig auf eines der Mittelbretter gleiten, und Robert sprang nach. »Zur Antje Marie!« sagte der Wirt, und dann fuhr Robert wieder denselben Weg, den er am Tage seines ersten Besuches schon einmal gefahren war – nur nicht so leicht war heute sein Herz wie damals. Es klopfte schneller und schneller, je näher man an die holländische Galliot herankam. »Dort liegt das Schiff«, sagte endlich der Wirt, »und ein Schlepper ist schon da. Man scheint nur auf uns gewartet zu haben.« Die Jolle glitt unter dem Bug der Galliot dahin, von Bord streckte sich ein grauer Kopf den Ankommenden entgegen. »Endlich!« sagte in breitem Deutsch eine Männerstimme. »Noch zehn Minuten, Volland, und ich hätte das Fallreep einziehen lassen.« Er winkte einem Matrosen, der die Seekiste an Bord befördern half, die Jolle wurde befestigt und beide stiegen an Deck. »Guten Tag, van Swieten«, sagte der Wirt, »da bringe ich den neuen Jungen. Gefällt er ihnen?« Der Holländer musterte mit langem Blick die hübsche Erscheinung des Jungen. »Bist ein Hamburger Kind, mein Junge?« fragte er. »Nein, Herr Kapitän«, antwortete Robert, »ich bin vom Lande, aber –« Der Holländer hob die Hand. »Weiß schon«, schmunzelte er, »weiß schon. Ich frage nach nichts, was mich und mein Schiff nichts angeht. Kann keinen feinen Herrn an Bord gebrauchen, und auch keinen Duckmäuser und Haarspalter, der erst allen Dingen auf den Grund sehen will. Meine Männer müssen fixe Seeleute sein und aufs Wort gehorchen, willst du das?« »Ja, Herr Kapitän.« »Den ›Herrn‹ kannst du weglassen. Aber ich denke wohl, daß ich dich nehme, obgleich die Binnenländer auf See verflucht selten ihren Mann stehen, besonders die Preußen. Hoffentlich bist du keiner?« »Doch, Herr Kapitän, ich bin aus Holstein.« »Dann taugst du nichts. Die Preußen taugen alle nichts.« Robert sah empor. »Oh, das ist zuviel gesagt«, rief er mutig. »Auch König Wilhelm ist ein Preuße, und doch der beste Mann auf der Welt.« Jetzt lachte der Holländer. »Art steckt drin, Volland«, schmunzelte er. »Ich behalte den jungen Schlingel, und damit basta.« Der Wirt schüttelte die Hand seines Freundes, als habe er damit für Robert den Pakt endgültig abgeschlossen. »Jetzt bist du Kajütenjunge auf der ›Antje Marie‹, wandte er sich an den Jungen, und ich hoffe, daß du meiner Empfehlung Ehre machen wirst. Wenn du wieder nach Hamburg kommst, besuchst du mich.« Er verabschiedete sich dann von dem Holländer und wollte das Schiff verlassen, da zog ihn Robert am Arm. »Bekomme ich nicht ein Anmusterungsbuch?« fragte er, »und muß nicht mein Name –« Peter Volland blinzelte ihm zu. »Hast du Papiere, junger Schlingel?« brummte er. »Soll dich die Polizei in Glückstadt abfangen und wieder nach Pinneberg zurückbringen, he?« Robert erbleichte. Er selbst hatte sich rechtlos gemacht. »Anker lichten!« kommandierte Kapitän van Swieten, und gleichzeitig ertönte auf dem Schleppdampfer ein gellender Pfiff. Der Wirt grüßte noch von der Jolle herauf, das Fallreep wurde eingeholt, die Ankerketten rasselten, und das Schiff begann sich leise zu bewegen – – – Zur selben Stunde saß in Pinneberg der alte Schneider im Lehnstuhl und starrte wie geistesabwesend vor sich hin. Er hörte nicht, daß ihn die schluchzende Frau zu trösten suchte. Sein Gesicht, seine Hände waren eiskalt. »Vater«, bat sie ihn plötzlich, »Vater, sprich ein gutes Wort. Unser Sohn –« Da sah er sie an. »Wir haben keinen Sohn, Mutter«, kam es tonlos über seine Lippen. »Ein Dieb kann nie mein Sohn sein. Schau her! –« Er öffnete den Kasten und ließ die entsetzte Frau hineinblicken. »Es ist alles fort«, sagte er dumpf, »unser Geld, meine Uhr, deine paar Schmucksachen, Mutter, deine Brautgeschenke, du unglückliche Frau, und unser Kind, unser eigenes – hat es gestohlen!« Laut aufschluchzend verbarg der alte Mann das Gesicht in beiden Händen. An Bord der »Antje Marie« An Bord der »Antje Marie« Die Matrosen liefen an Deck hin und her, der Schlepper arbeitete mit voller Maschinenkraft, und die Galliot folgte gehorsam in seinem Kielwasser. An Bord kommandierte der Lotse, denn obwohl das Schiff schon mehrere Tage vorher vollständig seeklar gemacht worden war, unterzog man doch alles einer nochmaligen genauen Prüfung. Verschiedene Wanten wurden nachgesetzt, die Befestigung des großen Bootes, das immer mitten auf Deck vor dem Großmast steht, untersucht und die Segel auf den Rahen soweit gelöst, daß sie auf Kommando sofort gesetzt werden konnten. Robert stand in der Nähe des Matrosenlogis und sah hinter sich den Hafen von Hamburg allmählich verschwinden; dann folgte St. Pauli mit dem Hafenkrankenhaus auf der höchsten Höhe und endlich Altona. Und nun passierte die Galliot das reizende Neumühlen; hier hatte im Oktober der »Blitz« gelegen, hier hatte damals die Sonne ein so bezaubernd schönes Landschaftsbild beschienen, doch heute kräuselte ein frischer Ostwind die Wellen am Bug zu weißem Schaum, heute pfiff es schneidend kalt durch das Takelwerk, und an Land huschten in den Gärten die welken Blätter wie Gespenster wirbelnd durcheinander. Starr heftete der Junge die Augen auf das Ufer. Teufelsbrücke, Blankenese, der Leuchtturm – alles glitt schneller und schneller vorüber. Immer breiter wurde die Elbe, schon ließ sich eine leichte Dünung spüren, und Robert stand noch ganz in Gedanken versunken, da legte sich eine Hand auf seine Schulter. »Nun, mein Junge, was treibst du hier?« fragte eine Männerstimme. Robert fuhr auf. Der das sagte, war ein älterer Mann von mindestens fünfzig Jahren, mit schwermütigem, kränklichem Gesicht und großen, tiefliegenden Augen, die jedoch freundlich auf den Jungen herabsahen. »Möchtest du lieber wieder zurück nach Hause? – Bei Glückstadt ist das noch möglich.« »Mohr!« rief in diesem Augenblick die Stimme des Kapitäns von der Kajütentür herüber, »Mohr – mach keine Dummheiten, hörst du.« Der Alte wandte sich ab. »Der Montag«, flüsterte er mit einem unterdrückten Seufzer, »der Montag. Es wäre so schade um dich!« Robert hatte inzwischen Zeit gefunden, die Frage ganz zu verstehen. »Ich fühle durchaus keine Reue«, antwortete er lebhaft, »und ich will Seemann werden um jeden Preis. – Aber was ist denn mit dem Montag?« fügte er neugierig hinzu. Der Seemann schüttelte leicht den grauen Kopf. »Er bringt kein Glück«, antwortete er, »man soll nichts am Montag beginnen.« Kapitän van Swieten kam breitspurig über das Deck. »Junge«, sagte er, »geh in die Kajüte und wasch das Kaffeegeschirr, hörst du. Nachher soll dir der Steuermann deine Pflichten genau aufzählen, damit du sie ein für allemal kennenlernst.« Die Worte wurden sehr freundlich, aber so bestimmt gesprochen, daß Robert die Absicht des Kapitäns, ihn von dem alten Matrosen zu trennen, klar durchschaute. Aber warum das? Der Mann mit den weißen Haaren und den ernsten Augen hatte ihm doch sehr gefallen. Er ging in die Kajüte und begann das Kaffeegeschirr zu spülen. Während dieser Beschäftigung erschien der Steuermann, dessen mürrisches Gesicht ihm von vornherein Furcht einflößte, und dessen roter Bart fast an eine Mähne erinnerte. Nachdem er in barschem Ton den neuen Kajütenjungen nach Namen und Herkunft gefragt hatte, sagte er stirnrunzelnd: »Du scheinst mir ein sehr vorlautes Maul zu haben, das soll aber bald anders werden. Du hast die Kapitänskajüte und auch meine rein zu halten, Stiefel zu putzen, Kleider auszubürsten und bei Tisch zu bedienen. Für das Geschirr bist du verantwortlich, und was du zerschlägst, das mußt du von deiner Heuer bezahlen. Deine Koje werde ich dir später zeigen. Über ihr befindet sich ein Wandschrank, und – aber geh nur gleich mit mir«, unterbrach er seinen eigenen Satz – »du sollst den Schrank sehen, damit dir meine Befehle verständlicher werden.« Er führte den Jungen zum Vorderteil des Schiffes und gab ihm einen kleinen Schlüssel. »Mach auf!« befahl er, auf eine Tür deutend, und fuhr dann in seiner Erläuterung fort. »Hier steht das Geschirr, jedes in einem bestimmten Fach, um es vor dem Fallen zu sichern, und darunter sind drei kleine Schubladen für den wöchentlichen Bedarf des Kapitäns an Kaffee, Tee und Zucker. Das wird dir vom Untersteuermann an jedem Sonnabend zugeteilt, und damit mußt du auskommen. Ertappe ich dich beim Naschen, so schmeckst du das Tauende.« Robert wurde abwechselnd rot und weiß. Ihm kam die Erinnerung an das gestohlene Geld, von dem er zwar keinen Groschen für sich behalten hatte, dessen Entwendung er aber doch begünstigt hatte. Unfähig, zu antworten, schwieg er und ließ den Obersteuermann seinen Vortrag beenden. »In jedem Matrosen siehst du deinen Vorgesetzten«, fuhr dieser fort, »und untersteh dich nicht, eine vorlaute oder trotzige Antwort zu geben. Wenn der Kapitän nach dir klingelt, erscheinst du sofort mit der Mütze in der Hand, betrittst die Kajüte und fragst höflich nach seinen Wünschen. – Wenn ich selbst dich rufe, so antwortest du gar nicht, sondern hörst nur, was ich sage. Auf jeden Ungehorsam folgt eine Lektion mit dem Tauende, das merke dir vor allem. Und jetzt geh an Deck, um mit anzufassen, wenn die Segel gesetzt werden.« Er verließ das Logis, in dessen Nähe der Kapitän mit langsamen Schritten auf- und abgegangen war, offenbar um die Unterhaltung zwischen ihm und Robert deutlich zu hören. Jetzt winkte er dem Obersteuermann, ihm in die Kajüte zu folgen. Kapitän van Swieten nahm aus dem Schrank eine Flasche, trank, und bot sie dann dem anderen an. »Renefier«, sagte er, »warum hast du den neuen Jungen so hart angefahren? Ich will die gewöhnlichen Schiffsgesetze auf meiner Galliot nicht eingeführt haben; ich kann sie nicht brauchen, das habe ich dir schon oft gesagt. Ein Verräter untergräbt uns die ganze Zukunft, und du selbst weißt doch am besten, welche goldenen Früchte das Geschäft trägt.« Der Obersteuermann zuckte die Achseln. »Die Galliot ist nicht so ganz allein dein Eigentum, van Swieten«, antwortete er, »das vergiß nicht. Oder willst du mir im nächsten Hafen meinen Anteil auszahlen und dir einen anderen Steuermann suchen? Du selbst kannst kein Schiff über den Ozean führen, das weißt du.« Der Kapitän wurde blaß vor Ärger. »Wenn du annimmst, daß ich das weiß, Renefier, so waren ja deine Worte überflüssig«, sagte er. »Was hast du davon, den Herrn zu spielen und vielleicht einen dummen Jungen gelegentlich durchzuprügeln?« Des Steuermanns Augen blitzten. »Was ich davon habe, van Swieten?« wiederholte er. »Den nötigen Respekt bei der Mannschaft, daß du es nur weißt. Es geht auf der ›Antje Marie‹ zu, als hätte ein Weib das Kommando. Komme ich heute nicht, komme ich morgen. Das ärgert mich.« Der Kapitän trank wieder. »Ach was!« sagte er, »das ist dummes Zeug, Renefier, daran änderst du nichts mehr. Wir sind eine Welt für uns, wir bilden eine geschlossene Gemeinschaft, deren Glieder untereinander vor allen Dingen gute Freunde sein müssen – das geht aber nicht bloß mit dem Tauende, mein Bester. Frißt der Schlingel ein paar Pfund Zucker, so tu, als hättest du es nicht gesehen, und gibt er eine naseweise Antwort, so lache darüber, dann gefällt ihm das Leben an Bord und er ist treu. Zehn bis zwanzig echte Spitzen im Hafen von Havanna glücklich den Augen der Spürhunde entzogen, ein paar Kisten Champagner mit Geschick an Land gebracht, und er kann so viel Geschirr zerschlagen, wie er Lust hat. Ich sage dir, du sparst Pfennige, während du Taler über Bord wirfst, oder glaubst du, daß der Bengel später die gefährliche Arbeit für unsere Rechnung willig tut, wenn man ihn jetzt hart anfaßt? – Ich mache die Reise zum sechzehnten Male und bin bei allen meinen Leuten beliebt; du bist erst seit acht Tagen an Bord und willst mir jetzt schon Lehren geben?« Der Obersteuermann nahm die Mütze ab und kratzte sich hinter dem Ohr. »Wollte auch, ich hätte es nie getan«, brummte er. »Wie ist das Deck gescheuert und wie sind die Kojen gelüftet, wie ist der Proviant verstaut? Zum Davonlaufen!« Van Swieten lächelte überlegen. »Kleinigkeiten«, schmunzelte er, »unbedeutende Nebensachen. Die Matrosen sind treu, weil sie wissen, daß der Dienst auf der ›Antje Marie‹ mehr einbringt, als man jemals auf irgendeinem andern Fahrzeug verdienen kann. Das ist es, was wir brauchen.« Der Obersteuermann schwieg und ärgerte sich im stillen. Hätte er ahnen können, was im Logis die Leute flüsterten, so würde ihm vollends die Galle ins Blut getreten sein. »Du«, sagte einer, »wie gefällt dir der neue ›Erste‹?« »Gestrenge Herren regieren nicht lange!« rief ein anderer. »Der braucht einmal eine Sturzsee!« meinte der dritte. »So zehn Meter hoch aus dem Mast – das kühlt den Eifer.« Die andern lachten. »Wer weiß? Wenn er das Maul zu voll nimmt, regnet es vielleicht einmal unvermutet hinein.« Robert hörte das alles mit Erstaunen. Er hatte sich nach Georgs Berichten den Dienst an Bord viel strenger und härter gedacht als er hier zu sein schien. Die buntgewürfelte Mannschaft besaß offenbar von Gehorsam nur sehr schwache Begriffe; es war mehr eine Art lustiger Zechkameradschaft, denn auch mehr als eine Flasche Rum sah Robert von Hand zu Hand gehen, obwohl ihm sein Freund häufig gesagt hatte, daß Alkohol nur ausnahmsweise und in geringen Mengen vom Steuermann verteilt werde. Sobald aber an Deck ein Kommando ertönte, änderte sich wie durch einen Zauberschlag das nachlässige Wesen der Leute. Einer suchte es im Laufen und Klettern dem andern zuvorzutun, einer war noch schneller, noch gewandter als der andere. Robert wurde, als er mit Hand anlegen wollte, von den Matrosen mehrfach beiseite gedrängt, und einmal fiel er – er wußte nicht, ob aus Versehen oder infolge einer kleinen Neckerei – sogar mit seiner ganzen Länge auf das Deck, als die Leute plötzlich ein Tau, an dem er noch aus Leibeskräften riß, wie auf Verabredung losließen. Ein lautes Gelächter brachte ihn aber schnell wieder auf die Füße. Der Wind bauschte die Segel, das Schlepptau wurde losgeworfen und an Bord der Galliot geholt; unter dem lustigen Gesang der Matrosen glitt das Schiff dahin. Der Lotse ließ sich vor Helgoland von einem kreuzenden Kutter an Bord nehmen, und jetzt hatte Kapitän van Swieten das Kommando. Es wurden noch mehr Segel gesetzt und die Geschwindigkeit der ›Antje Marie‹ auf neun Knoten geloggt. »Loggen« nennt der Seemann das Messen der Seemeilen, die ein Fahrzeug in einer Stunde zurücklegt. Die Galliot machte also neun Knoten in der Stunde und hatte daher die Insel Helgoland schon sehr bald weit hinter sich gelassen. Es war völlig dunkel, als Robert ein ganz eigentümliches Unbehagen fühlte. Das starke Auf- und Niederstampfen des Schiffes, die schiefe Lage nach der Leeseite erregten ihm Übelkeit. Seine Nase wurde spitz, die Lippen farblos und das Gesicht fast grünlich. Er saß auf seiner Kiste, von der er emportaumelte, als zufällig der mürrische Obersteuermann vorüberging. Er wollte schnell nach irgendeiner Arbeit greifen, sank aber kraftlos zurück und konnte nur einen angstvollen Blick auf den gestrengen Vorgesetzten werfen. Das Schiff, die Masten, das Meer, alles schien sich mit ihm in rasender Geschwindigkeit zu drehen, während die Kehle zugeschnürt war und ein Krampf den Magen erfaßte. »Seekrank«, brummte Renefier. »Geh an Deck in die frische Luft, aber vorher trink aus dieser Flasche einen tüchtigen Schluck Rum, das tut dir gut.« Robert gehorchte mit vieler Mühe, aber sowie das scharfe Getränk herunter war, stürzte er zur Kajütentür hinaus, beugte sich über Bord, und – – Oh, das tat ihm wohl, aber zuerst glaubte er, daß es der Tod sei, der ihn so entsetzlich würgte und die Eingeweide fast zerriß. Er war nur halb bei Bewußtsein, als ihn zwei Arme von hinten erfaßten und aufhoben. Der alte Matrose war es, der Mann mit den schwermütigen, freundlichen Augen. Voll Mitleid trug er den Jungen in seine Koje, wo Robert sofort einschlief und erst mitten in der Nacht wieder erwachte. Die Seekrankheit in ihrer ganzen Stärke hatte ihn ergriffen. Robert ertrug die Sache verhältnismäßig leicht. Er spürte schon am folgenden Morgen einen wahren Heißhunger und schlich sich in die Kombüse, um etwas Eßbares zu erlangen. Der Koch gab ihm auch gleich ein tüchtiges Stück Pökelfleisch mit dem Rest des Schwarzbrotes, das noch von Hamburg her an Bord war. Robert hätte aber alles vor Schreck beinahe fallen lassen, als er dem Mann ins Gesicht sah. Das war Gallego, der Spanier, der vorgestern abend in Peter Vollands Schenke den Malaien verwundet und den der Wirt so sorgfältig in Sicherheit gebracht hatte, bevor er den Polizisten die Tür öffnete. Der Junge stand jetzt verwirrt und sprachlos vor dem rohen Gesellen, dessen braunes Gesicht, zerschunden und mit Pflastern bedeckt, noch die deutlichen Spuren des Kampfes trug. Sonderbarerweise war aber der Koch ihm gegenüber sehr zuvorkommend, bot ihm alles mögliche an und riet ihm dringend, einen Magenbitter zu trinken, wobei er lebhaft bedauerte, selbst von diesem unschätzbaren Stoff leider nichts zu besitzen. »Laß dir vom Untersteuermann etwas geben, mein Junge«, fügte er hinzu, »und dann kannst du mir immerhin ein paar Tropfen zukommen lassen. Bei diesem kalten Wind ist das eine wahre Wohltat, weißt du, – ich mache es mit Fleisch und Kaffee wieder gut.« Robert wagte nicht, dem Spanier etwas abzuschlagen, daher tat er, was man ihm sagte, und Gallego stürzte den Branntwein auf einen Zug in die durstige Kehle hinab. »Wir müssen gute Freunde werden«, raunte er mit vertraulichem Blinzeln dem Jungen zu. »Ich mag dich leiden, Kleiner.« Aber Robert teilte diese Zuneigung durchaus nicht. Er ging dem Koch aus dem Wege, wenn es irgend möglich war, und sprach nur mit ihm, wenn er mittags seine »Back« zum Füllen hingab. Die dicke Erbsensuppe wurde dann auf der Seekiste sitzend verzehrt, wobei jeder Mann den Napf zwischen seinen Knien hielt. Robert erfuhr hier, daß alle Matrosen ihre Spitznamen hatten, weshalb er sich denn auch nicht mehr wunderte, von der ganzen Mannschaft »Moses« genannt zu werden. Außer ihm gab es einen »Speckesser«, einen »Rotfuchs«, einen »kleinen und großen Russen«, eine »Klappmütze« und so weiter. Den alten Matrosen, seinen Freund Mohr, nannten sie den »Geisterseher«. An diesen Mann schloß er sich ganz besonders an, und von ihm lernte er die Einrichtung des Schiffes kennen. Seine Fahrten mit dem Segelboot und die Erläuterungen, die ihm der Matrose vom »Blitz« gegeben hatte, erleichterten ihm zwar wesentlich das Verständnis des Ganzen, aber dennoch gab es vieles, das er jetzt zum erstenmal sah. Und Mohr unterrichtete den Jungen und zeigte ihm alles, wenn sich dazu Zeit fand. »Der vordere Teil des Schiffes heißt der ›Bug‹«, sagte er, »und die augenartigen Löcher, die du dort auf jeder Seite in der Bordwand siehst, nennt man ›Klüsen‹. Durch sie laufen die Ankerketten beim Herablassen und ›Hieven‹ des Ankers. Außerdem trägt der Bug gewöhnlich einen Aufbau, die ›Back‹, die das Vorschiff vor überkommenden Seen schützt und zugleich als Stand für den Ausguck dient. Im Bug, unter und auf der Back, enden alle Taue, durch welche die Vorsegel, also die dreieckigen Klüversegel, regiert werden.« Robert begriff alles ohne Mühe. »Und was bedeutet es«, unterbrach er, »wenn der Steuermann fragt: ›Alles klar?‹« »Das heißt«, antwortete der Alte, »ob alles in Ordnung und alles vorbereitet ist, um irgendein Segelmanöver auszuführen. ›Macht klar Deck!‹ zum Beispiel bedeutet, alle Tauenden an ihren bestimmten Plätzen aufzurollen, so daß nicht allein alles ordentlich aussieht, sondern auch sofort für ein weiteres Manöver bereit ist. Du weißt ja, Junge, Ordnung ist das halbe Leben.« »Jetzt zum Achterschiff«, drängte Robert, und der Alte folgte lächelnd seinem ungeduldigen Schützling nach hinten. »Die Erhöhung, unter der die Kajüte liegt«, begann er seinen zweiten Vortrag, »heißt das ›Quarterdeck‹. Das Achterschiff ist ausschließlich für den Aufenthalt des Kapitäns und der Steuerleute bestimmt, wir Matrosen dürfen es nur auf ausdrücklichen Befehl betreten. Von hier aus wird das Schiff durch das Steuerruder regiert, seemännisch das ›Ruder‹ genannt. In seinem Kopf steckt eine eiserne Stange, die ›Ruderpinne‹, die mit dem Steuerrad durch eine lange Kette verbunden ist. Bei gutem Wetter steht ein Matrose am Ruder, bei schlechtem aber zwei.« Robert wollte mehrere Male den Alten unterbrechen, jetzt endlich platzte er heraus mit einer Frage, die ihm schon längst auf der Zunge lag. »Steuert denn nicht der Steuermann selbst das Schiff?« »Der Steuermann beobachtet auf dem Kompaß, ob der Matrose am Ruder den richtigen Kurs einhält. Ist dieser zum Beispiel Nord-Nord-West, wie wir jetzt laufen, so muß die Spitze der Kompaßrose Nord-Nord-West zeigen und dabei immer in der Mittellinie des Schiffes liegen, weicht sie aber nach rechts oder links ab, so muß das Rad so lange gedreht werden, bis sie wieder richtig zeigt.« Robert nickte. »Noch eins!« bat er, »›Anluven‹ heißt doch: das Schiff mit dem Bug in den Wind drehen, nicht wahr? Aber was ist ›Backlegen‹?« »›Backlegen‹ heißt: die Fahrt des Schiffes stoppen. Die Segel am Fockmast werden dabei nicht verändert, am Großmast aber braßt man die Raaen so herum, daß der Wind auf sie von vorn einwirken muß, dadurch treibt er mit derselben Kraft das Schiff nach hinten, mit der er es durch die Vordersegel nach vorn treibt. Es ergibt sich also eine Gegenwirkung, ein Gleichgewicht der Kräfte, und das Fahrzeug bleibt regungslos liegen. Man wendet dies Manöver an, wenn ein Boot herabgelassen werden soll, oder wenn die Kapitäne zweier sich begegnender Schiffe zusammen sprechen wollen, was wir ›Preien‹ nennen.« »Aber jetzt müssen wir aufhören«, fügte er hinzu. »Ein anderes Mal mehr darüber. Und höre noch, Junge! Wenn dich der Koch verleiten will, ihm von dem Rum des Kapitäns zu geben, so tu es nicht; Unrecht bringt keinen Frieden.« Robert schlug die Augen nieder. »Ich will es nicht tun, bestimmt nicht, Onkel Mohr!« Der Matrose seufzte leise. Seine Augen sahen starr über das Meer, langsam schüttelte er den Kopf. »Sollst mein Erbe werden«, flüsterte er, »sollst haben, was ich besitze, weil du mich ›Onkel‹ genannt hast, weil mir dein unschuldiges Herz Vertrauen und Liebe entgegenbringt. Du bist noch ein Kind, – und du bist seit Jahrzehnten der erste, der mir so menschlich begegnet ist. Hab Dank!« – Er glitt mit der wetterharten Hand über Roberts Haar und ging dann seiner Arbeit nach. Mit den übrigen Leuten sprach er wenig, obgleich ihn keiner belästigte, sondern vielmehr alle eine gewisse Scheu vor ihm an den Tag legten. Er war von der ganzen Besatzung am längsten an Bord, und Kapitän van Swieten behandelte ihn fast wie einen gleichgestellten Freund. Irgendein Geheimnis mußte aber doch den »Geisterseher« umgeben, und irgendein Geheimnis umgab überhaupt das ganze Schiff – Robert fühlte es mehr, ohne es jedoch deuten zu können. Es blieb ihm auch nur wenig Zeit, an andere Dinge als an seine Arbeit zu denken. Man war in den englischen Kanal eingelaufen, und dieses Fahrwasser ist bekanntlich für den Seemann eins der gefährlichsten. Es gibt viele Kapitäne, die während der Reise durch den Kanal nur von Zeit zu Zeit vollständig angezogen auf dem Sofa einen Augenblick schlafen, sonst aber immer an Deck sind, um alles selbst zu überwachen. Auch Kapitän van Swieten und sein Obersteuermann verdoppelten ihre Vorsicht, besonders da das Schiff bei Einbruch der Nacht in dichten Nebel geriet. Die grüne und rote Positionslaterne wurde auf beiden Seiten in die Wanten gesetzt, und eine weiße Laterne kam in den Vortop. Der Untersteuermann, der seines besonders scharfen Auges wegen der »Fernkieker« genannt wurde, verbrachte fast die ganze Zeit neben dem Matrosen auf dem Ausguck, und der Obersteuermann ging fortwährend an Deck von einer Seite zur andern, um ein vorübersegelndes Schiff rechtzeitig zu bemerken. Diese Vorsicht war nur allzu gerechtfertigt. Robert sah, wie nacheinander mehrere Schiffe in nächster Nähe rechts und links an der »Antje Marie« vorüberzogen, so nahe, daß zwischen dem einen und dem andern Fahrzeug nur wenige Meter Entfernung blieben. Im Nebel sahen diese Schiffe geradezu riesig aus, lautlos wie Nachtgespenster glitten sie vorbei. Der Obersteuermann trat in die Kajüte. »Ist kein Nebelhorn an Bord, van Swieten?« fragte er. Der Kapitän nickte. »Doch, Renefier. Hier im Schrank muß es liegen. Such nur, es ist entweder da, wo meine Kleider hängen, oder bei den Notsegeln. Finden wirst du es bestimmt!« Der Steuermann warf ärgerlich durcheinander, was ihm zwischen die Finger kam. Seine Füße stampften vor Ungeduld auf den Boden. »Eine Teufelswirtschaft«, brummte er. »Im dichtesten Nebel das Horn nicht finden. Da soll doch – –« Er brach ab, weil die Tute, auf dem Boden des Kleiderschrankes unter Stiefeln und Tauenden vergraben, endlich zum Vorschein kam. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, ging er hinaus und drückte das Instrument dem nächsten Matrosen in die Hand. »Alle zwei Minuten!« befahl er. »Aha, dort wird es auch schon auf anderen Schiffen lebendig.« Und wirklich hörte man über das ruhige Wasser von allen Seiten die klagenden, langgezogenen Töne. Es lief kalt über Roberts Rücken herab, als er das sonderbare Konzert mit anhörte. Wie Warnungsrufe aus einer anderen Welt klangen die Hörner. »Passiert es häufig, daß zwei Schiffe zusammenstoßen?« fragte er flüsternd einen der Matrosen, der neben ihm stand. Der Mann nickte. »Sehr oft sogar«, bestätigte er. »Ich selbst bin einmal nahe daran gewesen – auf Haaresbreite, möchte ich sagen. Das war in der Nordsee und der Nebel so dicht, daß wir vom Großmast aus den Bugspriet nicht sehen konnten. Plötzlich ertönte ein furchtbares Krachen – im Nu waren wir an Deck, aber da sank schon das Schiff unter unsern Füßen. Ich weiß von dem ganzen Vorfall nur noch soviel, daß ich halb besinnungslos ein über mir erscheinendes Tau ergriff. Es war das Bugstag des anderen Schiffes; ich hielt mich mit allen Kräften daran fest und wurde auch schon nach wenigen Augenblicken durch ein Schlingtau an Bord geholt. Es war eine englische Brigg, mit der wir zusammengestoßen waren. Sie legte sich back, setzte ein Boot aus und versuchte, auch die übrige Mannschaft des sinkenden Fahrzeuges zu retten, aber bis man die nötigen Vorbereitungen getroffen hatte, war alles zu spät. Vor unsern Augen verschwanden die Mastspitzen, als das Boot den Wasserspiegel berührte.« Robert fühlte doch ein unüberwindbares Grauen. Er ging auch dann nicht zur Koje, als seine Wache abgelöst wurde, sondern blieb an Deck und horchte und spähte in den Nebel hinaus. Gegen Mitternacht wurde der Wind etwas stärker, und sogar einzelne heftige Stöße fuhren durch das Takelwerk. »Alle Mann an Deck!« erschallte die Stimme des Obersteuermanns, und die vor kaum einer Stunde zur Koje gegangene Wache mußte aus den warmen Decken wieder heraus und in der kalten Herbstnacht ihre beschwerliche Arbeit verrichten. »Zwei Reffs in die Marssegel!« Einer vor dem andern stürmte die Mannschaft in die Wanten hinauf, und jeder bemühte sich, der erste zu sein. Selbst Gallego und der Kochsmaat, ebenso der Zimmermann, die sonst nur an Deck arbeiteten, mußten mit hinauf, so daß bloß die Leichtmatrosen und die Jungen von diesem gefährlichen Dienst verschont blieben. Sie bedienten an Deck die Fallen und Brassen. Da bei der kleinen Besatzung nur immer ein Mast zur Zeit vorgenommen werden konnte, mußte man, bevor der Wind ganz aufgekommen war, schon die Segel wegnehmen. Es blieb jedoch alles ruhig, und am Morgen strahlte bei scharfer Kälte die hellste Sonne vom Himmel herab. Robert sah wieder, wenn auch nur als ferne dunkle Umrisse, die Küste des festen Landes, er sah unzählige Fischerboote, die in größerer oder geringerer Nähe wie Nußschalen auf dem Wasser schwammen, und erlebte dann etwas, was ihn ganz besonders interessierte. Einer der Matrosen, der erst in Hamburg an Bord gekommen war, schrieb auf seiner Kiste einen Brief und steckte ihn dann in eine leere Weinflasche, die er vorher gereinigt hatte. Zwei englische Schilling folgten dem Papier, und dann erhob sich der Mann, um den Kapitän um etwas Siegellack zu bitten. Roberts Augen waren neugierig jeder Bewegung gefolgt. »Was tun Sie da?« fragte er unwillkürlich. »Wollen Sie die Flasche ins Meer werfen?« »Beinahe!« lächelte der Mann. »Aber hast du vielleicht auch ein paar Worte an die Deinen zu bestellen, so beeile dich. Zehn Minuten will ich noch warten, Papier ist hier.« Robert ließ sich das nicht zweimal sagen, er ergriff mit Freuden die Gelegenheit, seine alten Eltern zu beruhigen und um Verzeihung zu bitten. Die Feder flog förmlich über das Papier, als zufällig der Kapitän in die Nähe der Tür kam und den Jungen schreiben sah. Rasch ging er zur Kajüte zurück – Als dann der Matrose um etwas Siegellack bat, empfing er ihn sehr freundlich. »Holt nur ein Boot heran«, sagte er, »ich habe auch geschrieben und will die Flasche schon verschließen.« Der Mann ging, aber kaum war er fort, als van Swieten mit einer langen Schere Roberts Brief aus der Flasche zog und in seinem Taschentuch verbarg. »Besser so«, murmelte er, »Gott weiß, welche Namen der Bengel nennt. Könnte mir am Ende den preußischen Konsul auf den Hals hetzen! – Nein, nein, besser so!« Der Matrose hatte inzwischen sein Taschentuch an eine Stange gebunden und mit dieser einfachen Flagge dem nächsten entgegenkommenden Boot ein Zeichen gegeben. Das emporgehaltene Ruder gab ihm Antwort, worauf sehr bald das kleine Fahrzeug in einiger Entfernung von der ›Antje Marie‹ über die Wellen tanzte und dann fast unter den Bug herankam. Die an einer Leine befestigte Flasche wurde ins Meer geworfen, von den Fischern aufgefangen und im Vorratskasten des Bootes untergebracht. Noch ein Gruß von beiden Seiten, dann war die kurze Begegnung vorüber. »Und diese Briefe werden wirklich auf die Post gegeben?« fragte Robert. »Jedesmal!« antwortete der Matrose. »Das Geld ist nicht immer in ganz sicheren Händen – häufig wandert der Brief unfrankiert zum Schalter, und die lieben Angehörigen müssen das Porto selbst bezahlen, aber vernichtet oder unterschlagen wird kein Schreiben. Auch der ärmste Fischer würde das nicht tun.« Robert sah mit leichtem Herzen dem Boot nach. Zum erstenmal seit langer Zeit empfand er wirkliche Freude. Jetzt würden seine Eltern erfahren, wo er war, sie konnten beruhigt sein und mußten doch auch verzeihen, wenn er sie jetzt um Vergebung bat. Aber er ahnte ja nicht, daß unterdessen der Kapitän in aller Gemütsruhe seinen Brief an einem Licht verbrannte. Robert handhabte mit wahrem Eifer den Scheuerbesen, der ihm den Weg zur Kapitänswürde bahnen sollte, und plauderte dann während der Freiwache mit dem alten Mohr. Jetzt näherte man sich auch schon dem Atlantik, der Wind wurde steifer, und der Kurs mußte etwas südlicher genommen werden. Robert hatte gegen Mittag mit zwei Leichtmatrosen das Bramsegel zu setzen und kam dabei ebenso schnell in die Wanten hinauf wie seine erfahreneren Genossen. Es waren ihm während der kurzen Zeit die ›Seebeine‹ schon ganz nett gewachsen, und nur das ›Schlingern‹ des Schiffes von einer Seite zur andern machte ihm noch Schwierigkeiten. Bei dem großen Schwingungsbogen, den da oben die Bramstenge in der Luft beschrieb, hieß es sich tapfer mit den Händen festhalten und sicher in den ›Pferden‹ stehen, wie man die Haltetaue unter den Rahen nennt. Das Großbramsegel war am schnellsten gesetzt, und als die drei wieder an Deck kamen, erhielten sie sogar von dem mürrischen Obersteuermann ein Lob. Am Abend kam jedoch eine Geschichte vor, die Roberts gute Laune sehr ins Schwanken brachte. Man hatte jetzt das offene Meer erreicht, und es herrschte eine Kälte, die das Spritzwasser an Deck innerhalb weniger Augenblicke zu Eis gefrieren ließ. Der Kapitän und der Obersteuermann unterhielten sich in holländischer Sprache sehr lebhaft miteinander, dann rief van Swieten durch das offenstehende Fenster der Kajüte: »Robert, bring mir mein Nachtglas!« Der Junge beeilte sich, einen ›steifen‹ Grog zu mischen und ihn dem Kapitän zu bringen, in der besten Meinung, den an jedem Abend üblichen Nachttrunk heute einmal auf Deck reichen zu sollen; aber o weh! – Van Swieten bemerkte das unterdrückte Lachen der Mannschaft, und da er seine eigene Schwäche nur zu gut kannte, ärgerte ihn der Vorfall nicht wenig. Ein blauer Fleck an Roberts Oberarm gab später von diesem Vorfall Zeugnis, aber nebenbei hatte Robert auch die Genugtuung, das Grogglas schon leer zu sehen, als er einige Augenblicke später das in Wirklichkeit verlangte Nachtfernrohr dem Kapitän überbrachte. Von der Mannschaft glaubte ihm kein einziger, daß dieser Irrtum unabsichtlich geschehen sei, und zu seinem Erstaunen sah er, wie ihn der ärgerliche Zwischenfall in ihrer Achtung hob. »Das sind so Jungenstreiche«, hieß es, »wir haben's ja selbst nicht besser gemacht, und der ›Alte‹ säuft wirklich wie ein Schwamm.« Die Kälte stieg laufend und Renefier war der Ansicht, daß Eisberge in der Nähe seien. Van Swieten meinte dasselbe, und so wurde früh am nächsten Morgen ein Matrose in den Mars des Fockmastes geschickt, um scharfen Ausguck zu halten. Als bei Tagesanbruch die ersten Sonnenstrahlen das Meer vergoldeten, ertönte vom Mars der Ruf: »Eisberge backbord voraus!« Die ganze Mannschaft stürzte an Deck, der Kapitän und der Obersteuermann gingen auf das Kajütendeck, und auch Robert drängte sich vor, um das ungeahnte Schauspiel mit anzusehen. Im Nordwesten erschienen hoch oben in der Luft prächtig glühende, in Regenbogenfarben schimmernde Spitzen, seltsam geformt, hier wie ein ganzer Wald, dort wie ein einsamer Fels. Blau und purpurn, violett und weiß, verschwammen und spielten die Farben, während die Formen wie die Bilder einer Zauberlaterne wechselten. Je höher die Sonne am Himmel emporstieg, desto tiefer herab auf den Meeresspiegel fielen die glänzenden Lichter, desto blendender wuchsen die blitzenden Massen, bis endlich, als das große Tagesgestirn mit seiner leuchtenden Scheibe das ganze weite Meer erhellte, einige Hundert Eisberge in ihrer ganzen Pracht majestätisch langsam vor dem Winde herantrieben. Wohl alle diese erfahrenen und sogar meistens alten Seeleute hatten ein derartiges Schauspiel schon mehr als einmal gesehen, aber dennoch standen sie alle ganz in den Anblick versunken. Nur Robert konnte nicht schweigen. Er suchte verstohlen die Hand seines alten Freundes. »Wie schön!« flüsterte er, »ach, wie schön!« Der Alte nickte sehr ernst. »Aber wenn zwei von diesen Riesen das Schiff in ihre Mitte nehmen, dann kracht es einmal schauerlich schnell – und die Riesendiamanten segeln weiter – auf dem Meer aber schwimmen nur noch ein paar Trümmer. – – –« Die dunklen Augen des »Geistersehers« blickten wie im Traum. Sein weißes Haar flatterte im Wind. »Laß mich es allein sein, Vater im Himmel«, murmelte er, »mich allein, nicht das unschuldige Blut um meiner Sünde willen! Laß es vorübergehn!« – Gallego legte von hinten die Hand auf Roberts Schulter. »Der Alte hat seinen schwarzen Tag«, murmelte er, »kümmere dich nicht um ihn. Du, geh in die Kajüte und hole mir ein paar Tropfen Rum – jetzt merkt es keiner.« Robert beachtete den Spanier gar nicht. Er hatte nur Augen für Mohr. Was mochte es sein, das den alten Matrosen so mächtig bewegte, das seine Aufmerksamkeit von der wirklichen Welt fast ganz ablenkte? – – Aber zu Betrachtungen war jetzt keine Zeit. Das Kommando des Obersteuermanns ertönte, und das Schiff wurde erst in den Wind geluvt, dann back gelegt. Nur auf diese Weise konnte man hoffen, mit heiler Haut an der gefahrdrohenden Nachbarschaft vorüberzukommen. Plötzlich hörte man von den kristallenen Riesen ein donnerähnliches Krachen und Prasseln; man sah, wie einige der vielzackigen Häupter sich neigten, plötzlich umfielen und sich gegenseitig zertrümmerten, während die Wogen himmelhoch aufspritzten, wie aus tausend Springbrunnen zugleich. Dann wurde es wieder ruhiger, und nach wenigen Stunden war das eindrucksvolle Schauspiel gänzlich vorüber. Diese im Atlantischen Ozean so oft angetroffenen Eisberge sind gleichsam Kinder der großen Gletscher, die von Grönlands Hochgebirge bis ins Meer hineinragen. Sie können besonders bei Nacht oder Nebel den Schiffen außerordentlich gefährlich werden. Diese Gletscher schieben ihre Eismassen allmählich in das Wasser hinein, dessen Temperatur wärmer ist als die der Luft und das Eis so lange unterhöhlt, bis der obere Teil dem Gesetz der Schwere folgt, vom Gletscher abbricht und ins Meer stürzt. So treiben die Massen auf dem großen Ozean, der Windrichtung folgend, nach Süden, wo sie allmählich zerschmelzen. Der alte Matrose nahm die Mütze vom Kopf und sah über das Meer. Robert wagte es nicht, ihn zu stören, aber als die beiden später allein waren, da fragte er: »Onkel Mohr, was dachtest du vorhin, als wir die Eisberge sahen? Du hattest so sonderbare Augen.« Der Alte schüttelte den Kopf. »Noch nicht«, antwortete er. »Das gehört mit zu meinem Nachlaß. Wenn wir hinter Ferrol sind, dann sollst du es erfahren. Diese Reise ist meine letzte.« Der Junge erschrak. »Du willst das Seemannsleben aufgeben, Onkel Mohr?« fragte er. »Aber ob du es aushalten wirst an Land?« Der Matrose lächelte. »Ich gehe nicht an Land, Kind, – das große Seemannsgrab nimmt mich auf. Ich sterbe.« »Du? – Aber weshalb glaubst du das?« »Still. Das erzähle ich dir zur rechten Zeit. Für heute wollen wir Fische fangen.« Der Junge fuhr auf. »Wo?« rief er. »Wie ist das möglich?« »Siehst du nicht, daß uns dauernd Fische aller Art begleiten?« fragte der Alte. »Besonders die kleinen Delphine, die man auch ›Tümmler‹ und ›Schweinfische‹ nennt, trifft man hier überall. Sie schmecken vortrefflich, wie du bald erfahren wirst.« Gallego mußte nun ein kleines Stück Fleisch hergeben, das am Angelhaken befestigt wurde. An Stelle des Stockes wurde eine Leine genommen, die man von der Rolle ablaufen ließ und an Deck festhielt. Plötzlich zuckte es so stark, daß die Bewegung einen großen Fisch zu verraten schien. Zwei Matrosen sprangen hinzu, und mit vereinten Kräften zogen die drei Männer das zappelnde Tier bis unter den Bug. Hier wurde ihm eine Schlinge um den Kopf geworfen, hinter die Kiemen gehakt und nun der Fang an Bord geholt. An Deck wurde das fast zwei Meter lange Tier mit einem Schlag auf den Kopf getötet. Nachdem die Eingeweide entfernt waren, ließ der Koch das Blut ablaufen, wusch das Fleisch und zerlegte es in Stücke. Der Rücken, mit Salz und Pfeffer eingerieben, wanderte in die Kombüse, um sogleich wie Roastbeef gebraten und dann von Kapitän und Mannschaft mit großem Appetit verspeist zu werden. Auch weniger wohlschmeckende Gerichte würden auf hoher See schon willkommen gewesen sein, nur weil sie eine Abwechslung boten. Jeder Tag hatte seinen bestimmten Küchenzettel, von dem man nur notgedrungen abwich, wenn der Vorrat an Lebensmitteln aus irgendwelchen Gründen nicht mehr ausreichte und die Rationen verkürzt werden mußten. Es konnte also für den Matrosen in jedem Falle nur schlechter, nie aber besser werden. Wie oft saß Robert mit seiner Schüssel auf der Kiste und konnte die schlimme Kost kaum hinunterwürgen! – Was dem Matrosen fast jeder Nationalität gesetzlich zustand, war ein Pfund Pökelrindfleisch dreimal wöchentlich, dann ein halbes Pfund Pökelschweinefleisch viermal, und dazu abwechselnd Erbsen, weiße Bohnen, Reis und Graupen oder Kartoffeln, solange sie vorhielten. Einmal während der sieben Tage gab es auch Klöße mit Pflaumen und hin und wieder »Labskaus«, ein Gericht aus kleingeschnittenen Fleischresten, die mit zerstampften Kartoffeln, Zwiebeln und Pfeffer tüchtig geschmort werden und sehr gut schmecken. Im Hafen war die Sache natürlich anders. Jeder Kapitän sorgte dann für frisches Gemüse und Fleisch, schon um die Leute gesund zu halten. An Getränken gab es Kaffee, Tee, Branntwein, Rum und Wasser, das in Tanks und Fässern mitgenommen wurde. War aber auf diese Weise das Leben des Seemanns sehr hart und einfach, so war es andrerseits auch für einen von Haus aus kräftigen Körper sehr gesund. Robert wurde von Tag zu Tag stärker und gewandter; er zeigte sich den Anforderungen des harten Borddienstes durchaus gewachsen und konnte sich in die Gemeinschaft der Matrosen gut einfügen. Als der spanische Hafen Ferrol erreicht war, ging er mit den andern in der fremden Stadt spazieren. Die alte Jacke aus Peter Vollands Hinterzimmer hatte ihm Kapitän van Swieten gegen einen neuen Seemannsanzug vertauscht, aber Geld bekam er nicht in die Hand, und ebensowenig durfte er allein von Bord gehen. Immer begleitete ihn einer der älteren Matrosen. »Onkel Mohr«, fragte er eines Tages seinen alten Freund, »wann wirst du denn endlich Urlaub nehmen, um die Stadt anzusehen?« Der Matrose schüttelte den Kopf. »Nie, mein Junge.« »Und warum nicht?« forschte Robert. »Weil mein Fuß überhaupt die Erde nicht wieder betreten soll.« Der Junge schwieg, dann aber sah er treuherzig in das Gesicht des alten Mannes. »Onkel Mohr, gehört auch das mit zu deiner Geschichte?« Der Greis beugte sich über seinen jungen Schützling. »Hinter Ferrol«, murmelte er, »wenn die Fahrt fast zu Ende geht, wenn – die Stunde schlägt!« Der Schiffbruch Der Schiffbruch Der Hafen war verlassen, die Küste in der Ferne zurückgeblieben, und die »Antje Marie« segelte wieder auf hoher See. An Bord aber regte sich geheimnisvolles Leben. Robert sollte erfahren, was Peter Volland meinte, als er von den doppelten Böden und verschiebbaren Planken des Schiffes sprach. Man hatte feine Weine geladen und verschiedene andere Waren. Das alles befand sich teils in der Kajüte, teils war es im Logis aufgestapelt, während noch unzählige teure Waren aus den Schränken und Kisten der Kajüte hervorkamen, um dann in anderen Räumen verstaut zu werden. Das ganze Schiff glich einer großen Jahrmarktsbude, in der alles Mögliche ausgebreitet daliegt, um die Schaulust der Käufer zu reizen. Hier prachtvoller flandrischer Samt, dort Brüsseler Teppiche, Mechelner Spitzen und die Seidenwaren Frankreichs. Feiner Battist, Stickereien und Schleier wechselten mit teuersten Sorten echten Champagners und Burgunders, mit Blumenzwiebeln von Harlem und den Ölgemälden alter berühmter Meister. Und nun ging man an das »Stauen« all dieser Dinge. »Hast du es noch nicht gewußt?« fragte der alte Mohr. »Wir treiben als Hauptverdienst den Schmuggelhandel, aber laß du dich dazu nicht brauchen. Wenn sie dich abfassen, so wirst du bestraft, und es kommt in deine Schiffspapiere. Ist auch außerdem kein ehrliches Geschäft.« »Was sollte ich denn dabei tun?« fragte der Junge erstaunt. »Hm, die zollpflichtige Ware an Land bringen, entweder eine Bootsladung bei Nacht und Nebel den Mittelsmännern zuführen, oder einzelne Dinge an deinem Körper in die Stadt schaffen. Dafür gibt es freie Tage und ein paar Taler Heuer mehr, aber es ist doch nichts Gutes, und du solltest dich lieber heraushalten.« »Onkel Mohr«, fragte nach einer Pause der Junge, »tust du es auch nicht?« Der Alte strich mit der Hand durch das weiße Haar. »Ich, Kind? – Ja, ich tue es, obwohl ich das Land nicht betrete, aber mit mir ist es etwas anderes, als mit dir. Ich will schon dafür sorgen, daß du frei ausgehst. Im Augenblick mußt du freilich mithelfen, das läßt sich nicht ändern.« Kapitän van Swieten erschien an Deck. Der alte Holländer in seiner altfränkischen, nicht gerade seemännischen Tracht ließ sich selten ohne sein Glas Grog sehen, gewöhnlich glänzte sein breites Gesicht vor trunkener Röte. Er ließ durch den Untersteuermann jedem Matrosen eine Flasche Wein geben, auch Robert erhielt eine, obwohl er nicht so recht wußte, was er damit anfangen sollte. »So, Kinder«, schmunzelte der Kapitän, »nun macht euch dran. Zuerst die Flaschen verstauen. Das andere findet schon leichter seinen Platz. Also weg mit den Kohlen, damit wir fertig sind, ehe Kuba in Sicht ist.« Ein beifälliges Murmeln der Matrosen antwortete dem »Alten«. Die Champagnerpfropfen knallten in die sengende Mittagshitze hinein, und die geleerten Flaschen flogen den tanzenden Korken nach ins Meer, nur der Obersteuermann sah äußerst verdrießlich in das weinrote, behäbige Gesicht des Kapitäns. »Hättest auch nicht jedem Kerl eine ganze Flasche schenken sollen«, brummte er. »Ein Glas voll wäre genug gewesen.« Van Swieten blinzelte vertraulich. »Die Steinkohlen fallen dann aber so verteufelt leicht – oder schwer, wenn du willst – einmal aus Versehen an die unrechte Stelle, und meistens gerade dahin, wo Champagner liegt«, schmunzelte er. »Kennst das nicht, Renefier, und übrigens bin ich Kapitän, wie du weißt, und kann auf meinem Schiff das tun, was mir richtig scheint. Die Pfennigfuchserei schätze ich nicht, daher habe ich überall, wohin ich komme, gute Freunde, das solltest du dir merken.« Der Obersteuermann nickte grimmig. »Bis nach Havanna, van Swieten, dann trennen wir uns«, sagte er. »Ich bin kein dummer Junge, der sich mit einer Schattenherrschaft begnügt.« Van Swieten zuckte die Achseln. »Das ist deine Sache, Renefier. Jetzt brauche ich aber alle Hände, um die Steinkohlen fortzuschaffen.« Die Matrosen schaufelten abwechselnd, bis eine Luke zum Vorschein kam, unter der ein hübsches, tiefes Versteck lag. Mit lustigem Gesang packten dann die Leute, von Hand zu Hand arbeitend, sorgfältig die Champagnerflaschen auf das Heu in den Verschlag, und als alles gefüllt war, wurden in die entstandenen Lücken die Blumenzwiebeln gestreut, so daß jeder Fußbreit Raum bedeckt war. Als zuletzt der Kohlenvorrat wieder über der Luke lag, besichtigte van Swieten das Ganze und schmunzelte sehr vergnügt. »Nun laßt die Spürnasen kommen«, sagte er, »mir soll's recht sein. Sind schon seit sechzehn Jahren daran vorübergelaufen, also werden sie es wohl auch diesmal tun.« Dann kamen die Spitzen und Teppiche an die Reihe. Hier ließ sich ein Brett verschieben und dort eins, hier war ein verborgenes Schränkchen und da sogar mehrere. Tausende von Talern hätten nicht ausgereicht, um den Wert all dieser versteckten Gegenstände bar zu bezahlen. – Robert staunte, als er sah, wie planmäßig die Sache betrieben wurde. Jetzt erst begriff er, weshalb damals Peter Volland, der Wirt der Hamburger Matrosenschenke, so besorgt war, den betrunkenen Koch der Verhaftung zu entziehen. Van Swieten konnte ja für sein Schiff nur eingeweihte Leute brauchen und wäre in der größten Verlegenheit gewesen, wenn er ohne den Spanier hätte absegeln müssen. Und das wußte auch Georg, der falsche Freund, als er ihn dem Heuerbaas in die Hände spielte, alles war verabredete Sache, und er, Robert, der Betrogene. Doch tat es ihm nicht leid. In Havanna fand sich bestimmt ein anderes Schiff, auf das er übergehen konnte, um in strengere, aber ehrlichere Verhältnisse zu kommen – wenn nur der alte Mohr nicht gewesen wäre! Ihn wollte er so ungern verlassen. Er suchte den alten Matrosen und fand ihn mitten in bunten Seidenstoffen auf den Knien, wie er ein Stück nach dem andern in den Verschlag packte, der an der Hinterwand der Kajüte angebracht war. Das meiste war schon verstaut. Robert trat zu dem Alten. »Onkel«, fragte er leise, »wie lange haben wir noch bis nach Kuba?« »So acht Tage!« sagte der Matrose. »Warum fragst du mich?« Robert errötete. »O – ich meine nur so«, antwortete er verlegen. Der Alte sah ihn an. »Dir gefällt das nicht«, sagte er nach einer Pause, »und du hast recht, mein Junge. Willst du in Havanna von Bord gehen?« »Mit dir, Onkel!« rief der Junge. »Gehst du nicht, so bleibe ich auch. Du bist von allen der einzige, den ich gern habe.« Mohr erhob sich, nachdem er die letzte Planke wieder eingefügt hatte, von seinen Knien. »Ich habe dich auch lieb«, antwortete er, »und darum sollst du fort, mein Junge. Brauchst ja von dem, was du hier gesehen hast, keinem Menschen zu erzählen, weil der Verräter immer eine jämmerliche Rolle spielt. Aber um keinen Preis darfst du hier einrosten, vielleicht sogar selbst ein Schmuggelhändler werden und später noch Schlimmeres – nein, nein, die Mannschaft der ›Antje Marie‹ ist für dich kein gutes Beispiel, du mußt hier fort, und ich helfe dir dabei.« »Wird auf jeder Reise geschmuggelt?« fragte nach einer Pause der Junge. »Immer. Das Geschäft ist jetzt aber sehr schlecht geworden. In früheren Jahren, als wir den aufständischen Chinesen Waffen und Munition lieferten, war es bedeutend besser. Damals verdienten wir Geld wie Heu – der Kapitän wenigstens. Ich selbst habe nie mehr genommen, als ein Matrose für seine Arbeit überall bekommt.« »Gar nichts von den Sonderzulagen für das Schmuggeln?« »Gar nichts, aber trotzdem besitze ich ein hübsches Sümmchen, und das soll dir gehören, mein Junge. Laß dich nach Hamburg hin anmustern, reise nach Hause und bitte deinen Vater um Verzeihung, das ist es, was ich wünsche, was du mir versprechen mußt. Wenn du einwilligst, wenn du versprichst, vor deinem Vater Abbitte zu tun, dann – hat sich ein Stückchen Bestimmung erfüllt, dann würde ich glauben, auch für mich eine sehr gute Botschaft gehört zu haben. Die letzte auf Erden; willst du sie mir bringen, willst du nach Hause reisen und dich mit deinem Vater versöhnen, ehe du wieder zur See gehst?« Robert fühlte, wie ihm das Herz schlug. Recht hatte der Alte, aber – wenn ihn sein Vater nicht wieder fortließ? Wenn er noch einmal gezwungen wurde, auf dem Tisch zu sitzen und zu nähen? Der Matrose las den Gedanken von seiner Stirn. »Kannst ja schon in Liverpool oder Le Havre schreiben«, sagte er. »Aber denke nicht, daß der Vater hart sein würde, unmöglich könnte er es, wenn du freiwillig zurückkehrst.« In Roberts Augen standen Tränen. »Ich möchte tun, was du sagst, Onkel Mohr«, flüsterte er. »Ich möchte, daß die Eltern ganz mit mir einverstanden wären, aber – weglaufen müßte ich zum zweitenmal, wenn sie hart blieben.« Der Alte lächelte. »Komm mit«, winkte er. »Ich will dir zeigen, daß meine Worte mehr als ein leerer Schall sind. Du sollst dein Erbteil sehen.« Er ließ den Jungen in die Schiffskiste blicken, in der sich eine ziemlich große Anzahl holländischer und spanischer Münzen befand. »Das alles ist für dich«, sagte er leise, »aber du mußt tun, worum ich dich gebeten habe, nicht wahr, Junge? Es kommt der Tag, wo du mir für unser heutiges Gespräch dankbar sein wirst, darauf verlasse dich.« Robert gab gerührt und mit dem festen Vorsatz, es zu halten, das verlangte Versprechen. Dann reichte ihm der Alte die Flasche Champagner, die er selbst bei der Verteilung heute bekommen hatte. »Trink es in den nächsten Tagen,« sagte er freundlich. »Und du, Onkel Mohr«, fragte der Junge, dem der unbekannte, schäumende Wein ganz besonders gut gefallen hatte, »warum willst du nicht?« Der seltsame Mann schüttelte den Kopf. »Ich trinke keinen Alkohol«, antwortete er. »Laß dir's gut schmecken.« Und dann ging er fort, wie es seine Gewohnheit war, wenn ihm ein Gespräch peinlich zu werden schien. Robert hatte längst erkannt, daß irgendein großes Unglück auf dem Alten lasten müsse, aber er wagte nicht, noch einmal danach zu fragen. Mohr würde ja bestimmt Wort halten und ihm alles freiwillig erzählen. Die Waren hatten jetzt fast alle ihren Platz gefunden, und während der folgenden Tage mußte das ganze Schiff von oben bis unten gescheuert werden. Der Obersteuermann wetterte und fluchte an Deck herum, als wolle er alles nachholen, was ihm während der ganzen Reise an unumschränkter Herrschergewalt verloren gegangen war. Die Matrosen murrten so laut, daß es sogar der Kapitän bemerkte, und ein fast vollständiger Bruch zwischen den beiden war die Folge davon. Van Swieten hatte, wie das sehr häufig geschah, zuviel getrunken. Er war daher in streitlustiger Laune und wollte vor allen Dingen sein Ansehen als Kapitän des Schiffes gewahrt wissen. Ihm gehörte die »Antje Marie«, er war Herr an Bord, und niemand durfte ihm widersprechen. »Geh in deine Kajüte, Renefier«, rief er mit lauter Stimme dem Obersteuermann zu. »Geh und schlafe oder tue, was dir Spaß macht. Deines Postens bist du enthoben, – du paßt nicht auf mein Schiff und noch weniger zu meinen Leuten.« Der Steuermann wurde blaß wie eine Wand, aber er beherrschte sich doch und verließ schweigend das Deck, nur als der Kapitän im Vorraum der Kajüte nahe an ihm vorüberging, fragte er leise: »Van Swieten, hast du dir deine Worte gut überlegt? Hast du an meiner Stelle einen Mann zur Verfügung, der den Standort aufnehmen kann, und der es versteht, eine Höhenberechnung aufzustellen? – Besinne dich, ehe es zu spät ist.« Der Kapitän schlug mit der Hand in die Luft. »Unsinn«, rief er, »das kann ich alles selbst, und der Untersteuermann kann es auch. Ich habe ihm schon deinen Posten übertragen, und du sollst dich nirgendwo mehr hineinmischen, hörst du. Ich brauche willige Kerle, die vor dem Teufel nicht bange sind und die den Taler gern verdienen, ohne lange zu fragen, womit, aber keine Scheuerweiber, die an nichts anderes als an Sand und Seife denken.« Der Obersteuermann zog sich sehr verletzt zurück, und der Kapitän ging in seine Kajüte, um den letzten Rest nüchternen Bewußtseins mit Grog hinunterzuspülen. Der zweite Steuermann, ein wenig tatkräftiger Mensch, konnte sich kaum durchsetzen, so daß an Bord vollständige Unordnung entstand. Nur die notwendigsten Arbeiten wurden vorgenommen, sonst aber lagen die Leute in ihren Kojen und spannen wechselweise ein »Garn«, wie der Seemann das Erzählen einer Geschichte nennt. Das Wetter blieb günstig, der Wind schwach und die Sterne sichtbar, es ereignete sich also nichts Besonderes. Nur Mohr schüttelte den Kopf. »Noch einen Tag und eine Nacht«, murmelte er, »dann müssen wir den Hafen erreicht haben! – Seltsam, seltsam!« »Mohr«, sagte ein anderer, »gib auch einmal etwas zum besten! Du hast von deiner Vergangenheit noch nie gesprochen, also tue es jetzt.« Der Alte sah über das Wasser, und sein tiefliegendes Auge glühte fast unheimlich. »Ich hätte heute abend ein Garn gesponnen, auch ohne eure Aufforderung, Kameraden«, antwortete er. »Aber ob ihr meine Geschichte unterhaltend finden werdet, weiß ich nicht.« Die andern rückten näher, und die kurzen Pfeifen wurden angesteckt. Mohr zog den Jungen näher zu sich heran. »Morgen früh werden wir die blauen Berge von Kuba aus der Ferne wie Schatten auftauchen sehen«, sagte er, »morgen scheint für mich zum letzten Mal die Sonne, – darum hört alle, was ich euch zu erzählen habe und haltet euch daran.« Niemand widersprach ihm. Sie kannten ja alle den Geisterseher, der oft in dunklen Nächten so unheimliche, angstvolle Worte murmelte, der sich im Schlaf von einer Seite zur andern warf und träumend schluchzen konnte wie ein geängstigtes Kind. »Der Klabautermann sitzt auf seiner Brust und drückt ihn«, hatten dann wohl einige heimlich erschauernd gesagt, während andere den Kopf schüttelten. »Die Nachtmahr ist es, das bleiche Gespenst, sie will mit ihm würfeln um sein Herzblut, und er kann sich ihrer nicht erwehren – –« Sie kannten ihn darum widersprach keiner. Mohr senkte den Kopf in die hohle Hand. »Ich war mit zwanzig Jahren ein lustiger, übermütiger Junge«, begann er seine Geschichte, »der sich weder vor Gott noch vor dem Teufel fürchtete und dahinlebte, als dauerten Jugend und Gesundheit ewig, nur um alle Freuden des Daseins in vollen Zügen zu genießen. Das Seemannsleben gefiel mir nicht mehr, weil die Zeit der Arbeit und der Entbehrungen so lang war, die Freudentage im Hafen aber sehr kurz, und besonders, weil ich an Bord gehorchen mußte wie ein Schuljunge. Das konnte gerade ich am allerwenigsten, das erregte immer meinen Jähzorn und stürzte mich in viele Verlegenheiten. Einmal habe ich dem Kapitän, der mir ein verweisendes Wort sagte, eine Ohrfeige gegeben und dafür als Meuterer die ganze Reise in Eisen gelegen, aber alles das konnte mich nicht zur Besinnung bringen. Ich ging also von Bord und legte mich einstweilen in meines Vaters Haus vor Anker. Der Alte war Wirt, lebte mit einer bejahrten, mürrischen Schwester ganz allein und sah mich höchst ungern kommen. Einen erwachsenen Sohn zu füttern, der noch obendrein jeden Augenblick mit den Gästen Streit anfing und es meistens vorzog, die besseren Weine und Kognaks selbst auszutrinken, anstatt die Gäste freundlich zu bedienen, das liebte er wenig. Hätte ich Flaschen spülen, Kegel aufsetzen und Bier abzapfen wollen, hätte ich bei der alten Tante den Küchenjungen gespielt und ihr Schoßhündchen gestreichelt, dann wäre alles gut abgelaufen, so aber wurde das Verhältnis zwischen mir und meinem Vater immer schlechter, bis ich zuletzt den ganzen Tag auf der Bank lag und rauchte oder trank, mit mir selbst und der Welt vollständig zerfallen. Sollte ich nachgeben? Wieder ein Schiff suchen, mich von meinen Kameraden auslachen lassen und der Tante, die den Alten aufhetzte, das Feld räumen? Es ärgerte mich, nur daran zu denken, aber der gegenwärtige Zustand konnte nicht länger dauern. Es mußte bald anders werden, das sah ich wohl, da mir auch der Vater niemals Geld geben wollte. ›Es ist genug, daß ich einen Taugenichts ernähre‹, sagte er mir einmal. ›Du solltest dich schämen, von deinem alten Vater noch Geld zu verlangen. Ich gebe dir nichts, und wenn du keinen Anzug mehr anzuziehen hast und keine Schuhe an den Füßen.‹ Damals zerschlug ich in meiner wilden Wut alles, was mir im Weg stand, die Flaschen und Gläser, die Fensterscheiben und die Rohrstühle, ich tobte wie ein wildes Tier im Käfig und ging erst fort, als kein heiles Stück mehr zu finden war. Drei Tage lang trieb ich mich umher, aß rohe Feldfrüchte, hungerte und schlief hinter den Zäunen, dann kehrte ich zurück, um nicht ins Gefängnis zu kommen, aber es war ein elendes Leben, das ich führte, mir selbst zur Last. Der Alte sagte nichts; er fürchtete wohl einen ähnlichen Auftritt und ließ mich daher tun und treiben, was ich wollte. Die Tante machte es ebenso, sie ging im weiten Bogen um mich herum und nahm ihr Hündchen auf den Arm, sobald ich im Zimmer erschien. Das ärgerte mich aber viel mehr, als wenn mir die beiden das Leben täglich zur Hölle gemacht hätten; ich wurde so grimmig, so verbissen, – oh, ich kann euch nicht sagen, wie. ›Du hängst dich auf‹, dachte ich bei mir, ›dann hat alles ein Ende. Gerade vor der Kammertür der Tante, damit sie sich erschreckt.‹ Den Nagel schlug ich auch richtig in die Mauer hinein, aber weiter kam es nicht. Man hält doch am Leben fest, und wenn es noch so elend ist. Um diese Zeit, gerade an meinem Geburtstag, kam einmal ein Mann in die Schenke, der mit allerlei Kleinigkeiten, unter anderem auch mit Lotterielosen handelte. Ich lag wie gewöhnlich auf der Bank hinterm Ofen, heute noch schlechter gelaunt als sonst. Es war ja mein Geburtstag, aber kein Mensch kümmerte sich darum, niemand hatte mir ein freundliches Wort, einen Glückwunsch gesagt, obwohl es der Alte ganz genau wußte. Das ärgerte mich rasend. Ich dachte wieder an den Nagel über der Kammertür. Da trat der Mann zu mir und hielt zwischen den Fingern ein schmutziges, zerknittertes Blatt. ›Kauft der Herr kein Los?‹ fragte er schmeichelnd. ›Gerade das letzte, also das Glückslos, weil man immer das beste bis zuletzt aufhebt – Nummer 26!‹ Es durchfuhr mich sonderbar. Heute an meinem Geburtstage wurde mir das Los angeboten, dessen Nummer die Zahl meiner Jahre angab. Wie merkwürdig! Ich stand auf und zeigte das Papier dem Alten. ›Vielleicht ist es ein Wink des Schicksals‹, flüsterte ich. ›Vielleicht bringt es mir Glück.‹ Er zuckte die Achseln und wusch seine Gläser, ohne zu antworten. Das brachte mich schon auf, weil es die anderen Gäste sahen. Der Losverkäufer schlich mir nach. ›Sie sollten es nehmen‹, drängte er. ›Die Ziehung ist schon in vierzehn Tagen, und die Nummer bringt Glück. Hab' schon einmal auf Sechsundzwanzig das große Los gehabt. Wäre doch herrlich, so viel Geld, nicht wahr?‹ Mir stieg das Blut heiß zu Kopf. ›Vater‹, sagte ich mit lauter Stimme, ›seid so gut und leiht mir die paar Taler, ich will es kaufen.‹ Der Alte zögerte. Er murmelte etwas, das ich nicht verstand, aber er griff endlich doch in die Kassenschublade und zählte das verlangte Geld auf den Tisch, alles ohne ein Wort zu sagen. Er hatte Angst vor mir, das war ganz sicher. Er und ich, wir sprachen von der Sache nicht weiter, und das Los blieb in meiner Tasche. Die vierzehn Tage vergingen wie alle anderen, ich las und trank, rauchte oder schlief und war immer schlecht gelaunt. An den Gewinn dachte ich schon längst nicht mehr. Da erschien eines Abends der Händler wieder, als gerade das Gastzimmer Kopf an Kopf besetzt war. Er winkte mir schweigend, ihm zu folgen. ›Gewonnen‹, flüsterte er, als wir draußen vor der Tür standen, ›gewonnen! Ich habe das Geld mitgebracht. Wieviel lassen Sie mich verdienen, wenn ich es gleich auszahle?‹ Hinter uns erschien in diesem Augenblick wie ein schwarzer Schatten der Alte. ›Was gibt's?‹ fragte er, ›hat das Los gewonnen?‹ Der Mann hob warnend den Finger. ›Pst!‹ flüsterte er, ›nicht so laut, die anderen merken es. Das schöne Geld könnte gestohlen werden. Es ist eine große Summe, und ich bin ein geschlagener Mann, wenn mich Diebe überfallen. Nachher wollen wir alles besprechen, wenn die Gäste fort sind.‹ Er ging voran in das Zimmer, und ich folgte ihm, halb berauscht vor Freude. Also endlich sollte meine Erlösungsstunde schlagen, endlich sollte ich wieder Geld besitzen, viel Geld, wie der Mann gesagt hatte! – Ach, dieses Gefühl, diese rasende Freude. Ich trank und trank, bis meine Augen die Dinge ringsumher nicht mehr mit Sicherheit unterscheiden konnten. Ich wollte das langweilige Dorf verlassen, mit dem schnell erworbenen Reichtum in eine größere Stadt ziehen und dort durch Leihgeschäfte mühelos immer mehr Geld verdienen, ich schmiedete Pläne über Pläne, und in allen spielte mein Vermögen die Hauptrolle. Karten und Würfel gingen von Hand zu Hand, ich trank und verlor viel Geld, aber ich lachte darüber. Was machte das aus, da ich ja reich war! Aber wieviel mochte es nur sein? – Heute blieben auch die Gäste länger als sonst. Ungeduld brannte in allen meinen Adern. Mitternacht war vorüber, als endlich die letzten halbbetrunkenen Bauern abzogen. Jetzt waren außer mir selbst nur noch mein Vater und der Händler im Schenkzimmer. Die Tante saß nickend in der Küche. ›Wieviel ist es?‹ fragte flüsternd der Alte, und: ›wieviel ist es?‹ wiederholte ich zitternd vor Begier. Der Mann sah von einem zum andern. ›Zwanzigtausend harte Taler‹, raunte er. ›Habe es ja gesagt, die Sechsundzwanzig ist eine Glücksnummer. Was soll ich haben, wenn ich das Geld gleich auszahle anstatt in sechs Wochen?‹ Mir flirrte und flunkerte es vor den Augen. ›Tausend Taler!‹ rief ich sofort. ›Das ist fürstlich bezahlt, also zahl das Geld aus!‹ Da legte sich eine Hand auf meine Schulter. ›Langsam, langsam‹, rief der Alte, ›was geht es dich an, wieviel ich dem Händler geben will?‹ ›Du?‹ Ich starrte ihn an, unfähig, mehr als das eine Wort herauszubringen. ›Natürlich‹, bestand er, ›das Geld gehört mir, ich habe das Los bezahlt und kann zehn Zeugen bringen, daß ich die Wahrheit sage.‹ Heißer rann es durch meine Adern. ›Mir hast du das Geld geliehen‹, schrie ich, ›und du kannst es zurückerhalten, sobald mir das Geld ausbezahlt ist. Gib her, Mann, hier hast du das Los und tausend Taler sind für dich!‹ Der Mann griff nach dem Papier. Ein solches Trinkgeld bot ihm bestimmt niemand, am wenigsten aber der habsüchtige Alte. Er stand deshalb ganz auf meiner Seite und begann hastig die Kassenscheine auf den Tisch zu zählen. Dann machte er sich davon, so rasch ihn die Füße trugen. Der Vater legte seine Hand auf das Geld. ›Mir gehört es‹, raunte er, ›und ich werde es behalten. Ergib dich im Guten, oder –‹ Ich sah ihm aus nächster Nähe ins Auge. ›Oder?‹ zischte ich. ›Du wanderst morgen ins Gefängnis. Ich habe das Los bezahlt, ich bin hier im Dorf als anständiger Mann bekannt, ich betreibe ein ehrliches Handwerk, du aber bist ein Tagedieb und Herumtreiber, der jetzt auch noch seinen alten Vater bestehlen will!‹ Die Habgier mußte ihn völlig verblenden, mir so drohend gegenüberzutreten. Ein Schein nach dem andern verschwand in seinen Taschen. Und da, Kameraden, da war's um mich geschehen. Er hatte das Wort ›stehlen‹ ausgesprochen, hatte meine Ehre tief verletzt. Ich ergriff einen schweren Hammer, der zufällig auf dem Tisch lag – –« Der alte Matrose hielt einen Augenblick inne. Kalter Schweiß perlte von seiner Stirn, die Stimme klang kaum verständlich – Unter den Leuten herrschte Totenstille – – »Vor meinen Augen war alles rot, wie zuckende Blitze«, fuhr er nach einer Pause fort. »Ich weiß nur noch, daß mir die völlige Besinnung erst später zurückkehrte. Und da war ich nüchtern auf einen Schlag. Vor mir am Boden lag mit gespaltenem Schädel mein Vater, und seine gebrochenen Augen schienen starr zu dem Mörder aufzusehen. Langsam rann das Blut über die Kassenscheine, die er im Fallen mit sich vom Tisch gerissen hatte. Alles war totenstill um mich herum, nur ein eintöniges leises Geräusch hörte ich, ganz leise wie das Ticken einer Uhr. Es war Blut, das langsam über die Stufen der Kellertreppe hinabtropfte und in mir ein eisiges Grauen wachrief. Das Licht brannte allmählich herab, knisterte und zuckte noch ein paarmal hoch auf, dann erlosch es ganz. Ich rührte kein Glied. Wie gelähmt, wie erstarrt saß ich da. ›Mörder!‹ schien es in mir zu flüstern, und ›Mörder‹ ringsum in der stillen Luft, bis mich fast wahnwitzige Angst ergriff. Ich mußte fort von hier, bevor es Tag wurde, ich konnte um keinen Preis noch einmal in dieses gebrochene Auge sehen. Stunde um Stunde verrann. Der Tag rückte näher, die Hähne im Dorfe begannen zu krähen, Hunde bellten und hier und da knarrten Wagenräder. Ich machte keine Bewegung, atmete kaum – da drang durch die Fensterläden ein erster schwacher Schimmer – er streifte die dunkle stille Gestalt am Boden. – Schaudernd raffte ich mich auf und schlich zur Tür, immer verfolgt von dem Blick der toten Augen. Wohin ich mich wandte, da begegnete mir der schreckliche Anblick. Ich öffnete die Tür und trat hinaus ins Freie, in den Frieden des Sommermorgens – – Oh, Kameraden, möchte keiner unter euch einmal das empfinden müssen, was ich damals empfand. Ich fühlte den Fluch des Mordes auf mir und stürzte davon, wie einst die ersten Menschen aus dem Paradies.« »Onkel Mohr«, flüsterte Robert, sich an dem Alten festhaltend, »du Armer!« Und auch die andern waren ernst und still. Selbst diese rohe Schar, zusammengewürfelt aus aller Herren Länder, verwahrlost in der steten Ausübung eines widerrechtlichen Berufes, war tief ergriffen von dem furchtbaren Schicksal des Gefährten, dessen silberweißes Haar sich heute noch beugte unter der Last einer Erinnerung, die ihn sein ganzes Leben verfolgt hatte. Nur Gallego schlich ungesehen im Dunkeln des Logis zu Roberts Koje und stahl die Champagnerflasche, mit der er sich in die Kombüse begab und in gierigen Zügen den perlenden Schaumwein hinunterstürzte. Niemand beachtete ihn. Alle standen ganz unter dem Eindruck der Worte des Alten, dessen Wesen ihnen jetzt erst anfing verständlich zu werden. Darum das Flüstern im Schlafe, darum das leise flehende: »Sieh mich nicht an, bitte, sieh mich nicht an!« – wie es die Matrosen so oft von ihm gehört hatten. »Sprich weiter«, bat eine Stimme. »Dein Garn ist noch nicht zu Ende.« Der Alte hatte das heiße Gesicht des Jungen gestreichelt; jetzt erhob er den Kopf und warf das Haar zurück. »Nein«, sagte er, »ihr habt recht. Ich will euch alles erzählen. Hört zu! Ich besah beim ersten Tageslicht mein Gesicht in einem Bach, der am Wege vorüberfloß – es war mir, als stände darauf die Tat verzeichnet, und dann, als ich das Haar etwas geordnet hatte, wanderte ich nach Bremen, das ungefähr drei Meilen weit von meiner Heimat entfernt liegt und wo mich jeder Heuerbaas kannte. Ein Schiff zu bekommen war nicht schwer, und schon nach vier oder fünf Tagen war ich auf einem amerikanischen Dreimaster in völliger Sicherheit. Wir hatten Passagiere an Bord, Frauen und Kinder; es gab viel Unterhaltung, manches Neue, manches Ungewohnte, kurz, ich erholte mich in verhältnismäßig kurzer Zeit von dem Schrecken und fing an, mich für weit mehr unglücklich als schuldig zu halten. Noch war die Reue nicht echt – es mußte schlimmer kommen, ehe ich aus meinem Trotz und Eigenwillen aufgerüttelt wurde.« Unter den Zuhörern entstand ein unwillkürliches Murmeln. »Schlimmer?« fragten einige leise Stimmen. »Schlimmer!« bestätigte der Alte. »Um meinetwillen sind Hunderte dem Tode zum Opfer gefallen, haben Mütter ihre kleinen Kinder sterben sehen und sind Tausende glühender Tränen geweint worden. Wißt ihr nicht, daß das Schiff, an dessen Bord sich ein Mörder, ein unentdeckter Mörder befindet – dem Untergang geweiht ist? Wißt ihr nicht, daß es dem fliegenden Holländer entgegentreibt und von seinem weißen Kiel in den Grund gebohrt wird?« Der alte Matrose hatte sich erhoben, die Augen glühten wie in halbem Wahnsinn, die Hände streckten sich aus, als wollten sie einen unsichtbaren Feind abwehren. Seine Brust keuchte schwer, sein Gesicht war totenblaß. Die andern suchten ihn zu beruhigen. »Das ist ein Aberglaube, Mohr«, sagten sie. »Du bist so lange an Bord der ›Antje Marie‹, und sie ist nie dem fliegenden Holländer begegnet.« Der Alte lächelte. »Die ›Antje Marie‹?« wiederholte er sinnend. »Das ist etwas anderes, Kameraden. Wir stehlen dem Staat den Zoll, wir fahren auf der breiten Straße, die dem Abgrund zuführt, da braucht es keine besondere Schuldverschreibung an den Teufel, sie ist ja schon vorhanden, und doch – was kommen wird, das wissen wir ja heute nicht. Ich will euch aber erzählen, was mit der ›Seemöwe‹ geschah, auf der ich angemustert hatte. Laßt mich also ausreden.« Die Matrosen waren jedoch zu erregt, um schweigen zu können. »Hast du ihn gesehen, den fliegenden Holländer?« fragten sie. Mohr nickte. »Ich habe ihm ins Auge gesehen – er erhob gegen mich die Hand – er winkte mir!« »Ach, Unsinn, Geisterseher, du hast geträumt.« »Laß doch den Alten sein Garn spinnen. Erzähle, wie ging es der ›Seemöwe‹?« Mohr bekämpfte das Grauen, das er noch jetzt in der Erinnerung empfand. »Wir waren am Kap der Guten Hoffnung«, begann er, »und das Wetter hielt sich merkwürdig gut. Trotzdem ließ der Kapitän alle Vorsichtsmaßnahmen treffen, und schon beim ersten Windhauch mußten wir bis auf die Sturmsegel jeden Fetzen Leinwand hereinholen. Man kann ja, wie ihr wißt, in diesen Breiten dem Frieden niemals trauen. Es war abends um elf Uhr, als ich abgelöst wurde und mit den Matrosen zur Koje gehen konnte, aber bei der schwülen Luft blieben wir alle lieber noch ein bißchen bei offenen Türen sitzen. Es hatten sich auch, obgleich das streng verboten war, mehrere Zwischendeckspassagiere zu uns gesellt, und wir würfelten auf unseren Schiffskisten. ›Hier herum soll ja der fliegende Holländer sein Wesen treiben‹, meinte einer der Auswanderer, ›ich hätte eigentlich Lust, dem alten Burschen zu begegnen. Wer ein gutes Gewissen besitzt, der braucht die Geister nicht zu fürchten.‹ – Solche und andere Reden flogen hinüber und herüber. Meine Kameraden nahmen es dem Auswanderer krumm, daß er die bösen Gewalten des Meeres herausforderte, aber ich lachte dazwischen. ›Laßt doch das Geisterschiff kommen. Wer das Herz auf dem rechten Fleck hat, der trinkt mit dem alten Van der Decken Brüderschaft. Auf du und du, alter Kamerad‹, rief ich übermütig in die Nacht hinaus, meine Ration Rum hinunterstürzend und die Flasche in weitem Bogen über Bord schleudernd. ›Prosit, alter Knabe!‹ Das Wasser spritzte hoch auf – über dem Schiff in der Luft erklang es wie ein spöttisches, langgedehntes Lachen. ›He, he, he –‹ und dann noch einmal: ›He, he, he –‹ Die Gesichter um mich herum wurden leichenblaß und auch über meinen Rücken lief es eiskalt herab, aber ich ließ mir nichts merken, sondern antwortete mit halber Stimmer auf das gespenstische Lachen in der Luft: ›Schon die ersten Möwen! – Wir sind also nur wenige Meilen von der Küste entfernt.‹ ›Der Auswanderer, der vorhin so großen Mut gezeigt hatte, sah jetzt aus wie ein durchgeschnittener Käse. War es wirklich eine Möwe?‹ flüsterte er. ›Natürlich? Haben Sie jemals gehört, daß die Geister lachen?‹ ›Wie der Wind heult!‹ schauderte er. ›Gehen Sie in die Koje, Mann – Sie haben ja doch Furcht trotz des guten Gewissens.‹ Er sah mich böse an. Vielleicht beleidigte ihn mein herausforderndes Wesen, vielleicht durchschaute er es und las auf meinem Gesicht die verborgene Unruhe. ›Und Sie haben doch kein gutes Gewissen, trotz Ihrer lauten Worte‹, sagte er. Ich sprang auf, die Fäuste geballt, – ganz derselbe unbändige, wilde Geselle, der ich immer gewesen war, ich hätte vielleicht in diesem Augenblick einen zweiten Mord begangen, wenn nicht das Kommando des Kapitäns wie ein Blitz aus heiterer Luft dazwischen gefahren wäre. ›Alle Mann an Deck. Marssegel reffen!‹ Wir hatten nicht darauf geachtet, daß es über uns und unter uns lebendig geworden war. Der Wind fegte über die weißen Wogenkämme; es zischte, brodelte und gärte um den Bug der ›Seemöwe‹, wie ich es nie vorher gehört hatte; es ächzte im Takelwerk und knarrte in den Masten, während grelle Blitze aus den schwarzen Wolkenmassen hervorschossen und der Donner über das Meer rollte. Der Sturm wuchs, hoch und höher ging die See. Der Kapitän ließ die Zwischendecksluken schließen, weil uns die angsterfüllten Menschen am Arbeiten hinderten, aber das Zwangsmittel half nur kurze Zeit. Von innen sprengte die Kraft der Verzweiflung das Eisen, unaufhaltsam ergoß sich der Strom halberstickter, jammernder, betender und schreiender Auswanderer auf das Deck. Es war eine gräßliche Szene. Die Stimme des Kapitäns übertönte zuweilen das Brausen des Sturmes, aber was er sprach, das ging verloren. Da galt kein Kommando mehr, da waren alle Bande der Ordnung und des Gehorsams auf einmal gerissen, da schrie jeder, und niemand hörte. Wilde Flüche mischten sich mit dem erschütternden Jammern der Frauen und den Angstrufen der Kinder. Einige beteten oder sangen Sterbelieder, andere sprachen mit lauter Stimme Worte voll Liebe und Zärtlichkeit zu ihren viele hundert Meilen entfernten Angehörigen, sie nahmen von ihnen Abschied und baten sie, ihnen zu vergeben, was jemals Unfriedliches oder Unversöhnliches geschehen sei. Hier lag eine Mutter auf ihren Knien und hielt in schützenden Armen die Kinder, deren kleine Gesichter sich angstvoll an ihrer Brust verbargen, dort segnete ein Greis mit weißem Haar zum letztenmal die Seinen, während an der Tür der Kapitänskajüte ein Priester mit lauter Stimme die Barmherzigkeit Gottes anrief. Und von anderer Seite nahten zügellose schwankende Gestalten. Einzelne Männer hatten den Vorratsraum erbrochen und die Rumfässer hervorgezogen. In den Gesang und die Gebete der Todgefaßten hinein tönte ihr trunkenes Lästern. Mehr und mehr wuchs der Sturm, hoch und höher ging die See. Hier oder dort zerriß ein heller Schrei auf Sekunden die Luft. Die Stelle, wo noch eben ein Mensch gestanden hatte, war leer. Aufgehört hatte Singen, Toben und Beten, aufgehört hatten Kommando und Gehorsam – die Vernichtung war hereingebrochen. ›Dieser hat's getan!‹ riefen meine Kameraden, und kreidebleiche, bebende Lippen nannten mich flüsternd den Bösen, der das Schiff ins Unglück gestürzt hatte. Augen voll Zorn blickten mir entgegen, geballte Fäuste und wilde Verwünschungen bedrohten mich. ›Er hat das Gespenst des Meeres herbeigerufen! Er hat mit dem fliegenden Holländer Brüderschaft getrunken! –‹ ›Werft ihn über Bord, den Verfluchten! –‹ Tageshelle umgab uns auf allen Seiten, das Schiff war nur noch ein Wrack ohne Masten, unaufhaltsam gingen die Wellen über Deck und spülten hinab, was zu schwach war, ihrem Toben Widerstand zu leisten. ›He, he, he‹, lachte hoch oben in der Luft die Möwe. ›He, he, he –‹ Aber ihr triumphierendes Schreien wurde übertönt, ihr Hohnlachen erstickt in einem Ruf des Entsetzens, der allen noch Lebenden die Haare zu Berge trieb. Ich sah nach vorn, weil alle andern es taten und – was ich dort erblickte, das sieht auch der Vermessenste nicht, ohne auf die Knie zu sinken und Erbarmen zu erflehen. Über die schwarzen, grün und violett gegipfelten Wogenkämme kam das Geisterschiff daher, gerade auf die ›Seemöwe‹ los. Schneeweiß vom Kiel bis zu den Mastspitzen, unter vollen Segeln, aber es regte sich an Bord kein Stückchen Leinwand, es schaukelte oder stampfte nicht, sondern glitt, von unsichtbarer Macht getrieben, in pfeilschneller Fahrt und schnurgerader Richtung vorwärts, näher, immer näher an uns heran. Auf dem Großmast glühte und funkelte bläulich in majestätischer Höhe das Sankt-Elmsfeuer, weißes Licht ging von den Segeln aus, und in den Raaen arbeiteten die weißen Todesgestalten der sechs Matrosen. Alle in Leichentücher gekleidet, standen sie auf den Köpfen im Takelwerk, während Kapitän van der Decken am Großmast lehnte und aus hohlen Totenaugen zu mir herübersah. Ja – zu mir! Ich schrie vor Entsetzen. Dieser Blick! – Hatte ich ihn nicht schon einmal gesehen? Meine Besinnung drohte zu schwinden. Da hob das Gespenst die rechte Hand und winkte mir. – – Ganz nahe war das Geisterschiff herangekommen; Auge in Auge stand ich dem fliegenden Holländer gegenüber. Wie ein kalter Schatten streifte es mein Gesicht. Als ich zu mir kam, lag ich in der Koje eines französischen Schiffes und wurde freundlich gepflegt. Kaum wagte ich eine Frage nach dem Schicksal meines Schiffes – ich wußte die Antwort vorher. Von mehr als fünfhundert Menschen an Bord der ›Seemöwe‹ war ich der einzige Gerettete. Die Matrosen des französischen Schiffes hatten mich anscheinend leblos aus dem Wasser aufgefischt, als die Wellen meinen Körper bis unter den Bug trieben – –« Der alte Mann schwieg und trocknete die Schweißtropfen auf seiner Stirn. »Ich war der Einzige«, wiederholte er nach einer Pause, »den das Meer zurückgab, den der Tod verschmähte. Ich. mußte leben, um zu wissen, welches Opfer meine Tat gefordert hatte, an wievielen Unschuldigen mein Verbrechen gerächt worden war. Aber seitdem wurde aus mir ein anderer Mensch. Ich ging an Bord der ›Antje Marie‹, die damals ihre erste Reise antrat, und schwor mir selbst, nie wieder in die Gesellschaft ehrlicher Menschen zurückzukehren, nie wieder festes Land zu betreten, allen Rechten, allen Freuden zu entsagen und so meine Schuld zu büßen. Inzwischen sind dreißig lange Jahre vergangen. Ich war wie ein lebendig-gestorbener Mensch, aber ruhig in mir durch das Bewußtsein meiner Reue. Doch während der letzten Nacht im Hamburger Hafen hatte ich einen seltsamen Traum. Die ›Antje Marie‹ trieb auf hoher See im hellsten Sonnenschein langsam dahin. Der Wind war still, die Luft warm und das weite Meer wie ein glänzender, kaum bewegter Spiegel. Ich stand am Ruder, das Herz voll Frieden und Ruhe, wie es in vielen Jahren nicht gewesen war, so ganz glücklich, ganz als ob ein schönes langersehntes Ziel erreicht sei, da – nahte aus der Ferne das Geisterschiff des fliegenden Holländers. Aber es erschreckte mich nicht, mein Herz blieb ruhig, meine Augen sahen den Alten am Großmast, ohne sich abzuwenden von dem Entsetzlichen – – Das weiße Schiff kam näher und näher, es segelte lautlos über die ›Antje Marie‹ hinweg, und ich fühlte, wie wir langsam tiefer und tiefer sanken. Ich schloß die Augen – und ließ mich träumend von den weichen Armen der See umfangen – – Am andern Morgen sagte mir der Kapitän, daß wir bei Eintritt der Flut in See gehen würden, und nun wußte ich genug. Es ist nicht gut, an einem Montag auszulaufen, zumal nach einem solchen Traum. Diese Reise ist meine letzte! Noch bevor wir den Hafen von Havanna erreicht haben, bin ich ein toter Mann, und eben deshalb erzähle ich euch meine Geschichte, um jeden einzelnen zu warnen. Bittet Gott, daß er euch den Frieden des Gewissens erhalte, das höchste Gut des Menschen!« Niemand antwortete ihm, nur Robert drückte ergriffen seine Hand. Er verstand ja jetzt, weshalb ihn der alte Mann so eindringlich gebeten hatte, nach Hause zu reisen und die Verzeihung seines Vaters zu erbitten, er freute sich, dem einsamen Unglücklichen wirklich teuer geworden zu sein. »Du stirbst nicht, Onkel Mohr«, sagte er zuversichtlich. »Im Gegenteil, nun hast du alles einmal von der Seele herunter gesprochen, und nun wird dir leichter und besser zumute werden.« Der Alte nahm den Kopf des Jungen zwischen seine beiden Hände und küßte ihn auf die Stirn. »Leb wohl, Kind«, sagte er langsam, »leb wohl, du hast mich mit dem Leben wieder ausgesöhnt, hast noch einen letzten Schimmer von Liebe und Vertrauen wieder aus der Gemeinschaft der Menschen zu mir, dem Ausgestoßenen, herübergebracht. Sei gesegnet!« – Ein lauter Ausruf des Obersteuermanns unterbrach die Stille, die den Worten des alten Matrosen gefolgt war. »Alle Mann an Deck! Klar zum Wenden!« schrie Renefier, wie außer sich das Ruder ergreifend, in vergeblichem Bemühen, die Galliot in den Wind zu drehen. Der Mann am Ruder, zufällig sein erbittertster Gegner, wollte seinem Befehl nicht gehorchen und verteidigte mit beiden Fäusten den Platz. »Rufen Sie den Kapitän, hierher!« schrie er. Der Obersteuermann mußte aber seiner Sache sehr sicher sein, er schien jeden Augenblick für kostbar zu halten, denn er kehrte sich plötzlich von dem widerspenstigen Matrosen ab und wendete das Schiff mit flatterndem Topsegel, indem er die Hauptbrasse schießen ließ. Dann befahl er der Mannschaft, das große Segel zu reffen, aber – keiner wollte gehorchen. Was hatte den sonst so ruhigen und besonnenen Obersteuermann plötzlich aus der Fassung gebracht? Meer und Wind waren still, keine Gefahr weit und breit – was wollte er eigentlich? Er selbst benahm sich wie ein Wahnsinniger. »Van Swieten!« schrie er. »Van Swieten, komm um Gotteswillen herauf. In wenigen Minuten geht es um unser Leben, wenn deine Leute nicht gehorchen.« Unwillkürliches Entsetzen packte die Matrosen. Nur Mohr stand aufrecht mit gekreuzten Armen »Es kommt!« sagte er leise, »es kommt! – Herr, sei ihnen gnädig!« Robert stürzte an ihm vorüber zur Kajütentür. »Herr Kapitän! – Herr Kapitän! – Sie müssen an Deck kommen.« Van Swieten war wie gewöhnlich halb betrunken und fuhr aus ahnungslosem Schlaf auf. »Zum Teufel, Junge, was schreist du? Willst du das Tauende kosten?« »Van Swieten!« rief wieder der Obersteuermann, »komm und gib mir das Kommando zurück, oder wir sind alle verloren. Das Schiff steuert in voller Fahrt auf die Kubariffe los.« Van Swieten taumelte an Deck. »Was sagst du da, Renefier? Geh in deine Kajüte und sei still. Wo ist der zweite Steuermann?« Der Gerufene erschien mit bleichem, ängstlichem Gesicht. Er verteidigte sich nicht, als ihn der Obersteuermann bei beiden Schultern packte und derb schüttelte. »Hast du den Standort aufgenommen, Bursche? Kannst du das überhaupt? – Wo ist deine Höhenberechnung?« Die Zähne des jungen Menschen schlugen hörbar aufeinander »Ich weiß es nicht«, stammelte er, »ich – ich verließ mich auf den Herrn Kapitän.« »Da haben wir's! – Van Swieten, siehst du jetzt, was deine Gewaltmaßnahme angerichtet hat? Wir sind alle verloren.« Da ertönte ein halb erstickter Ruf vom Ausguck her. »Scharf wenden, Brandungsfelsen dicht am Bug!« »Nieder mit dem Ruder!« rief Renefier, dessen Geistesgegenwart ihn nie verließ. »Nieder damit!« Der Befehl wurde befolgt, aber die Galliot verlor Fahrt, streifte einen schaumbedeckten Felsen und lief mit dem Heck auf ein Riff. Jetzt herrschte allgemeine Bestürzung. Die Segel flatterten um die knarrenden Masten, die Taue rissen und peitschten umher, die Brandung heulte, der Rumpf dröhnte, die Leute schrien. Da rief van Swieten, wahrscheinlich nur um sich Ansehen zu verschaffen, mit lauter Stimme: »Den Anker los!« – der sinnloseste Befehl, der überhaupt gegeben werden konnte. Der Anker schoß herab, so daß sich das Fahrzeug vor ihm drehte und plötzlich stillstand. Niemand dachte daran, die Segel zu reffen und so die Kraft der über Deck gehenden Sturzwellen zu vermindern. Niemand sah es, daß die Stelle, an der eben noch der alte Matrose gestanden hatte, leer war. »Renefier«, sagte van Swieten mit unsicherer Stimme, »ich bitte dich in Gegenwart meiner Leute um Verzeihung. Du hast das Kommando an Bord!« Der mürrische Holländer antwortete keine Silbe darauf, gab aber sofort seine Befehle. Sämtliche Segel wurden gerefft und die Anker aufgehievt, um das heftige Stampfen des Schiffes abzuschwächen. Bei Tagesanbruch ließ Renefier ein Boot bemannen und untersuchte selbst die Lage. Die Galliot war mit der Flut über den äußeren Saum des Riffes hinausgekommen und ziemlich tief in die Zacken der Korallen eingedrungen. Totenstille herrschte an Bord, als das bekannt wurde. Van Swieten, unfähig, den Schlag zu ertragen, verbarg das Gesicht in beiden Händen und weinte. »Peilt die Pumpen!« tönte Renefiers ruhiges Kommando. »Zehn Zentimeter Wasser im Schiff!« meldete nach kurzer Pause der Zimmermann. Der Obersteuermann erbleichte. Die Galliot hatte also ein Leck, und die Ladung war auf jeden Fall verloren. »Vier Mann an die Pumpen!« rief er. »Das große Boot herunter!« Alle seine Befehle wurden jetzt mit unglaublicher Eile befolgt. Es gab für die Mannschaft der gestrandeten Galliot nur noch eine einzige Hoffnung auf Hilfe und Erlösung aus dieser schrecklichen Lage, nämlich eine Insel, die nicht weit von dem Riff aus dem Meer hervorragte. Das unglückliche Schiff lag fast in ihrem Schatten. Wenn es möglich war, dorthin wenigstens die kostbaren Schmuggelwaren zu retten, so ging doch nicht alles verloren und man konnte hoffen, mehr als das nackte Leben zu retten. Ein anderes Fahrzeug zu erwarten wäre vergeblich gewesen, da ja kein Schiff der gefährlichen Stelle nahe genug kommen würde, um die Galliot zu sichten. »Los, van Swieten!« ermunterte Renefier, »nimm fünf oder sechs Mann und untersuche die Insel. Wenn es dort irgendeinen Schutz gibt, so müssen wir mit dem Boot unsere Ladung hinüberschaffen und die ›Antje Marie‹ ihrem Schicksal überlassen. Je früher wir anfangen, desto mehr wird gerettet werden.« Der Kapitän sah aus wie ein Bild der Verzweiflung. Gerade auf diese Reise hatte er so große Hoffnung gesetzt, gerade diesmal hatte er fast sein ganzes Vermögen zum Ankauf der teuersten Waren verwendet, um auf einen Schlag Tausende zu verdienen. Freunde und Mittelsmänner, alle gut bezahlt, hatten ihm in Hamburg, in Holland, in Spanien und auf Kuba die Wege geebnet, hatten ihm in die Hände gearbeitet und das ganze Unternehmen gesichert – jetzt war alles vorbei. »Mein Schiff!« ächzte er, »mein Schiff!« »Das ist verloren!« sagte der Obersteuermann. »Ergib dich, van Swieten, und rette, was noch von der Ladung geborgen werden kann.« Der Kapitän fuhr auf. Es sah aus, als sei der gutmütige, immer lächelnde Mann in wenigen Stunden ein Greis geworden. Die Augen lagen wie erloschen in ihren Höhlen, die Haut war aschfahl, die Hände zitterten leise. »Wo ist Mohr;« fragte er halblaut. Die Matrosen schwiegen, nur Robert konnte den Kummer um den alten Freund nicht verbergen. Ein lautes Schluchzen beantwortete die Frage. Van Swieten nahm die Mütze vom Kopf. »Wenn du ein paar Hände frei hast, Renefier, so laß die Flagge für ihn halbmast setzen«, sagte er nach einer Pause. »Gib seinem Andenken die Ehre, die wir der Leiche erwiesen hätten, wenn Mohr in unserer Mitte gestorben wäre. Die ›Antje Marie‹ ist ja leckgelegt auf immer.« Und sei es im bitteren Bewußtsein des erlittenen schweren Schadens, sei es in der Erinnerung an den Gefährten eines halben Menschenlebens, der nun tot war, – van Swietens Stimme brach, als er die letzten trostlosen Worte sagte. Er ging in die Kajüte und schloß sich ein. Vier Mann wurden bestimmt, die Insel zu untersuchen. Robert drängte sich dazu, als die Leute das Boot bestiegen. Von Wache und Ablösung war ja nicht mehr die Rede – er sah bittend in das. finstere Gesicht des Obersteuermanns. Renefier nickte stumm. Er hielt zwar besser als der Kapitän dem Unglück stand, aber im innersten Herzen empfand er die gleiche Verzweiflung. Sein Auge folgte dem Boot, als ob es einem Sarge folgte, mit trübem und hoffnungslosem Blick. Die fünf Männer landeten nach kurzer Fahrt an einer seichten Stelle, wo sich das Boot bequem an überhängende Baumstämme binden ließ. Ein wahres Paradies öffnete sich ihren Blicken, ein Fleck Erde, so schön und malerisch, wie ihn keiner von ihnen je gesehen hatte. Palmen ragten zum Himmel empor, große bunte Blüten rankten sich um ihre schlanken Stämme und unzählige Vögel wiegten sich in den Zweigen. »Wie wunderbar, wie schön!« rief Robert. »Hm«, meinte einer der Matrosen, »das ginge schon an, wenn nur nicht vielleicht hinter den nächsten Bäumen so eine Bestie lauert, die uns als Frühstück in den Schnabel zu nehmen beliebt. Das würde ich mir verbitten.« Robert lachte. Er hatte den naturgeschichtlichen Unterricht seines alten Pinneberger Lehrers noch zu gut behalten, um auf Kuba oder den umliegenden Inseln Raubtiere zu fürchten. »Hier gibt es keine Bestien«, antwortete er, »nur Skorpione und Taranteln, die aber nicht so gefährlich sind, wie man es meistens von ihnen behauptet, nur in den Sümpfen leben viele Krokodile.« »Was der Kerl alles weiß! Ist es wahr, Junge, kann man sich darauf verlassen? Sonst holen wir uns doch lieber vom Schiff ein paar Gewehre.« »Ist nicht nötig, Speckesser. Laß uns nur ruhig ausspüren, wo sich ein Versteck befindet. Aha, eine Quelle hätten wir schon.« »Kommt mal her«, rief ein anderer, »seht mal, was ist das? Ein Kürbis, glaube ich.« Robert pflückte eine der reifsten Früchte und biß herzhaft hinein. »Ach«, rief er, »das schmeckt aber anders als Erbsen und Speck! – Es ist eine Ananas, sage ich euch, in Europa die teuerste Frucht, die es gibt.« Jetzt machten sich die Matrosen darüber her. »Junge, du sollst Professor heißen«, erklärte der »große Russe.« »Deine Gelehrsamkeit hat uns zu diesem Leckerbissen verholfen, und dafür müssen wir dich belohnen.« »Wollen aber doch den Kameraden welche mitbringen!« rief kauend der Speckesser. »Ach Gott, hätte man doch eine Schiffsladung von den Dingen, die hier wild wachsen, und säße damit in Hamburg, wie schön wäre das!« »Nichts auf Erden ist vollkommen«, schaltete der vierte ein. »Laßt uns jetzt aber schnell machen, damit der Alte bei Laune bleibt. Zu sagen hat er uns freilich nicht mehr viel, und an eine richtige Heuer ist auch schwerlich zu denken.« »Vorwärts!« drängte Robert, dem bei der Erinnerung an das Schiff und an den toten verlorenen Freund die Ananas nicht mehr schmeckte. »Vorwärts. Zuviel von den frischen Früchten dürfen wir nicht essen, sonst gibt es böse Folgen. Das Klima ist nicht gerade gesund, am wenigsten für uns Nordländer.« Die Leute lachten und setzten sich wieder in Marsch. Robert schnitt mit dem Taschenmesser hier und da ein Stückchen Baumrinde herunter. »Um den Rückweg zu finden«, sagte er. »Bravo, Professor! Denkst wohl an das Märchen von Hänsel und Gretel, die Erbsen auf den Weg streuten, als sie heimlich in den Wald gingen, wo die Hexe wohnte!« »Ach«, sagte ein anderer und blieb stehen, um über das Meer zu sehen, »ach, sprecht nur. nicht von den deutschen Märchen, das macht das Herz schwer. Ich habe ja auch zu Hause solche Hänsel und Gretel, die auf den Vater warten, daß er ihnen Brot bringt. Wenn wir nun niemals von hier erlöst würden, oder wenn wir ganz mit leeren Händen irgendwo an Land kämen, ohne Geld, ohne Kleidung, ohne Heuer!« – Keiner antwortete ihm, aber die gute Laune war verscheucht, selbst bei Robert. Er ging voran durch das blühende, duftende Gewirr von Pflanzen und Blumen, durch das Gras und das weiche grüne Moos. Er war ganz still geworden, seit der Matrose von der Heimat gesprochen hatte. Jetzt war es zu Hause Abend, und die alte Mutter betete vielleicht in diesem Augenblick, daß Gott ihr Kind beschützen möge, daß er es erhalte und vor Gefahren behüte. – – Lautlos gingen sie weiter. Jeder hatte ja daheim seine Lieben, jeder fragte sich, ob er sie wiedersehen werde. So waren sie etwa eine Viertelstunde gegangen, als sich der Boden zu erhöhen begann und der Pflanzenwuchs weniger üppig schien. Dafür aber entdeckten die Matrosen einen überhängenden, ziemlich breiten Felsvorsprung, auf dessen Kuppe das Moos in langen Flechten wucherte und der unter seiner gewölbten Decke der kostbaren Ladung des gestrandeten Schiffes guten Schutz bieten konnte. Von allen Seiten offen, hatte die Stelle nur ein Dach, aber das war auch alles, was man brauchte, und sofort wurde der Rückweg angetreten. Jetzt hob sich die Stimmung der Leute. An Bord waren Lebensmittel für viele Wochen, für Monate sogar, und wenn einige Tage an dem überhängenden Felsen gezimmert wurde, so hatte man gegen den Regen hinlänglichen Schutz. Einmal mußte ja auch ein Schiff in Sicht kommen. »Holla Jungens«, rief der große Russe, »nun laßt uns alle Segel setzen, daß wir die Ladung erst einmal hier verstauen. Zuerst die Lebensmittel.« »Frisches Wasser fließt an unserem zukünftigen Hotel unmittelbar vorüber«, sagte der Speckesser, »wir werden also Herrentage haben, besonders, wenn auch ein bißchen Jagd betrieben werden kann. Diese weißen und blauen Vögel scheinen mir zum Fasanengeschlecht zu gehören.« »Und Fische gibt es auch!« fügte Robert hinzu. »Wenn wir nur erst alles hier hätten. Sechs Mann müssen ja ununterbochen bei den Pumpen bleiben.« »Der Zimmermann soll Flöße zusammenschlagen, dann geht es.« Man hatte sich der Küste wieder genähert, doch plötzlich legte Robert den Arm auf die Schulter des Speckessers. »Was ist das? – Ein fremdes Boot am Schiff!« Alle sahen hinüber. Wirklich lag seitwärts der Galliot ein großes Fischerboot, und an Deck standen mehrere Männer in roten Flanelljacken. Van Swieten und Renefier sprachen mit den Leuten. »Wo kommen die Kerle her?« »Wer sind sie und was wollen sie auf der Galliot? Das scheint mir viel wichtiger.« »Ob wir uns zu der Beratung melden?« »Wollen wir etwa die Kameraden im Stich lassen?« Ohne länger zu zögern, drangen die fünf zu ihrem Boot vor und ruderten so schnell wie möglich an das gestrandete Schiff heran. Als sie das Deck betraten, gab ihnen Renefier heimlich ein Zeichen zu schweigen, worauf der Speckesser in gleichgültigem Ton sagte: »Wir haben Wasser gefunden, Herr Obersteuermann.« »Es ist gut. Ich werde später weitere Anweisungen geben.« Dann setzte er seine Unterhaltung mit den Fischern wieder fort. Robert verstand natürlich davon keine Silbe, aber später erfuhr er durch den Kapitän selbst, um was es sich handelte. Die Fischer hatten angefragt, welche Ladung im Raum der Galliot verstaut sei und was man bezahlen wolle, wenn sie mit ihrer Bark, die an einer entfernten Stelle vor Anker lag, sämtliche Waren nach Havanna beförderten. Van Swieten besann sich nicht lange. Sein Plan war bald gemacht. Er bewies durch die Schiffspapiere, daß sich Mehl und Fleisch an Bord befanden, daß er also bei einer so wenig wertvollen Ladung für den angebotenen Transport höchstens zweihundert Dollar zahlen könne. Darauf gingen die Fischer nach einigem Handeln ein und versprachen, am folgenden Morgen mit ihrer Bark zur Stelle zu sein. Nachdem die beiderseitigen Bedingungen zu Papier gebracht waren, zogen die Spanier ab. Van Swieten hatte kaum die nötigen Abschiedsgrüße gewechselt, als er sich händereibend zu den Matrosen wandte. »Kinder«, sagte er, »das geht bei allem Unglück noch besser als ich dachte. Nun zeigt, daß ihr Kerle seid, und es soll euer Schade nicht sein. Wir müssen alle wertvollen Waren hier auf der Insel unterbringen, um sie den Spaniern zu entziehen, sonst fordern die Kerle mindestens das Sechsfache für die Überfahrt. Bin ich erst einmal in Havanna, so habe ich Freunde genug, um die Sachen hinüberzuschaffen.« Die fünf Abgesandten berichteten nun, was sie gefunden hatten, und sowohl van Swieten als auch Renefier schienen zufrieden zu sein. Es wurden in größter Eile Vorbereitungen getroffen, um die Schmuggelwaren an Land zu verstecken. Von den vierzehn Mann an Bord der Galliot mußten sechs die beiden Boote mit den erforderlichen Lebensmitteln, mit Werkzeugen und Geräten beladen, dann, nachdem diese Dinge hinübergeschafft waren, folgten die Waren, und ehe es Abend wurde, hatten die Matrosen fast alles geborgen, was dem Kapitän besonders wertvoll oder wichtig erschien. »Morgen mit Tagesanbruch fahren wir noch einmal«, bestimmte der Kapitän, »und dann bleiben drei von euch auf der Insel als Wache zurück. Wer dazu Lust hat, kann sich melden. Ich verpflichte mich, euch innerhalb acht Tagen abzuholen und gebe Verpflegung und Wein, soviel ihr wollt, nur dürft ihr das Versteck der Waren nicht verraten, sondern müßt, wenn euch die Fischer aufspüren sollten, irgendein Märchen erfinden. Nun, wer will?« Robert trat mit der Mütze in der Hand vor. Seine Augen baten so eindringlich, daß Worte gar nicht nötig waren. »Herr Kapitän, bitte lassen Sie mich mitgehen!« Van Swieten lächelte. »Meinetwegen, du Schlingel. Willst gern ein bißchen Robinson spielen, nicht wahr? Na, geh nur mit. In Havanna finden wir uns hoffentlich auf einem neuen Schiff wieder zusammen, wenn es auch nicht die arme brave ›Antje Marie‹ ist, und wenn wir auch den alten Geisterseher nicht mehr bei uns haben. Gott gebe ihm die ewige Ruhe, amen!« Dann wurden die beiden zum Bleiben auf der Insel bestimmten Matrosen ausgewählt; Mohrs Seekiste kam als Roberts Eigentum in die Kapitänskajüte, um zunächst der Gefahr entzogen zu werden, man peilte nochmals und fand, daß das Wasser im Raum nicht gestiegen war – dann ging die Mannschaft zur Koje. Robert schlief nicht. Zuviel stürmte auf ihn ein, zu viele Gedanken, frohe und traurige, beschäftigten ihn. Die acht Tage auf der Insel sollten ihm zu einem einzigen Freudentag werden! Was er sich jemals Märchenhaftes und Abenteuerliches ausgedacht hatte, sollte jetzt Wirklichkeit werden! In Pinneberg veranstalteten ja schon die größeren Jungen so gern allerlei Räuberspiele; sie führten untereinander Krieg auf den Inseln im Mühlenteich und in der Aue, wobei Robert jedesmal der Anführer gewesen war, – aber was war das gegen die Freude, in einer wirklichen Wildnis zu leben, in unbekannte Gegenden vorzudringen und Neues, immer Neues zu sehen? Sein Herz hüpfte vor Freude, und wäre es nicht das Bild des alten Mohr gewesen, das zuweilen wie ein Schatten auftauchte, so würde der Junge heimlich den Schiffbruch der Galliot als ein sehr frohes Ereignis bezeichnet haben. Aber die Erinnerung an den verlorenen Freund kam immer wieder zurück, mischte sich in jede Hoffnung, jede Freude – er konnte sie nicht zurückdrängen, sooft er es auch versuchte. Wo mochte jetzt die Leiche sein? Vielleicht von den Haien gefressen, vielleicht treibend im weiten Weltmeer. Roberts Augen wurden feucht, als er an den Alten dachte. Ja, sein Wunsch sollte erfüllt werden, in Havanna wollte er nach Hamburg anmustern und mit den Ersparnissen des unglücklichen Menschen nach Hause zurückkehren. Er wollte später von Mohrs Erbe das Steuermannsexamen machen, ja, und wenn er einmal ein Schiff besaß, so sollte es »Der Geisterseher« heißen, zum Andenken an den verlorenen Freund. Allmählich schlief er ein. Wunderbar ruhig und still war die Tropennacht. Kein Hauch, keine Welle bewegte das Wasser. Hoch oben am Himmel glänzte der Vollmond, und im Meer spiegelte sich sein helles, lächelndes Rund. Träumte Robert oder wachte er, als er zu hören glaubte, daß sich das Deck mit Männern anfüllte, daß ein Ringen und Stampfen, ein Ächzen und Fluchen die Stille der Mitternachtsstunde unterbrach? – – War es Wirklichkeit, daß er die Männer an den Pumpen gefesselt an Deck liegen sah, und daß die fremden Gestalten ihre Arbeit übernommen hatten, während andere den Kapitän und den Obersteuermann gebunden in ein Boot schleppten? Robert fuhr auf und sah hart neben sich das braune, bärtige Gesicht eines der Fischer. Noch war er selbst nicht bemerkt worden, und sein Verstand riet ihm, sich vollkommen regungslos zu verhalten. Was konnte der Überfall bedeuten? Das Rätsel sollte bald gelöst werden. Er hörte, wie van Swieten und Renefier in deutscher Sprache miteinander verhandelten. »Die Schurken«, knirschte der Kapitän, »die verfluchten Schurken!« Renefier seufzte. »Du bist an allem schuld!« gab er zurück. Ein lautes Rufen der Spanier übertönte seine Worte. Sie schnatterten durcheinander und begannen im Logis und in der Kajüte zu suchen. Robert horchte angestrengt. »Sie können den Jungen nicht finden«, sagte van Swieten. »Ich wollte wünschen, daß er entkäme.« Es rann heiß und kalt durch Roberts Adern. Auf dem Bündel alter Segel, das er sich hinter der Kombüse als Lager eingerichtet hatte, war er bis jetzt den Räubern entgangen, aber wie lange würde es dauern, bis man ihn entdeckt haben und mit den andern gefesselt in das Boot schaffen würde? Er durfte nicht zögern. Auf der Insel befand sich alles, was man für mehrere Wochen zum Leben brauchte, an Bord dagegen kam er in die Gefangenschaft einer Verbrecherbande. Schnell entschlossen ergriff er ein starkes Tau, zog es durch einen eisernen Ring der Bordwand und ließ sich geräuschlos daran hinabgleiten in das Wasser. Dann zog er, um seine Flucht gänzlich zu verbergen, das Tau schleunigst nach und schwamm in langen Zügen der Insel zu. Niemand entdeckte ihn, keiner der Räuber ahnte etwas. Das Boot mit der gefangenen Mannschaft stieß ab, als der Junge das Ufer erkletterte. Durchnäßt bis auf die Haut, allein in der weglosen Wildnis, zitternd vor Schwäche und Anstrengung sah er, wie auf dem Schiff die Piraten das Kommando ergriffen hatten und die Ladung als ihr Eigentum in Besitz nahmen. Als Robert den letzten Schatten des Bootes aus den Augen verloren hatte, sank er, von der Aufregung betäubt, ohnmächtig zu Boden. Allein Allein Die Nacht verging, und die Räuber arbeiteten eifrig. Sie schafften von der Ladung soviel heraus, daß gegen Morgen ihre Bark das fast leergewordene Fahrzeug ins Schlepptau nehmen konnte. Als die Sonne hoch am Himmel stand, war von der »Antje Marie« nichts mehr zu sehen. Robert erhob sich und nahm alle seine Kräfte zusammen. Jetzt war er allein, niemand konnte ihm raten oder helfen, niemand hörte ihn, er mochte rufen sooft er wollte. Im Anfang erdrückte ihn der trostlose Gedanke, machte ihn unfähig seine Lage ruhig zu überblicken oder für die nächste Zukunft irgendeinen Entschluß zu fassen, dann aber raffte er sich auf, um wenigstens etwas zu essen. Der Magen verlangte sein Recht. Mit langsamen Schritten wanderte er am Strand entlang. Es war ihm, als könne er dem Meer nicht den Rücken kehren, als sei er ganz verlassen, wenn erst das dichte Gebüsch ihn umgab. Und vielleicht – vielleicht kam ja auch ein Schiff. Er ging weiter und weiter, aber nichts zeigte sich. Die Küste wurde immer unwegsamer, der Pflanzenwuchs spärlicher, je weiter er vordrang; auch der Hunger quälte ihn stärker, und der Durst trocknete seine Kehle aus. Zahlreiche Möwen kreuzten über dem Wasser in der heißen Luft, Krebse und Krabben bewegten sich am Ufer, sonst war alles öde und totenstill. Robert fühlte es, er mußte jetzt essen, oder er würde ohnmächtig werden. Schnell entschlossen wandte er sich und ging zurück zu dem ersten Ankerplatz des Bootes, um von dort aus die Stelle zu erreichen, wo er Wasser und Nahrungsmittel finden konnte. Wohnten die Räuber auf dieser Insel und hatten sie das Versteck der Strandgüter schon entdeckt, so war er verloren, aber Robert ergab sich in das Unvermeidliche. Er hatte alle Hoffnung fallen lassen. Mit brennendem Kopf beugte er sich über die Quelle, die er schon am Vortage entdeckt hatte, und trank in langen, durstigen Zügen. Er wusch erst Gesicht und Hände, dann aber zog er sich aus und sprang ganz ins Wasser. Es war, als ob er plötzlich von einem Teil seiner Sorgen und Befürchtungen befreit sei. Er schwamm bald auf dem Rücken, bald mit den zahlreichen langbeinigen Wasserspinnen lustig um die Wette, obwohl dabei der Hunger nur immer grimmiger zu toben begann. Aber das schadete ja nicht; er besaß zu Essen genug, um den knurrenden Gesellen zu befriedigen, und daher gab er sich dem Vergnügen des Badens erst einmal ungestört hin. Dann schüttelte er den Staub aus seinen Sachen, rieb und reinigte sie so gut wie möglich und lief neu gestärkt auf dem gestern bezeichneten Pfad durch das Gebüsch, um zu dem Stapelplatz der Waren zu kommen. Etwas schlug ihm aber doch das Herz, als er näher kam. Wenn vor ihm die Räuber dagewesen waren und alles weggenommen hatten? – Dann konnte er Melonen essen, Ananas, Bananen, rohe Krabben und verschiedene kleine Beeren, die an den Büschen wuchsen – weiter blieb ihm nichts übrig. Wenn sich der Magen gegen diese Kost sträubte, so kamen Krankheit und Tod und deckten alles zu, Vergangenheit und Zukunft. Er schlich und lauschte, er spähte durch die Zweige, angstvoll und hoffend zugleich. Aber es war zum Glück kein Mensch dagewesen. Alles lag und stand, wie es gestern die Matrosen übereinandergestapelt hatten; tiefer Friede ruhte auf der ganzen Umgebung. Robert nahm mit erleichtertem Herzen von seiner künftigen Wohnung Besitz. Er mußte sich einrichten, mußte sich den Verhältnissen anpassen und wie ein Geizhals den vorhandenen Vorrat verwalten, das wußte er. Aber noch hatte es keine Not. Da waren Erbsen, Reis, Bohnen, Pökelfleisch, Speck und Mehl. Ferner fand er mehrere Angeln, einen Spaten, ein Fäßchen Salz, eine kleine Kiste mit Zündhölzern und Kochgeräte, also schien für den Magen gut gesorgt. Bei näherer Umschau entdeckte er noch eine Kiste mit Schiffsbrot, und als seine Zähne tapfer das harte Gebäck zerbissen, wunderte er sich, wie ausgezeichnet es schmeckte. Ein tüchtiges Stück Speck, eine halbe Ananas und ein Glas Wein vollendeten das sonderbar zusammengesetzte Frühstück, dann stützte Robert den Kopf in die Hand und fing an nachzudenken. Wo mochten jetzt seine Kameraden sein? Lebten sie überhaupt noch? Wahrscheinlich lagen alle gefesselt auf dem Boden des Meeres, wahrscheinlich waren alle tot, die Männer, in deren Mitte er die Heimat verlassen hatte. Ganz allein hatte ihn das Schicksal dem Strand der unbewohnten Insel zugeführt, ganz allein war er zurückgeblieben, ohne einen Freund, einen Menschen, mit dem er sprechen konnte. So hatte er die alten Eltern zurückgelassen, so verließen ihn die Menschen. Er sprang auf und ging ins Freie. Krank durfte er nicht werden, dann war alles verloren. Er mußte wieder an den Strand gehen und nach Rettung Ausschau halten, darin lag seine einzige Hoffnung. Es graute ihn, sooft er das Gebüsch und die aufgestapelten Vorräte erblickte. Wenn das alles verzehrt war und noch kein Schiff ihn bemerkt hatte, was dann? Er ergriff eine große Wolldecke und wickelte sie zusammen. Zwischen zwei Bäumen am Ufer ausgespannt, konnte sie vielleicht als Notzeichen dienen, vielleicht führte sie ein Schiff an die Küste, das ihn aufnahm. Er dachte nicht daran, daß auch die Räuber so sein Versteck finden und ihn plötzlich überfallen konnten. Das Gefühl des Verlassenseins ließ ihn noch zu keiner klaren Überlegung kommen. Beladen mit der Decke, einem großen Stück Segeltuch, einer Rolle Garn und etwas Mundvorrat machte er sich auf den Weg, um den Strand wieder zu erreichen. Das brandende Meer war doch nicht so entsetzlich einsam wie der schweigende Wald. Aber er ging diesmal einen andern Weg. Anstatt sich ganz links zu halten, bog er rechts ab und brauchte etwas mehr Zeit, bevor er ans Ufer kam. Hier spülten die Fluten in tiefe Buchten hinein, und die Gegend wurde mit jedem Schritt schöner. War an der entgegengesetzten Seite der Insel das Meer von großartiger, überwältigender Schönheit, brach dort donnernd die Brandung an die höhergelegene Küste, – so spielte es hier murmelnd und flüsternd wie ein stiller träumender See unter dem Schatten uralter, tief herabhängender Baumzweige, rings umgeben von weiten, duftenden Blütenfeldern. Schmale Landzungen liefen zu beiden Seiten lang gestreckt bis tief in das Meer hinaus, daher war es so still und friedlich am Strand, daher verloren sich die letzten Wellen des Ozeans hier still unter den Zweigen der Bäume. Robert sah auf. Über der schmalen Bucht wölbten sich verschlungene Ranken zu einer Kuppel. Einzelne Sonnenstrahlen durchdrangen das dichte Gewinde, leichter, spielender Südwind bewegte die weißen und purpurnen Blüten, und die Vögel sangen. Robert ging mit leisen Schritten durch das Gras. Es war ihm wie in einer Kirche, wie damals, als er in dem weltabgelegenen kleinen Heimatdörfchen Rellingen vor dem Altar stand und eingesegnet wurde. Der Pfarrer hatte ihn gefragt, ob er ein guter, wahrhafter und ehrlicher Mensch bleiben wolle. – Sonderbar, auch diese Baumwipfel, diese hüpfenden Sonnenstrahlen, diese Urwaldstille schienen dasselbe zu fragen. Robert legte das Gesicht an den schlanken Stamm einer Palme und umfaßte das Holz, als sei es ein lebendes fühlendes Wesen. Er dachte an Mohr, an den toten geliebten Freund, dessen Augen er immer vor sich sah. Armer, alter Mann, wie glücklich war dein Sterben gegen das deiner ermordeten Kameraden! Robert erinnerte sich so lebhaft des Toten, daß er ihn zu sehen glaubte. Dort unten, wo die Schatten tiefer fielen, im grünen Blattwerk der Schlingpflanzen, von Orangen und Palmen überragt – – – war es nicht des alten Freundes ernstes Gesicht? – Roberts Knie zitterten. Er bog das Gebüsch zur Seite und schlich näher, mit pochendem Herzen, leise als beträte er einen Tempel. Ja, es war Mohr, dessen Leiche der Tod an die Erde verzeihend zurückgab, nachdem er um seiner Tat willen sein ganzes Leben die Menschen geflohen hatte. Robert trat ganz nahe an die Leiche heran und zog sie mit Aufbietung aller seiner Kräfte ganz auf den Strand. Er sah voll Rührung in das stille Gesicht des Toten; ein Gefühl, als sei er nicht mehr so ganz verlassen und allein, bemächtigte sich seiner. Nun konnte er von dem Freund Abschied nehmen. Robert hatte nie eine Leiche gesehen. Er handelte wie unter dem Einfluß einer höheren Gewalt, wusch und reinigte zuerst das Gesicht seines alten Freundes von Blättern und Fasern, dann legte er den Kopf auf ein Polster aus dichtem blühenden Moos und faltete des Toten Hände. Obwohl er nie gesehen hatte, wie man eine Leiche bettet, so sagte ihm doch das natürliche Gefühl, was hier im Augenblick richtig und der Würde des Toten angemessen sei. Nach dreißig Jahren zum erstenmal wieder an Land, auf dem festen Boden der Erde, aber nur – um ein Grab zu finden! Er streichelte das kalte Gesicht, er sprach in Gedanken mit dem teuren alten Mann und vergaß während dieser stillen Feier des letzten Abschieds, daß er ganz allein auf einer unbewohnten Insel im Weltmeer war. Er verstand jetzt, weshalb sich der Alte zu ihm so besonders hingezogen fühlte, er sah mit hellerem Blick in seine und in die eigene Vergangenheit. Ernster wurden seine Gedanken, immer klarer die Erkenntnis seiner Schuld. Vielleicht sah er Vater und Mutter nie wieder, vielleicht war der Wind, der spielend die Zweige und das Wasser bewegte, auch über ihre Gräber dahingeweht – sie hatten es nicht ertragen können, daß ihr einziges Kind so lieblos gehandelt hatte. Und dann – ja dann war er ihr Mörder, wie der alte Mann, dem ein einziger Augenblick der Leidenschaft die Waffe in die Hand gedrückt hatte. Der Gedanke war schrecklich. Und ohne zu wissen, was er tat, ohne zu wollen oder zu überlegen, beugte Robert die Knie und betete: »O Gott im Himmel, gib, daß dies nicht geschehe!« Die Sonne stand schon hoch am Himmel, es wurde Zeit, das schwierige Werk zu beginnen. Robert entkleidete den Toten, wusch ihn und hüllte ihn in die Tücher, die er zu ganz anderem Zweck mitgebracht hatte. Dann ging er auf dem kürzesten Weg zu seiner Niederlassung zurück und holte einen Spaten, um das Grab auszuheben. Die Arbeit war nicht leicht, aber Robert hätte um keinen Preis den toten Körper seines alten Freundes unbeerdigt gelassen. Er grub und grub, bis sich der Tag neigte und bis ihm die Hände bluteten, dann legte er mit großer Anstrengung, so gut es ging, die Leiche in ihr letztes Bett. Das Grauen überwindend, sprang er in die Grube und brachte den Körper in die richtige Lage. Noch einmal suchte seine Hand die Rechte des Toten. »Schlaf wohl, lieber alter Freund!« Und dann begann er das Grab zu füllen. Schaufel auf Schaufel fiel hinunter, und endlich war es getan. Robert wünschte sehnlichst, irgendein Andenken, ein Erinnerungszeichen anzubringen, aber nach längerem Überlegen ließ er den Plan fallen. Kamen die Räuber an den Strand, so konnten sie durch den Anblick des frischen Grabes sehr leicht veranlaßt werden, die ganze Insel zu durchsuchen, und was noch weit schlimmer war, sie konnten das Grab selbst durchwühlen, um sein Geheimnis zu erforschen. Nein, ein Kreuz durfte Robert nicht befestigen, das sah er ein. Er trat die aufgeworfene Erde herunter und legte Moos auf die Stelle; dann ging er langsam durch das Gebüsch zurück, oft nur mit Mühe die eingeknickten oder quer über den Weg gelegten. Zweige wiederfindend, an denen er sich vorwärts tastete. Es war fast dunkel, als er sich im Hintergrund der Höhle aus Wolldecken und Segeln ein Lager bereitete, sich darauf ausstreckte und sofort einschlief. Am folgenden Morgen begann er sich einzurichten und einen festen Tagesplan zu entwerfen. Bevor er seine Lage überdachte und seinen Tag, den Verhältnissen gemäß, einteilte, wollte er erst seine Wohnung gemütlich herrichten, erst Ordnung schaffen und aufräumen. Wie lange er die Gastfreundschaft dieser Insel noch in Anspruch nehmen mußte, das ließ sich ja nicht voraussehen, vielleicht war es für sehr lange Zeit, und so wollte sich der Junge auf den schlimmsten Fall vorbereiten. Mohrs Beispiel stand hell vor ihm. Was hatte dieser unglückliche, immer einsame, immer seinen furchtbaren Erinnerungen überlassene Mann mit wahrhaft unerschütterlichem Mut so lange ertragen! Robert sprach in Gedanken mit ihm. Er wußte, was Mohr gesagt haben würde. »Du bist in diese schwierige Lage ohne dein Verschulden hineingeraten, mein Junge, nun ertrage das Übel wie ein Mann und versuche die beste Seite zu sehen. Darin liegt alle Lebensweisheit, darauf ruht alles Glück und Gelingen. Verzweifle nicht an dem Unabwendbaren, sondern sei immer bemüht, dich den Gegebenheiten anzupassen, – dann wird alles gut ausgehen.« Mohr hatte während mancher Freiwache, wenn die andern würfelten und Karten spielten, mit dem Jungen über ernste Fragen gesprochen, hatte so manches Gute in Roberts empfängliches Herz gepflanzt, und das alles trug schon jetzt seine ersten Früchte. Ein kurzer Rundblick genügte ihm, sich über seine nächsten Pflichten Klarheit zu schaffen. Nachdem er gefrühstückt und für das Mittagessen ein gehöriges Stück Pökelfleisch in kaltes Wasser gelegt hatte, begann er die Kisten auszupacken und von den Brettern eine feste Wand herzustellen. Nägel und anderes Gerät besaß er ja, ebenso Bindgarn und Segeltuch, daher war die Sache gar nicht so schwierig, besonders weil er sich weder gegen Kälte noch gegen Feinde zu schützen brauchte, sondern nur gegen Regen und Insekten. Robert zimmerte und übernagelte alle Fugen mit Streifen geteerten Segeltuches; dann machte er auf gleiche Weise eine Tür, die aber nur kriechend zu passieren war und außerordentlich vorsichtig behandelt werden mußte, weil ihr der nötige Eisenbeschlag fehlte. Vor Mittag hatte er diese Arbeit beendet und konnte sich nun als Besitzer eines kleinen, lichtlosen, aber gegen Wind und Wetter geschützten Raumes betrachten. Sinnend und ausruhend saß er vor dem brodelnden Kochtopf, legte sein Gesicht in beide Hände und wartete auf das Garwerden seines selbstbereiteten Mahles, über das er sich dann mit regem Appetit hermachte. Nachdem er gegessen hatte, wählte er sorgfältig aus dem ganzen Vorrat das aus, was gegen Feuchtigkeit am notwendigsten geschützt werden mußte, nämlich Waffen und Pulver, die unentbehrlichen Zündhölzer, Salz, Zucker und Kaffee. Dies alles brachte er in die Höhle, bedeckte es mit mehreren Segeltüchern und baute dann für die Lebensmittel einen zweiten, kleineren Verschlag, den er mit seinen Vorräten füllte und außerdem mit großen Steinen für etwaige Angriffe hungriger Tiere unzugänglich machte. Das Fleisch in der Tonne bedeckte er mit einem Haufen frischer grüner Zweige, um es möglichst lange genießbar zu erhalten. So war gegen Abend für das Notwendigste einstweilen gesorgt, und als sich Robert noch aus Moos und Decken ein bequemes Lager gebaut hatte, setzte er sich vor seiner Hütte auf eine übriggebliebene Kiste und überließ sich seinen Gedanken. Er wollte in Zukunft die erste Hälfte jedes Tages den häuslichen Arbeiten widmen und während der zweiten am Strand Ausguck halten oder die Insel ringsumher untersuchen, um festzustellen, wie groß sie sei, welche Früchte sie trug und was sich von der Jagd erwarten ließ, ebenso wollte er fischen und Krebse fangen, da doch sein Fleischvorrat schon sehr bald der Hitze erliegen würde. Er untersuchte auch das Kistchen mit Pulver und Blei und überzeugte sich, daß für wenigstens hundert Schüsse gesorgt war. Nur eins beunruhigte ihn. Sollte er am Strand ein Notsignal befestigen oder nicht? – Die spanischen Bukanier, ohne Zweifel Räuber, die unter der Maske harmloser Fischer die gefährlichsten Eigenschaften verbargen, wohnten jedenfalls in der Nähe und mußten schon sehr bald seine Flagge bemerken. Was dann geschah, ließ sich mit ziemlicher Gewißheit voraussehen. Und doch war für ihn auch wieder dieses gefährliche Notzeichen die einzige Hoffnung, von der Insel erlöst zu werden. Hier landete kein Schiff, hierher kam niemand freiwillig, das wußte er recht gut. Aber wenn er eine der höchsten Königspalmen erkletterte – und er hatte es bereits versucht, es gab schlanke Stämme, die er umfassen konnte – dann ließ sich das Zeichen noch immer geben, sobald ein Schiff in die Nähe kam. Es fanden sich unter den Waffen zwei sechsläufige Revolver, mit denen jedenfalls die Aufmerksamkeit vorüberfahrender Schiffe leicht zu erwecken war; das tröstete ihn sehr. Nachdem er den Entschluß, keine Notflagge zu setzen, einmal gefaßt hatte, wurde ihm leichter ums Herz. Er wußte nun, was jeder Tag bringen würde, und nahm sich vor, schon morgen einen größeren Ausflug zu machen. Vorher aber wählte er in nächster Nähe seiner Hütte einen jungen Baum, und in diesen schnitt er zwei tiefe Kerben, um zu wissen und täglich festzustellen, wie lange Zeit er auf der Insel zugebracht hatte. Einen anderen als diesen von Robinson Crusoe erfundenen Kalender besaß er ja nicht, aber es ging auch mit den Kerben ganz gut. Während der Nacht fiel ein starker Regen, der Robert zwang, sich vor allem einen größeren Vorrat Brennholz ins Trockene zu bringen. Er sammelte alle Splitter der gestrigen Zimmerarbeit und holte aus dem Innern der dichten, undurchdringlichen Gebüsche mit seiner Axt das trockene Holz hervor. Nachdem er auf diese Weise einen hübschen Vorrat unter das Felsendach gebracht hatte, baute er daneben die Küche oder vielmehr den Herd aus Steinen und Felstrümmern, die am Ufer reichlich vorhanden waren. Der Bach gab köstliches frisches Wasser; Bananen und Ananas wucherten überall, er brauchte daher lange Zeit für seinen Unterhalt keine Sorge zu tragen. Er verschob es auf den folgenden Tag, die kostbaren Seidenstoffe und Teppiche des Kapitäns wieder zu verpacken, und stapelte fürs erste nur die Kisten mit Wein und Champagner draußen vor der Höhle übereinander, da ja diese durch den Regen nicht verdorben werden konnten. Dann traf er die Vorbereitungen zu seinem beabsichtigten größeren Ausflug um die Insel. Schwere, bis an die Knie reichende Seestiefel hatten die Matrosen für alle Fälle mit hierhergebracht, aber er besaß nichts, was einer Tasche oder einem Korb auch nur im mindesten ähnlich gesehen hätte. Seinen Mundvorrat mußte er daher in ein Bündel knoten und auf dem Rücken tragen. Er steckte eine Pistole in die Brusttasche, ein kleines Handbeil in den Gürtel und schnitt sich aus dem Gebüsch einen tüchtigen Knüppel. So ausgerüstet trat er seine Entdeckungsreise an, diesmal nach der entgegengesetzten Seite der Insel. Er fand, daß das Unterholz dichter und dichter, der Pflanzenwuchs immer üppiger wurde, je weiter er sich vom Strand entfernte. Die Landschaft stand im reichen Schmuck tropischer Schönheit, während eine Unzahl von buntgefiederten Singvögeln oft so traulich nahe herankam, daß Robert glaubte, die Tierchen mit der Hand greifen zu können. Er bezeichnete rechts und links durch tüchtige Hiebe seinen Weg und fühlte regelrecht ein Verlangen nach einem kleinen Abenteuer. Die Pflanzen, die er sah, interessierten ihn alle sehr, da er ja aus dem Schulunterricht ihre Merkmale genau kannte und wußte, daß diese breitblätterige, zu Tausenden den Boden bedeckende Staude der Tabak sei, daß dort die Indigopflanze blühte und dort der Kakao. Er pflückte die reifen Orangen vom Baum, bewunderte die Schoten des grünen Kaffees und machte endlich bei einer besonders schönen Stelle Halt, um zu rasten und etwas Schiffszwieback zu essen. War er nicht in diesem Augenblick ein zweiter Christoph Kolumbus, der ja Kuba vor Zeiten entdeckte und mit seiner widerstrebenden Mannschaft durchforschte? – Wie schnell sich doch im Menschenleben die Verhältnisse ändern! Vor kaum vier Monaten noch in dem kleinen, unbekannten Pinneberg ein kleiner, unbekannter Schneiderlehrling, und nun ein Ansiedler auf dem klassischen Boden, der einst Kolumbus' Namen unsterblich gemacht hatte. Roberts Herz schlug höher. Wie oft hatte er sich in die Lage seines Lieblingshelden so lebhaft hineingedacht, daß er Schritt um Schritt seinen Entdeckungszügen folgte und träumend alles miterlebte. Jetzt stand er auf dem Fleck Erde, den Kolumbus betreten hatte, jetzt endlich blühte um ihn herum die südliche Pracht der Tropen, wohin er sich in Gedanken so oft gewünscht hatte. In fast heiterer Stimmung setzte er seinen Weg fort. Was jetzt den Boden bedeckte, war Zuckerrohr, und daher schien einige Vorsicht geboten. In der Nähe dieser Pflanze, die auf ganz trockenen Feldern nicht so leicht wild wächst, befindet sich meistens ein Sumpf, ein stehendes oder verschlammtes Gewässer, und diese ›Bayous‹, wie sie der Amerikaner nennt, beherbergen Krokodile. Robert wußte, daß auf den Antillen das Orinokokrokodil zu Hause ist, und daß es in der Umgebung seines sumpfigen Aufenthaltes kleine Streifzüge zu machen liebt, – denen nicht selten sogar Menschen und größere Tiere zum Opfer fallen; er ging daher Schritt um Schritt weiter und suchte erst einmal das Wasser, das er in nächster Nähe vermutete. Wirklich sollte ihn seine Erwartung nicht täuschen. Zu seiner Rechten dehnte sich ein schwarzer, mit Schlamm und Moos eingefaßter See, dessen Oberfläche träge im Sonnenschein dalag und grünlich überzogen, von Wasserpflanzen bedeckt, einen widerwärtigen Modergeruch ausströmte. Frösche quakten in der Tiefe der überhängenden Dickichte, kleine Schlangen glitten wie blitzende Streifen durch das Moos, und die lästigen Moskitos waren hier zahlreicher als an irgendeinem anderen Punkt der Insel. Robert ging weiter, jetzt am Rand des verschlammten Sees entlang und prüfte sorgfältig die Umgebung. Nur ab und zu stand zwischen den Stämmen des Zuckerrohrs ein einzelner Baum, sonst war die Gegend flach, wenn auch nicht weniger schön als der Wald. Es blühte in allen Farben, besonders am Rand des Sumpfes, wo purpurne Blüten an langen Ranken auf dem Boden dahinkrochen und zu dem eintönigen Grau des trockenen Schlammes einen lebhaften Gegensatz bildeten. Auch Wasservögel schienen hier ihre Heimat zu haben; wenigstens sah Robert einige ganz junge, wollige Tierchen durch das Gewirr von Pflanzenresten, dürrem Reisig und lebenden Gewächsen dahinschlüpfen. Er ließ sich leise auf die Knie nieder. Wie schön wäre es, in der Höhle einen kleinen Kameraden zu besitzen, ein Vögelchen, das nach und nach zahm wurde, aus seiner Hand fraß und auf seine Stimme hörte. Er konnte ihm aus einer der Kisten ein Wohnhäuschen herstellen, konnte es täglich mit Würmern und Brotkrumen füttern. Dieser Wunsch beherrschte ihn vollständig. Er beugte sich über den Rand des Sumpfes und streckte behutsam die Hand aus ... In diesem Augenblick ertönte hinter ihm ein zischender Laut, halb ein Schnaufen, halb wie das Schnarchen eines schlafenden Hundes. Die Büsche krachten leise. Robert fuhr auf, als habe ihn ein Schuß getroffen. Er drehte sich gedankenschnell nach der Stelle, von wo der Laut gekommen war – – Hinter ihm, kaum zwei Schritte weit entfernt, lag zwischen den Zuckerrohrpflanzen ein Krokodil von etwa drei Meter Länge mit aufgesperrtem Rachen, dessen Häßlichkeit noch durch die kleinen, raublustigen Augen mit ihren drei übereinander liegenden Lidern bedeutend verstärkt wurde. Das Tier schoß im gleichen Moment vorwärts, als Robert, dessen Geistesgegenwart ihn die Gefahr der Lage vollständig überblicken ließ, einen Seitensprung machte. Er wußte, daß die Krokodile an Land feige und unbeholfen sind, und daß sie sich mit ihrem kurzen Hals nur sehr schwer drehen können, aber dennoch blieb immerhin seine Lage bedenklich genug, da ihn zur Rechten der Sumpf am Rückzug hinderte, und zur Linken das dichtstehende Zuckerrohr. Ohne die Blicke von seinem greulichen Feind zu wenden, arbeitete er sich rückwärts in das Gebüsch hinein, unwillkürlich seinen Knüppel zum Schutz vorstreckend, wobei ihm Hände und Kleidung nicht wenig zerfetzt wurden. Das Tier folgte ihm, so schnell es seine kurzen Beine erlaubten. Auf freiem Gelände wäre es Robert ein Leichtes gewesen, sich der Gefahr zu entziehen, ebenso hätte er auch schießen können, wenn nur die Pistole nicht vorher erst hätte geladen werden müssen; dazu aber blieb ihm keine Zeit. Solange seine Kräfte vorhielten, ging alles gut, als jedoch die Stämme des Zuckerrohrs anfingen, höher und umfangreicher zu werden, als sie seinen Schultern stärkeren Widerstand entgegensetzten, begann sich die Entfernung zwischen ihm und dem Krokodil langsam zu verringern. Er fühlte, wie ihm der Schweiß ausbrach und wie ihm die Füße den Dienst zu versagen drohten. Hätte er nur einen Baum erreichen können! Etwas Schiffszwieback und Fleisch besaß er noch, auch die Pistole, um das Tier zu erschrecken, – er mußte also vielleicht die Nacht in den Zweigen des Baumes verbringen und das Krokodil aushungern, indem er es zwang, andere Beute zu suchen. Aber noch war kein rettender Stamm in der Nähe – – Es begann vor seinen Augen zu kreisen, und die Umrisse wurden verschwommener. Seine Schläfen klopften, und in seinen Ohren klang es wie das Brausen des Meeres – – Das Schnaufen des Raubtieres erklang in unmittelbarer Nähe, er sah kaum noch deutlich, was um ihn herum vorging, da – stieß er plötzlich mit dem Rücken gegen einen Baumstamm und jauchzte laut auf vor Freude. Den Stock, den er immer noch festgehalten hatte, unter Aufbietung seiner letzten Kräfte dem Untier in den geöffneten Rachen schleudernd, flog er blitzschnell in die Zweige des Mango hinauf. Es war zum Glück ein uralter Baum, dessen Äste bis tief zum Boden herabreichten und die nötige Stärke besaßen, um ihn tragen zu können. Seine Hände bluteten, sein Zeug hing in Fetzen herab, und seine Mütze lag unten zwischen dem Zuckerrohr, aber er selbst war vorläufig in Sicherheit. Mit beiden Armen umklammerte er den Stamm, schloß die Augen und ließ seine Brust wieder zu ruhigem Atmen zurückkehren. Eine Frucht des Mangobaumes, die unmittelbar in der Nähe hing und deren Saft er begierig einsog, brachte ihm einige Abkühlung. Er trocknete sich die Stirn und blickte hinab. Das Krokodil lag neben dem Baum. Robert öffnete die Jacke und ließ den Wind unter das schweißdurchnäßte Wollhemd dringen, er glaubte fast ersticken zu müssen, obgleich jetzt die größte Gefahr vorüber war. Das Krokodil blieb vielleicht zufällig in der Nähe, doch jagte es nicht mit Überlegung, wie andere, an Land lebende Raubtiere, sondern zog sich in seinen Sumpf zurück, wenn es das Opfer nicht mehr sah. Wenigstens glaubte sich Robert zu erinnern, es so gehört zu haben, daher hoffte er, daß sich der schwerfällige Feind jetzt nach kurzer Rast auf die Beine machen werde. Von oben herab zu schießen wäre völlig nutzlos gewesen, da eine Kugel an dem Panzer des Tieres abprallen würde wie an glattem Stahl. Nur wenn der Schuß in das Auge traf, konnte er töten. Viertelstunde auf Viertelstunde verrann, die riesige Eidechse rührte sich nicht vom Fleck. Robert fühlte, daß die knorrigen Äste des Baumes keineswegs ein angenehmes Ruhekissen waren, und daß seine Glieder anfingen zu schmerzen. Er zog die Pistole hervor, lud sie und drückte ab, dem Feind gerade auf den Rücken, aber ebensogut hätte er ein paar Blätter hinunterwerfen können. Das Tier nahm von dem Knall und von der Kugel durchaus keine Notiz. Robert begann zu klettern, um wenigstens nicht fortwährend von den Baumzweigen gedrückt zu werden. Er schwang sich in die höchste erreichbare Spitze und bombardierte das Tier mit einer wahren Flut von harten, halbreifen Früchten, die er ihm alle geschickt auf den Kopf warf, aber ohne die erhoffte Wirkung zu erzielen. Das Krokodil beachtete ihn beharrlich nicht. Robert mußte sich mit dem Gedanken, hier für die Nacht Quartier zu nehmen, endlich wohl oder übel befreunden. Nur mit dem Schlafen sah es übel aus, da er nichts besaß, um sich festzubinden. Aber diese Nacht konnte ja nicht ewig dauern. Er zog seinen Mundvorrat aus dem Tuch hervor und fand den Zwieback zu Pulver zerrieben, das Fleisch aber plattgedrückt wie einen Pfannkuchen. Jetzt mußte er doch lachen. Seine Berührung mit den Stämmen des Zuckerrohrs hatte die Verwüstung angerichtet. Er aß die größten Brocken und das Beste vom Fleisch und schüttete dann den Rest auf die Schnauze des Belagerers. Der schien zu schlafen, er rührte kein Glied. Und so kam die Nacht heran. Robert nahm das Tuch, in dem er den Mundvorrat getragen hatte, und prüfte die Stärke. Dann band er wenigstens einen Arm an den nächsten Zweig, um zumindest rechtzeitig geweckt zu werden, wenn er dennoch einschlafen und vielleicht fallen sollte. So erwartete er die Nacht. Regenwolken verdeckten den Mond, Finsternis hüllte alles in ihre undurchdringlichen Schatten, nur die Stimmen der Natur klangen zuweilen aus dem schweigenden Wald herüber. Ein Klatschen des Wassers, ein vorüberhuschender Vogel, ein Knistern und Brechen im Unterholz oder gar ein leichter, schnell erstickter Angstschrei, das war alles, was Robert hörte. Er dachte an Pinneberg, an die Eltern und an Mohr, seinen lieben alten Freund, dessen Grab er morgen gleich besuchen wollte. Das Geld, das der sonderbare Mann während eines halben Menschenlebens zusammengespart und ihm vermacht hatte, war mit allem übrigen von den Räubern gestohlen worden, Robert konnte also nicht mehr daran denken, nach Hause zu reisen und sich mit den Eltern zu versöhnen. Sollte er als Bettler, ohne einen Groschen oder irgendetwas, das ihm gehörte, wieder in das Vaterhaus zurückkehren und bitten: Nehmt mich auf, ich bin hungrig und bitte euch um etwas zu essen? Nein, dagegen sträubte sich sein Stolz. Er wollte vom nächsten Hafen aus einen langen Brief schreiben, wollte alles erzählen, was er erlebt hatte, besonders diese letzte Gefangenschaft auf der einsamen Insel und den Verlust des Geldes, – damit mußten sich die Eltern vor der Hand begnügen. Er dachte so lebhaft an die Heimat, an das kleine niedere Wohnzimmer und die sauberen Möbel, daß er fast glaubte, alle diese Dinge vor sich zu sehen. War es das Rauschen des Regens oder sprach dort seine alte Mutter zu ihm? Ja gewiß, sie tröstete ihn, sie legte die Hand auf seine Stirn und flüsterte Worte voll Liebe. Es wunderte ihn, daß sie so plötzlich hier auf der entlegenen Insel bei ihm stand, er begriff nicht, wie sie den Räubern entgangen war und daß ihr das Krokodil kein Leid getan hatte. »Mutter«, sagte er leise, »der Vater irrt sich, wenn er meint, daß ich euch nicht lieb habe, gewiß, er irrt sich. Aber ich wollte ja so gern hinaus in die weite Welt – – das war es.« Und in den Blättern spielte der Wind, rauschte der Regen – – Die Sonne schien hell und lachend auf sein erstauntes Gesicht herab, als Robert am folgenden Morgen erwachte. Er blickte um sich, steif am ganzen Körper vor Schmerz, aber neugestärkt durch den festen, gesunden Schlaf von wenigstens fünf Stunden. Wie der Blitz durchzuckte ihn die Erinnerung an das letzte Erlebnis des Vortages, er sah durch die Zweige herab auf den Boden und prüfte sorgfältig die Umgebung. Das Krokodil war verschwunden. Er atmete tief auf. Jetzt mußte er den günstigen Moment benutzen und schleunigst Fersengeld geben, bevor der Feind möglicherweise zurückkam. Er bewohnte höchstwahrscheinlich den Sumpf zur Linken und konnte sich zu einem Morgenspaziergang veranlaßt fühlen, also mußte Robert auf seiner Hut bleiben. Er kletterte unter grimmigen Schmerzen herab und machte etwa zwei Meter über dem Erdboden auf einigen stärkeren Ästen Halt, um erst die Pistole zu laden. Pulver und Blei hatte er vorsichtigerweise durch eine Blechkapsel vor Feuchtigkeit geschützt und auch um den Revolver sein Taschentuch gebunden. Beides war in bester Ordnung, daher konnte er es getrost wagen, mit gespanntem Hahn den Rückweg aus der Umgebung des Sumpfes anzutreten. Schritt für Schritt drang er, nachdem er seine durchnäßte Mütze wiedergefunden hatte, durch das gestern niedergetretene Dickicht vor und kam bis an die Stelle, wo er den kleinen Vogel hatte greifen wollen. Das Ufer war hier sehr breit und senkte sich nur ganz allmählich bis zum Wasser herab. Von der Vogelfamilie sah Robert keine Spur, auch die Ranken schienen an mehreren Punkten gewaltsam zerrissen, und eine tiefe Erdfurche ging von oben bis an den grünschillernden Tümpel herab. Das Krokodil war also an dieser Stelle ins Wasser gekrochen. Robert faßte die Waffe fester. Jetzt hatte er vier Schüsse und konnte das Ungeheuer an sich herankommen lassen. Als er etwa zehn Schritte gegangen war, bewegten sich vor ihm auf halber Höhe des Ufers die sonnenverbrannten Halme, und raubgierige Augen starrten ihm entgegen. Das Krokodil lag in der Sonne und dehnte die schuppigen Glieder. Es mochte in diesem Augenblick nicht aufgelegt sein, sich zu erheben und nach Beute zu spähen, – nur die Augen glitzerten mordlustig, und die Kinnladen bewegten sich leise. Robert zögerte nicht lange. Er zielte auf die Augen des Tieres und tötete es fast auf der Stelle. Der Körper zuckte noch einige Male, der Schwanz schlug in die Luft, und die lippenlosen Kiefer bewegten sich im letzten Kampf, dann waren die Augen gebrochen. Ein Gefühl des Stolzes durchzog Roberts Brust. Da lag das riesige Tier, von ihm getötet, – er hatte ein Krokodil erlegt! Wie schade, daß sich die Trophäe nicht aufbewahren ließ. Aber so gern er auch den Rückenpanzer abgelöst und mitgenommen hätte, davon mußte er doch absehen. Nachdem ihn ein Schlag mit dem Beil auf die Schnauze überzeugt hatte, daß das Tier tot sei, wagte er sich näher heran und besah den Körper. Der Panzer aus gekielten Schildern war hart wie Eisen, so hart, daß Robert auch nicht die geringste Spur seiner ersten Pistolenkugel finden konnte. Die Zunge fand er, nachdem er mit dem Beil das Maul geöffnet hatte, ihrer ganzen Länge nach festgewachsen, Ohren und Nasenlöcher hatten verschließbare Klappen. Am Unterkiefer saßen Drüsen, die einen durchdringenden, moschusartigen Geruch ausströmten. Robert trennte sich nur ungern von der Hoffnung, irgendein Andenken mit nach Hause nehmen zu können, aber er mußte doch endlich den Gedanken aufgeben und den Weg zu seiner Niederlassung antreten. Nachdem er noch einen ziemlich großen Vogel erlegt hatte, kehrte er durch das taufrische, köstlich duftende Holz ohne Zwischenfälle zu seiner Behausung zurück. Aber wie war sein Anzug zerfetzt und zerrissen, wieviel Flecke hatte er bekommen! Robert seufzte, als er sich auf sein Lager streckte und jedes Stück einzeln untersuchte. Endlich schüttelte er den Kopf. Auch wenn er Nadel und Faden gehabt hätte, so wäre hier alle Schneiderkunst vergeblich gewesen, aber dennoch mußte er der Moskitos wegen heiles Zeug haben. Zwar befand sich genug Segeltuch unter den mitgebrachten Sachen, aber keine Schere, keine Nähnadel und kein Zwirn. Er begann seufzend den geschossenen Vogel zu rupfen, nahm ihn aus und briet ihn mit einigen Speckschnitten im Kochkessel. Dann kochte er Kartoffeln, pflückte sich einige Ananas und tafelte im Freien vor seinem hölzernen Palast wie ein König. Das Jagdglück von heute morgen, die kräftige Mahlzeit und die weite Wanderung hatten ihn in gute Stimmung versetzt, die nur durch den Gedanken an Jacke und Hose einigermaßen getrübt wurde. Wenn das seine Mutter gesehen hätte, sie, bei der alles vor Sauberkeit glänzte! Er mußte lächeln, als er das dachte. Waschen ließ sich auch nichts, da er keine Seife hatte. Kopfschüttelnd räumte er die Überbleibsel der Mahlzeit fort und machte sich dann daran, eine Angel herzustellen. Haken und Schnüre besaß er glücklicherweise, es fehlte also nur der Stock, und den lieferte das nächste Gebüsch in jeder Größe. Robert befestigte sein neues Jagdgerät, nachdem er die Angelschnur mit einem tüchtigen Stück Pökelfleisch daran ins Wasser geworfen hatte, an einem Baum und holte nun nach, was durch die unfreiwillige Abwesenheit von seinem Haus inzwischen versäumt worden war. Er schnitt in den Palmstamm die dritte Kerbe, legte frisches Pökelfleisch ins Wasser, bedeckte die Tonne mit neugepflückten Zweigen und räumte die Seidenwaren in ihre Kisten. Jetzt hatte er alles geordnet, sogar sein Schlafzimmer von Unkraut und Gras gereinigt und mit einem ausgespannten Segeltuch ein Sonnendach errichtet. Zufrieden blickte er um sich. »Ich kann nun die meisten Stunden des Tages am Strand zubringen«, dachte er, »und das ist für mich die Hauptsache.« Als alle Arbeiten des kleinen Hausstandes besorgt waren, sah er nach seiner Angel. Es hatte noch kein Fisch angebissen, daher konnte Robert fürs erste ein wenig ausruhen. Wenn nur die lästigen Moskitos nicht gewesen wären! Sie drangen überall unter die zerrissenen Kleider und setzten sich frech auf sein Gesicht. Aber das war noch erträglich; nur daß er so zerlumpt und mit Flecken übersäet herumlaufen mußte, ärgerte ihn sehr. Eine Nähnadel! – Ein Königreich für eine Nähnadel! Und dann fiel ihm Georgs Schelmenlied wieder ein: »Es tranken ihrer neunzig, ja neunmalneunundneunzig aus einem Fingerhut.« – Wie hatte ihn Georg betrogen, wie hatte er seine Arglosigkeit benutzt, um ihn in die Falle zu locken. Noch glaubte er zu hören, was der Matrose vom »Blitz« damals sagte: »Das ist ein Galgengesicht, und du solltest dich von ihm fernhalten, mein Junge!« – Er seufzte und ließ sich dabei von den Moskitos so lange stechen, bis er aussah, als hätte seine Haut soeben das Scharlachfieber überstanden. Die kleinen Insekten bissen ihm das Sprichwort: »Wer nicht hören will, der muß fühlen« heute recht empfindlich ins Gedächtnis ein. Er wollte gerade aufstehen und eine Handvoll grüner Blätter zerdrücken, um sich mit ihrem Saft einzureiben, als plötzlich die Angelschnur in Bewegung geriet und unter dem Wasser verschwand. Robert sprang sofort auf. Vorsichtig zog er einen Fisch von wenigstens fünf Pfund ans Land und freute sich königlich über die gelungene Jagd. Den wollte er heute abend essen und dann von allen möglichen Resten der letzten Mahlzeiten einmal wieder Labskaus braten. Wenn nur Licht da wäre, wenn die Matrosen nur an ein einziges Faß Öl gedacht hätten, – aber da mußte er alle Hoffnung aufgeben. Sobald die Sonne unterging, hieß es wie bei den Hühnern: »zu Bett!« Er schuppte den Fisch, nahm ihn aus und legte die Stücke, wie er es von seiner Mutter oft gesehen hatte, in Salzwasser, dann ging er, um am Strand nach einem Schiff auszuschauen. Die nach Havanna gehenden Fahrzeuge konnten zwar unmöglich hierher kommen, aber doch vielleicht ein Fischerboot, ein Schiff, das kreuzen mußte, das Wasser einnehmen wollte oder vielleicht ein Zollschiff, wenn es überhaupt eins gab. Er nahm die Pistole wieder mit sich, ebenso eine Decke, und ging zum Strand, um einen vollständigen Ausguck einzurichten. Vorher aber besuchte er das Grab seines alten Freundes, den einzigen Ort, der ihm auf dieser Insel teuer war. Die Mooshalme hatten sich wieder aufgerichtet und in der gelockerten Erde neue Wurzeln geschlagen. Noch wenige Tage, dann überspannte das grüne Netz wie vorher den Boden, und kein Auge sah, daß hier ein Mensch die letzte Ruhe gefunden hatte. Robert brach eine purpurne Kaktusblüte vom Stiel und legte sie auf die Stelle, die das Gesicht des Alten bedeckte, dann ging er fort, um seine kleine Seewarte einzurichten. – Die Palmen am Ufer waren höher als die Mangobäume. Robert, als geübter Turner und erfahrener Kletterer, schwang sich mit Leichtigkeit bis in die Krone der schlanken Stämme hinauf, aber er mußte dann Hände und Füße gebrauchen, um sich festzuhalten, und konnte auch das nur für kürzere Zeit. Der astreiche Mango dagegen bot in seinem dichten Laubwerk einen bequemen Sitz, weshalb Robert nach längerer Überlegung beschloß, hier Posten zu fassen. Er hieb mit seinem Messer in die Zweige und Blätter eine größere Lücke hinein, so daß der Blick auf das Meer vollständig frei wurde, und suchte dann einen Platz zum Sitzen, den er auf allen Seiten säuberte. Hier konnten ihn die Sonnenstrahlen nicht erreichen, hier konnte er sich frei bewegen und weithin nach rechts und links Umschau halten, während er außerdem in den höher gelegenen Zweigen leicht ein Versteck fand, sobald es etwa der Piraten wegen erforderlich werden sollte. Hier saß Robert nun mit einer Flagge, die er sich aus einer Stange und einem Segel gemacht hatte. Die abgehauenen Zweige und Blätter warf er sorgfältig ins Meer, um von seiner Arbeit keinerlei Spur zurückzulassen, dann badete er am Strand, wo ihn salziger Schaum wie ein Sturzbad überflutete. Schon der bloße Anblick des Meeres, der frische Hauch, den es ausströmte, belebten und kräftigten seinen Mut. Er wünschte trotz aller Gefahr nichts sehnlicher, als daß die Hütte näher am Ufer läge, damit er die See täglich und stündlich vor Augen hätte. Wohl zehnmal sprang er wieder zurück in die klaren, durchsichtigen Wellen oder schwamm eine Strecke weit hinaus und ließ sich auf dem Rücken treiben, bis die Sonne unterging. Noch ein letzter Blick aus der Höhe des Mangobaumes nach allen Richtungen, noch das mitgebrachte Notzeichen oben in den Zweigen versteckt, und dann ging es heimwärts durch den grünen Wald. Der Himmel glühte und die Sonnenscheibe hatte sich mit grauen Wolkenschleiern umhüllt. Einzelne Windstöße fuhren durch den Wald, allmählich verstummte der Gesang der Vögel, und schwere Tropfen fielen in Pausen geräuschvoll auf die Blätter. Robert beeilte sich, noch vor Ausbruch des Gewitters seinen Fisch zu kochen und die übriggebliebenen Kartoffeln in Speck zu braten. Er hatte kaum die Geräte vom Feuer genommen, als das Unwetter mit aller Kraft losbrach. Sturm und Donner heulten um die Wette, der Regen schlug klatschend auf das Laubwerk herab, und rote, zuckende Blitze erhellten die Umgebung. Robert glaubte nie vorher ein Gewitter erlebt zu haben, so sehr überstieg das, was er sah und hörte, alles bisher Gekannte. Ein Schauer von unreifen Früchten hagelte ins Gras, krachend stürzten ganze Bäume, und hier und da schlug der Blitz in besonders hohe Stämme, die dann bis zur Erde herab zersplitterten. Robert aß rasch seine Mahlzeit und wollte sich in den Schutz der Höhle zurückziehen, da – als er die Tür öffnete – schwamm ihm das Moos seines Lagers entgegen, während die Decken, triefend vor Nässe, im Winkel lagen. Einen Augenblick lang stand Robert starr vor Entsetzen. Wenn das Salz und die Zündhölzer vom Wasser vernichtet worden waren! – – Über seine Stiefel lief der Strom ins Freie, bis endlich nur noch etwas Schlamm in der Höhle zurückblieb. Robert stand noch immer unbeweglich, von diesem neuen Schlag wie betäubt. Erst langsam erholte er sich und kroch hinein, um die gefährdeten Gegenstände untersuchen zu können. Zum Glück waren bis in diesen versteckten Winkel die Regenfluten nicht gedrungen, – er fand seine kostbarsten Güter unversehrt. Für ihn selbst blieb freilich nur ein Ausweg, nämlich der, au mehreren leeren Kisten ohne Decken oder irgendeinen Schutz die Nacht zu verbringen. Aber das sollte ihm nicht wieder passieren. Die ganze Wetterseite der Wohnung mußte durch einen starken Erdwall vor dem Eindringen des Regens geschützt werden, und schon mit Tagesanbruch wollte er diese neue Arbeit beginnen. Bis auf die Haut durchnäßt streckte er sich zum Schlafen aus. Draußen tobte noch der Donner, zischten die Blitze; sprühende Schauer von kalten Tropfen drangen in die Höhle hinein. Der Sturm schwoll zum wahren Orkan, dessen Stöße wie tiefe Orgelklänge bald brausend und gewaltig, bald langgezogen und klagend die Luft zerrissen. Ein schlecht befestigtes Brett wurde von der Gewalt des Windes herausgerissen, mit wütendem Anprall fuhr der nächste Stoß in die Hütte hinein und brachte ganze Fluten von Regen mit sich. Es war jetzt in dem engen Raum noch ungemütlicher und trostloser als draußen; Robert erhob sich, um ins Freie zu kriechen, wo die Luft gewiß etwas weniger dumpf und erstickend war. Tiefe, undurchdringliche Nacht umgab ihn, der Boden war weich und schlüpfrig, der Sturm raubte im Freien den Lungen den Atem – – Da, durch das Gebrüll des Donners und das Sausen des Windes klang ein Ton, der in seiner kurzen Schärfe deutlich verriet, daß ihn nicht der Sturm hervorgebracht hatte. Ein Schuß! – Ein Kanonenschuß! – – Er hatte es deutlich gehört; Zittern lief durch seine Glieder, das Herz schlug zum Zerspringen, – er lauschte atemlos. Und da kam es zum zweiten-, zum drittenmal. Es waren Kanonenschüsse, – es war ein Schiff, das sich in Not befand. Er mußte sofort hinaus an den Strand, mußte Zeichen geben, – er wollte um jeden Preis die Menschen an Bord über seine Anwesenheit unterrichten, und wenn er schwimmen mußte. Das alles durchzuckte ihn, drängte sich ihm auf, ohne eine bestimmte Form anzunehmen, und mechanisch tastete er sich fort. Sooft ein Blitz die Umgebung erhellte, wurde es dem Jungen möglich, einige Schritte weit zu gehen, dann aber versperrten Bäume den Weg oder zeigten ihm verschlungene Ranken, daß er die Richtung zum Ufer im Dunkel verfehlt hatte. Rechts und links lagen herabgerissene Zweige, oft sogar ganze Bäume quer über dem Weg. Immer schneller und schneller folgten die Blitze, fast ununterbrochen krachte der Donner, und in jede Pause hinein dröhnten die Notschüsse des bedrohten Schiffes. Robert kämpfte mit der Kraft der Verzweiflung, um an den Strand zu kommen. Schritt für Schritt vorwärts dringend, brauchte er wenigstens eine Stunde, ehe der Weg von zwanzig Minuten zurückgelegt war. Zerschunden im Gesicht, mit blutenden Händen und fieberheißem, brennendem Kopf hatte er endlich das Meer vor sich. Brandend, zischend und kochend, den weißen Schaum turmhoch schleudernd, brach sich die See an der Küste. Welle auf Welle überspülte das Ufer, hoch in der Luft kreischten flügelschlagend die Möwen, pfeifend und heulend kam der Sturm daher. Robert hielt beide Hände vor die Augen. Dicht vor der Brandung spähte er, den nächsten Blitz erwartend, hinaus auf die tobende See Ein neuer Kanonenschuß zeigte ihm die Richtung, in der das Schiff lag. Und dann zuckte aus den schwarzen Wolken der gelbe Strahl herab – dann sah er für Augenblicke das Fahrzeug. Es war ein großes Schiff, im Sturm fast ohne Segel und von den Wellen wie ein Ball von einer Seite zur anderen geworfen. Jeden Augenblick konnte es der Sturm mit voller Gewalt auf den Strand treiben. Die Seeleute glaubten sich vielleicht in der Nähe einer bewohnten Insel, aber selbst wenn ein Boot zur Stelle gewesen wäre, so hätte es in dem schweren Wetter unmöglich auslaufen können. Die Wellen gingen haushoch. Robert schwang in ohnmächtigem Kampf gegen das Toben des Sturmes sein Tuch. So nahe vor sich die Erlösung aus der Gefangenschaft, so nahe in der grauenvollen Nacht die Menschen! Er glaubte es nicht ertragen zu können, wenn diese Hoffnung getäuscht werden würde. Bald sah er beim Schein der Blitze das Schiff in größerer und bald in geringerer Entfernung vom Lande, endlich aber so weit draußen, daß er nur noch die Umrisse erkannte. In jeder Pause des Donners hielt er beide Hände vor den Mund und rief, so laut er konnte, den. Seemannsruf »Schiff ahoi!« in die Nacht hinaus, aber ohne eine Antwort zu erwarten. Der schwache Ton konnte nicht bis zum Schiff dringen. Allmählich verstummten draußen auf dem Meer die Kanonenschüsse, und die Wucht des Sturmes ließ nach. Blitz und Donner wurden schwächer, der Regen hörte auf, einzelne Sterne zeigten sich am Himmel. Robert lauschte verzweifelt. Allein in der undurchdringlichen Finsternis, überwältigte ihn der Schmerz so sehr, daß er weinte. Erschöpft warf er sich auf den durchnäßten Sand und wiederholte nur von Zeit zu Zeit den langanhaltenden Ausruf, mit dem sich die Seeleute zu erkennen geben, aber immer ganz vergeblich. Seine Ungeduld wuchs von Viertelstunde zu Viertelstunde. Wie lang, wie endlos lang war die Nacht! – Er versuchte zu schlafen, aber es mißlang gänzlich. Nicht einmal der Halbschlaf erlöste ihn auf Augenblicke von der Qual der Ungeduld. Er ging, als endlich Stille eintrat, rastlos am Ufer auf und ab. Jetzt lag das unruhige Meer wie ein wildes Kind, das sich müde getobt hat und nun sanft schläft, ganz lautlos und fast unbeweglich, als bereue es sein Wüten. Die Luft war abgekühlt, die letzten Tropfen von den Zweigen gefallen und der Wind vollständig zur Ruhe gegangen. Nichts regte sich in der stillen Sternennacht. Robert strengte sich an, mit den Augen das Dunkel zu durchdringen, er glaubte ein Licht, einen weißen Streifen zu sehen und schloß die Augen, um sich zu vergewissern, ob ihn keine Einbildung täusche. Aber dann, wenn er wieder aufsah, war nur das Dunkel der Nacht um ihn, – er mußte erkennen, daß ihn seine eigenen überreizten Sinne getäuscht hatten. Und auf die Nacht folgte endlich graue Morgendämmerung. Nebel und Schatten, hier heller, dort tiefer, lagerten sich über dem Wasser, spielten in allen Formen und täuschten das Auge. Sah er nicht dort im halben Dunkel das Schiff mit ragenden Masten und weißen, flatternden Segeln? Sah er es nicht hart an der Küste, fast so nahe, daß es die Stimme erreichen konnte? Er rief laut, so laut er konnte. Aber kein Zeichen verriet, daß in der Nähe Menschen lebten. Und die Nebel verzogen sich, zerflatterten; das, was eben noch ein Schiff gewesen war, erschien nun als Turm, als riesiges, vorsintflutliches Fabeltier, als Bergspitze mit wallenden Baumkronen. – Hundert Gestalten formten sich, tiefe Täler und hohe, unzugängliche Zinnen. Robert starrte in das Chaos, immer noch hoffend, immer noch festhaltend an dem Gedanken der Erlösung. Was er in der Nacht so nahe an der Küste gesehen hatte, das rettende Schiff, – sollte es am Morgen, wo ein einziger Blick genügte, ihn aus der schrecklichen Einsamkeit zu befreien, zu weit entfernt sein, viel zu weit für jede Verständigung? – Es war ja unmöglich, ganz unmöglich! – Und heller und heller wurden die Nebelmassen, der Tag brach an. Ein kühler Hauch glitt durch die regenschweren Blätter, einzelne Tierstimmen erhoben sich, und gelbe und rote Wolkenränder umsäumten den Horizont. Roberts Zähne schlugen aufeinander. Jetzt kam die Entscheidung. Er erkletterte den Baum, aus dessen Krone sich das Meer weithin überblicken ließ. Nun teilten sich die Schatten, ein goldener Streif schoß plötzlich hervor, andere folgten, und die ganze blaue, leicht bewegte Wasserfläche lag glänzend im Licht des jungen Tages. Weit aus der Ferne, kaum noch erkennbar, schimmerten die vollentfalteten Segel des Schiffes. Robert stieß einen herzzerreißenden Schrei aus. Er sah das Fahrzeug, er erkannte es deutlich, aber es gab für ihn kein Mittel, sich der Mannschaft bemerkbar zu machen. Seine Blicke folgten den weißen verschwindenden Segeln, bis ihm die Augen schmerzten und er verzweifelt den Kopf in die Hand sinken ließ. Endlich war auch der letzte weiße Punkt verschwunden. Nur das Wasser dehnte sich in blauer Unendlichkeit vor seinen Augen. Todesnot und Rettung Todesnot und Rettung Wie trostlos war der heutige Rückweg. Gestern konnte er hoffen, ein weiches Lager und eine gefüllte Vorratskammer anzutreffen, er besaß bei aller Verlassenheit eine Art Zuhause, das ihm gehörte und wo er wohnte, jetzt dagegen mußte er fürchten, alles in schrecklicher Verwüstung wiederzufinden. Alle Zuversicht, aller Mut war dahin. Ach, wenn es Tag gewesen wäre, als das Schiff so nahe an die Küste getrieben wurde, oder wenn er es lieber nie gesehen hätte! Unempfänglich für die neuerblühte Schönheit der Natur, für den doppelt süßen Hauch der Blumen und den jubilierenden Gesang der Vögel ging er langsam durch den Wald. Was auf ihn wartete, das wußte er nur zu genau. Und seine Vermutung sollte ihn nicht täuschen. Als er sich der Höhle näherte, sah er schon von weitem den ganzen Umfang des angerichteten Schadens. Fast alle Planken waren aus ihren Fugen gerissen, der Herd umgestürzt, die Kochgeräte unter Schlamm vergraben und – das Schlimmste – die Lebensmittel durchnäßt. Der kleine Bach, sonst wie ein klarer blauer Spiegel, schoß heute mit wildem Ungestüm, seine Ufer überflutend dahin und wälzte gelbe, schlammige Wellen dem Meere entgegen. Abgebrochene Zweige, Blätter und Halme trieben auf der Oberfläche. Jetzt freilich schien die Sonne heiß und freundlich vom Himmel herab, aber auf ein Bild der entsetzlichsten Verwüstung. Robert stand an einem Baum und sah starr auf die Verwirrung. Was sollte er nun beginnen, was konnte er tun, diesem triefenden, schlammüberzogenen Durcheinander, diesen durchweichten Vorräten und dem ungenießbaren Trinkwasser gegenüber? Zuerst gab es zum Frühstück nur Wein und eine Ananas, die er auch erst aus einem Bett von Schlamm herausgraben mußte, bevor sie sich pflücken ließ. Aber das tat nach der Anstrengung und Aufregung der letzten Nacht, bei ganz durchnäßten Kleidern und tiefster Hoffnungslosigkeit gar nicht wohl, er fühlte ein Frösteln, als die kalte Frucht in seinen Magen gelangte. Hätte er nur etwas Wasser gehabt, um Kaffee kochen zu können! Aber dieser mißfarbige Schlamm war nicht trinkbar; er mußte jeden Gedanken daran aufgeben. Als ein Teil der Ananas verzehrt und ein Glas Wein dazu getrunken war, machte sich Robert daran, seine Lebensmittel zu untersuchen. Die Säcke mit Hülsenfrüchten hatten zwar unter Dach gelegen, aber der hereindringende Sprühregen war doch stark genug gewesen, sie zu durchnässen. Besonders das Brot und die Kartoffeln waren halb verloren. Robert warf den größten Teil ohne weiteres fort und suchte dann nach einigen trocken gebliebenen Brettern, die er in die Sonne legte und darauf den Rest sorgfältig ausbreitete. Ebenso machte er es mit den wollenen Decken, die sämtlich von Wasser und Schlamm durchdrungen waren. Dann begann er seine Wände auszubessern. Nägel und Werkzeug hatte er reichlich, daher war diese Arbeit bald vollendet, aber ohne den unglücklichen Jungen wieder ermutigen zu können. Wenn in der nächsten Nacht ein neues Gewitter kam, so hatte er ja doch umsonst gearbeitet, – das drückte ihn fast zu Boden. Um aber jedenfalls alles aufzubieten, was er zu seiner Sicherung tun konnte, ergriff Robert den Spaten und begann hinter der Bretterwand einen festen Erdwall aufzuwerfen, den er außerdem noch mit größeren Steinen feststampfte. Das ging zwar langsam, aber es versprach doch ein guter, seinen Zweck erfüllender Schutz zu werden, daher blieb Robert unermüdlich den ganzen Tag hindurch beim Schaufeln und Stampfen, so daß gegen Abend ein schräger Erdwall vom Boden bis zu dem niederen Felsendach hinaufreichte. Jetzt konnte der Regen kommen; er würde wenigstens nicht eindringen können, bevor die Decken in Sicherheit gebracht waren. Die hatte die Sonne inzwischen vollständig getrocknet, aber sie knisterten unter den Fingern und verbreiteten große Staubwolken, sooft er sie schüttelte; auch der Fußboden war noch naß, und an frisches Moos war natürlich gar nicht zu denken. Robert klopfte so lange mit einem dünnen Stöckchen drauflos, bis wenigstens die getrocknete Erde herausgefallen war, dann legte er die Decken und sich selbst auf zwei leere Kisten, wo er, so gut es eben ging, zu schlafen suchte. Während des ganzen Tages hatte er nur Wein und Früchte gehabt, daher freute er sich, am folgenden Morgen den Bach so ziemlich wieder klar zu sehen. Er wusch die Kochgeschirre, suchte das sonnigste Plätzchen und holte von dem in der Höhle versteckten Brennholz einen Arm voll herbei, um Feuer anzumachen. Die lustigen Flammen und endlich der kräftige Kaffee gaben ihm einigermaßen Mut und Zuversicht wieder zurück, aber es saß doch ein heimliches Frösteln in allen seinen Gliedern; er tat die notwendigen Arbeiten fast gedankenlos, als gehe ihn das gar nichts an, und oft ertappte er sich auf einem unwillkürlichen Horchen. Die Kanonenschüsse klangen immer noch in ihm nach, die grausame Enttäuschung ließ sich nicht leicht wieder verschmerzen. Er untersuchte jetzt auch seine Fleischtonnen. Aus der einen, die das bedeutend empfindlichere Schweinefleisch enthielt, quoll ihm ein Duft entgegen, der alle weitere Mühe überflüssig machte. Er versenkte das ganze Fäßchen in die Erde und überdeckte es mit einer Schicht dichten Lehms, dann setzte er die Untersuchung fort. Das Rindfleisch war noch gut erhalten, ebenso der Speck. Robert säuberte nun das Innere seiner Wohnung und sammelte dann Moos, um es zu trocknen. Bei dieser Gelegenheit fielen seine Augen zufällig auf die ganz vergessenen Überreste seiner Fischmahlzeit. Freilich konnte von diesem Gemengsel kein Labskaus mehr gebraten werden, aber ein anderer Gedanke tauchte plötzlich auf. Diese langen spitzen Gräten – sollten sie sich nicht zu Nähnadeln brauchen lassen? Sein Anzug war ja völlig zerrissen. Nur Fetzen und Lumpen hingen noch von seinen Schultern herab. Die Gräten waren fest genug, um jedes Zeug durchbohren zu können, aber es ließ sich an ihnen kein Faden befestigen. Robert dachte nach, bis er darauf kam, mit der Gräte in ein ganz dünnes, leichtes Stück Holz hineinzubohren und auf diese Weise ein Öhr herzustellen, das dem einer Nadel glich. Er breitete das gesammelte Moos auf Segeltüchern im Sonnenschein aus und machte sich dann daran, mit seinem Taschenmesser ein Stückchen Holz ganz platt zu schneiden. Er wollte erst das kleine Loch hineinbohren und später der Nadel ihre Form geben, damit nicht ein plötzlicher Spalt die stundenlange Mühe zunichte machen könne. Das Essen hatte ihm am Mittag nur halb so gut wie sonst geschmeckt; ausgehen oder jagen wollte er heute nicht, und vor dem Anblick des Meeres empfand er, seit es ihn so betrogen hatte, eine Art von Grauen, daher widmete er seine ganze Zeit der Nähnadel, die ihm zu einem neuen Anzug verhelfen sollte. Das Durchbohren des Holzes erwies sich aber als keineswegs leicht; Gräte auf Gräte zerbrach, und Robert wurde immer ärgerlicher. Dann aber kam ihm ein glücklicher Gedanke, den er auch sofort ausführte. Die ursprüngliche Absicht, das Holz zu durchbohren, gab er auf und schnitt statt dessen die stärkste Gräte mit dem Messer aus der Reihe der übrigen heraus. Nun legte er ein ganz spitzes Hölzchen zum Feuer und ließ es heiß werden. Die Flammen ausblasend, drückte er das glühende Ende auf die obere Seite der Fischgräte, und siehe da, – ein leichtes Zischen zeigte, daß eine kleine Vertiefung entstanden sein mußte. Wie oft hatte er auf diese Weise seine Mutter ein Fischbeinstäbchen durchbohren sehen. Waren denn die Gräten nicht aus demselben Stoff? Allerdings nahm die Mutter dazu eine Haarnadel und hatte also ein bedeutend besseres Werkzeug als er, aber mit den kleinen Splittern des sehr harten Holzes ging es zur Not auch, wenn auch weit schwerer und viel langsamer. Robert blieb geduldig. Er wendete von Zeit zu Zeit das feuchte Moos und warf das getrocknete in eine Kiste, dann arbeitete er weiter an dem winzig kleinen Nadelöhr, das doch so großer Mühe und Beharrlichkeit bedurfte. Heimlich dachte er dabei an die vielen bitteren Verwünschungen, die er noch vor wenigen Monaten auf alles, was Nähnadel hieß, herabgerufen hatte. Ob er gerade dafür zur Strafe jetzt so unermüdlich das Stück Holz in seiner Hand zuspitzen, ins Feuer stecken und wieder zuspitzen mußte? Er schloß ermüdet die Augen. Es war ihm alles so gleichgültig geworden, so fremd; er arbeitete nur, um nicht müßig dazusitzen. Und endlich, als er zum hundertsten Male die Gräte an das Licht hielt, zeigte sich, daß sie durchbohrt war. Robert war sehr stolz. Wenn er jetzt ohne Kreide, ohne Zwirn und Schere, nur mit einer Fischgräte und zerfasertem Segelgarn einen Anzug nähen konnte, so war das ein Werk, das ihm nicht jeder Schneider nachmachte. Er mußte unwillkürlich lächeln. Vater, Großvater und Urgroßvater, alle Krolls, soweit sich der Stammbaum der Familie zurückführen ließ, hatten ja mit gekreuzten Beinen auf dem Tisch sitzend das Leben durchstichelt, aber wie entsetzt würden sie sein, wenn sie sehen müßten, daß der letzte Sproß dieser ansehnlichen Reihe von Schneidern ihr Handwerk mitten im Urwald und mit einer Fischgräte fortführte! – Robert schüttete das trockene Moos auf die Stelle, wo er schlafen wollte, und räumte seine Decken wieder ein, so daß jetzt wenigstens ein gutes, weiches Lager da war. Draußen sah es noch fürchterlich aus; die Zweige geknickt und das Gras zerstampft, der ganze Boden feucht und aufgewühlt, als hätten dort Soldaten exerziert, – aber Robert kümmerte sich nicht darum. Er hatte für heute genug, daher legte er sich ohne Abendbrot zu Bett und träumte fortwährend von dem Schiff, das im Schlaf und im Wachen seine Gedanken beschäftigte. Er sah sich auf dem Mangobaum sitzen und rund um ihn herum war es heller sonniger Tag. Die Kameraden auf dem großen Dreimaster, der gerade an die Küste herankam, hatten ihn längst bemerkt, sie winkten ihm zu, sie riefen ihn an, und er wollte so schnell wie möglich zur Erde klettern. – Wer aber im Traum fällt, der hat das Gefühl, als weiche unter ihm jeder feste Halt, als stürze er ins Bodenlose, er erwacht mit klopfenden Pulsen und Schweißtropfen auf der Stirn, atemlos wie jemand, der lange und schnell gelaufen ist. Auch Robert fuhr vom Lager auf. »Das Schiff!« murmelte er, »das Schiff!« Dann aber erkannte er seine Umgebung, atmete die drückende Luft des engen, geschlossenen Raumes und taumelte auf, um zu trinken. Die Zunge klebte ihm fast am Gaumen, seine Stirn brannte, Fieberdurst raste in allen seinen Adern. Er kroch durch die niedere Tür hinaus in den Vorraum und hob das dort stehende Gefäß mit Wasser zum Munde, um zu trinken. Aber wie kalt war der Wind, wie durchschauerte es ihn und trieb ihn zurück unter die schützenden Decken! Er mußte krank sein, das fühlte er genau! – – Schon wandte er sich, um wieder in die Höhle zu schlüpfen, als zufällig sein Blick die nächste Umgebung streifte. Er fuhr mit der Hand über die Augen. Dort, wo das Mondlicht, von Blättern und Zweigen gebrochen, zwischen den hohen Stämmen am Boden spielte, in der Nähe der aufgestapelten Kisten mit Wein, – bewegte sich nicht dort im Gebüsch eine menschliche Gestalt? Nur Augenblicke dauerte die Erscheinung, nur wie ein Schatten glitt sie zwischen dem Grün dahin, aber dennoch – – Ein Schauer durchrieselte Roberts ganzen Körper. Wie gebannt, wie gelähmt blieb er stehen und starrte unverwandt hinüber. Nein, nein, es war unmöglich, er konnte sich nicht täuschen, er hatte deutlich einen Menschen, einen Mann in Seemannskleidung durch die Zweige schlüpfen sehen. Noch jetzt bewegten sie sich, wie von einer plötzlichen Berührung. Roberts geistige und körperliche Kräfte kehrten plötzlich zurück. Er trat auf den freien Platz hinaus und rief mit lauter Stimme: »Wer ist da?« Aber nur der Nachtwind antwortete ihm. Kein Laut unterbrach die tiefe Stille. Robert lauschte, und dann rief er wieder, bis es ihm kalt über den Rücken herabrieselte und er sich selbst für wahnsinnig hielt, bis ihn in der weglosen Wildnis die eigene Stimme wie ein unheimliches Etwas erschreckte. Im dichten Gebüsch zu suchen wäre unmöglich gewesen, da die Dunkelheit jede Flucht begünstigt haben würde, da sich der Fliehende in nächster Nähe hätte verstecken können, ohne gesehen zu werden. Wer war er überhaupt? – Ein Mensch oder ein Gebilde des wachen Traumes, ein Schatten, den die Mondstrahlen hervorgezaubert hatten? – Robert wußte es nicht. Er glaubte bestimmt, die Erscheinung gesehen zu haben, aber woher sollte sie gekommen sein und warum sollte sie sich verbergen wollen? Wenn die Piraten den Schlupfwinkel ihres entflohenen Opfers wirklich aufgespürt hätten, so würden sie keinesfalls zögern, sich mit offener Gewalt des Raubes zu bemächtigen und ihn als lästigen Zeugen dieser Unternehmung beiseite zu schaffen. Wen sollten sie auch fürchten? Was sollte sie hindern, einen wehrlosen Jungen zu töten, nachdem sie schon eine ganze Schiffsmannschaft hatten verschwinden lassen? Die Insel war klein, vielleicht eine bis anderthalb Meilen im Durchmesser, und kaum so lang wie breit. Robert hatte sich auf seinem letzten Ausflug völlig überzeugt, daß sich hier keine Ansiedlung befand, daß er der einzige Bewohner war, und daß das nächste benachbarte Eiland etwa auf Kanonenschußweite entfernt lag. Woher sollte also dieser Seemann gekommen sein? Ein Unglücklicher, ein Schiffbrüchiger war er ja bestimmt nicht, da er doch sonst nicht geflohen wäre. Robert schüttelte den Kopf. Er hatte so lebhaft an das Schiff gedacht, daß sein Auge Gestalten erblickte, die in Wirklichkeit nicht vorhanden waren. Und doch berührte ihn dieser kleine Zwischenfall äußerst unangenehm. Er schob eine Kiste vor die Tür, ehe er sich zum Schlafen hinlegte, und konnte auch dann noch lange Zeit kein Auge schließen. Unwillkürlich horchte er, ob nicht irgendein Geräusch die Rückkehr des Unbekannten verriete, aber alles blieb still. »Hätte ich Pikas hier!« dachte Robert, »hätte ich nur irgendein lebendes Wesen, und wäre es ein dummes kleines Vögelchen. Aber so ganz allein, das ist schrecklich.« Er wälzte sich unruhig auf seinem heißen Lager und schlief erst gegen Morgen ein. Als dann die Sonne hoch am Himmel stand, machte er sich daran, die ganze nächste Umgebung der Höhle genau zu untersuchen, aber ohne einen anderen Erfolg als am vorigen Abend. Es war keine Spur der Gegenwart eines Menschen zu finden, kein Anzeichen, daß jemand dagewesen war. Robert ging bis an den Strand, sah über das Meer nach allen Richtungen, forschte auch an der Küste des gegenüberliegenden Eilandes mit angestrengten Blicken nach einem Schiff oder Boot, aber nichts zeigte sich, kein Laut war zu hören. Robert wandte sich seiner Niederlassung wieder zu. Er war jetzt vollkommen überzeugt, in der vergangenen Nacht nur besonders lebhaft geträumt oder gefiebert zu haben und gab seufzend die letzte Hoffnung auf. Jetzt mußte er sich zuerst einen neuen Anzug nähen, daran allein hatte er zu denken, obgleich es ihm lieber gewesen wäre, sich wieder hinzulegen und in den Tag hineinzuschlafen. Er suchte aus dem reichlichen Vorrat aller möglichen Stoffe den dunkelsten und haltbarsten heraus, dann schnitt er einen langen Streifen Segeltuch ab, nahm an seinem eigenen Körper Maß und begann mit dem Taschenmesser auf einer Kiste zuzuschneiden. Anstatt der Knöpfe würde er Bindfaden verwenden müssen, das ließ sich nicht ändern, und Futter gab es auch nicht. Aber dennoch war alles besser als die Lumpen, die er jetzt trug. Als Robert die mühevolle Arbeit des Zuschneidens beendet hatte, nahm er eine Rolle Bindgarn, das er aufdrehte, bis der Faden zum Nähen geeignet schien; dann holte er seine künstliche Nadel und fädelte ein. Aber an das Mittagessen mußte ja auch gedacht werden, obwohl er nur wenig Hunger verspürte. Er machte also Feuer, setzte Fleisch und Bohnen auf und war nun abwechselnd am Kochen und am Schneidern. Ach, wie langsam das ging, wie oft der Faden riß und wie groß die Stiche wurden! Aber es hielt zusammen, und das war die Hauptsache. Robert behandelte seine Fischgräte, als sei sie ein Diamant von unschätzbarem Wert, immer in der Angst, das mühsam hergestellte Nadelöhr plötzlich zerbrechen zu sehen. Wo der Stoff doppelt und dreifach übereinander lag, bohrte er mit andern rohen Gräten erst ein Loch hinein, bevor der Stich gewagt wurde. Dazwischen legte er Holz ins Feuer und goß von Zeit zu Zeit etwas Wasser nach, – alles, ohne daran Freude zu haben. Seine Gedanken waren immer bei dem Schiff, wie er es so nahe an der Küste sah, so ganz nahe im gelben Schimmer der Blitze, daß selbst die Menschen klar erkennbar wurden, daß er deutlich den Mann am Steuer und den bei der Kanone unterscheiden konnte. Warum mußte es Nacht sein, als die Rettung fast mit der Hand zu erreichen war? Robert stützte den Kopf gegen einen Baumstamm und schloß die Augen. Ich bin krank, dachte er, ich werde bald noch elender sein und dann ganz verlassen, ganz allein auf dieser Insel sterben! – Wenn es nur nicht allzu langsam geht. Als er nach einer Pause die Augen öffnete, war das Feuer erloschen und der Duft des Essens sagte ihm, daß es gar sei. Er nahm aber nur einige Löffel voll, dann stellte er das übrige bei Seite und nähte eifrig weiter, um noch bis zum Abend das angefangene Kleidungsstück zu beenden. Zum Strand wollte er nicht erst gehen. Weshalb auch? Die Schiffe fuhren ja doch vorüber. Er begriff nicht mehr, warum er sich mit so großer Mühe den Ausguck auf dem Mangobaum gebaut hatte, warum er überhaupt irgend etwas anderes getan hatte, als sich hinzulegen und zu sterben. Schon hatten die Erbsen und die anderen Hülsenfrüchte einen verdorbenen Geschmack angenommen, schon zeigte sich an der Außenseite der Fässer ein leichter Schimmel, und das Brot ging zur Neige, weil der größte Teil davon durch den Regen vernichtet worden war, – der Tod grinste ihm aus hohlen Augen von allen Seiten entgegen. Eine sonderbare Angst bemächtigte sich seiner. Ganz ohne Widerstand durfte er sich nicht ergeben, das fühlte er, sonst war es bald um ihn geschehen. Diese Stimmung lähmte alle Kräfte. Er raffte sich auf und nähte weiter, bis die Dämmerung herabsank. Nun war die Hose fertig, – morgen kam die Jacke dran und dann noch ein neues Wollhemd, um das alte gelegentlich im Bach waschen zu können. Baden mochte Robert nicht, er dachte mit einer Art von Grauen an die Kälte des Wassers. In dieser Nacht schlief er besser und fühlte sich auch am andern Tage leidlich wohl, obgleich er noch immer nicht wieder an den Strand hinabging. Abwechselnd nähend und aufräumend, verbrachte er in einer Art von geistiger Untätigkeit die Stunden an diesem und auch an den folgenden Tagen. Der Palmenstamm hatte jetzt bereits achtzehn Kerben aufzuweisen, Brot und Fleisch waren zu Ende, der Rest des Specks verdorben und die Hülsenfrüchte gänzlich ungenießbar geworden, aber Robert empfand dennoch keinen Mangel. Er lebte nur von Wasser und etwas Wein, ohne jemals Hunger zu fühlen. Seine Kräfte wurden allmählich schwächer, seine Nächte immer unruhiger. In dem schwarzen, überall schlotternden und wunderlich geformten Anzug, blaß und abgemagert, erkannte er kaum sein eigenes Bild, sooft er es im Spiegel des Wassers betrachtete. Lange Stunden verbrachte er tagsüber halb schlafend, halb seinen trüben Gedanken nachhängend in den Zweigen des Mangobaumes am Ufer. Zu tun gab es ja für ihn nichts mehr, und auch die Jagd hatte er vernachlässigt. Warum harmlose Tiere töten, da er sie doch nicht essen konnte? Seine Blicke gingen über das Wasser, und seine Gedanken verwirrten sich zuweilen unmerklich. Er hielt nach dem Schiff Ausschau, dessen Auftauchen ihn krank gemacht hatte, er sah im Geiste immer vor sich die weißen Segel und hörte die rollenden Donner des Geschützes. – – In seiner Behausung auf dem Mooslager lag er oft halb betäubt. Er dachte an die Heimat, an die Kameraden vom Schiff und an die Nacht, als er hierher schwamm an diesen gastlichen Strand, der ihm zum Grab werden sollte. – – Dreiundzwanzig Kerben zeigte der Stamm. Robert war nicht am Meeresufer gewesen, seine Kräfte hatten für den weiten Weg nicht ausgereicht; er saß vor der Tür seiner Höhle, gegen den Erdwall gelehnt, und hielt die Augen im Halbschlummer geschlossen. Stunde um Stunde verrann, er scheute sich aufzustehen und blieb in der einmal gewählten bequemen Stellung sitzen. Heute war der Mond hinter Wolken versteckt, kein Strahl erhellte den kleinen freien Platz, aber Roberts Augen hatten sich so an die Dunkelheit gewöhnt, daß sie jeden Baum, jeden einzelnen Zweig deutlich unterschieden. Er wachte mit geschlossenen Lidern. Seine Gedanken wanderten. Da rauschte es hinter ihm, als wenn die Büsche gestreift und zurückgebogen würden. Ein Schatten fiel über den Rasen. Robert öffnete die Augen. Ohne sich zu bewegen, ohne ein Glied zu rühren, sah er hinüber zu der Stelle, von wo der Laut gekommen war. Der Mann in Seemannskleidung stand wieder keine fünf Schritte weit von ihm entfernt. Er hielt in der Hand etwas wie eine Pistole oder ein Werkzeug. Robert war jetzt überzeugt, einen Menschen vor sich zu sehen. Er konnte sich nicht täuschen, – das war ein Mann von Fleisch und Blut, aber kein Fiebergebilde, kein Gaukelspiel irgendwelcher Träume. Er drehte langsam den Kopf. »Im Namen Gottes«, sagte er, »wer Sie auch sein mögen, geben Sie mir Antwort!« Aber noch hatte er die Worte nicht ausgesprochen, als der Unbekannte zwischen den Büschen verschwand, lautlos, ohne sich umzusehen, ohne eine Silbe zu antworten, wie er gekommen war. Das alles vollzog sich innerhalb einer Minute und ging gedankenschnell vorüber, aber Robert spürte, wie das Grauen in ihm hochstieg. War das der Geist eines seiner Kameraden von der ›Antje Marie‹? – Wollte ihn der Tote rufen, ihn den andern nachziehen in das stille Grab? – Er suchte und forschte nicht, wo die Erscheinung geblieben war. Aber er hatte heftigen Durst; Hitze und Kälte wechselten in seinen Adern, – er tastete nach dem Wasserbehälter, um zu trinken. Doch der war leer. Robert hatte vergessen ihn am Tag neu zu füllen. Ermattet kroch er in die Höhle und streckte sich auf sein Lager. Zum Bach zu kommen war in der Dunkelheit unmöglich, daher mußte er ohne einen kühlenden Schluck einzuschlafen suchen. Jetzt schüttelte heftiges Fieber seine Glieder, er begann irre zu reden und sich mit dem nächtlichen, geheimnisvollen Besucher zu unterhalten. »Mohr«, flüsterte er, »alter Onkel Mohr, du bist es, ich sehe dich wohl, und ich weiß, daß du mich zu dir rufen willst in das Grab, das ich gegraben habe. Aber warum sprichst du nicht mit mir, lieber Onkel Mohr, – ich möchte so gern, so gern einmal wieder eine menschliche Stimme hören.« Robert warf den Kopf von einer Seite zur andern. Er seufzte tief, wie erleichtert. »In Pinneberg bist du gewesen, Onkel Mohr? Und du sagst, daß sie mir nicht böse sind, daß sie mich noch lieb haben und mich wie einen Toten betrauern? – Aber wo blieb denn mein Brief? – Den haben die Fischer verloren, wie ich das Schiff verlor, das große, schöne Schiff, das ich immer suche, so lange schon und so sehnsüchtig. Das Meer ist tückisch, es hat mir das eine Fahrzeug geraubt, und es besitzt doch so viele, viele, – warum durfte ich meins nicht wiederfinden?« Er schluchzte im Traum, und dann wurde alles still. Das Fieber schüttelte ihn, kalter Schweiß perlte auf seiner Stirn, das Bewußtsein war vollständig geschwunden. – – Am nächsten Morgen erwachte er mit dumpfen Kopfschmerzen und an allen Gliedern wie zerschlagen. Während der ersten Stunden des Tages läßt das Fieber meistens etwas nach, so konnte sich auch Robert mit klarer Besinnung, obgleich schwer krank, vom Lager aufrichten. Er kroch mühsam hinaus ins Freie und schlich, an jedem Baume einen Halt suchend, bis zum Bach, um erst einmal zu trinken; dann setzte er sich in die Sonne und lehnte den Kopf an die Palme, die heute den fünfundzwanzigsten Einschnitt hätte erhalten sollen. Er konnte ihn nicht hineinkerben, die Anstrengung wäre zu groß gewesen. Auch sein Gedächtnis war geschwächt. Er wußte nicht genau, ob ihm von der Erscheinung dieser Nacht nur geträumt hatte, oder ob er sie wirklich vor sich gesehen hatte. Dort hinten, bei den zehn großen Kisten mit Wein, dort hatte der Mann gestanden, nun schon zweimal, – gewiß, es war der Tod, der ihn holen kam. Ein Frösteln schlich durch seine Adern. Selbst die Sonne mit ihren glühenden, versengenden Strahlen konnte ihn nicht mehr erwärmen, – seine Finger waren weiß, wie die einer Leiche, und das unangenehme Zittern wollte gar nicht aufhören. Ich möchte einen Schluck Wein trinken, dachte er, und dann werde ich mich wieder hinlegen, um zu sterben. Die Fingerspitzen sind, glaube ich, schon tot. Er befühlte mit der rechten Hand die Finger der linken. »Alles steif und kalt«, dachte er. »Oh, wie ich mich auf den Wein freue!« Er schleppte sich mit Mühe bis zu den Kisten und öffnete die obere. Sie war leer. Robert griff sich an die Stirn. Er hatte nach oberflächlicher Berechnung vielleicht vier Flaschen ausgetrunken, in der Kiste aber waren fünfundzwanzig gewesen. Wie kam das? Doch gleichgültig. Es kümmerte ihn nicht mehr, ob diese Flaschen vorhanden gewesen waren oder ob er sich vielleicht in ihrer Anzahl geirrt hatte. Er warf mit Aufbietung aller seiner Kräfte die leere Kiste herab und öffnete die zweite. Alles leer. Plötzliche Glut schoß durch Roberts ermatteten Körper. Fieberhaft erregt hob er Deckel auf Deckel, bis alle zehn Kisten offen, vor ihm dastanden. Alles leer. Die Erscheinung, die er zweimal gerade an dieser Stelle gesehen hatte, war also doch kein Geist, kein Schattenbild gewesen, sondern ein Mensch, der allnächtlich hierherkam, um zu stehlen, ein Dieb, der dem Verschmachtenden die letzte Labung geraubt hatte. Aber wer? Wer? Es brauste vor seinen Ohren, seine Sinne verwirrten sich. Er glitt an den Kisten langsam zu Boden und blieb bewußtlos liegen. Es war am Abend des zweiten Tages danach. Durch den Wald kamen drei Männer, die neben sich einen vierten mit gebundenen Händen als Gefangenen zu führen schienen. Sie trugen sämtlich. Fischerkleidung, aber in den Gürteln steckten breite Messer und auf den Schultern lagen kurze Gewehre. »Wirklich«, sagte in spanischer Sprache der Gefangene, »ihr irrt, Kameraden. Ich bin unschuldig an dem Verbrechen, das mir zur Last gelegt wird, ich weiß von nichts und habe diese Insel nie betreten. Ihr seht ja, daß hier weder Wege noch Stege zu finden sind.« Einer der Bewaffneten deutete auf die Axthiebe, die Robert den Bäumen beigebracht hatte. »Hier muß noch vor kurzem jemand gegangen sein!« antwortete er finster. »Du solltest lieber alles gestehen!« »Ich habe nichts zu gestehen!« beharrte der andere. »Was hätte es mir auch nützen können, in eurem Boot eine öde, unbewohnte Insel anzulaufen? Diego haßt mich, daher hängt er mir die sinnlose Verleumdung an.« Der Erste deutete jetzt auf Fußspuren, die im Sand deutlich erkennbar waren. »Was ist das?« fragte er. »Ich glaube, deine Stiefel passen merkwürdig genau hinein, du Scheinheiliger!« Der Gefangene erschrak sichtlich. »Ach, das ist ein Irrtum, Rafaele«, rief er rasch. »Du bist ungerecht, du willst mich los sein, und doch habe ich dir nichts getan. Aber wir müssen uns mehr links halten, – rechts ist ein Sumpf!« »Ach! – Und ich glaubte, du habest die Insel niemals betreten, Bursche?« Der Gefangene biß sich auf die Lippen. »Nicht wahr?« lachte der andere. »Da hast du dich schön hereingelegt. Aber das schadet nicht weiter. Auf jeden Verrat steht der Tod, und – ein Leben hast du ja nur zu verlieren.« Der Gefangene wurde blaß wie Kreide. »Mehr links!« stammelte er, »mehr links, oder wir kommen in den Sumpf.« »Der übrigens schon weit hinter uns liegt«, ergänzte kaltblütig Rafaele. »Du mußt wissen, daß wir früher einmal ein Jahr lang auf dieser Insel wohnten, – du Verräter.« Jetzt schwieg der Gefesselte. Er schien nach dem fehlgeschlagenen Versuch, seine Wächter zu täuschen, sich in das Schicksal, das ihn erwartete, zu ergeben, wenigstens sprach er nicht weiter, sondern schauderte nur unwillkürlich, als er sich mit seinen Begleitern dicht vor Roberts Behausung befand. Der andere hatte ihn beobachtet. »Los!« drängte er, »was tatest du hier? Leben Menschen auf dieser Insel?« Der Gefangene versuchte die gefesselten Hände zu falten. »Gnade!« stieß er hervor, »und ich will euch alles sagen!« Der dritte der Männer ließ in diesem Augenblick einen leisen Ausruf hören. Gedankenschnell legte er die Waffe in Anschlag. »Dort ist eine Wohnung!« raunte er. Der erste packte mit festem Griff die Schulter des Gefangenen. »Jetzt sprich«, zischte er, »oder du sollst mein Messer zwischen den Rippen fühlen, ehe du Zeit hast, ein Vaterunser zu beten. Wer befindet sich in dieser Höhle?« Der Gefesselte zitterte an allen Gliedern. »Ein Kind«, stammelte er, »nur ein einzelner Junge!« »Und du, was hast du hier gemacht? Du hast ihm unsere Geheimnisse verraten, hast mit ihm verhandelt, und – –« »Er sah mich nie! – Er weiß nicht, daß ich in seiner Nähe war.« »Aber was wolltest du dann hier?« »Ich wußte, daß Vorräte von Wein auf dieser Insel lagerten«, stammelte der Gefesselte, »ich nahm ihn, da er niemand gehörte. Das ist alles, Rafaele, ich schwöre es dir, das ist alles!« Der Fischer schüttelte zweifelnd den Kopf. »Um zu trinken fuhrst du in jeder Nacht hierher?« fragte er. »Das ist undenkbar.« »Gnade!« winselte der Gefangene, »Gnade. Es ist so, wie ich sagte.« Der Fischer stieß ihn verächtlich von sich. »Da bleibst du,« befahl er. Und dann, sich an die beiden andern wendend, fragte er leise: »Was habt ihr entdeckt?« Der eine richtete sich langsam auf. »Es ist, wie er behauptet«, nickte er. »Nur ein Junge, und noch dazu ein toter, glaube ich.« Rafaele schien erleichtert aufzuatmen. Wahrscheinlich stimmte es ihn milder, daß offenbar kein Verrat im Spiel war, und daß also auch keine Gefahr für ihn selbst bestand. Er trat näher, beugte sich über den leblosen Körper und sah lange in das blasse Gesicht. Ein unmerkliches Zucken ging über die erstarrten Züge. »Das Kind lebt!« sagte er nach einer kurzen Pause. »Was beginnen wir mit ihm?« Die beiden anderen sahen ihn bedeutsam an. »Die Toten plaudern nichts aus!« meinte mit etwas unsicherer Stimme der eine. »Das ist wahr!« bestätigte der zweite. »Aber – ein bewußtloser –« »Und ein Kind dazu!« ergänzte Rafaele. »Bei San Jago, man ist zwar ein Bukanier, man zwingt die Schiffe, ihre Ladung zum Strandgut werden zu lassen, und man stopft das Maul, das durch sein Geschrei Aufsehen erregen könnte, aber –« Dann nickte er langsam mit dem Kopf. »Wir töten keine Kinder«, sagte er. »Wir nehmen diesen Burschen mit uns, und wenn er wieder zu sich kommt, wenn wir erfahren, was er von dem Schicksal seiner Genossen weiß, so wird sich entscheiden, ob er leben darf oder nicht.« »Jetzt bringt mir den dort«, fügte er, auf den Gefangenen deutend, hinzu. »Wir wollen hier Gericht halten.« Einige Stöße mit dem Kolben beförderten den Gefesselten in die Nähe seiner Richter. Nur ein einziges Wort murmelten seine Lippen: »Gnade!« »Schweig!« rief Rafaele. »Du wirst antworten, wenn ich dich frage, sonst aber keine Silbe sprechen. – Ist dieser Junge von der Besatzung der ›Antje Marie‹? Und wußtest du, daß er auf dieser Insel war?« »Ja, ja!« »Sind noch mehr Waren hier, außer dem gestohlenen Wein? Und warum wurden sie auf die Insel geschafft?« »Um sie euch zu entziehen. Es lagern noch große Ballen teurer Seidenstoffe und Spitzen hier.« Alle drei Piraten ließen zugleich einen halberstickten Ausruf hören. »Das ist natürlich inzwischen durch den Regen alles verdorben«, meinte Rafaele. »Und du Verräter, du Schuft, weshalb hast du uns das verheimlicht?« »Weil ihr sonst auch den Wein beansprucht und verkauft haben würdet!« »Tier!« sagte verächtlich Rafaele. »Bestie ohne Herz und Gewissen, treulos gegen den Kameraden von deinem Schiff und gegen die Genossen, zu denen du im Augenblick gehörst. Um zu trinken, um dich zu berauschen stahlst du uns vielleicht Tausende und verurteiltest gleichzeitig den wehrlosen Jungen, fast einen Monat lang hier zu leben; du nahmst ihm den Wein, du fragtest nicht, ob er noch irgend etwas Eßbares besaß, – du trankst nur, trankst! Sprich jetzt, weißt du, was dir bevorsteht?« Der Unglückliche antwortete nicht. Kalter Schweiß rann über sein Gesicht herab, die gefesselten Hände zuckten, er rang vergeblich nach einem Laut. »Du hast bei deiner Aufnahme in unsere Gemeinschaft den Treueid geleistet«, fuhr Rafaele fort, »du hast gelobt, kein persönliches Eigentum zu besitzen und kein Geheimnis für dich zu behalten – und diese Eide hast du gebrochen. Was erwartet dich also?« Wieder kam keine Antwort von den Lippen des Gefesselten. »Der Tod!« sagte Rafaele nachdrücklich. »Los, Kameraden, bindet ihn an einen Baum, aber so, daß er sich nicht befreien kann. Dann sucht, ob noch Wein oder Rum zu finden ist.« »Wir haben schon welchen entdeckt«, antwortete einer seiner Begleiter. »Hier stehen mehrere kleine Kisten mit Rum, der ihm ganz entgangen sein muß.« »Gut. Also tut, was ich sagte.« Die beiden Räuber nahmen den Gefangenen zwischen sich und führten ihn in das nächste Dickicht, wo sie ihn an einer jungen Palme festbanden. Sechsfache Seile umschnürten seinen Körper, nur die Arme blieben frei. Rafaele nahm aus einer Kiste sechs Flaschen Rum, die er neben den Baum stellte. Dann begann er sein Gericht. »Wie du gemessen hast, so soll dir gemessen werden!« sagte er feierlich. »Wie du deinen hilflosen Kameraden verlassen hast, so verlassen wir dich; wie du alles verleugnet hast, um zu trinken, so verstoßen wir dich aus unserer Mitte und überliefern dich dem Tode auf dem Weg, den du selbst wähltest. Trinke, bis du stirbst!« Er schwieg und prüfte die Festigkeit der Fesseln. Helles Mondlicht fiel auf die grauenhafte Gruppe der bewaffneten Räuber und des in sich zusammengesunkenen Verräters. »Hast du noch etwas zu sagen?« fragte Rafaele. »Kein Mensch wird jemals wieder etwas von dir hören, – also sprich, wenn dich noch irgendein Bekenntnis drückt, wenn es irgendeine Botschaft für dich auszurichten gibt.« Der Verurteilte sah mit starren Augen von einem seiner Henker zum anderen. Die Lippen bewegten sich, aber kein Laut drang hervor. »Auf!« befahl Rafaele. »Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.« Die drei wandten sich zum Gehen, – da rang sich ein heiserer Schrei aus der Brust des Gefesselten. Seine Arme griffen in die leere Luft, ein verzweifeltes Keuchen brach über seine aschfahlen Lippen. »Gnade! – Gnade!« Keiner der Bukanier hörte auf die entsetzlichen Laute. Sie gingen mit schnellen Schritten zu Roberts Ansiedlung zurück und überließen den Verurteilten seinem furchtbaren Schicksal. Er hatte sich selbst gerichtet, um seiner zerstörenden, höllischen Leidenschaft willen, – Gallego, der Schiffskoch, dem es gelungen war, seine Landsleute für sich zu gewinnen und ihr Genosse zu werden; Gallego, der im Leben nur ein Glück kannte: zu trinken, – und der nun darum sterben mußte. Leise schaukelnd glitt das Boot über die Wellen. Ein paar Decken, unter Roberts Kopf gelegt, einige Tropfen Branntwein, ihm mühsam eingeflößt, und außerdem der frische, seine brennende Stirn umspielende Seewind hatten seine Lebensgeister zurückgerufen. Er war noch ohne Besinnung, aber die Gedanken begannen sich zu regen, und einzelne abgebrochene Worte drangen über seine Lippen. »Das Schiff? Wo ist das Schiff? – Als ich wieder hinübersah, war es fort. – Soll es niemals – niemals zurückkehren?« Die drei Bukanier saßen in tiefem Schweigen. Sie wagten kaum, ihre Blicke zu erheben, kaum in dies jugendliche, vom Tod schon berührte Gesicht zu sehen. Vielleicht war ihnen das Abscheuliche ihres Berufes nie so deutlich vor Augen geführt worden, als eben durch die unbewußten Worte des kranken Kindes. Sie mußten glauben, daß mit dem verlorenen Schiff die Galliot gemeint war, und sie wußten ja nur zu gut, was aus ihr geworden und wie das alte, unbrauchbare Fahrzeug auf Strand gesetzt und zu Brennholz zerschlagen worden war. Es schien, als ob sich in diesen abgehärteten Verbrechern doch noch der Funke einer alten warmen Menschlichkeit regte, als sie diesen halbverhungerten, durch ihre Schuld zum Gerippe abgemagerten und dem Tode überlieferten Jungen vor sich sahen. Sie dachten vielleicht an ihre eigene schuldlose Jugend, an den langen Weg der Verbrechen, an den ersten Fehltritt, der sie weiter geführt hatte auf abschüssiger Bahn, immer weiter bis zu Raub und Mord an wehrlosen Menschen. Leise rückte der eine die Decken, und leise glättete der andere das Haar über Roberts Stirn. Als man den Strand der größeren Insel erreicht hatte, trugen abwechselnd zwei Männer den Schwerkranken bis zu der hölzernen Hütte, die der Bande als Wohnsitz diente. Hier legten sie ihn auf ein gutes, weiches Lager und bedeckten seine Stirn mit kalten Umschlägen. Der Koch mußte außerdem einen schweißtreibenden Tee zubereiten, der dem Kranken eingeflößt wurde, so oft er Durst verspürte. Das war im ganzen wenig heilkünstlerischer Aufwand, aber vielleicht gerade deswegen drang die unverdorbene Natur des Jungen am ehesten wieder durch. Am neunten Tage kam endlich die Krisis, aus der Robert mit vollem Bewußtsein erwachte. Freilich war er so schwach, daß ihm die Lippen zitterten, und daß er kaum den Kopf drehen konnte, aber dennoch streifte sein Blick mit grenzenlosem Erstaunen die Umgebung. Fenster aus Glas, Türen mit Schlössern, eine wohl eingerichtete Küche mit blankem Geschirr, rauchende, spielende Männer um einen Tisch versammelt, und darauf die Überreste einer leckeren Abendmahlzeit, – so sah er zum erstenmal das Innere der Hütte. Hätten nicht wehende Baumzweige in die offenen Fenster einen Gruß hereingenickt, hätten nicht mehrere Nebengebäude und eine Anzahl großer Hunde das Gegenteil bezeugt, so würde Robert geglaubt haben, daß er sich noch an Bord der ›Antje Marie‹ befinde, daß alles, was dazwischen lag, nur ein schrecklicher, beängstigender Traum gewesen sei. Er versuchte sich der letzten Ereignisse deutlich zu erinnern, aber das ermattete Gehirn vertrug noch keine Anstrengung; er schlief nach wenigen Minuten wieder ein. Als Robert am folgenden Morgen wieder erwachte, fühlte er sich kräftig genug, eine leise, kaum verständliche Frage zu stellen: »Wo bin ich?« Zwei der Bukanier, die gerade im Zimmer waren, wandten sich zu ihm. »Gut Freund, Kamerad«, antwortete einer. »Lieg du nur still und erhole dich, armer Kerl.« Das konnte Robert zwar nicht verstehen, da es in spanischer Sprache gesagt worden war, aber der Ton beruhigte ihn. Man hatte auf seine Fragen freundlich geantwortet, das hörte er wohl. Der Koch brachte ihm ein reichliches Frühstück aus gekochten Fischen, Früchten, Reis und Braten, aber Robert konnte natürlich davon so gut wie gar nichts essen, er war auch zu gespannt auf eine Erklärung, wie er hierher gekommen sei, als daß er an irgend etwas anderes hätte denken mögen. Die Männer, die ihn umgaben, erkannte er auf den ersten Blick als die Räuber der ›Antje Marie‹ und die Mörder seiner Kameraden; aber wie hatten sie ihn aufgefunden, und warum war nicht auch er getötet worden? Der Bukanier stellte noch verschiedene Fragen, die Robert weder verstand, noch beantworten konnte; auch Rafaele, der Anführer der Bande, kam und überzeugte sich, daß sein Gast der spanischen Sprache vollkommen unkundig sei, – am folgenden Tage aber erschien er wieder in Begleitung mehrerer anderer, unter denen einer das Deutsche so halb und halb radebrechen konnte. Jetzt begann ein regelrechtes Verhör, in dessen Verlauf Robert wohl fühlte, daß nur seine eigene Vorsicht und Klugheit ihm das Leben retten konnte. Sechs von diesen wildaussehenden, bewaffneten und schwarzbärtigen Flibustiern umstanden sein Lager und beobachteten ihn scharf, während er die gestellten Fragen beantwortete. »Wann hast du die Galliot verlassen?« hieß es, »und weshalb?« »Am Mittag«, antwortete Robert, »und auf Befehl des Kapitäns. Wir brachten Waren nach der Insel, wo drei von uns für einige Zeit bleiben sollten. Meine Kameraden ließen mich allein, um noch einmal zum Schiff zu fahren, aber sie kamen nicht zurück. Ich bitte Sie, sagen Sie mir, wo die ›Antje Marie‹ jetzt liegt?« Die Bukanier traten zusammen. Es entstand ein Murmeln und Beraten, bei dem auf Roberts Stirn der Schweiß in großen Tropfen perlte. Jetzt hing sein Leben an einem einzigen Haar, und obendrein fühlte er in der Nähe dieser Verbrecher eine wirkliche Furcht. So allein und schutzlos unter Mördern, ihrer Willkür preisgegeben, vielleicht mit der Aussicht, an einen Baum gebunden und erschossen zu werden oder als eine Art Sklave für immer hier auf der Insel bleiben zu müssen, – das war mehr als beängstigend. Die großen Bluthunde mit den lechzenden Zungen und den rotunterlaufenen Augen umstanden wie Höllenwächter sein Lager, und die Piraten sprachen noch immer lebhaft in spanischer Mundart. »Eine Kugel«, sagte der erste, »eine Kugel, Kameraden; das macht die Sache kurz.« »Aber es ist ein unnötiges Blutvergießen, Danielo. Das Kind hat uns nichts getan, sein Tod bringt uns keinen Gewinn.« »Er kann uns verraten!« »Er ahnt nichts, das hörst du ja. Wir sind Fischer, die ihren Erlaubnisschein von der Regierung gelöst haben. Jedermann weiß, daß wir hier wohnen, jedermann kennt die Strandgesetze, die das geborgene, dem Meer entrissene Gut den Bergern zusprechen. Was fürchtest du also?« »Daß der Schlingel lügt. Ich wollte wetten, ihn auf der Galliot gesehen zu haben. Er weiß genau, daß wir dort waren.« Rafaele wandte sich wieder zu dem Dolmetscher und ließ den Kranken fragen, ob er auf dem Schiff irgendwelche fremden Männer gesehen habe. Robert antwortete der Wahrheit gemäß, daß er von dem Abkommen, das van Swieten mit einigen Fischern abgeschlossen hatte, durch den Kapitän selbst unterrichtet worden sei, und daß man manche Waren nur deshalb auf die Insel überführt habe, um den hohen Wert der Ladung zu verheimlichen. »Der Kapitän wollte uns in ein paar Tagen von Havanna aus abholen«, schloß er seinen Bericht. »Und du weißt nicht, wohin er gesegelt ist? Du hast das Schiff nicht wiedergesehen?« »Nein.« Rafaele wandte sich zu den andern. »Kameraden«, sagte er, »unsere Gesetze werden in jedem einzelnen Fall durch Stimmenmehrheit festgestellt, und dies gilt auch für diese Angelegenheit. Wollt ihr es, so wird der Junge erschossen, ich aber mag damit nichts zu schaffen haben, sondern erkläre ein solches Todesurteil für Mord. Und nun entscheidet!« Danielo hob die Hand. »Er sterbe«, sagte er mit festem Ton. »Nur die Toten sind ungefährlich, nur ihrer ist man ganz sicher.« Aber keiner außer ihm rührte sich. Rafaele war als Anführer zu beliebt und auch zu gefürchtet, um nicht durch seine Stimme die Sache von vornherein entschieden zu haben. Alle Bukanier schwiegen. »Danielo«, sagte nach einer Pause der Räuber, »du hörst, daß sich niemand deiner Meinung anschließt. Der Junge bleibt am Leben und bleibt hier, bis sich Gelegenheit findet, ihn auf ein Schiff zu setzen. Jetzt könnt ihr gehen.« Die Bukanier entfernten sich, und Robert blieb mit seinem Wärter, dem Koch, allein zurück, ohne über den Ausgang der Sache irgend etwas erfahren zu haben. Nach und nach aber beruhigte er sich doch, da man ihn fast gar nicht mehr beachtete, sondern ihn ganz sich selbst überließ. Nur Gomez, der Koch, behandelte ihn freundlicher und lehrte ihn einzelne spanische Worte, die Robert mit deutschen Ausdrücken beantwortete, so daß aus der Unterhaltung der beiden ein Kauderwelsch entstand, wie es komischer wohl selten gehört worden ist. Wenn der blasse, abgemagerte Kranke vor der Tür im Sonnenschein saß und mit langsamen, schwachen Bewegungen für seinen neuen Freund irgendeine kleine Arbeit verrichtete – das Gemüse putzte, Früchte schälte oder die Messer schliff – so brachte ihm Gomez heimlich ein gutes Glas Wein und ein gebratenes Huhn oder dergleichen, wobei dann das spanisch-deutsche Wörterbuch um manchen kostbaren Ausdruck bereichert wurde. Doch die beiden kamen gut miteinander aus, und das war genug, da sie fast immer allein die Insel bewohnten. Rafaele und seine Leute kamen manchmal wochenlang nicht nach Hause, manchmal nur für die Nächte, und wieder an anderen Tagen nur zum Mittagessen; der Koch aber mußte immer darauf vorbereitet sein, sooft es verlangt wurde, ein schmackhaftes Mahl zu bereiten. Robert sah in einem der Nebengebäude eine Speisekammer, die für einen großstädtischen Gastwirt vollkommen ausgereicht haben würde. Frisches Geflügel, die feinsten Fische, Früchte, Gemüse und Weine, alles war vorhanden. Ganze Fässer voll Butter lagen im Schatten einer Erdhöhlung, ganze geschlachtete Kälber und Ochsen hingen an eisernen Haken. – Die Bukanier vertauschten den Ertrag ihrer Fischerei im Hafen von Havanna gegen andere Lebensmittel und brachten nur dann einige eingeweihte Händler mit auf die Insel, wenn es solche Geschäfte gab, die im engsten Vertrauen der Käufer und Verkäufer abgeschlossen werden mußten. Schon längst waren die Seidenstoffe und Spitzen aus Roberts Niederlassung herübergeholt worden, und schon als der Junge noch ohne Besinnung dalag, hatte man sie zu Geld gemacht. Er sah keine Überreste des unglücklichen alten Schiffes, und auf seine wiederholten Fragen hieß es, daß es untergegangen sein müsse, niemand wisse davon. Robert war jetzt erst vollkommen überzeugt, daß alle seine Kameraden ermordet worden waren, aber er hatte Selbstbeherrschung genug, das nicht öffentlich durchblicken zu lassen, und erkundigte sich desto mehr nach den Einzelheiten seiner Erlösung von der Insel. Hätte ihm nicht der Koch den Namen Gallego genannt, so würde er die ganze, halb in Worten, halb durch lebhafte Gebärden vorgetragene Erzählung kaum begriffen haben, so aber verstand er ihren inneren Zusammenhang sogleich. Gomez schloß beide Augen, um anzudeuten, daß es dunkel gewesen sei, darauf schlich er unhörbar auf den Fußspitzen bis zu einigen Flaschen, die er schnell ergriff, unter den Arm schob, mit scheuen Blicken nach allen Seiten sah und dann mit denselben Katzenschritten davonhuschte. Robert hatte ihn verstanden. »Gallego«, sagte er, »›Antje Marie‹, nicht wahr?« – Dann machte er die Bewegung des Trinkens. Der Koch nickte lebhaft und fuhr in seiner Erzählung fort, indem er mit gerecktem Oberkörper jemand nachzublicken schien. Er ballte die Faust. »Caracho!« murmelte er, »Dieb!« Dann ergriff er ein Seil, stürzte sich auf den Besen, der in stiller Beschaulichkeit an der Tür lehnte, sah ihn mit rollenden Augen an und schnürte ihn gegen einen Pfahl. »Muertos!« rief er, »Muertos!« – und schloß wieder die Augen, um anzudeuten, daß das Wort so viel wie ›Tod‹ bedeute. Als er sah, daß ihn Robert verstanden hatte, legte er mit bezeichnendem Blick den Finger auf den Mund. »No hablan (Nichts ausplaudern)!« sagte er. Robert schüttelte den Kopf. Die Kenntnis von dem Aufenthalt Gallegos unter der Bande hätte ihm ja bestimmt das Leben kosten müssen, daher konnte der schlaue Gomez vollkommen überzeugt sein, daß er schweigen würde. Also dieser wüste Trinker, der Mann, den er schon in Hamburg mit scharfem Messer auf seinen Nebenmenschen hatte losgehen sehen, war es gewesen, der ihn durch das gespenstische, mitternächtliche Erscheinen auf der Insel so sehr erschreckt hatte, der von seiner verzweifelten Lage genau wußte und dennoch nichts tat, um ihn zu befreien oder ihm wenigstens beizustehen, als er krank dalag. Seine Strafe war schrecklich gewesen. Robert vergab dem Gerichteten, was er ihm getan hatte, und wünschte seiner Seele aufrichtig Frieden. Er bat den Koch, an einem freien Tag mit ihm hinüberzufahren zu der Insel, die er aus mehr als einem Grunde vor seinem Abschied von dieser Gegend noch einmal wiedersehen wollte. Anfangs weigerte sich Gomez aus Furcht vor der Rache der andern, die immer noch gegen Robert ein heimliches Mißtrauen hegten, dann aber gab er nach, und als eines Tages die ganze Bande fort war, segelte er mit seinem jungen Schützling hinüber. Welch ein eigentümliches Gefühl war es für Robert, den Platz wiederzusehen, an dem er so bittere, hoffnungslose Stunden durchlebt hatte. Mit Gomez ließ sich zu wenig sprechen, um solche Erinnerungen in Worten wiederzugeben. Desto besser aber konnte er das, als die kleine Niederlassung erreicht war. Der Koch streichelte voll Mitleid die eingefallenen Wangen des Jungen, und aus dem, was er in seiner lebhaften Sprechweise hervorsprudelte, entnahm Robert deutlich genug, daß er gegen die beiden plumpen Messingtöpfe aus der Kombüse der ›Antje Marie‹ und gegen die leere Tonne, in der das Pökelfleisch gewesen war, die größte Nichtachtung ausdrücken wollte. Bei solcher Kost konnte ja keine Gesundheit bestehen. Robert sah noch einmal in die Höhle hinein, in der er fast einen Monat lang gewohnt hatte, und dann suchte sein Blick den einzigen Gegenstand, den er zur Erinnerung an diese Insel mit sich nehmen wollte: die Nähnadel aus der Fischgräte. Er hatte längst aus dem reichlichen Vorrat der Flibustier einen neuen, anständigen Matrosenanzug erhalten, aber er wollte doch die Gräte, mit der er sich in höchster Not geholfen hatte, für immer aufbewahren, – ja, er hoffte in diesem Augenblick nichts sehnlicher, als dies kleine, selbstgefertigte Werkzeug einmal seinem Vater zu zeigen und ihm beweisen zu können, daß sich das Krollsche Blut in der Stunde der Gefahr glänzend bewährt hatte, daß es den Schneider offenbart hatte, ohne Tisch, ohne Schere, ohne Bügeleisen, – nur mit einer Fischgräte. Und richtig, da steckte sie. Zwischen zwei Brettern war ein kleiner freier Raum, wohin er sie damals gelegt hatte. Voll Freude verbarg er seinen Schatz in der Tasche, um dann nach einem letzten Abschiedsblick auf die Umgebung mit Gomez den Baum zu suchen, an dem Gallego so trostlos umgekommen war. Da die beiden auf gut Glück das Gebüsch durchstreiften, dauerte es ziemlich lange, bis die Stelle gefunden war. Ein schauerlicher Anblick bot sich ihnen. An einer Palme, von Seilen umschnürt, stand aufrecht das Gerippe des Verurteilten. Bis auf die Knochen abgenagt von Geiern und Füchsen, weiß gebleicht von den sengenden Strahlen der Sonne, – so sahen sie die letzten Überreste des Unglücklichen, der durch Trunksucht sein eigener Henker geworden war. Sämtliche sechs Flaschen Rum, die Rafaele in die Nähe des Baumes gelegt hatte, waren bis auf den letzten Tropfen leer, wahrscheinlich also hatte sich Gallego durch den maßlosen Genuß des Alkohols einen ganz plötzlichen Tod zugezogen. Stumm sahen sich die beiden an, und dann machte Robert eine halb unwillkürliche Bewegung, die der Spanier sofort mit lebhaften Gebärden beantwortete. Er lief zurück zu seiner Höhle, um den Spaten zu holen und ein Grab zu graben. Die Flibustier hatten ja alles Gerät, das sich vorfand, unbeachtet liegen lassen. Als er zurückkam, ergriff Gomez sofort das plumpe Werkzeug und sagte wieder mit seinen ausdrucksvollen Gebärden ganz verständlich: »Gib her, armer Junge, du hast ja keine Kräfte!« Robert war sehr damit einverstanden. Er wünschte ohnehin für den letzten Besuch an Mohrs Grab keinen Zeugen und entfernte sich daher, während Gomez grub, auf dem bekannten Wege, um zum Strand zu kommen. Als er hier das letztemal ging, war es im halben Fieber, in stumpfer Ergebung dem Unvermeidlichen gegenüber gewesen, – jetzt dagegen mit neuer Hoffnung, neuem Mut für die Zukunft. Ließen ihn die Räuber nicht gutwillig fort, so würde sich ja die Gelegenheit zur Flucht früher oder später finden. Er fühlte sich jeden Tag kräftiger werden und gab nichts verloren. Die Rettung von dieser Insel im Augenblick der höchsten Gefahr war ja fast ein Wunder zu nennen. Er fühlte die ganze volle Dankbarkeit gegen das Schicksal erst hier, wo er am verzweifeltsten gewesen war, als das Schiff, das er in der Gewitternacht so nahe am Strand gesehen hatte, vor seinen Augen in der Ferne verschwand. Ein Gesangbuchvers, den er vom Chor der kleinen heimatlichen Dorfkirche herab so oft mit seiner klaren Stimme gesungen hatte, ein alter, vergessener Vers fiel ihm hier am Ufer der entlegenen Insel plötzlich wieder ein, er summte ihn halblaut vor sich hin und empfand dabei so ganz seine tiefe Wahrheit: Der Wolken, Luft und Winden Gibt Wege, Lauf und Bahn, Der wird auch Wege finden, Da dein Fuß gehen kann. Er glaubte die Natur nie so schön gesehen zu haben wie heute, als er nach langer, schwerer Krankheit den ersten Ausflug machte. Fast heiter ging er an die letzte Ruhestätte des alten Freundes. Dort grünte und blühte es in allen Farben, dort murmelte das Wasser und warf spielend leichte Wellen an den Strand. Robert hatte Mühe, die Stelle wiederzufinden, so üppig war während der zwei Monate die Pflanzenwelt überall vorgedrungen. Aber er fand es doch und pflückte eine kleine weiße Blume, die zu der Fischgräte in den kleinen ledernen Brustbeutel wanderte, welchen ihm Gomez geschenkt hatte. Der war gewiß schon ganz ermüdet und wunderte sich, daß ihm so gar kein Beistand geleistet wurde. Robert sah noch einmal zurück, er sah noch einmal über das Meer, dann kehrte er sich ab. – Der gutmütige Gomez hatte, als er wieder bei ihm anlangte, das Gerippe des Gerichteten bereits mit einer leichten Erdschicht bedeckt, und so war denn der kleine Ausflug für diesmal beendet. Man fuhr zurück zu der Niederlassung der Räuber, wo Gomez vor allen Dingen eine tüchtige Mahlzeit auf den Tisch brachte. Robert hatte überhaupt nie in seinem Leben bessere Tage gehabt als gerade jetzt. Er wurde zu keiner bestimmten Arbeit gezwungen, sondern half nur dem Koch, wo es sich traf, und pflegte den Garten, in dem die Bande alles baute, was zur Vervollständigung einer feinen Küche gehört. Außer den bekannten Gewürzkräutern und Gemüsen gab es dort Liebesäpfel, spanischen Pfeffer, Champignons und anderes mehr. Auch Ananas und Bananen wuchsen da, und außerdem hielten sich die Flibustier einen großen Hühnerhof, einige Schweine und Kühe. Nur Pferde hatte man nicht, weil eben keine Felder bebaut wurden. Robert war sozusagen der Herr all dieser reichlichen Schätze. Die Flibustier kümmerten sich darum fast gar nicht. Sie schafften nur Proviant in Massen herbei, während seine Verwendung dem Koch überlassen blieb. Auf ein anstrengendes, gefährliches Tagewerk sollte ein üppiges Mahl und ein guter Trunk folgen, das war es, was sie wollten und wofür sie lebten. Die Speisekammer stand immer auf, die Früchte wuchsen in Fülle, die Weinfässer lagen in einer Art von Erdhöhlung, die nie verschlossen wurde, und Arbeit gab es fast gar nicht. Robert konnte glauben, in das Schlaraffenland des Märchens versetzt worden zu sein, er mußte dies Leben verführerisch nennen, aber dennoch hatte er keinen Augenblick das Verlangen, der Bande anzugehören. Er dachte täglich und stündlich an den Augenblick, der ein Schiff hierherführen und ihn befreien sollte. Warum ihn wohl die Fischer noch immer hier behielten? Er begriff es nicht und fragte einmal den Koch danach. Gomez wiegte mit schlauem Lächeln den Kopf. Er setzte den Zeigefinger auf Roberts Brust. »Bukanier!« sagte er. Der Junge errötete. »Ich? – Niemals, Gomez.« Der Koch zuckte die Achseln. »Roberto Bukanier«, wiederholte er, »no hablan andere Bukanier!« Jetzt begriff er die Meinung des Spaniers. »Ich soll erst an den Verbrechen der Räuber teilnehmen, damit ihnen mein Schweigen sicher ist?« fragte er in dem eigentümlichen Kauderwelsch, in dem die beiden miteinander sprachen. »War es so ausgeklügelt, Gomez?« Der Koch nickte lebhaft. »Ja!« rief er, »ja!« »Und ich sage nein!« rief entschieden der Junge. »Mein gutes Gewissen sollte ich um dieser Seeräuber willen verlieren? – Oho, das geht nicht so leicht, wie ihr denkt. Zum Verbrecher lasse ich mich nicht machen.« Er ging wieder an seine Gartenarbeit, die zwar nicht notwendig war, die er aber begonnen hatte, um sich etwas zu beschäftigen. Er grub zierliche Beete, wo sonst alles wie Kraut und Rüben durcheinander wuchs, oder er machte den Hühnern eine hölzerne Einfriedigung, damit sie nicht in den Garten kamen, und räumte die Vorratskammern auf. Gomez, obwohl ein vortrefflicher Koch und ein guter, harmloser Mensch, war doch keineswegs reinlich oder ordnungsliebend, daher fand Robert immer Arbeit in Fülle. Außerdem schoß er gelegentlich einige Vögel, fischte und flickte auch wohl des Kochs Kleidungsstücke, so daß er immer beschäftigt war. Heimlich aber beobachtete er fortwährend das Meer und seufzte, wenn wieder der Abend kam, ohne daß sich ein Schiff der Insel genähert hätte. Die Bukanier nahmen von ihm nicht die geringste Notiz. Vielleicht wollten sie ihm das arbeitslose, gute Leben erst ganz zur Gewohnheit werden lassen, damit er sich von selbst nachgiebig zeigen sollte, wenn sie ihm die Wahl stellen würden, entweder für immer in ihre Gemeinschaft überzutreten oder zu der harten Arbeit des Matrosen zurückzukehren. Sie ließen ihn wie ein Haustier an ihrem Tisch essen und unter ihrem Dach schlafen, ohne sich um ihn zu kümmern. Da sah er eines Tages, daß zu ganz ungewohnter Zeit die Räuber eilig und bestürzt heimkehrten, daß sie den Koch herbeiriefen und laut miteinander sprachen. Robert fühlte, wie ihm das Herz gegen die Rippen pochte. Was war geschehen? Er schlich sich an den Koch heran und fragte ihn; aber was dieser antwortete, das lag zu weit außerhalb des Gesichtskreises täglicher Angelegenheiten, – er verstand ihn diesmal nicht. Da rief ihn der, der etwas deutsch sprach, zu sich. »Du«, sagte er, »es kommt morgen ein Abgesandter der kubanischen Regierung hierher, um die Inseln zu besichtigen, nach versteckten Waren zu forschen und überhaupt seine verdammte Fuchsnase in anderer Leute Angelegenheiten zu stecken. Der Teufel hole ihn! – Du aber unterstehst dich, diesem Mann oder seinen Begleitern vor Augen zu kommen, und jetzt hilfst du mit, unsere Vorräte in ein Versteck zu schaffen, wo sie vor diesem Spürhund sicher sind. Es ist alles mit schwerer Arbeit redlich verdient«, schloß er, »aber die verfluchten Regierungsbeamten, diese Blutsauger und Menschenschinder brauchen nicht zu wissen, daß wir uns in besseren Sachen als nur in Bananen und Fischen satt essen können, sonst werden gleich die Steuern erhöht, so daß ein rechtschaffener Kerl keinen Piaster mehr für sich behält. Wenn du nicht gehorchst, Junge, dann – –« Ein bezeichnender Blick und ein Gliff an das kurze Gewehr vervollständigten seine geharnischten Worte. Robert sah, daß es bitterer Ernst war und daß er gehorchen müsse, wenn er nicht sein Leben aufs Spiel setzen wollte. Er ging also zu Gomez, um von ihm nähere Aufträge zu erhalten. Ein Boot wurde auf den Strand gezogen und mit den Vorräten der Speisekammer beladen, dann ruderten es zwei Räuber in einen kleinen Fluß, dessen Windungen und Krümmungen unter dichtem Gebüsch den Männern nicht erlaubten, in ihrem Fahrzeug aufrecht zu stehen. Kniend oder liegend brachten sie mit äußerster Anstrengung, meistens durch Schieben und Ziehen, das Boot vorwärts, aber dafür waren auch ihre kostbaren Schätze sicher geborgen. Nur ein Eingeweihter konnte den Lauf dieses schlangenartig gewundenen Wasserlaufs verfolgen, nur wer sein Eigentum vor den Blikken anderer bewahren wollte, konnte sich entschließen, in diese Wildnis vorzudringen. Robert mußte im Laufe des Tages mehr als einmal die beschwerliche Fahrt mitmachen und sowohl Lebensmittel als auch die besseren Möbel der Wohnung, Munition und Waffen unter dem undurchdringlichen Gebüsch verbergen helfen. Alles, was nicht mit dem Fischereigewerbe im Zusammenhang stand, wurde sicher versteckt, so daß sehr bald die ganze Behausung nach äußerster Armut aussah. In der großen Vorratskammer lagen Segel, Netze und Taue, im Wohnzimmer standen nur noch ein hölzerner Tisch und ein paar rohe Bänke, während die guten Betten des anstoßenden Raumes durch Haufen von Seegras ersetzt waren. Die Räuber fischten eifrig, so daß die Abgesandten der Regierung einige Tage später unter zahllosen Leinen mit zum Trocknen aufgehängten Fischen den Weg zu der Behausung der Räuber suchen mußten. Robert wagte es nicht, sich blicken zu lassen. Er saß hinter einem aufgestapelten Haufen von Brennholz und verschlang das Regierungsschiff mit den Augen. Manchmal war er nahe daran, vor den Beamten hinzutreten und im Namen der Gerechtigkeit zu verlangen, daß man ihn von der Insel befreie. Es schien so einfach und lag so nahe, aber Robert zögerte, es zu tun. Wenn ihn der Spanier nicht verstand, oder wenn er von den Flibustiern bestochen worden war, gewisse Dinge weder zu hören noch zu sehen? Nein, nein, Robert mußte sich ergeben, mußte wieder, nachdem Rafaeles Erlaubnisschein zur Fischerei von dem Beamten erneuert worden war, die weißen Segel des Regierungsschiffes sich entfalten und im Abendsonnenschein den Strand verlassen sehen. Das Herz wurde ihm so schwer, wie seit langem nicht, seine Augen füllten sich mit Tränen, kaum konnte er ein Schluchzen gewaltsam unterdrücken. Viel lieber hätte er das harte Schiffsbrot gegessen und die schwere Arbeit des Seemanns willig ertragen, als daß er hier unter Verbrechern unnütz dahinlebte, ja er meinte sogar, daß selbst der Tod besser sei als dieser entwürdigende Zustand. Aber dennoch gab es kein Mittel zu seiner Befreiung; er sah, wie sich das Schiff entfernte, weiter und immer weiter, – alle Hoffnung war fürs erste wieder dahin. Gomez kam und sah ihn freundlich tröstend an. Er allein verstand den Jungen, er allein empfand ein gewisses rohes Mitleid und suchte es durch reichliche Weinspenden zu zeigen. Die Bukanier ihrerseits tranken zur Feier des Tages so lange, bis sie sämtlich besinnungslos unter den Tischen lagen. Die Ankunft des Beamten war schon seit mehreren Monaten vorausgesehen und gefürchtet worden, daher atmeten jetzt alle auf, nachdem sich das drohende Unwetter verzogen hatte, und während der folgenden Zeit herrschte unter der Bande fröhlichste Stimmung. Es vergingen acht Wochen, in denen für Robert kein Tag anders verstrich als der vorhergehende, – dann aber fiel wie ein Blitz aus heiterer Luft ein ungeahntes Ereignis in dies ruhige Leben hinein und änderte auf einen Schlag alles. An dem Felsen, der auch der unglücklichen Galliot so verderblich geworden war, strandete ein französisches Vollschiff, das zwar bei dieser Katastrophe kein Leck erhielt, aber doch nicht ohne die Hilfe eines anderen Fahrzeuges wieder loskommen konnte. Der Kapitän ließ daher die Notflagge setzen, und unter den Flibustiern herrschte die größte Aufregung. An Bord des Franzosen glänzte nicht allein eine sehr achtunggebietende Messingkanone, sondern die Mannschaft sah auch nicht danach aus, als ob es ganz leicht sei, mit ihr fertig zu werden. Vielleicht war der Kapitän auf alles vorbereitet, da er seine Leute bewaffnet hatte und eine starke Wache an Deck hielt. Ein offener Angriff wurde von den Räubern überhaupt niemals unternommen, aber auch im Dunkeln ließ sich hier nur schwer etwas ausrichten. Außerdem drohte noch ein anderer Umstand den Flibustiern diesmal ihre Beute streitig zu machen. Am unteren Ende der Insel lebte nämlich noch eine zweite Bande ehrenwerter Fischer, die auch den gestrandeten Fahrzeugen zur Hilfe zu eilen pflegte und die sogar diesmal das Notzeichen des. Franzosen noch etwas früher bemerkt hatte, als Rafaele und seine Genossen. Es kam zu einem Wettrudern, das damit endete, daß das Boot der Gegenpartei um zwei Minuten früher unter dem Bug des Franzosen anlegte. Bachicho, so hieß der Anführer der zweiten Bande, hatte also das Spiel gewonnen und konnte, wenn sich weiter nichts erreichen ließ, doch immerhin den französischen Kapitän für die zu leistende Hilfe nach Möglichkeit schrauben. Rafaele dagegen mußte mit seinen Leuten unverrichtetersache wieder abziehen. Das spanische Blut wallte und die Hand griff nach dem Messer. Nur einer ganz kurzen Beratung bedurfte es, um einstimmig festzustellen, daß mit dieser Niederlage die Sache selbst noch nicht zum Austrag gekommen sei. Das große Boot wurde fertig gemacht, die Segel befestigt, Haufen von Munition an Bord gebracht und im Gebüsch am Strand ein Beobachter zurückgelassen. Als es dämmerte, meldete er, daß sich das kleine Boot mit den beiden Unterhändlern vom Schiff wieder entfernt habe, und nun bestiegen zehn Bukanier unter Anführung Rafaeles das größere Fahrzeug, um im Schutz der einsetzenden Dunkelheit zur entgegengesetzten Seite der Insel zu fahren und dort den Feinden jede Verbindung mit dem gestrandeten Schiff abzuschneiden. Robert sah diese Vorbereitungen, aber ohne ihren Zusammenhang ganz zu begreifen; er wandte sich an den Koch, der mit gespannter Aufmerksamkeit den Verlauf der Dinge beobachtet hatte. Es war jetzt ganz dunkel, und von dem französischen Schiff herüber dröhnten Signalschüsse. Der Kapitän schien ungeduldig geworden zu sein, da jetzt, nachdem sich vorher zwei Parteien darum bemüht hatten, die erbetene Hilfe ganz ausblieb. »Gomez«, fragte der Junge, »was bedeutet das? Wird da unten gekämpft?« Seine Handbewegung verständigte den Koch, dessen lebhaftes Gebärdenspiel ihm sofort Auskunft gab. Gomez führte gewaltige Hiebe in die Luft, legte an, kniff ein Auge zu und rief »Puff!« – Dann deutete er in die Gegend des gestrandeten Schiffes. »Pilot (Steuermann, Lotse)!« raunte er, »Pilot – Havanna. Rafaele, Gomez, Pilot! Andere Bukanier no, no!« Seine Hand durchschnitt waagrecht die leere Luft, um anzudeuten, daß keiner der übrigen Räuber imstande sei, ein Schiff nach dem Hafen von Havanna zu steuern. Robert hatte sofort begriffen. »Gomez«, flüsterte er mit halber Stimme, und nachdem ihn ein schneller Rundblick überzeugt hatte, daß kein Lauscher in der Nähe sein, »Gomez, das Schiff braucht also, um in den Hafen zu kommen, einen Mann, der das Fahrwasser genau kennt, und kann ihn auf dem üblichen Weg nicht erreichen, weil bis hierher die Lotsenschiffe nicht kommen? Ist es so?« »Ja!« nickte der Koch, dem Roberts Deutsch, das ohnehin mit vielen spanischen Worten durchsetzt war, ganz verständlich klang. »Ja!« Robert legte beide Hände auf die Schultern des schwarzbärtigen Freundes. »Gomez«, bat er, während seine Stimme vor Erregung heiser klang, »Gomez, nimm mich mit dir!« Der Spanier schien zu verstehen, um was ihn sein Schützling bat. »Mi figlio (mein Sohn)«, sagte er kopfschüttelnd und mit bedauerndem, zärtlichem Ton, »mi figlio, – kann nein tun, no, no! Rafaele so – – –« Und dann ergriff er seinen Kopf und zerrte daran, als wolle er ihn herabreißen, ohne Zweifel um anzudeuten, daß ihn Rafaele zur Strafe für solchen Verrat unter allen Umständen töten werde. Robert ließ seufzend die Arme sinken. Gomez hatte die Wahrheit gesprochen, das wußte er wohl, und doch gab es ihm einen Stich ins Herz. »Aber das Schiff sitzt ja fest«, sagte er nach einer Pause, »wie soll es ohne den Beistand eines anderen Fahrzeuges von der Klippe loskommen?« Gomez streckte blitzschnell seine zehn Finger in die Luft und dann wieder zwei. Darauf vollführte er mit beiden Armen schaufelnde Bewegungen, als backe er ein Brot und rolle und schiebe den Teig im Trog umher. »Du meinst, daß um zwölf Uhr nachts die Flut kommt und das Schiff flott macht?« fragte Robert. Der Koch nickte. »Nur Pilot! Pilot!« wiederholte er. Robert sah sehnsüchtig über das Wasser. »Rafaele wird selbst gehen«, antwortete er nach einer Pause. Der Koch zuckte die Achseln. »Quien sabe (wer weiß)?« murmelte er. Und wirklich sollte sich die Befürchtung, die er im stillen gehegt haben mochte, erfüllen. Das kleinere, dem großen nachgefolgte Boot der Flibustier kam zurück und brachte mehrere Verwundete, vor allem auch den Anführer selbst. Während fast alle noch Zurückgebliebenen schnellstens zur Verstärkung geschickt wurden, rief Rafaele den Koch, der zugleich als Heilkünstler aushalf, zu sich. Gomez verband die Stichwunde im Arm, den Streifschuß am Hals und den Hieb, der einen Finger fast ganz von der Hand getrennt hatte, dabei aber sprach der Verwundete fortwährend, und als endlich die Unterredung zu Ende war, kehrte Gomez mit schlauem Blinzeln in die Küche zurück. »Ich Pilot!« raunte er. »Havanna!« Robert erbleichte. »Du?« stammelte er. »Sst! Sst! – Roberto so?« Er machte die Bewegungen des Schwimmens. Der Junge nickte eifrigst. »Natürlich, Gomez, natürlich. Ich kann schwimmen und kann es aushalten, so lange wie nur ein Mensch, der sich damit das Leben retten will.« »Sst! – Sst! – Aber Haifische!« flüsterte Gomez und riß den Mund sperrangelweit auf. »Haifische so!« – Dabei schnappte er fürchterlich und sah, den ganzen Oberkörper wiegend, mit bedauernden Blicken auf seinen jungen Freund. Robert lächelte mit bleichen Lippen. Er fühlte, wie ihm ein Schauer über den Rücken herabrann. »Das tut nichts, Gomez«, antwortete er, »ich habe ja den Weg von der Klippe bis zum Strand schon einmal schwimmend zurückgelegt.« Gomez pfiff leise. Seine beiden Hände stellten sich flach nebeneinander in die leere Luft, und dann trennte er sie um das Sechsfache des ursprünglichen Zwischenraums. »So!« sagte er, »und so!« Robert nickte. »Ich weiß, daß die Entfernung zwischen dieser Insel und dem Schiff bedeutend größer ist als die andere«, sagte er, »aber ich setze alles an alles. Entweder gerettet oder tot, – einen Mittelweg gibt es nicht.« Das hatte nun zwar der brave Gomez keineswegs verstanden, aber er erriet den Sinn, und seine durch Blicke und Bewegungen gegebenen Ratschläge zeigten dem Jungen, wie er es anfangen müsse, bis zum äußersten Vorsprung der Insel zu schleichen und dann auf kürzestem Wege schwimmend bis zum Schiff zu kommen. Er sagte ihm, daß zwei andere Bukanier ihn begleiten würden, um das Boot zurückzurudern, und daß er, Gomez, daher erst von dem französischen Schiff aus für ihn sorgen könne. Zu guter Letzt wiederholte er noch sein bedenkliches »Haifisch! – Haifisch!« – Aber Robert hatte genug gehört, um einen ganz festen Entschluß zu fassen. Er tat zwar in der Küche seine gewöhnlichen Arbeiten, brachte dem fluchenden Anführer einen kühlenden Trunk und blieb absichtlich im Wohnzimmer zurück, als das Boot mit den drei Bukaniern vom Lande abstieß. Rafaele hatte also gesehen, daß er zu dieser Zeit nahe bei seinem Bett stand und konnte später, wenn die Flucht gelang, dem braven Gomez keine Vorwürfe machen. Dann aber suchte er mit fieberhafter Hast den Weg über den weißen, sandigen Strand bis zur letzten Klippe der Insel. Keinen Blick sandte er rückwärts, keine Bedenken ließ er in sich aufkommen. Jetzt lag die Freiheit offen vor ihm, jetzt oder nie hieß die Losung. Der Strand war vom Mondlicht hell überglänzt, und auch auf dem Meer lag es wie flüssiges Silber. Weiße Schaumperlen rollten stärker auf den Strand, die Wellen hoben sich. In einer Viertelstunde mußte die Flut alles bis an den Waldsaum unter Wasser gesetzt haben. Robert sah das Boot. Es bewegte sich schnell vorwärts und war in der Ferne nur noch als ein dunkler Punkt erkennbar. – Er hatte für die Ausführung seines Planes keine Zeit mehr zu verlieren. Noch ein tiefer Atemzug, dann warf er Jacke und Stiefel von sich, nahm den Brustbeutel mit seinen beiden einzigen Andenken an die Insel, die Fischgräte und die Blume von Mohrs Grab, zwischen die Zähne, – dann sprang er ins Wasser, tauchte ein paarmal unter, um sich der Erfrischung und Abkühlung so recht bewußt zu werden, und schwamm nun, so schnell er konnte, in der Richtung zum Schiff. Aber die Entfernung war weit, und er wußte, daß es in dieser Gegend zahllose Haifische gab. Wie oft hatten die Bukanier vom Strand aus einen geschossen, um das Fleisch, wie Beefsteak gebraten, zu essen, wie oft hatte er es selbst gekostet. Jetzt konnte nur allzuleicht das Gegenteil eintreten – der Gedanke war gräßlich. Aber noch sah er nichts Verdächtiges, nur die blauen und silbernen Wogen umgaben ihn. Es erfüllte ihn mit stolzer Freude, unter sich bergestief die unergründliche Wassermasse und um sich die unbegrenzte Freiheit zu wissen. Er fühlte sich glücklich in dem Gedanken, selbst wollen und selbst handeln zu dürfen, unbekümmert um die Meinung anderer. Der Mond schien hell herab, nah und näher kamen die schwarzen Umrisse des Schiffes, – in einiger Entfernung fuhr langsam das Boot mit den beiden Bukaniern zur Insel zurück. Jetzt würde man in wenigen Minuten dort seinen Namen rufen, ihn suchen, Verdacht schöpfen – – Der Gedanke trieb zur Eile. Immer schneller durchschnitten seine kräftigen Arme das Wasser, mit immer stärkerem Anprall schlugen die Wellen an seine Brust. Er hatte jetzt das Schiff bis auf zehn Meter Entfernung erreicht. Deutlich zeigten sich an Deck die Gestalten mehrerer Männern, – er sah, wie sich Gomez über die Schanzkleidung beugte. »Schiff ahoi!« rief er laut, in ausbrechendem Jubel. Aber das letzte Wort blieb ihm fast in der Kehle stecken. Was regte sich dort, rechts von ihm, und plätscherte leise, was ragte rundlich und aschgrau aus den Wellen? Ein häßlicher Kopf tauchte auf, ein bogenförmiges Maul öffnete sich, – im Mondlicht schimmerten sechs Reihen sägenartig gezackter, nach hinten gebogener Zähne – – Noch tiefer beugte sich Gomez über die Schanzkleidung herab. – Robert tauchte schnell wie der Blitz und kam fast unter dem Bug des französischen Schiffes wieder an die Oberfläche. In diesem Augenblick krachte ein Schuß langhallend über das Wasser; die Wogen spritzten, weißer Gischt schlug an die Bordwände, angstvolle Stimmen riefen »Schnell! Schnell!« Robert erfaßte das Tau, das ihm zugeworfen wurde. Wie eine Katze kletterte er daran empor, rückwärts blickend, ob ihn der Hai verfolge. Das Meer war rings von Blut bedeckt, purpurn kräuselten sich die Wellen, – das todverwundete Tier, rasend vor Schmerz und Wut, erhob sich mit letzter Kraft zum Sprung – – Scharfe Zähne packten und ritzten den nackten Fuß des Jungen. Er verdoppelte seine Anstrengungen, um der drohenden Gefahr zu entrinnen. Da griffen kräftige Arme unter seine Schultern. Gomez hob mit raschem Schwung den Halbermatteten an Deck. »Amigo«, sagte er, schwankend zwischen Rührung und Freude, »mi Amigo – doch Haifisch! Gomez gerettet Roberto!« Der Junge schlang beide Arme um den Hals des Kochs und küßte seine bärtigen Wangen. Was er sagte und was Gomez dagegen hervorsprudelte, das verstanden sie beide nicht, aber ihre Herzen fühlten es. Der französische Kapitän mußte von dem Zusammenhang der Dinge bereits unterrichtet sein, denn er schenkte mitleidig dem ganz durchnäßten und nur mit Hemd und Hose bekleideten Gast einen Anzug aus seiner eigenen Garderobe, ebenso ließ er ihm Branntwein und Fleisch geben. Gomez lachte mit Augen und Mund. Obgleich er zu den Räubern gehörte und keineswegs gewillt war, dies Leben mit einem anderen, besseren zu vertauschen, war er doch gutmütig wie ein Kind. Daß er den Hai erschossen hatte, machte ihm außerordentliches Vergnügen. Seine und Roberts Unterhaltung wurde aber sehr bald gestört. In allen Fugen des Schiffes knarrte und ächzte es, unter dem Kiel regte es sich, und dann spürte man einen plötzlichen Ruck, der die ganze Mannschaft aufatmen ließ. Die ›Blume von Frankreich‹ war flott, und der Lotse konnte sein Amt antreten. Robert warf die neugeschenkte Mütze hoch in die Luft. Seine stürmische Freude entlockte allen Zuschauern ein teilnehmendes Lächeln. Als sich das Schiff mit frischem Wind von der Insel entfernte, als Gomez, obwohl er seit längerer Zeit nur noch den Kochlöffel geschwungen hatte, jetzt auf dem Achterdeck stand und in ruhig befehlendem Ton seine Kommandos gab, da packte es den Jungen wie wild. Was gesprochen wurde, das verstand er nicht, aber dennoch war er bei der Ausführung einer der ersten. In die Masten hinauf ging es, als hätte er den ebenen Erdboden unter den Füßen, und von oben herab jubelte er ein befreites Lebewohl den verschwindenden Ufern zurück. Wie ferne Schatten zogen die Erlebnisse der letzten vier Monate an ihm vorüber, all die Stunden voll bitterer, hoffnungsloser Verzweiflung. Er achtete nicht mehr darauf, um dieses Freiheitsgefühls, dieser Seligkeit willen versuchte er alles zu vergessen. Die ›Blume von Frankreich‹ lag wohlbehalten im Hafen von Havanna vor Anker, und schon vor Anbruch des neuen Tages hatten Gomez und Robert das Schiff verlassen. Es bestand kein Zweifel, daß der Räuberhäuptling alles aufbieten würde, den Entflohenen wieder einzufangen und um seiner eigenen Sicherheit willen zu töten, daher mußte Robert versuchen, so rasch wie möglich an Bord eines anderen Schiffes zu kommen. Gomez schüttelte bedenklich den Kopf. Auf einem Segelschiff so schnell angemustert zu werden, hielt schwer, und eins zu finden, das gleich abfahren wollte, natürlich noch viel schwerer. Aber von hier fort mußte sein ›figlio‹, sein ›amigo‹ und ›hermano‹ (Bruder), wie er ihn abwechselnd nannte, und daher durfte er es einmal nicht ganz so genau nehmen, mußte sich mit einem Dampfer begnügen und – Gomez schaufelte in der Luft. »Mi figlio, es nicht anders gehen.« Robert lachte über das komische Gesicht, in dem sich Schlauheit und Bedauern so sonderbar vereinigten. »Das schadet ja nicht«, sagte er gut gelaunt, »aber kennst du einen Dampfschiffskapitän, der mich mitnehmen würde?« Gomez pfiff leise. Dann antwortete er in seiner Weise, daß an Heizern immer Mangel sei, und ging mit dem Jungen zu einer Art Fähr- oder Gasthaus, wo schon um diese Zeit reges Leben herrschte, das allerdings wohl nie erlosch. Hier schien er bekannt zu sein, denn manche nickten ihm zu, und endlich sprach er eifrig mit einem Mann, der in seinem Äußeren den deutschen Matrosen auf den ersten Blick verriet. Der sah zu Robert hinüber und nickte, indem er ein paar spanische Worte sprach, worauf Gomez den Jungen aufforderte, hier zu bleiben, bis er selbst wiederkommen werde. Das »no hablan!« wurde noch flüsternd hinzugefügt, und dann verschwand er. Robert begriff sofort, daß ihm in dem Matrosen ein Beschützer gewonnen war, um so mehr fühlte er sich verpflichtet, über die Flibustier zu schweigen, ja sogar womöglich lieber nicht von seinem Aufenthalt auf der Insel zu erzählen. Das sollte ihm sehr leicht werden, da der Seemann nur ein paar gleichgültige Fragen hinwarf, ihm das Grogglas zuschob und dann in den Halbschlummer zurückfiel, aus dem ihn Gomez geweckt hatte. Der Koch kam auch sehr bald wieder und brachte seinen Schützling auf einen Dampfer, auf dem man deutsch sprach und der innerhalb weniger Stunden in See ging. Der Kapitän versprach für die etwa zehn- bis vierzehntägige Reise nach New York dem jungen Heizer einen Lohn von acht Dollar, und man war sehr bald handelseinig. Beim Abschied steckte der herzensgute Gomez noch in aller Geschwindigkeit seinem jungen Schützling ein paar spanische Goldmünzen in die Hand und wünschte ihm alles mögliche Gute. Sein ›addio, mi figlo!‹ war mit ziemlich unsicherer Stimme gesprochen, und auch Robert drückte wiederholt die Hand des Mannes, der ihn in schwerer Krankheit gepflegt, und dessen fester Arm ihm das Leben gerettet hatte. »Addio, Addio! – –« Robert sah ihm nach, solange er seine Gestalt auf der Hafenmauer erkennen konnte. Wenn er auch ein Räuber und Ausgestoßener war, so hatte doch der Spanier ein warmes Herz, und das sicherte ihm die dankbare Zuneigung des Jungen. – – – Nach kaum zwei Stunden verließ der Dampfer den Hafen, und Robert stand mit der Schaufel in der Hand vor dem Kessel, um jetzt ein sehr hartes Brot zu essen, das ihm im Anfang nach dem Schlaraffenleben auf der paradiesischen Insel zwar nicht so recht schmecken wollte, das er aber doch trotz blutender, mit Schwielen bedeckter Hände und schlafloser Nächte der Gemeinschaft der Bukanier um jeden Preis vorzog. In New York In New York Von einer kurzen, glücklich verlaufenen Reise an Bord eines Dampfers, besonders aber davon, was ein Heizer auf hoher See erlebt, läßt sich nicht viel Interessantes berichten. Wir beginnen daher gleich in New York, nachdem im Hafen Anker geworfen und Robert entlassen worden war. Zwar gab sich der Kapitän alle mögliche Mühe, ihn wieder anzumustern und am liebsten ganz für sich zu gewinnen, aber Robert schlug das Anerbieten rund ab. Immer schwarz berußt da unten im glühend heißen Maschinenraum stehen und von Zeit zu Zeit Kohlen in das Höllenfeuer schütten, – daran konnte er kein Gefallen finden. Hoch oben in den Mastspitzen, an Deck im sausenden Nordsturm, wo Menschenkräfte ein Nichts werden, das liebte er, das war sein Leben und dahin sehnte er sich zurück. Der Freiheitsdrang seiner Seele, verschärft durch vierzehntägige Gefangenschaft im Maschinenraum des Dampfers, brach mit ganzer Macht hervor, als ihm der Mastenwald im Hafen von New York zum erstenmal vor Augen kam. Jetzt erst war sein Wunsch erfüllt, jetzt war er in der weiten Welt und sah und staunte, ohne gleich alle neuen Eindrücke ganz in sich verarbeiten zu können. Was ihm besonders auffiel, waren die riesigen amerikanischen Flußdampfer mit den drei hoch übereinander gebauten Decks, den riesigen Schaufelrädern und dem etwa hundert Meter langen Schiffsrumpf. Daneben lagen die großen Chinafahrer, diese Riesensegelschiffe, gegen die sich die ›Blume von Frankreich‹ wie eine Nußschale ausnahm. Die Unterrah eines dieser gewaltigen Segler hätte schon für das französische Schiff als Mastbaum dienen können. Auf den Dämmen an der Hafenmauer sah er dasselbe Treiben wie auf dem Baumwall in Hamburg, nur in viel größerem Umfang und außerdem malerisch belebt durch die verschiedenen Nationaltrachten der Farbigen in allen Abstufungen, der Chinesen und Orientalen. In Hamburg hatte er diese Gesichtszüge und diese Rasseeigentümlichkeiten schon kennengelernt, aber doch nur unter der alltäglichen Kleidung der Seeleute, jetzt dagegen sah er Chinesen mit langem Zopf und spitzen Schnabelschuhen, Türken mit Turban und buntemKaftan, sah Armenier im langen, dunkelbraunen Rock und Japaner mit ihrer hellen, weiten, auf große Hitze berechneten Kleidung. Alle diese Leute suchten und fanden Arbeit, schlossen und lösten neue oder ältere Verbindungen, sprachen in babylonischer Verwirrung gruppenweise durcheinander und waren mit den üblichen Arbeiten beschäftigt, die es eben nur im Hafen gibt: sie löschten und luden die Schiffe und waren an den Kränen und Umschlagplätzen tätig. Überhaupt hatte Robert von der Großartigkeit der technischen Entwicklung in Amerika bis jetzt noch keinen Begriff gehabt. Wie staunte er, als er die großen Getreide-Verladebrücken sah, riesige Eisenkonstruktionen, auf denen Eisenbahnwagen bis über die Schiffe geschoben wurden, dann öffnete sich eine Klappe, und der Weizen fiel direkt in den Laderaum. An anderer Stelle hob ein eiserner Kran spielend die schwersten Lasten aus dem Schiffsraum heraus. Riesige Ketten, jede mit einem armesdicken Haken versehen, fuhren rasselnd in die Tiefe und wurden dort an der Kiste oder Tonne, die heraufzubefördern war, festgelegt. Dann, auf ein gegebenes Zeichen, drehte ein Mann einen Hebel, und die Last hob sich federleicht empor, worauf wieder ein anderer Hebel den ganzen, fast zehn Meter hohen und ebenso breiten eisernen Kran um seine eigene Achse drehte, so daß nun die Tonne über dem bereitstehenden Wagen in der Luft schwebte und nur durch einen Druck herabgelassen zu werden brauchte. Was zehn Männer kaum in einer Stunde vollbracht hätten, das wurde hier durch das Ineinandergreifen der technischen Einrichtungen spielend in wenigen Minuten getan. Robert ging langsam, um alles zu sehen, alles zu beobachten, besonders aber, um das herrliche Gefühl der Freiheit so recht zu genießen. In seiner Tasche klapperten die Dollars, und unter seiner Mütze wirbelte es von den Plänen und Hoffnungen einer goldenen Zukunft. Jetzt erst konnte er tun oder lassen, was er wollte, konnte seinen Wunsch nach Abenteuern vollständig befriedigen und von Pol zu Pol die ganze Erde kennenlernen. Er war nun bald ein volles Jahr von Hause fort und hatte das siebzehnte Lebensjahr beinahe erreicht; seine besten Freunde hätten in dem lang aufgeschossenen, von der südlichen Sonne braun gebrannten Matrosen mit dem ersten dunklen Flaum auf der Oberlippe und dem ganzen gereifteren Aussehen wohl kaum das Kindergesicht wiedererkannt, das er vor Jahresfrist noch zeigte. Auch die Stimme war tiefer und die Schultern waren breiter geworden, mit einem Wort, Robert hatte sich recht gut herausgemacht, und der Gedanke, nach Hamburg zurückzukehren, lag ihm fern. Ja, wenn er das Geld seines alten Freundes in der Tasche gehabt hätte! – Aber mit leeren Händen vor den Vater treten? – Nein und tausendmal nein. Erst mußte er es zu etwas bringen, dann sollten die Pinneberger Augen machen und sich zuflüstern: »Der Robert Kroll ist doch ein Teufelskerl, hat richtig draußen in der Welt das große Los gewonnen.« Dieser Gedanke schmeichelte ihm sehr, obwohl er dabei doch einiges Herzklopfen verspürte. Er wußte, daß das, was er wünschte, nicht das war, was er unter allen Umständen hätte tun müssen, nämlich seine alten Eltern um Verzeihung bitten und sich mit ihnen aussöhnen. Er wußte auch, wie ganz anders er in der Einsamkeit der unbewohnten Insel darüber gedacht hatte, aber – der Hang zu Abenteuern und ungewöhnlichen Erlebnissen riß ihn mit sich fort. Er schlenderte im neuen, hübschen Seemannsanzug am Hafen entlang und rauchte eine Zigarre, deren Rauch ihm schon längst kein Unbehagen mehr einflößte. So etwa fünf oder sechs Tage lang konnte er von seinem kleinen Schatz noch leben, und bis dahin würde sich ja eine Heuer finden, möglichst nach unbewohnten wilden Küsten, vielleicht nach Afrika, wo die Ansiedlungen der Weißen zwischen den Bambushütten der Eingeborenen stehen, wo man mit kleinen Muscheln anstatt mit Geld bezahlt und die Schwarzen in ihrer ganzen Ursprünglichkeit kennenlernen kann. Er wollte sich überhaupt nur für eine Reise heuern lassen, um ganz sein eigener Herr zu bleiben. So sehr wie jetzt, da er eine schwere Zeit hinter sich hatte, war ihm die Reiselust, die Freiheitsschwärmerei noch niemals zu Kopf gestiegen. Sein Herz blieb freilich davon unberührt. Er schrieb an die alten Eltern einen so kindlichen Brief, wie ihn nur ein liebevoller, gehorsamer Sohn schreiben konnte, und wie er ungekünstelt aus seiner innersten Seele kam. Dann brachte er das umfangreiche Schreiben, das natürlich vor allem einen Bericht seiner Erlebnisse enthielt, selbst zur Post und begann wiederum die Musterung am Hafen. Jedes Segel erregte ja seine Aufmerksamkeit, jede Welle grüßte er mit lachenden Augen. Er saß auf einer zwischen zwei Steinen schwebenden Kette und beobachtete das Verladen eines Chinafahrers, als sich ihm wie zufällig ein Mann näherte, der in englischer Sprache um etwas Feuer bat. Robert hatte durch seinen Aufenthalt unter den Matrosen der Galliot und des Dampfers diese Sprache oberflächlich gelernt, daher reichte er sofort dem Fremden die Zigarre. Aber das Kraut, das der andere rauchte, mußte wohl nicht besonders viel wert sein, denn das Feuer verlöschte immer wieder, ohne gezündet zu haben. Der Fremde bat endlich um einen Augenblick Geduld und warf die Zigarre fort, während er eine andere aus der Brusttasche nahm. »Wahrer Schund, was mir der Gauner da gegeben hat!« brummte er in deutscher Sprache. Robert lächelte. »Sollten wir zufällig Landsleute sein?« »Ach, Sie sind Deutscher?« »Aus der Nähe von Hamburg, ja!« Der Unbekannte streckte mit der Miene eines angenehm Überraschten die Hand aus. »Das trifft sich ja gut«, sagte er zuvorkommend. »Auch ich bin Hamburger.« Robert berührte, nachdem er die dargebotene Rechte kräftig geschüttelt hatte, seine Mütze und rückte etwas beiseite, um auf der Kette dem Fremden neben sich Platz zu machen, dann, als beide Zigarren lustig den blauen Dampf emporwirbelten, folgte erst ein allgemeines Gespräch, das jedoch der Unbekannte schon sehr bald und sehr geschickt auf Roberts persönliche Angelegenheiten hinüberzuspielen wußte. »Sie sind, wie ich sehe, ein Seemann?« fragte er. »Schon Vollmatrose?« Robert lachte. »Streng genommen bin ich noch Junge«, antwortete er, »aber vielleicht gelingt es mir ja, eine Heuer als Leichtmatrose zu bekommen. Leisten kann ich's.« »Das läßt sich denken. Sie sehen aus, wie ein kräftiger junger Mann von zwanzig oder zweiundzwanzig Jahren.« Robert errötete ein wenig. Noch hatte ihn niemand mit ›Sie‹ angeredet, und viel weniger war er wie ein erwachsener Mann behandelt worden. – Wirklich, dieser Fremde gefiel ihm außerordentlich. »Ich bin aber doch erst siebzehn Jahre«, antwortete er bescheiden. »Um als Leichtmatrose anzukommen, muß ich schon großes Glück haben.« Herr Hastedt, wie sich der Fremde nannte, lächelte mit einer Art von Gönnermiene. »So wissen Sie nicht, mein junger Freund, daß an tüchtigen Seeleuten immer Mangel ist?« fragte er. »Zwanzig Heuer für eine, und wenn Sie heute noch anmustern wollen. Die Kapitäne suchen ihre Mannschaft mit der Laterne zusammen.« Robert wußte nun zwar, daß diese Behauptung nicht ohne einigen Grund war, aber ganz so leicht hatte er sich die Sache denn doch nicht gedacht, überhaupt wollte er bei seiner zweiten Wahl vorsichtiger sein und erst alles genau kennenlernen, ehe er den Vertrag abschloß. »Hm, hm«, meinte er und suchte seine Unerfahrenheit möglichst zu verbergen, »gute Schiffe haben wohl immer Besatzung genug. Es ist mehr der Ausschuß, der, wie Sie sagen, mit der Laterne suchen muß.« Um die Mundwinkel des Fremden zuckte verhaltenes Lächeln, das er aber schnell zu unterdrücken wußte. »Aber nein«, gab er kopfschüttelnd zurück, »wirklich nicht. Versuchen Sie es, und die Erfahrung wird lehren, daß ich recht habe. Selbstverständlich«, fuhr er scharf betonend fort, »dürfen Sie dabei diejenigen Schiffe nicht mitrechnen, zu denen sich die Matrosen drängen wie die Fliegen um den Honigtopf. Sie wissen, welche ich meine.« »Natürlich«, beeilte sich Robert zu antworten, »natürlich. Hauptsächlich sind das wohl –« »Die Walfischfahrer«, ergänzte der Fremde unbefangen nickend. »Ich sehe, Sie haben sich ein hübsches Verständnis Ihres Faches schon erworben, mein junger Freund. Ja, ja, die Walfischfahrer sind glückliche Leute. Immer Jagd, anregende Beschäftigung, sehr gutes Leben und Geld wie Heu. Aber freilich, da anzukommen hält schwer.« Roberts Herz schlug wie ein Hammer. Er wußte davon nicht das geringste, hatte sich über Walfischfahrer und Walfang nur oberflächlich unterrichtet, aber das durfte er ja nicht verraten, und doch brannte er vor Begierde, gerade auf ein solches Schiff zu kommen. Selbst wenn er nicht gewünscht hätte, möglichst viel Geld zu verdienen, so würde ihn die Sache selbst unwiderstehlich gereizt haben. Äußerlich blieb er aber ruhig, und auch Herr Hastedt sah so gleichmütig über den Hafen, als sei nur vom Wetter die Rede gewesen. »Ich kenne manchen, der auf zwei oder drei Fahrten zum reichen Mann wurde«, fügte er hinzu. Robert nickte. »Ja, ja das habe ich auch schon gehört. Die Heuer ist glänzend, und –« Wieder fiel ihm der Fremde ins Wort. »Und so ein Anteil am Fang ist auch nicht zu verachten, da haben Sie sehr recht, mein Herr. Überhaupt arbeitet man williger und lieber, wenn es zum eigenen, als wenn es zum Nutzen anderer geschieht. Davon kann sich auch der beste Mensch nicht freisprechen.« Robert hörte mit gespannter Aufmerksamkeit zu. Einen Anteil am Gewinn erhielten also die Matrosen auf den Walfischfahrern, sie waren gewissermaßen ihre eigenen Herren und arbeiteten in Teilung. Oh, wer das Glück hätte, auf ein solches Schiff zu kommen! Aber er wollte sich nichts merken lassen, nicht den Neuling verraten. »Ja«, sagte er leichthin, »es war auch schon manchmal meine Absicht, eine solche Reise mitzumachen, aber das muß sich zufällig treffen. Gerade auf diesem Gebiet habe ich keine Verbindungen.« Herr Hastedt blies den Rauch der Zigarre in Wolken von sich. »Ich wüßte im Augenblick auch nichts«, sagte er bedauernd. »Aber wie wäre es, wenn wir ein Glas Bier zusammen trinken würden?« Robert war einverstanden, und die beiden neuen Bekannten schlenderten durch die Straßen bis zu einem Wirtshaus, das nicht gerade nach ausgesuchter Gesellschaft aussah. Das Schild war verräuchert und schwarz, die Fenster blind von Staub, und das Innere war des wenig einladenden Äußeren würdig. Dennoch aber drängten sich die Gäste Kopf an Kopf, obwohl freilich Robert keinen einzigen Matrosen oder sonst einen Seemann entdecken konnte. Die Schenke lag in einer Nebenstraße, und ihre Gäste bestanden aus Bürgern ziemlich niederer Klasse. Herr Hastedt bestellte für sich und seinen Begleiter Bier, dann nahmen die beiden an einem Nebentisch Platz, ohne sich in die Unterhaltung der übrigen zu mischen. Alle möglichen deutschen Mundarten klangen zu ihnen herüber, besonders die Hessen und Nassauer waren sehr stark vertreten, ebenso die Württemberger, deren ›Schwäbeln‹ Robert kaum verstand. Unter diesen Landsleuten, einfachen Handwerkern – es waren alles Auswanderer ärmster Kreise – befand sich ein älterer Mann, dessen Kupfernase den Trinker verriet und dessen Erzählungen die Zuhörer außerordentlich zu fesseln schienen. »Geben Sie noch ein paar Geschichten zum besten, Herr Kapitän«, hieß es. »Wirklich, man sollte es kaum glauben, daß ein Mann dem Tode oft so nahe gewesen und so oft entronnen sein kann, wie Sie.« »Mer gruselt sich so scheene derbei!« sagte ein zweiter, dessen Sperlingsfigur und schäbig-eleganter Anzug den Schneider deutlich verriet. »Schießen Se los, Herr Gabedän!« Der lächelte nach allen Seiten und tat dann einen gewaltigen Zug aus dem vor ihm stehenden Grogglas. »Auf Ihr Spezielles, wie wir Studenten zu sagen pflegten«, nickte er zu dem Schneider hinüber. »Ich war nämlich auch einmal, bevor ich zur See ging, da heim in Göttingen Student, bis mir die Bücherfresserei zu langweilig wurde und ich auf und davon lief. Mein älterer Bruder hatte eben sein Schiff zur Walfischjagd ausgerüstet, also eins – zwei – drei – plätscherte ich im Eismeer.« Bei dem Worte ›Walfischjagd‹ hatte Robert unwillkürlich seinen Begleiter angesehen, aber dieser zuckte leicht die Achseln, als wolle er sagen: »Der Kerl lügt ja!« – Am anderen Tisch ging inzwischen die Unterhaltung lebhaft fort. »Ich sage Ihnen, solche Fahrt macht Spaß und ist das Merkwürdigste, was man erleben kann«, rief der als Kapitän Angeredete. »Ich bin einmal in Sibirien schiffbrüchig geworden und mußte monatelang an Land leben. Es war hinter Tobolsk, ganz in der Nähe der Behringsstraße, nur noch drei Meilen vom Mond entfernt.« Einer der Zuhörer hüpfte vor Erregung auf dem Sitz empor. »Vom Mond?« wiederholte er. »Das ist ja wohl nicht möglich!« Kapitän Witt, so nannte sich der alte Mann, nickte mit dem ernsthaftesten Gesicht. »Wie ich Ihnen sage, meine Herrschaften. In dieser Gegend neigt sich der Himmel zur Erde herab, müssen Sie wissen, es ist gerade da, wo beide zusammentreffen, am Rande der Welt, wo alles dunkel wird und man nicht weiterkommen kann, weil man sonst ins Bodenlose fallen würde. Wenn sich der Mond auf seiner Wanderung gelegentlich in diese Sackgasse verläuft, so ist er der Erde auf drei Meilen Entfernung nahe, und wir wären fast einmal hinaufmarschiert, um den grinsenden Alten zu begrüßen, aber es ist ein unbehagliches Gefühl, so ganz in die Enge zu geraten und sich von der Erde zu entfernen. Man weiß nicht, wie es da oben eingerichtet ist und wohin die Fahrt geht.« Die ganze Zuhörerschaft hatte andächtig gelauscht, und erst als Kapitän Witt schwieg, atmeten die Mutigsten wieder auf. »Gott, was man nicht alles erfährt!« sagte einer. »Da lebt man so seinen Tag herunter und denkt an nichts Böses, während andere dem Mond gerade ins Gesicht sehen. Wie groß war er denn wohl, so aus der Nähe betrachtet?« »Oh, ein ganz anständiger Kerl, sage ich Ihnen. Ich bin einmal vier Stunden lang mit der Uhr in der Hand unter ihm dahinmarschiert und hatte noch nicht die Hälfte seines Durchmessers erreicht. Ein Schritt hier auf der Erde macht zehn Meilen im Mond, müssen Sie wissen.« »Zehn Meilen!« echote die Versammlung. »Aber um Himmelswillen, wie erfährt man denn solche Dinge?« Kapitän Witt trank sich neue Begeisterung aus dem Glas an, das inzwischen mehr als einmal gefüllt worden war. »Dazu haben wir unsere Instrumente«, antwortete er mit der Miene eines vortragenden Gelehrten. »Es läßt sich alles auf den Meter genau berechnen.« »Aber wie lebt man denn in diesen Gegenden?« fragte wieder einer aus der Zuhörerschaft. »Was zieht man an und was ißt man?« Der Erzähler fuhr mit dem Rücken seiner Hand über den Mund. »Die Kleidung ist sehr einfach«, antwortete er. »Sie besteht aus Pelz und bedeckt den ganzen Körper; im Winter wird sie mit dem Haar nach innen und im Sommer nach außen getragen. Es ist daher einmal zu heiß und das andere Mal zu kühl, aber davon wissen die Russen nichts. Man findet überhaupt nirgends so abgehärtete und rohe Menschen wie gerade hier. Den Kohl essen sie ungekocht und als Leckerbissen dazu eine Talgkerze.« Widerwillen und Entsetzen wurden am Tisch laut. Robert und Herr Hastedt sahen sich lächelnd an. »Es ist erstaunlich, was sich diese Landratten aufbinden lassen!« flüsterte der Fremde. »Glauben Sie überhaupt, daß der Mann jemals im Eismeer gewesen ist?« fragte Robert. »Gott bewahre! Er hat nie ein Schiff unter den Füßen gehabt. Solche Tagediebe werden von den Wirten freigehalten, weil sie die Gäste durch ihre Aufschneidereien zum Bleiben und zum Trinken veranlassen.« »Hören Sie nur, jetzt fängt er wieder an.« Die Biergläser der beiden klangen leise aneinander. »Auf eine gute Heuer für Sie!« flüsterte Herr Hastedt, und dann horchte man um des Spaßes willen nach dem anderen Tisch hinüber. »Von einer Jagd im Eismeer sollte ich Ihnen erzählen, meine Herrschaften?« ertönte des Kapitäns heisere Stimme. »Well! Das können Sie haben. Seehunde, Walrosse, Eisbären, Moschusochsen, Rentiere, Füchse, weiße Hasen, Schneehühner, – habe ich alle mit der Kugel oder der Harpune erlegt. Welches Abenteuer ziehen Sie vor?« Die biederen Landleute und Handwerker bestellten massenhaft neues Bier nach, bevor sie noch näher zusammenrückten und sich endlich für das schaurigste Erlebnis des vielgereisten Berichterstatters entschieden. Der räusperte sich, ehe er wieder die Stimme erhob, »Nehmen wir also das Walroß«, sagte er. »Das Tier wird ungefähr fünf Meter lang und mindestens zwanzig Zentner schwer. Seine Haut hat eine Dicke von anderthalb Zentimeter, Sie können mir deshalb glauben, daß sie einen kugelsicheren Panzer bildet. Und diese Häßlichkeit, sage ich Ihnen! Große Glotzaugen ohne Lider, fast meterlange Stoßzähne und der Rachen verdeckt von Borsten, die mindestens so dick sind wie Stricknadeln. Zu diesem teuflischen Aussehen kommt eine Stimme, deren Brüllen, Bellen und Pusten auch den mutigsten Mann erschüttern kann. Ich sage Ihnen, ich fürchte mich vor dem leibhaftigen Satan nicht, wenn er nur in fester, körperlicher Gestalt vor mir erscheint, so daß sich seine und meine Kräfte miteinander messen können, aber – diese Ungeheuer haben doch manches Mal das Blut in meinen Adern zu Eis erstarren lassen. Wenn man so auf dem meterdicken Eis wie auf dem sicheren Erdboden geht, und von unten her taucht plötzlich solch ein Höllenhund auf, um uns die Stoßzähne, mit Seegras und den Überresten getöteter Fische verziert, in den Leib zu jagen, da danke ich für das Vergnügen. Das ist des Spaßes etwas zu viel.« »Meterdickes Eis?« wiederholten ungläubige Stimmen. »Die kann das Walroß durchbrechen?« »Ach – wie gar nichts. Das gibt ein kurzes Geprassel, vor Ihren Füßen entsteht plötzlich ein Loch, das schwarze Wasser darin schäumt und zischt, und mein liebenswürdiges Ungeheuer mit den langen Zähnen schiebt sich ganz gemütlich heraus, um sich über Sie herzumachen, – sehen Sie, das ist die Walroßjagd!« »Puh! – Und das haben Sie erlebt? Mußten Sie vielleicht mit diesen gräßlichen Tieren kämpfen?« »Das will ich meinen. Unser Schiff lag ziemlich weit von der Küste entfernt, an einer Stelle, die für den Fang der Walrosse sehr geeignet war, aber wir hatten das Unglück gehabt, bei einem plötzlichen Sturm mehrere Fleischfässer zu verlieren, und mußten daher soviel wie möglich an Land jagen, um den Ausfall zu decken. Na, das ging auch ganz nach Wunsch, denn die Rentiere sind dort sehr zahlreich, aber eines schönen Tages verfehlten wir den Rückweg und schoben den mit vier erlegten Tieren beladenen Handschlitten unglücklicherweise in das Packeis hinein, so daß uns der Boden immer wieder unter den Füßen brach. Es ging so nicht vorwärts, das sahen wir nur zu bald, und ließen daher den Schlitten allein, nachdem wir ihn auf eine feste Stelle gehoben hatten, um ihn später mit dem Boot an Bord zu holen. Aber kaum war die mühevolle Arbeit beendet, als unmittelbar vor uns mehrere Walrosse auftauchten und ihre unangenehme Gegenwart durch ein satanisches Gebrüll zu erkennen gaben. Wir wie der Blitz über das Eis davongelaufen, – es war, als sei uns der Teufel auf den Fersen. Wortlos ohne Verabredung, ohne Zeitverlust rannten wir drauflos, aber das führte zu nichts, weil die schlauen Tiere tauchten, unter dem Eis schwammen und alle Augenblicke rechts oder links von uns wie böse Geister von unten hervorbrachen. Unwillkürlich verteilten wir uns, um sie irre zu leiten, und das Manöver gelang über Erwarten gut. Unverletzt kamen alle an die Boote, aber – der Schlitten war zurückgelassen, und ohne ihn konnten wir nichts anfangen. Ihn später an Bord zu holen, war unbedingt notwendig. Nachdem wir erst einmal tüchtig gegessen und uns gut bewaffnet hatten, besetzten wir die Boote mit je vier Mann und einem Harpunier, nahmen Gewehre, Messer und Lebensmittel mit uns und wollten jetzt aus Rache und einmal erweckter Jagdlust unsererseits die Walrosse verfolgen. Gedacht, getan. Die Boote glitten am Rande des festen Eises dahin, bis zu der Stelle, die wir als Lagerplatz der Tiere kannten. Durch die Gläser entdeckten wir auch wirklich eine ganze schlafende Herde, aber außerdem auch den Wächter, der regelmäßig, wie bei vielen andern Tiergattungen auch, ausgestellt wird, um bei herannahender Gefahr ein Warnungszeichen zu geben. Das kurze Gebrüll ertönte, und die Herde stürzte sich schon in einer Entfernung von wenigstens zwanzig Meter Hals über Kopf ins Wasser, aber – vier Walrosse schwammen uns geradewegs, wie zur Herausforderung, entgegen. Unser Harpunier, neben mir im Bug des ersten Bootes stehend, erwartete gefaßt die Tiere, und als das erste herankam, stieß er ihm die Harpune mit voller Kraft in den Körper. Und nun folgte eine furchtbare Szene. Das Walroß sank schwer verwundet ins Wasser zurück, aber es richtete sich nach kurzer Pause wieder auf um ein anhaltendes, wildes Gebrüll auszustoßen. Daraufhin tauchten jetzt plötzlich die borstigen Köpfe an zehn Stellen zugleich auf und umzingelten das Boot, von dem aus ihr Kamerad verwundet worden war. Für uns galt es nur noch, das nackte Leben zu retten. Wir alle stachen, schossen, schlugen und schleuderten mit jedem Gerät, das uns in die Hände kam. Dennoch aber wäre es um fünf unerschrockene Männer sehr bald geschehen gewesen! – Eins der Ungeheuer schob den riesenhaften Körper gerade unter den Kiel des Bootes, hob es hoch empor, so daß es zu schwanken schien, daß wir fast den Halt verloren, und – – –« »Hören Sie auf!« riefen schaudernd die zuhörenden Auswanderer. »Das kann ja kein Pferd ertragen.« Auch Robert und sein neuer Freund sahen sich an. »Sollte er nicht trotz allem Seemann gewesen sein?« fragte Robert »Sollte er nicht diese Jagd wirklich erlebt haben?« Herr Hastedt zuckte die Achseln. »Ich kann mich irren«, meinte er. »Manchmal kommt es mir selbst so vor. Doch lassen Sie uns hören, wie die Sache ausläuft. Der Wirt versorgt ihn schon mit einem frischen Grog.« »Weiter! Weiter!« drängten einige unter den Zuhörern. »Der Kapitän sitzt ja gesund hier bei uns, also warum soll man sich fürchten? – Erzählen Sie weiter!« Der Kapitän tat einen tiefen Zug. »Das Boot schwebte also gleichsam«, fuhr er fort, »schien zu zittern und im nächsten Augenblick umschlagen zu wollen, – zwei riesige, weiße Hauer bogen sich von unten herauf über den Rand, ein Schreckensschrei zerriß die Luft. Das Fahrzeug lag jetzt so auf einer Seite, daß das Wasser hineinzulaufen begann, immer stärker schob und drängte das schnaufende Tier unter dem Kiel. Da richtete ich mich auf, nahm alle meine Kräfte zusammen und holte aus zu einem Axthieb, der einen Stein hätte brechen müssen. Richtig – das Walroß trieb mit gespaltenem Schädel tot an der Oberfläche des Wassers! – – Es war aber auch in letzter Sekunde, wie man so sagt. Noch eine Minute länger, und wir alle hätten im Meer gelegen, den Ungeheuern zur sicheren Beute. Als die anderen Boote herankamen, zeigte sich, daß wir während des kurzen, erbitterten Kampfes neun Walrosse harpuniert, getötet und verwundet hatten. Die Fahrzeuge schwammen buchstäblich in Blut, im Wasser ringsumher sah man überall die sterbenden Tiere, und noch viel Mühe kostete es, die riesigen Körper mit Seilen einzufangen und am Boot zu befestigen. Der Kampf war wild, die Gefahr groß gewesen, aber dennoch hatten wir bei dieser Jagd nicht allein unsern Schlitten geborgen, sondern erbeuteten auch außer den Häuten und Zähnen noch neun Tonnen Tran. Ja, ja, wenn man so an seine Jugend zurückdenkt und wie schön damals das Leben war, – man könnte ganz wehmütig werden. Jetzt spalte ich längst schon keinen Walroßschädel mehr!« Es schimmerte etwas wie echte Trauer in den Augen des Kapitäns, als er diese letzten Worte sprach. »Die Zeit auf meines Bruders Schiff da oben im Polareis war die reichste und glücklichste, die ich durchlebt habe«, fuhr er fort. »Solange ich ein junger, kräftiger Mann war, konnten nur Kampf und Gefahr mich begeistern; ich habe oft gedacht, daß bei ewig gutem Wind und hellem Sonnenschein der Teufel Seemann werden möchte, aber nicht ich. Sich durchsetzen, mit allen Naturkräften kämpfen, List gegen List setzen und überwinden, was sich feindlich entgegenstellt, – das allein heißt leben.« Robert hatte sich unwillkürlich vorgebeugt. Er glühte förmlich, seine Augen leuchteten, und seine Brust hob sich schneller. Was dort der alternde Mann mit dem Feuer langvergangener Tage aussprach, das war ja sein eigenes Glaubensbekenntnis, das empfand er ja genau so. Nur kein tatenloses Dahinleben, kein ängstliches Zurückbleiben in den engen Grenzen des Gewohnten, des Alltäglichen, nur kein Scheindasein ohne Kampf und Sieg! Er nahm sein Glas und ging zu dem alten Kapitän hinüber, um mit ihm anzustoßen. Woher ihm der Mut dazu so plötzlich kam, begriff er selbst nicht, aber es war geschehen, kaum daß ihm der Gedanke gekommen war. »Ihr Wohlsein, Kapitän!« sagte er freundlich. »Wer so viel erlebt hat wie Sie, der darf wirklich zufrieden auf seine Jugend zurückblicken.« Anscheinend sehr angenehm überrascht, erhob sich der Erzähler und stieß kräftig mit Robert an. Seine und Hastedts Blicke begegneten sich dabei wie zufällig und nur auf Augenblicke, aber doch schien es, als hätten sich beide ein geheimes Zeichen gegeben. Während sich Hastedt gleichgültig zum Fenster wandte, schüttelte der Kapitän mit gewinnender Herzlichkeit die Hand des Jungen. »Ein Landsmann«, sagte er, »und ein lustiger Seewolf obendrein, was? Freut mich ganz besonders, Ihre werte Bekanntschaft gemacht zu haben!« Robert errötete. »Sie erzählen so sehr fesselnd und anregend!« sagte er etwas verlegen. »Kommt nicht noch ein bißchen mehr?« Der Kapitän blinzelte ihm vertraulich zu, als wollte er sagen: »Diesen Eseln muß man es faustdick geben, bevor ihnen die Geschichte wirklich gefällt. Ich lüge ihnen natürlich die Haut voll, daß es nur so zischt.« Laut sagte er aber mit ermunterndem Lächeln: »Ich muß mich also jetzt verteufelt in acht nehmen, da einer von meinem Handwerk dabei ist, nicht wahr? – Sie werden mir gehörig auf die Finger sehen, ob ich wohl in das Garn ein paar kleine Flunkereien hineinspinne?« Robert lachte mit. »Erzählen Sie ruhig weiter! Ging die nächste Reise vielleicht an den Südpol und von da zur Sonne hinauf?« Kapitän Witt blinzelte noch stärker. »Sie Allerweltskerl«, sagte er, »also Sie haben mir die Geschichte nicht geglaubt? – Aber das beweist nur, daß Sie ihre schätzenswerte Nase nicht in jede Windrichtung gesteckt haben, oder – waren Sie schon in Sibirien?« Robert schüttelte den Kopf. »Leider nicht«, antwortete er. »Sehen möchte ich allerdings gern die ganze Erde, aber das läßt sich wohl schwerlich verwirklichen.« »Hm, hm, Sie haben ja noch ihr ganzes Leben vor sich, können manchen Knoten segeln und manchen Hafen kennenlernen, junger Brausekopf. Aber Sie gefallen mir, wenn auch das Ei ein bißchen klüger sein möchte als die Henne, – in diesem Fall freilich als der Hahn. Setzen Sie sich zu uns, und rufen Sie auch Ihren Begleiter herüber.« Herr Hastedt stellte sich vor, man brachte neues Bier, und der alte Seemann nahm den Faden seiner Erzählung wieder auf. »Eisbären kennen Sie alle, nicht wahr, meine Herrschaften?« fragte er. »Sie haben welche in den zoologischen Gärten gesehen, doch haben diese, in unzulänglichen Gehegen gefangenen Tiere nur wenig Ähnlichkeit mit den in Freiheit lebenden.« Der Eisbär ist stark wie ein Löwe, hinterlistig wie ein Tiger und schwimmt dabei wie ein Fisch. Einmal hätte mich einer doch beinahe erwischt; ich kam wirklich nur mit genauer Not davon. Wir hatten nämlich an Bord nichts zu tun, es war Sonntag, und daher ging ich an Land etwas spazieren, um mir die Großartigkeit dieser eingefrorenen, ewig unter Eis begrabenen Natur aus nächster Nähe anzusehen. Nichts Böses ahnend, die brennende Zigarre im Mund und die Hände in den Taschen meines Pelzes, wandere ich so dahin, ziemlich weit vom Schiff entfernt. »Was sie jetzt wohl in der Heimat machen?« denke ich und werde so ein bißchen wehmütig, als ich mir das Bild des Elternhauses deutlich vorstelle. Die blinde Großmutter im Lehnstuhl am Ofen, der Vater mit kurzer Pfeife die Zeitungen lesend und Mutter und Schwestern am Herd beschäftigt. Alles ist so gemütlich, die Blumen am Fenster blühen, die Nachbarn grüßen herein, und das Zimmer wird von dem Ofen angenehm durchwärmt. – Herrgott, denke ich, könntest du für ein paar Stunden dort sein, dich einmal wieder an frischem Fleisch und Gemüse satt essen und von dem alten Kachelofen gründlich auftauen lassen, – das wäre so etwas! Aber daraus wird ja nichts, mein Junge, du bist am Nordpol und bewunderst Eisblöcke, mehr ist für den Augenblick nicht zu haben. Und wie ich gerade bei diesem trüben Gedanken ein bißchen stärker seufze, legen sich mir von hinten ein paar Pranken auf die Schultern und zwingen mich in die Knie. Ehe ich mich recht besinnen kann, packen scharfe Zähne meinen Kopf, – der glücklicherweise ziemlich rund und hart gewachsen ist und den außerdem die festgebundene Pelzkappe schützte, so daß das Maul des riesigen Tieres nicht groß genug war, um mich ernsthaft verwunden zu können. Dennoch aber schleppt es mich fort, – ohne Halten – wie eine Windsbraut – über Stock und Stein – über Eis und Gletscher, während ich schreie, Kinder, na, – jeder unter euch kann sich vorstellen, wie! Meine Fäuste bearbeiten das zottige Fell, und meine Kehle springt fast von der unnatürlichen Anstrengung, aber der Bär kümmert sich um nichts, er segelt vorwärts wie eine Fregatte unter vollen Segeln, immer hast du nicht gesehen, hier über einen Eisblock, wo meine armen Beine den Sprung mitmachen müssen, daß ich fast glaube, sie gehören mir gar nicht mehr, – und dort durch einen Tümpel Schlampeis, daß das Wasser wie eine Schlange über meinen Körper kriecht, – Gott im Himmel, das war eine Fahrt. Trotzdem aber verlor ich das Bewußtsein nicht, sondern sagte mir, daß ich den Zähnen des Bären unrettbar verfallen sei, wenn er erst einmal die freie, offene Eisbahn erreicht haben würde. Dann konnte kein Mensch mehr mit ihm um die Wette laufen, und ich wurde gefressen wie ein Seehund oder ein Fisch. Bis zum Meer also hatte ich noch Hoffnung, von meinen Kameraden gehört zu werden, – ich schrie, daß mir das Blut aus Mund und Nase stürzte. Na, sie haben es ja dann auch gehört, und die, denen damals bei der Walroßjagd mein Axthieb das Leben rettete, haben den Bären mit ihren Gewehren so tapfer verfolgt und von der freien Fläche abgeschnitten, daß er schließlich, um sein eigenes Leben zu retten, mich fallen lassen mußte. Ich lag wie ein Toter auf dem Schnee und wurde von einigen meiner Kameraden an Bord gebracht, während alle anderen den Bären jagten. Als ich zur Besinnung kam, lag ich blutüberströmt in meiner Koje; Kopf und Hals waren von den Zähnen des Tieres zerfleischt, Arme und Beine an den scharfen Eissplittern aufschlagen, und die Haut von den Fingern fast ganz abgeschält. »Nun, dafür halfen Eis und Verbände. Ich konnte schon nach acht Tagen das Fell des erlegten Bären von den Füßen abziehen und machte mir daraus, nachdem ich es gereinigt und mit Alaun gerieben hatte, ein Paar Strümpfe, die wärmsten, die ich jemals besessen habe. Haare und Klauen blieben dran, also konnte ich auf dem blanken Eis laufen wie der beste Schlittschuhkünstler.« Ein Murmeln um den Tisch gab das Erstaunen der Zuhörer zu erkennen. Kapitän Witt trank und blinzelte hinter dem Glas zu Robert herüber, als wolle er sagen: »Hast du gehört?« »Mehr, Herr Kapitän, mehr!« rief der Junge, dem die ganze Erzählung größten Spaß machte und der heimlich noch immer hoffte, auch etwas von der Walfischjagd zu hören. »Sie waren bei den Strümpfen aus Eisbärenfell stehen geblieben.« Der Erzähler strich den Schnurrbart. »Im Gegenteil, mein Freund, ich lief auf diesen Strümpfen wie der Wind«, lächelte er. »Ich habe sogar einen lebenden Fuchs mit bloßen Händen gefangen und in den Käfig gesteckt, nur aus Langeweile. Wir stellten den kleinen Kerl in seiner Falle neben dem Schiff auf einen Eisblock, hatten aber nicht daran gedacht, daß in der Nähe der Kombüse der Block allmählich schmelzen müsse, und so fiel denn eines Tages der ganze Bau mit Geprassel in sich zusammen. Reineke schaute verdutzt durch die plötzlich entstandene Lücke auf das Eisfeld hinaus und rannte dann mit gestrecktem Schweif in rasender Geschwindigkeit davon. Wir lachten zu sehr, um ihn aufhalten zu können. – Diese vielen Füchse, weiße, graue und blaue, sind allerdings für die Mannschaft eines Grönlandfahrers oft eine große Plage, da sie in Mondscheinnächten oder beim Nordlicht so anhaltend bellen, daß an keinen Schlaf zu denken ist.« Herr Hastedt sah verstohlen zu Robert hinüber. »Der alte Bursche ist doch im Eismeer gewesen«, flüsterte er. »Hätte es wirklich nicht gedacht, aber diese Einzelheiten überzeugen mich. Nun, wie steht's, Herr Kroll, machen wir noch einen kleinen Spaziergang zusammen?« Robert schob ihm die Flasche zu. »Bleiben Sie doch!« antwortete er. »Wir sitzen hier ja ganz gemütlich.« Aber der Deutsch-Amerikaner hatte nach der Uhr gesehen und schüttelte jetzt den Kopf. »Bedaure wirklich, Herr Kroll, ich muß gehen. ›Time is money‹, wissen Sie. Ich freue mich aber, Ihre angenehme Bekanntschaft gemacht zu haben! – Kapitän, ich empfehle mich Ihnen!« Er reichte den beiden die Hand, und Robert hörte auch, daß zwischen ihm und dem Erzähler noch einige englische Worte gewechselt wurden, schnell und leise, – er achtete nicht darauf – dann bezahlte Herr Hastedt das Bier, grüßte nochmals mit der Hand und ging. »Vielleicht sehe ich Sie morgen oder übermorgen hier wieder!« rief er noch von der Tür zurück. Robert setzte sich wieder in den Kreis. Er hatte schon mehr getrunken, als gut war, ein ganz fremdes Gefühl des Übermutes und der Sorglosigkeit ergriff ihn. Heute wurde er zum erstenmal von Männern als Mann behandelt, er trank und sprach wie sie, er hatte den »Jungen« gänzlich abgeschüttelt. Sein Blick streifte herausfordernd die plaudernde Tischrunde. »Still!« rief er, mit zwei Fingern auf die Tischplatte schlagend. »Still! Der Kapitän will von seinen Erlebnissen auf der Walfischjagd erzählen.« Die andern schwiegen, aber Witt schüttelte den Kopf. »Für diesmal nicht mehr«, antwortete er. »Ich habe nur den einen Zug mitgemacht, und der endete, als wir den Wal jagten, so traurig, daß mich die Erinnerung noch heute schmerzt. Mein Bruder verlor dabei das Leben, und unser schönes Schiff ging in Splitter.« Roberts Augen glänzten vor Begier, die Geschichte zu erfahren. »Kapitän«, sagte er, sich halb über den Tisch beugend, »so müssen Sie nicht sprechen. Habe ich eine Gefahr hinter mir, dann sehne ich mich nach der nächsten; ist ein Kampf beendet, so denke ich an den zweiten. Glauben Sie mir, auch ich habe trotz meiner Jugend schon böse Stunden durchlebt und dem Tod mehr als einmal ins Auge gesehen!« Der Kapitän horchte auf. »Sie?« sagte er. »Alle Wetter, das möchte ich genauer erfahren!« Sein Wink veranlaßte den Kellner, Roberts Glas wieder zu füllen, ohne daß es besonders auffiel. Auch durch die andern aufgefordert, begann er eine Schilderung seiner Erlebnisse und redete und trank sich in einen Rausch hinein, der seine Wangen erglühen und seine Bewegungen unsicher werden ließ. Besonders Kapitän Witt flocht Bemerkungen ein, die alle dazu dienten, das Selbstgefühl und die Lust des Jungen an abenteuerlichen Fahrten nur noch immer mehr zu stärken. Er schlug zuletzt mit der Faust auf den Tisch und schwur, noch die ganze Welt umsegeln zu wollen. Der Kapitän streckte den Arm aus. »Keinen solchen Schwur«, sagte er ernst. »Das tut nicht gut, – die Schicksalsmächte hören es und fangen den Vermessenen in seinen eigenen Schlingen.« Robert lachte. »Ich bin nicht abergläubisch!« rief er. »Das kommt erst mit dem Alter. Haben Sie eine solche Geschichte von einem Schwur, den die bösen Gewalten gehört haben, selbst mitgemacht, Kapitän? Nein, nicht wahr? Nur Ihre Frau Großmutter hat es erzählt, und die hatte es von einer Tante!« Ein stummes Kopfschütteln beantwortete die übermütigen Worte. Der Kapitän malte mit dem Zeigefinger in dem verschütteten Bier auf der Tischplatte und sprach keine Silbe, – nur Robert konnte nicht schweigen. »War es vielleicht die Geschichte von dem zersplitterten Schiff Ihres Bruders, Kapitän?« forschte er. »War es das?« Witt blickte auf. Der Ernst in seinen Zügen war echt, das Beben seiner Lippen ungewollt. »Ja!« antwortete er langsam und deutlich. »Ja, es war der vermessene, gotteslästerliche Schwur, der Schiff und Mannschaft den Untergang bereitete. Es war mein Bruder, der sich im Eigensinn verging und den der Tod ereilte, als er seines Sieges gewiß zu sein glaubte.« Robert stand auf. »Das muß ein tapferer, unerschrockener Mann gewesen sein«, rief er, »ein braver Seemann, dessen Andenken in Ehren bleiben soll. Stoßen Sie an, Kapitän!« Der alte Witt nickte und trank. »Ich will's erzählen«, sagte er nach einer Pause. »Solch einem Heißsporn kann es gar nicht schaden, einmal eine tüchtige Lehre zu erhalten. Also hören Sie zu, meine Herrschaften, obgleich die Geschichte traurig genug ist. Wir waren im nördlichen Eismeer und jagten den Wal, hatten aber nur sehr wenig Glück gehabt, nur eine kleine, unbedeutende Ausbeute an Walrossen oder Seehunden gemacht und keinen größeren Walfisch gesehen. Die Mannschaft murrte auch, daß es zu kalt sei, um an Deck arbeiten zu können, daß wir umkehren müßten und daß sie feste Heuer verlange, wenn der Kapitän noch immer an dieser äußersten Grenze der Eisregion bleiben wolle. Mein Bruder aber war ein Trotzkopf ohnegleichen. ›Ich habe noch Lebensmittel für zweihundert Tage an Bord‹, sagte er mir einmal unter vier Augen, ›mein Schiff ist fest und meine Leute sind gesund, – wer weiß, ob es mir nicht bestimmt ist, das seit Jahrhunderten vergeblich gesuchte und von vielen sogar geleugnete offene Polarmeer zu erreichen. Wer weiß, ob ich nicht bis zum Nordpol komme, Wilhelm, und dann – wäre ich der bedeutendste und am meisten bewunderte Mann meiner Zeit geworden! Die Leute müssen sich fügen, wie ich will.‹ Bei solchen Worten schüttelte ich wohl den Kopf und zeigte ihm das Bedenkliche an der Sache, aber im Grunde lockte mich der Gedanke ebenso sehr wie ihn selbst. Und wenn unser Schiffstagebuch auch nur einen Breitengrad mehr nannte, als ihn bisher ein anderes Fahrzeug erreicht hatte, so war das immerhin der Mühe wert, nur nicht für die Leute, die keinen Ehrgeiz besaßen, sondern Geld verdienen wollten. Über den eigentlichen Strich der Walfischjagd aber waren wir hinaus, das wußten alle. ›Seit acht Tagen haben wir kein Schiff mehr gesehen!‹ hieß es. ›Man muß umkehren, oder man friert plötzlich ein und kann elend verhungern.‹ ›Es besteht keine Gefahr!‹ tröstete mein Bruder. ›Lebensmittel sind genug an Bord, wir jagen mehr frisches Fleisch als wir brauchen, und für den Wasservorrat sorgt der Schnee, für das Brennmaterial die ungeheuren Massen Treibholz. Was wollt ihr also?‹ Bei solchen Gelegenheiten mußte der Untersteuermann ein paar Flaschen Rum herausgeben, und so hielten wir die Leute hin, während das Schiff den achtzigsten Breitengrad beinahe erreicht hatte. Da kam uns ein anderes Fahrzeug in Sicht. Jetzt kehrte den Matrosen der gesunkene Mut zurück, und als schließlich der Däne, denn ein solcher war es, mit uns Seite an Seite lag, da ging die Geschichte ausgezeichnet, obwohl mein Bruder den Zufall heimlich verwünschte. An Bord des ›Kong Frederik‹ waren nämlich die Blattern ausgebrochen, Kapitän und Steuermann gestorben, und der Untersteuermann nicht erfahren genug, um unter so schwierigen Verhältnissen die Lenkung des Schiffes allein zu übernehmen. Der ›Kong Frederik‹ war verschlagen worden, und sein junger Führer bat uns dringend um einen Mann, der es verstände, das Schiff wieder nach Europa zu bringen. Nun, das konnten wir tun, da uns zufällig mehr Leute zur Verfügung standen, als für unsere Zwecke erforderlich waren, aber mein Bruder, rasch entschlossen und tatkräftig wie immer, verabredete, bevor wir uns trennten, mit dem jungen Dänen eine Art von Tauschabkommen. Die Matrosen auf beiden Schiffen sollten gefragt werden, wer lieber auf dem ›Kong Frederik‹ nach Hause zurückgehen wolle oder Lust habe, auf unserem eigenen Schiff in diesen Breiten noch länger zu kreuzen. Am folgenden Morgen sollte die Übersiedlung stattfinden. Ich hatte am Abend dieses Tages mit meinem Bruder eine längere und sehr ernste Unterredung. Sein Gesicht strahlte vor Freude. ›Wilhelm‹, sagte er, ›das Schicksal ist mir günstig, ich bekomme lauter neue Matrosen. Die Dänen sind überhaupt ein tollkühnes, mutiges Volk, sie fürchten sich vor dem leibhaftigen Satan nicht, und ganz besonders diese Mannschaft gefällt mir. Es sind lauter Seeländer, Kerle mit Eisenfäusten und eisernem Sinn. Solche brauche ich, alter Junge! – Ja, wenn es mir gelänge, das Polarmeer zu erreichen, wenn ich Zeit genug behielte, in das ewige Eis des Nordpols meinen Namen wie in Granit zu hauen, dann wollte ich gern sterben. Hundert Jahre – tausend Jahre nach mir käme vielleicht ein anderer dorthin und läse es, – ich wäre für die Jahrbücher der Geschichte unsterblich geworden.‹ Ich konnte die Begeisterung nur halb verstehen. Zehn Jahre jünger als er, liebte ich das Leben noch mehr als den Ruhm, und – das sah er vielleicht. ›Du sollst mich nicht begleiten, Wilhelm‹, sagte er, ›du gehst mit dem »Kong Frederik« nach Hause, und wäre es nur, um unseren Eltern wenigstens einen Sohn zu erhalten. Ich bekomme Leute genug, – die Kerle haben sämtlich vor dem Unglücksschiff, auf dem der Tod seine Ernte gehalten hat, einen heillosen Respekt. Sie verlassen es lieber heute als morgen; du gehst mit meinen Einfaltspinseln, die Angst haben zu verhungern, auf das dänische Schiff über.‹ Ich sprang beleidigt auf. ›Johannes‹, rief ich, ›das darfst du nicht verlangen, du darfst mich nicht feige oder unmännlich nennen! Ich bleibe, wo du bist, und teile dein Los.‹ Aber er schüttelte den Kopf. ›Ich will es nicht!‹ erklärte er. ›Du bist kein Seemann, Wilhelm, bist in die Musterrolle nicht eingeschrieben und noch nicht einmal mündig. Der Vater hat dich mir mitgegeben, um den Herrn Studenten ein wenig zahm zu machen, wie du weißt, also – kann ich Gehorsam verlangen.‹ Mein Blut begann zu kochen. ›War das im Ernst gesagt, das vom Gehorsam, Johannes?‹ fragte ich, zitternd vor Zorn. Sein Blick, sein Ton entwaffneten mich. ›Nein‹, sagte er, ›das Wort war schlecht gewählt, mein Junge. Aber du tust es mir zuliebe, ich weiß es.‹ Dagegen konnte ich nichts machen. ›Johannes‹, sagte ich, noch an einer letzten Hoffnung festhaltend, ›laß uns das Schicksal fragen und seine Stimme den Streit schlichten. In alten Zeiten wurde alles durch Gottesurteil entschieden, warum nicht auch jetzt noch?‹ Er lächelte. ›Also los,‹ antwortete er. ›Aber woher willst du das Orakel nehmen?‹ Ich lief rasch zu meiner Kiste und holte die Würfel hervor. ›Einfach genug, Johannes‹, rief ich. ›Wer weniger Augen wirft, der ergibt sich. Soll das gelten?‹ Mein Bruder nickte. ›Du bist leichtsinnig, Wilhelm‹, antwortete er ernst. ›Du willst einen Zufall über dein ganzes Lebensglück entscheiden lassen, anstatt der Vernunft zu folgen.‹ Aber ich hielt die Würfel schon in der Hand. ›Das ist jetzt gleich, Johannes, – soll es gelten?‹ Er beugte sich vor. ›Meinetwegen also. Wir wollen es als ein Gottesurteil nehmen! – Gib her die Würfel.‹ Ich reichte ihm die klappernden Dinger und verfolgte mit gespannter Aufmerksamkeit jede seiner Bewegungen. Wer hätte wohl gedacht, daß hier Leben und Tod an einem einzigen Auge hingen! – – Er ließ die Würfel fallen, so daß einer auf den Fußboden der Kajüte rollte. ›Nimm das Licht!‹ rief er hastig, ›sieh nach, aber laß die Augenzahl, die oben liegt, so bleiben, wie sie ist.‹ Ich nahm ein Streichholz und beleuchtete den Boden. ›Etwas abergläubisch bist du aber selbst, Johannes!‹ sagte ich, mit klopfendem Herzen den Würfel suchend. ›Aha, dort liegt er, und die Sechs ist geworfen. Wo liegt der andere?‹ ›Hier‹, antwortete er und hob die Hand hoch. ›Ich habe ihn festgehalten.‹ ›Auch sechs!‹ rief ich bestürzt, während er laut und fröhlich lachte. So war die Frage also zu meinen Ungunsten entschieden. Und dabei blieb es. Ich bereitete mich mit schwerem Herzen darauf vor, das Schiff zu verlassen und mit dem Dänen nach Europa zurückzukehren. Während der ganzen letzten Nacht gingen wir beide nicht zu Bett, mein Bruder und ich, sondern er schrieb Briefe an Eltern und Freunde, und wir besprachen noch vieles, das sich uns bei dieser ganz unvermuteten Trennung hoch oben im Eismeer plötzlich aufdrängte. Vorn im Matrosenlogis war es ebenso lebendig. Die Dänen vom anderen Schiff überboten sich in lauten Worten, und mehr als einmal hörte ich die Bemerkung, daß sie geradezu darauf gewartet hätten, eine Reise bis zum Polarmeer mitzumachen. ›Unser Volk hat lange vor Kolumbus Amerika entdeckt‹, hieß es, ›wir nannten es »Wiinland« und gründeten dort weite Königreiche. Die Dänen und Norweger sind die wahren Entdecker Amerikas, – warum sollten sie nicht den Weg zum Nordpol finden?‹ Und dann klangen die Gläser gegeneinander. Auf dem ›Kong Frederik‹ hatte sich alle Ordnung gelöst. Die Leute holten ohne zu fragen ein Fäßchen Rum herüber, und man zechte bis nach Mitternacht. Inzwischen hatte sich der Wind bedeutend verstärkt, es herrschte eine fast unerträgliche Kälte, und als der Tag anbrach, sahen wir in einiger Entfernung vor uns schwimmende Eisberge von so riesigen Ausmaßen, wie wir sie vorher noch nie gesehen hatten, sie sahen aus wie erstarrte Gebirge, wie Gletscher, die bis zum Himmel reichten. Zwei von ihnen, die beiden größten, trieben in einer Entfernung von etwa einer halben Meile nebeneinander her. Ich verstand von der Seefahrt damals noch nicht viel, aber diese beiden Ungetüme waren mir doch unheimlich. ›Johannes‹, sagte ich, ›ist das nicht gerade der Kurs, den du steuern wolltest? – Natürlich muß dein Plan jetzt fallen.‹ Aber er schüttelte den Kopf. ›Mein Plan fällt nicht, Wilhelm. Der Wind ist günstiger als je, – ich wage die Sache.‹ ›Johannes! – Du wolltest zwischen den Eisbergen hindurchsegeln?‹ ›Ja. Sie können mich auch im Atlantischen Ozean treffen, wenn es das Schicksal will. Hier heißt die Sache ein tollkühnes Wagestück, dort ist sie unvermeidlich und überfällt vielleicht den furchtsamsten Kapitän auf der kurzen Reise zwischen Hamburg und New York. – Ich will den Versuch wagen.‹ Wenn er in diesem Ton sprach, dann ließ sich mit ihm nichts machen, aber ich hoffte noch, daß sich die Mannschaft weigern würde, und als der Umzug der Leute beendet war, raunte ich unserem auf das dänische Schiff übergehenden Steuermann die Geschichte ins Ohr. Er erschrak offenbar sehr. ›Kapitän‹, hörte ich ihn sagen, ›die Sache geht schief. Das müssen Sie aufgeben.‹ ›Bei diesem Wind?‹ rief mein Bruder. ›Das tue ich niemals, Steuermann. Haben wir während der ganzen letzten Wochen solchen Wind gehabt?‹ ›Das nicht, Kapitän. Es ist in dieser Beziehung allerdings ein sehr günstiger Augenblick für die Weiterreise nach Norden, aber die Eisberge –‹ Johannes wandte sich plötzlich uns beiden zu. Sein Lieblingsgedanke beherrschte ihn vollständig. ›Und wenn ich bis zum jüngsten Tag zwischen diesen Eisblöcken kreuzen müßte, so gebe ich meinen Plan nicht auf!‹ rief er mit glühenden Augen. ›Ich will hindurch um jeden Preis!‹ Der Steuermann schwieg. Er reichte seinem bisherigen Vorgesetzten die Hand und wünschte ihm eine glückliche Fahrt. Dann ging er auf den ›Kong Frederik‹ hinüber, um das Kommando des Schiffes zu übernehmen. Ich mußte wider Willen folgen. Der Augenblick der Trennung ließ sich nicht länger hinausschieben, da das dänische Schiff aus Mangel an Lebensmitteln und Mannschaft so schnell wie möglich den Heimweg antreten wollte. ›Johannes‹, bat ich noch einmal, ›laß mich bei dir bleiben.‹ Aber er schob mich fort. ›Nein, nein, Junge, du machst mich nicht irre. Geh und grüße zu Hause die Eltern. Vielleicht komme ich ja glücklich und – berühmt zu euch zurück. Das Schiff ist mein Eigentum, die Leute folgen freiwillig, und außerdem hast du meinen Schwur gehört. – Ich kann und will nicht anders handeln. Behüt dich Gott, Wilhelm, und – nun geh.‹ Noch eine Umarmung, noch ein fester Händedruck, und dann wurden die Taue gelöst. Während der ›Kong Frederik‹ nur schwerfällig, beinahe kriechend gegen den immer stärker aufkommenden Wind zu kreuzen versuchte, flog meines Bruders unglückliches Schiff wie eine weiße Möwe über die Wogen. Es war eine schreckliche Stunde! – Von Minute zu Minute verstärkten sich die Windstöße. Die Eisberge taumelten und neigten sich wie Berauschte, sie stießen donnernd gegeneinander, sie trennten sich auf größere Entfernungen und drängten sich dann wieder ganz nahe zusammen. Meines Bruders Schiff war jetzt mitten zwischen ihnen. Es tanzte vor dem Wind, es gehorchte jeder Bewegung des Ruders, schien der drohenden Gefahr zu spotten. – ›Ein tolles Stück!‹ raunte der Steuermann. ›Ein halber Wahnsinn, aber – fünf Minuten solcher Fahrt bringen ihn hindurch.‹ Mir stockte der Herzschlag. Ich konnte kaum sprechen. ›Glauben Sie, daß es gelingt, Steuermann?‹ fragte ich. Ein erschreckter Ausruf von seinen Lippen antwortete mir. Er streckte nur die Hand aus. Zwei der schwimmenden Gebirge waren von rechts und links an das Schiff herangekommen. Wie eine Nußschale lag es zwischen den riesigen Eismassen auf dem Wasser, – nahe und näher rückten die eisenharten, spiegelglatten Wände – – ›Johannes!‹ rief ich unwillkürlich, obgleich er viel zu weit entfernt war, um meine Stimme zu hören,›Johannes!‹ – – Noch in diesem Augenblick sehe ich das Entsetzliche, als sei es gestern geschehen. Ein Windstoß trieb die Eisberge gegeneinander, ein Krachen wie von stürzenden Welten erschütterte die Luft, das Meer zischte und schlug hohe Wellen, dann – glitten die Massen zur Seite, spielend, als sei nun ihre furchtbare Aufgabe vollbracht. – Der Raum zwischen den beiden Eisriesen war leer, nur Trümmer und Splitter bedeckten die Oberfläche des Wassers. – – Der vermessene Schwur meines Bruders hatte sich wortgetreu erfüllt. Er kreuzt bis zum Jüngsten Tage zwischen den Eisbergen des Nordmeeres.« Der Kapitän hatte geendet, und sein Gesicht ließ erkennen, daß wenigstens diese traurige Geschichte nicht erfunden war. Alles schwieg, um die schmerzliche Erinnerung des Alten ungestört abklingen zu lassen, selbst Robert war stiller und etwas nüchterner geworden. – Mochte auch Kapitän Witt seit einer Reihe von Jahren schon ein Gewohnheitstrinker und Wirtshausgänger sein, – dies hatte er wirklich erlebt. »Das ist es«, nickte er schließlich »was ich von übereilten Schwüren sagen wollte. Sie tun niemals gut. Und nun, – auf Wiedersehen.« Er erhob sich und griff nach seinem Hut, um zu gehen, – Robert folgte ihm. »Kapitän«, bat er, »lassen Sie uns noch ein Stück zusammen gehen. Ich suche eine Heuer, und ich möchte noch etwas mit ihnen sprechen. Wissen Sie kein Schiff für mich?« Der Alte stand lächelnd still. »Geradewegs ins Eismeer hinein, nicht wahr?« »Ehrlich gesagt, ja. Ich habe mir die tropische Sonne auf den Kopf scheinen lassen und die ganze Pracht des Südens gesehen, – jetzt möchte ich den Nordpol kennenlernen. Ewiger Schnee, Gebirge von Eis, sie können niemals reizvoller erscheinen, als gerade dann, wenn man vorher das Gegenteil kennengelernt hat. Bin ich aus dem Eismeer zurück, so mache ich vielleicht eine Landreise, klettere auf die höchsten Gebirge und in die tiefsten Täler, oder –« »Ich komme von der sibirischen Küste nie zurück!« ergänzte trocken der Alte. »Möglich. Aber dann habe ich bis zuletzt gelebt, – was ich unter leben verstehe!« rief Robert. »Also, um die Sache kurz zu machen, Sie hätten gern eine Heuer als Leichtmatrose auf einem Walfischfahrer?« »Ja, Kapitän. Aber es soll schwer daran zu kommen sein, hörte ich.« Der Alte ging ein Stück weiter, ohne zu sprechen, dann legte er plötzlich die Hand schwer auf Roberts Schulter. »Junge«, sagte er, »wenn das nun alles ein verfluchter Schwindel wäre, wenn die Nordlandfahrer für Geld und gute Worte keine Besatzung zusammenfinden könnten, ja, und wenn Herr Hastedt ein ›Schlepper‹ wäre, ein ganz gemeiner Gauner, der an dir ein paar Dollar zu verdienen hofft, he? Was würdest du dann sagen?« Robert konnte zuerst vor Erstaunen kein Wort hervorbringen. »Das verstehe ich nicht«, antwortete er endlich. »Well, so will ich es dir auseinandersetzen, denn deine Jugend und Unerfahrenheit tut mir leid. Siehst du, kein Matrose heuert gern auf einem Grönlandfahrer an, weil die Strapazen der Reise doppelt so groß sind, weil, wenn ein Unglück geschieht, die Küste keinen Schutz bietet, weil sich die Gefahren häufen, Hunger und Frost das Schiff bedrohen und der Gewinn vielleicht ganz ausbleibt. Willst du jetzt immer noch auf Walfang gehen, Junge?« Robert kämpfte mit sich, ehe er antwortete. Also sein liebenswürdiger Landsmann, Herr Hastedt, hatte ihn gründlich hinters Licht geführt, und er war ihm wie ein dummer Junge ins Garn gelaufen? Alles Blut schoß ihm ins Gesicht, der Eigensinn packte ihn und hinderte ihn, ruhig nachzudenken. »Ich will trotzdem!« rief er. »Die Gefahren und Entbehrungen kann ich mir natürlich vorstellen, aber hochinteressant muß die Sache dennoch sein!« Der Alte nickte. »Das ist sie auf jeden Fall. Unvergleichlich, aber kein sicheres Geschäft, außer wenn das Glück besonders günstig ist. Dann allerdings regnet es Geld, da die Mannschaft außer ihrer Heuer von vier Dollar monatlich auch ein Sechstel des Reingewinnes zu beanspruchen hat. Im Durchschnitt wird aber der gewöhnliche Matrosenverdienst nicht überschritten, und dafür ist der Dienst an Bord sehr viel härter. – Jetzt überlege dir die Geschichte, du Tollkopf. Schlaf darauf, wie man in Deutschland sagt. Ich habe dir die Wahrheit gesagt, und was du tust, das tust du auf eigene Rechnung und Gefahr.« Robert schlug ein, als ihm der Kapitän die Hand bot. »Ich will es!« rief er. »Mein Entschluß steht fest. Aber vor allen Dingen gehört dazu ein Schiff, das nach Grönland fährt. Wissen Sie eins?« Der Kapitän deutete mit der Rechten auf den Hafen. »Alle diese schwarzen Schiffe mit der hohen Bordwand und den vielen Booten sind Grönlandfahrer«, sagte er. »Das dritte in der Reihe wird schon in wenigen Tagen die Reise nach dem Eismeer antreten; der Kapitän ist ein persönlicher Bekannter von mir. Jetzt aber will ich mit dem ganzen Plan nichts mehr zu schaffen haben, Junge. Du bist genau so, wie mein Bruder, und – ich mag dich nicht in den Tod schicken.« Robert errötete. »In den Tod?« wiederholte er. »Ja. Wenn früher in meiner Heimat Schleswig-Holstein die Männer auf Walfang gingen, dann wurde an jedem Sonntag von der Kanzel herab für sie gebetet. Jeder Name wurde genannt, für jeden sprach der Geistliche eine Fürbitte, – das überleg dir, junger Freund!« Er nickte und ging davon, ohne sich umzusehen. In ihm, dem tiefgesunkenen Helfershelfer eines »Schleppers« von Beruf, der für freie Zeche in den verachteten Lagerbierkneipen des Matrosenviertels von New York die Gäste unterhielt, – in ihm hatte das hübsche, offene Gesicht seines jungen Landsmannes doch soviel Ehrgefühl wieder erweckt, daß er wenigstens den Sündenlohn verschmähte. Wenn Robert jetzt in das Bierhaus und in Hastedts Gesellschaft zurückkehrte, so war er gewarnt und wußte, daß er seine Haut zu Markte trug. »Ein aufgeweckter, liebenswerter Bursche«, dachte er, »schade um das junge Blut, schade! – Ach, wer wieder siebzehn Jahre alt wäre! – Wer noch einmal von vorn anfangen könnte!« Und kopfschüttelnd lenkte er in den nächsten Keller, um für ein Beefsteak und ein Glas Grog sein Garn wieder weiterzuspinnen. Auf Walfang Auf Walfang Robert hatte seinen Rausch ausgeschlafen, aber keineswegs den abenteuerlichen Plan aufgegeben. Obgleich er genau wußte, daß es nicht klug war, sich so dem ungewissen Schicksal anzuvertrauen, konnte er doch seinem Drang nach neuen Erlebnissen nicht widerstehen. »Ich bin frei«, dachte er, »frei wie der Vogel in der Luft, niemand darf mir meinen Weg vorschreiben, niemand darf mir Gesetze geben, also warum soll ich nicht das tun, was mir am besten gefällt? – Ob ich einige Jahre früher oder später nach Pinneberg zurückkehre, ist im Grunde gleich. Erst will ich die Welt sehen.« Er ging zum Hafen hinab mit dem Vorsatz, sofort an das von dem alten Witt bezeichnete Schiff zu fahren und sich von dem Kapitän anheuern zu lassen, – da legte sich plötzlich von hinten eine Hand auf seine Schulter, und Herr Hastedt begrüßte ihn mit ausgesuchter Höflichkeit. »Freut mich, daß ich Sie wiedersehe!« sagte er. »Noch keine Heuer angenommen?« Roberts Plan war im Augenblick gemacht. »Warte«, dachte er, »dich will ich bezahlen, du Schuft. Ich könnte dich ja auf der Stelle durchprügeln, aber das wäre nicht empfindlich genug. Du sollst es verlernen, deine Landsleute zu betrügen.« Er wandte sich äußerst freundlich zu ihm. »Noch keine Heuer angenommen, Herr Hastedt! Ich hoffe immer noch, daß mir das Glück eine Fahrt ins Eismeer zuspielt.« Herr Hastedt bot ihm eine Zigarre an und sagte dann: »Ja, ja, nach Grönland, wo es Dollars regnet wie Schneeflocken. Ich glaube es Ihnen wohl, und – hm, ich hätte auch vielleicht etwas für Sie in Aussicht. Die Sache ging mir dauernd im Kopf herum, und da ich doch als Agent aller möglichen Geschäftshäuser fast die ganze Stadt kenne, so habe ich mich nach einer Heuer für Sie umgesehen. Ist Ihnen die Geschichte etwa fünf Dollar wert, dann können Sie als Leichtmatrose anmustern, – natürlich durch meine Vermittlung.« »Ach, das wäre ja herrlich!« rief Robert. »Was für ein Glück, daß wir uns begegneten.« »Sie wollen also die fünf Dollar daran wenden? – Natürlich nichts für mich, mir würde es nie einfallen, von Ihnen Geld zu nehmen, aber ein Bekannter, der solche Geschäfte betreibt, – wissen Sie!« Robert lächelte. »Mir ist die Heuer mehr als fünf Dollar wert«, sagte er, ohne auf die Frage direkt einzugehen. »Lassen Sie uns doch gleich den Geschäftsmann aufsuchen, Herr Hastedt.« »Well!« rief der. »Wir müssen uns auch so beeilen, da das Schiff zur Ausfahrt bereit liegt. Wenn Sie kein bares Geld mehr haben sollten, Herr Kroll, so kann die Bezahlung warten, bis Sie an Bord gehen. Es gibt dann fünf Dollar Handgeld.« Robert nickte. »Das paßt mir gut«, meinte er. »Für meine letzten paar Kröten muß ich unbedingt Wollzeug anschaffen. Wo wohnt denn der Mann?« »Oh, der ist schnell gefunden. Hier auf dem Kai. Kommen Sie nur mit mir.« Die beiden gingen in ein nahegelegenes Wirtshaus, wo wirklich der besagte Zwischenhändler bei einem Glas Grog die Zeitungen las. Er sah ziemlich schäbig aus und sprach ebenso gut deutsch, wie Robert selbst. Offenbar hatte er nur auf sie gewartet, das merkte Robert sofort. »Euch will ich die Suppe versalzen«, dachte er. »Wartet nur, ihr Gauner. Nur Geduld, die Strafe entgeht euch nicht.« Er ließ sich dem schäbigen Herrn vorstellen und hörte noch einiges über schlechte Geschäfte, riesigen Zulauf der Matrosen zu den Fahrten nach dem Eismeer und Ähnliches, dann erklärte Herr Hastedt, daß er jetzt gehen müsse, wünschte Robert nochmals Glück und verschwand, nachdem er noch mit dem anderen einige bezeichnende Blicke und Flüsterworte gewechselt hatte. Jetzt gingen die beiden Zurückgebliebenen zum Hafen, und Robert merkte, daß es das dritte Schiff war, wohin der Deutsch-Amerikaner die Jolle rudern ließ. »Also ganz geschäftsmäßig wird das betrieben«, dachte er. »Dieses Fahrzeug soll zuerst auslaufen, ihm werden also die ersten ›Dummen‹ zugeführt. Na – wartet!« Er kletterte gewandt an Bord und half dem ängstlichen Agenten, der sich mit beiden Händen an seine Jacke klammerte, lachend über die Schanzkleidung, dann sah er sich das Schiff an. Ein einziger Rundblick zeigte ihm größte Ordnung und mustergültige Sauberkeit; es war alles zweckmäßig eingerichtet, alles bestens erhalten und in gutem Zustand. Nur riesig hoch schienen ihm die Masten, – dort die Oberbramraa schwebte ja beinahe in den Wolken! »Gott, da hinauf zu müssen!« schüttelte sich der Agent. »Brr!« Robert lachte. Ihm hüpfte das Herz vor Freude, als er wieder ein Schiff unter den Füßen fühlte. »Wollen Sie einmal sehen, wie es gemacht wird?« rief er, – und im nächsten Augenblick flog er wie der Wind an den Tauen hinauf. »Ach, das ist der Mühe wert! – Kommen Sie mir doch nach, Sie glauben nicht, welche Aussicht man hier hat!« »Scheußlich! Scheußlich!« Der Mann schloß ängstlich die Augen, als sich Robert ziemlich rücksichtslos wieder herunterließ und gewandt auf die Fußspitzen sprang. »Aber wenn nun das Schiff schaukelt und auf der Seite liegt«, sagte er entsetzt, »wie machen Sie es dann?« Roberts Augen leuchteten. »Dann wird es erst herrlich,« rief er. »Wenn das Schiff schlingert und stampft, wenn der Sturm heult und der Regen die Augen blendet – dann hat die Sache erst ihren wahren Reiz!« »Gott behüte mich, – welch ein Übermut!« Inzwischen war der Obersteuermann an Deck gekommen und hatte sich den fixen, gutgewachsenen Jungen mit unverkennbarem Wohlwollen betrachtet. Solche Leute konnte man brauchen. Der Agent sprach leise mit ihm, während sich Robert, nachdem er die Mütze abgenommen hatte, zurückhielt und dann, als eine Art von Verhör begann, offen antwortete. Der Obersteuermann nickte sehr zufrieden. »Wie werden etwa zehn bis zwölf Monate auf See bleiben«, fuhr er fort. »Wollen Sie für die ganze Reise heuern, und zwar mit fünf Dollar Handgeld, vier Dollar Monatslohn und Teilhaberschaft an einem Sechstel vom Reingewinn, so schreiben sie Ihren Namen in diese Musterrolle. Das Geld gibt es beim Eintritt in den Dienst.« Robert spürte, wie ihm das Herz schlug. Es war, als werde er sich erst jetzt seines unüberlegten Streiches wirklich bewußt, als höre er, wie ihm Mohr zu flüsterte: »Tu's nicht, tu's nicht, – die Reue kommt nach.« Aber dann schwebte ihm wieder die verlockende Seite der Sache vor Augen. Nein, nein, er mußte auch das ewige Eis sehen, mußte wissen, was es heißt, wirkliche Kälte zu ertragen, nachdem ihm die Tropensonne fast das Hirn verbrannt hatte, als er fiebernd und todesmatt auf der Insel lag. – Er schrieb mit festen Zügen seinen Namen in das Register: Robert Eduard Kroll, Leichtmatrose. – So, jetzt rollte die Kugel, jetzt konnte er nicht mehr zurück und wollte es auch nicht. Er wollte die Welt sehen und etwas erleben. – Der Obersteuermann nahm die Musterrolle zurück und befahl dem neuen Leichtmatrosen, übermorgen früh um sieben Uhr an Bord zu sein. Dann war er entlassen. Der Agent kletterte wieder mit Ächzen und Seufzen das Fallreep hinab. Er schüttelte sich, als er auf der Hafenmauer stand und nach dem Segler zurückblickte. »Das Schiff heißt, ›Vogel Greif‹«, sagte er. »Aber ich möchte lieber auf dem festen Land ein Karrenschieber werden, bevor mich ein solcherVogel greifen dürfte! Doch die Neigungen sind ja verschieden, Herr Kroll, nicht wahr? Kann ich Ihnen bei Ihren Einkäufen noch behilflich sein, so verfügen Sie über mich.« Robert dankte. »Und vergessen Sie nicht, zur verabredeten Zeit an Bord zu sein.« Der schäbige Herr grüßte höflich. »Ich werde mich pünktlich einstellen!« Die beiden trennten sich, und Robert ging, um sich für das nordische Klima einzukleiden. Derbes Wollzeug, schwere Seestiefel und dick gefütterte Jacken, dazu Fausthandschuhe und wollene Strümpfe, alles wurde zusammengekauft und in der Seekiste geordnet, denn Robert gehörte bei allen seinen Fehlern doch durchaus nicht zu denen, die das Geld sinnlos ausgeben. Er war eigensinnig, leidenschaftlich und vielleicht auch etwas eitel, er liebte die Ordnung und achtete darauf, daß er immer sauber aussah. Jetzt empörte ihn die heimliche Schurkerei der beiden Deutsch-Amerikaner. »Die eigenen Landsleute, arme, unwissende Auswanderer zu verraten und zu verkaufen,« dachte er voll Entrüstung, »o pfui, wie schändlich! Aber wartet, Halunken, ich werde euch einen Denkzettel geben, an dem ihr länger als bis morgen zu kauen haben sollt!« Er bezahlte am Morgen des zur Abreise bestimmten Tages seine Rechnung beim Schlafbaas, nahm die Kiste auf die Schulter und ging froh zum Hafen hinunter. Jetzt begann das neue Leben. Nicht mehr Junge, nicht mehr mit du angeredet und von den älteren Matrosen gehänselt werden, nicht mehr die Arbeiten einer Scheuerfrau verrichten und vor allem die Aussicht auf Abenteuer! – Wer war glücklicher als er? – – An Bord sah er etwa fünfundzwanzig bis dreißig sehr verschiedene Gesichter, schwarze, braune, gelbe und weiße, darunter auch die halb ängstlichen, halb verlegenen mehrerer Auswanderer, die vielleicht von Beruf Schuster oder Schneider waren, sich aber durch die Versprechungen des Schleppers zum Walfang hatten überreden lassen. Eine Gruppe von ihnen stand flüsternd und scheu auf dem Vorderdeck. Erst wenn die ganze Mannschaft vollzählig und die Musterrolle verlesen war, gab es Handgeld, und erst dann konnte der widerwärtige Agent, der ganz abgesondert an der Schanzkleidung lehnte und alles scharf beobachtete, seinen Sündenlohn erhalten. Noch fehlten zwei Geworbene, wie Robert zufällig hörte, daher begrüßte er den Mann nur flüchtig und setzte sich auf seine Seekiste, um den Augenblick der Auszahlung zu erwarten. Als die beiden letzten Auswanderer, – arme Hessen, die von weinenden Frauen und Kindern bis an die Jolle begleitet wurden – das Deck betreten hatten, verlas der Obersteuermann die Musterrolle und gab dann jedem einzelnen das versprochene Handgeld. Robert sah die Farbigen und diejenigen, deren Äußeres befahrene Seeleute verriet, mit den empfangenen Dollarnoten zum Logis zurückkehren, – es waren nur die anderen, die dem Agenten das Geld als Maklergebühr zu zahlen hatten. Der Mann drängte sich jetzt schmunzelnd vor. Roberts Augen funkelten. Er trat dicht an den Deutsch-Amerikaner heran und zwang ihn mit festem Griff, ihm in eine entlegene Ecke zu folgen. »Sieh mich an, du Spitzbube«, sagte er leise, »hör zu, was ich dir jetzt zu sagen habe, und was du deinem würdigen Genossen, Herrn Hastedt, von mir bestellen kannst. Ihr seid beide ein paar Erzhalunken, die ihre in Not geratenen Landsleute in die Falle locken und an ein ungewisses Schicksal verkaufen wollten. Ihr spiegelt den armen, von Hunger und Elend getriebenen Menschen goldene Berge vor, während sie in Wirklichkeit das letzte verlieren und selbst ihre Gesundheit aufs Spiel setzen. Glaubt nicht, daß ihr mich getäuscht hättet! – Ich wollte aus anderen Gründen die Reise mitmachen, – aber die dort, die unglücklichen Auswanderer, das sind eure Opfer, ihr Teufel in Menschengestalt. Und jetzt antworte, du Schuft, willst du machen, daß du fortkommst, ohne auch nur einen einzigen Cent bekommen zu haben, oder willst du, daß ich laut meine Worte wiederhole? – Dann sei Gott deinem Rücken gnädig!« Der Agent stand käsebleich vor dem erregten jungen Menschen. »Herr Kroll«, sagte er, »ich weiß nicht! – Sie verlangen Dinge, die –« Robert ließ den Arm los. »Aha, du willst also nicht nachgeben? Du hoffst vielleicht auf den Beistand der Schiffsoffiziere? – Aber bei Gott, du sollst spüren, wie gern ich dir deinen Lohn auszahle. Ein Wort, und –« Der Agent antwortete kein Wort mehr, sondern verschwand so schnell, daß man staunen mußte, wie gewandt er diesmal das Fallreep hinabkletterte. Robert sah sein ziemlich gewagtes Spiel vollständig gelungen, er hatte wieder einmal einer Gefahr getrotzt und die Oberhand behalten, – er war mit Recht stolz darauf. Wenn der mit Kapitän und Obersteuermann unter einer Decke spielende Agent die Hilfe der beiden ernstlich angerufen hätte, so würde Robert nicht ohne Strafe davongekommen sein, aber er wußte und rechnete damit, daß der Makler im Bewußtsein seines Betrugs dazu nie den Mut finden würde, und so wagte er die Sache. Als der Agent in seiner Jolle so schnell davonfuhr, ohne sich auch nur noch ein einziges Mal umzusehen, wurden die andern aufmerksam, und endlich wurde Robert von allen Seiten gefragt, was er mit dem Mann verhandelt habe. Doch er hütete sich, die Wahrheit zu sagen, und überließ es den Leuten, sich ihr eigenes Bild zu machen. Nur eins begriff er nicht. Was wollte der Kapitän mit diesen Jammergestalten? Aber ihn kümmerte das nicht, besonders, da doch noch genug Matrosen an Bord zu sein schienen. Der Kapitän war noch an Land, konnte aber in jeder Minute eintreffen, und dann mußten die Anker gelichtet werden. Der kleine Schleppdampfer, der das Segelschiff aus dem Hafen bugsieren sollte, lag schon vorgespannt, und alles an Bord war zum Aufbruch gerüstet. Als der Kapitän endlich an Deck erschien, wurden die zum Auslaufen nötigen Vorbereitungen getroffen, und Robert konnte sich den Mann genau ansehen, obwohl Kapitän Wright keinen der Matrosen zu bemerken schien, sondern ohne Gruß oder Blick in die Kajüte ging und selbst mit dem Obersteuermann nur wenige Worte wechselte. Robert sah, daß der Offizier beinahe militärische Haltung einnahm und daß er wiederholt die Hand an die Mütze legte, – alles Dinge, die man auf der »Antje Marie« nicht gekannt hatte und die einen sehr strengen Vorgesetzten verrieten. Er sah auch ganz so aus, dieser hochgewachsene Amerikaner mit den breiten, muskulösen Schultern. Sein Gesicht war regelmäßig, aber kalt, seine Augen grau und scharfblickend, Haar und Bart fuchsrot. Wie bei so vielen Grönlandfahrern, gehörte auch in diesem Fall das Schiff nicht etwa einem Reeder, sondern dem Kapitän selbst, der vielleicht fremdes Geld darin stecken hatte, dem aber doch niemand Vorschriften für seine Reisen machen konnte. Thomas Wright war auf dem »Vogel Greif« wie auf einer Insel im Weltmeer der unumschränkte Herr und König. Bald nachdem er die Tür der Kajüte hinter sich geschlossen hatte, erschien auch der Lotse. Das Schiff erzitterte von Grund auf, legte ab und verließ fünf Minuten später den Hafen. Der Lotse gab dem Mann am Steuer seine Anweisungen für den richtigen Kurs im Kielwasser des Schleppers, sonst war die Mannschaft unbeschäftigt, bis der Befehl gegeben wurde, die Marssegel zu lösen. Robert als Leichtmatrose hatte mit mehreren andern die Oberbramsegel zu bedienen und war der erste oben in den Wanten, als das Kommando kam. Als er die ungewohnte Höhe erklettert hatte, glaubte er fast in den Wolken zu sein. Den Hafen und die Stadt mit ihren Türmen und gewaltigen Häusermassen sah er jetzt wie die Figuren eines Jahrmarktes und mußte schnell auf seine Bändsel blicken, um nicht vom Schwindel ergriffen zu werden. Nachdem alle Segel gelöst waren, konnten die Leute wieder eine Zeitlang im Logis bleiben, um ihre mitgebrachten Sachen zu verstauen und die erste Tagesmahlzeit in Empfang zu nehmen. Das war gegen die Verpflegung auf der »Antje Marie« ein erheblicher Unterschied, besonders, da es Zucker und Branntwein überhaupt nicht gab. – Die Auswanderer bedankten sich für alles, was sie bekamen, während die Seeleute große Augen machten und manches halblaute »damned« die zerflatternde Hoffnung auf einen tüchtigen Schluck Rum begleitete. Robert vermißte den Branntwein nicht als etwas, das er unbedingt brauchte, aber die unkluge Sparsamkeit des Kapitäns, die auf einen starrsinnigen, habsüchtigen Charakter schließen ließ, mißfiel ihm. Wer für eine Handvoll Dollar das herkömmliche Recht der Matrosen so verletzen konnte, der war bestimmt kein guter Mensch – und Robert haßte alles Unedle und Kleinliche. Während er die Koje, das Logis und die Kombüse besichtigte, hatte das Schiff bei Sandy Hook die Schlepptaue des Dampfers gelöst, und nun erscholl anDeck das Kommando des Lotsen: »Braßt voll, hinten!« – Robert tat wieder seine Pflicht; der Kurs wurde östlich genommen, und nach einer Stunde voller Fahrt bei allen Segeln tauchte in der Ferne der Lotsenschoner auf, der an dieser Stelle ununterbrochen kreuzt, um von den Schiffen, sobald das offene Fahrwasser erreicht ist, die Lotsen wieder an Bord zu nehmen. Der Obersteuermann benachrichtigte den Kapitän, der kurz darauf an Deck kam, um mit prüfendem Blick den Stand der Dinge zu mustern. Dann zog er die Brieftasche heraus und nahm einen Scheck, den er unterschrieb und dem Lotsen überreichte. »Eine Anweisung auf meinen Bankier in New York, Sir. Ich nehme nie bares Geld mit an Bord.« Der Lotse machte ein erstauntes Gesicht. »Kein bares Geld, Kapitän? Aber es können doch Fälle eintreten, wo man es unbedingt braucht. In fremden Häfen –« »Ich laufe keinen an, Sir.« Der Lotse zuckte die Achseln. »Well, Kapitän, Sie können natürlich tun, was Ihnen richtig erscheint. Ich würde mich lieber für alle Fälle rüsten, besonders bei einer Fahrt in das Eismeer. – Lassen Sie bitte das Schiff backlegen, Sir«, wandte er sich an den Obersteuermann. Inzwischen hatten die Schiffsjungen den Ölrock und die lederne Tasche des Lotsen in ein herabgelassenes Boot befördert, und der Kapitän ließ dem scheidenden Gast noch ein Glas Sherry bringen. Dann wurde das kleine Boot, nachdem es die kurze Entfernung bis zum Schoner zurückgelegt hatte, wieder eingeholt und der »Vogel Greif« setzte seine Reise fort. – – Es ging alles wie am Schnürchen, alles wie auf einem Kriegsschiff, das stellte Robert schon während der folgenden Tage fest. An Deck wurde kein lautes Gespräch und kein Gesang erlaubt, aber auch an den Mahlzeiten gegeizt, als seien Schiffsbrot und Speck die teuersten Dinge, und mit den Resten des vorigen Tages wurde die nächste Mahlzeit womöglich wieder eingeschränkt. Der Untersteuermann sah alles. »Morris«, sagte er bei einer Gelegenheit, »Ihr habt gestern Euer Fleisch nicht aufgegessen, und Ihr, Sheppard, ließt die Klöße stehen. Das geht nicht, – Ihr dürft das Eigentum des Kapitäns nicht verschwenden. Was übrig bleibt, das gebt dem Koch zurück!« Gegen solche Ansprüche erhoben sich manche halblauten Einwendungen. »Wenn Eure Klöße wirklich Klöße wären, so würde ich sie auch gegessen haben«, brummte Sheppard, »aber Mehl und Wasser tun es nicht allein, Sir, das gibt kleine Kanonenkugeln, weil kein Tröpfchen Fett in den Teig gekommen ist.« Der Untersteuermann schüttelte den Kopf. »Ihr seid ein sehr anspruchsvoller Bursche, Sheppard«, sagte er. »Wo sind denn die Klöße geblieben?« »Ja, da müßt Ihr die Haifische fragen, Sir!« Ein halbunterdrücktes Lachen folgte dieser Antwort. »Ich weiß, wo sie sind«, nickte Morris, – »bei meinem Fleisch, das zufällig ein Knochen war. Ich entschädige mich dafür durch Aufzählung aller Branntweinrationen, die uns seit Beginn der Reise vorenthalten worden sind.« Der Untersteuermann hielt es für besser, die Unterredung zum Abschluß zu bringen. Jeder Matrose fühlt sich durch schlechte Küche in seinen heiligsten Empfindungen verletzt, das wußte er und fürchtete mit Recht, daß ein verstärkter Druck vielleicht einen Ausbruch herbeiführen könnte. Wenn er aber auch für diesen Tag schwieg, so folgten doch viele Tage und viele ähnliche Auftritte. Es wurde bei bestem Wetter ständig Ost-Nord-Ost gesteuert, und Robert konnte nicht umhin, dem Kapitän das Zeugnis eines hervorragenden Seemanns zuzugestehen. Thomas Wright hielt seine Wache so gut wie der letzte Kajütenjunge, er ließ sich durch den Obersteuermann pünktlich alle vier Stunden wecken und machte persönlich eine Runde, um den Stand der Dinge bis ins kleinste hinein selbst zu beurteilen. Als man in die Nähe der Newfoundlandsbänke kam, schlief er nur für Augenblicke auf dem Sofa und ging dann an der gefährlichsten Stelle während der ganzen Nacht auf Deck von einer Seite zur anderen, um Ausschau zu halten. »So möchte ich werden!« dachte Robert. »Aber kein Leuteschinder; er ist ein Geizhals durch und durch.« Der unzufriedene Sheppard, der neben ihm auf seiner Kiste saß und vielleicht beim Anblick des rastlosen Kapitäns das gleiche dachte, stieß ihm mit dem Ellbogen in die Seite. »Du«, sagte er, »heuerst du zum zweitenmal auf dem ›Vogel Greif‹?« »Wieso? Ich fahre überhaupt auf keinem Schiff zum zweitenmal.« »Oho! – Das Meer sieht sich überall ähnlich, mein Junge, und vom Land kriegt man ja doch verdammt wenig zu sehen. Wo es gute ›Asche‹ setzt«, hier machte er die Fingerbewegung des Zählens – »da werfe ich Anker.« Robert ging auf die letzte Anspielung nicht ein. »Warum fragst du also?« sagte er. »Na – wegen der Verpflegung. Komm erst einmal in die Breiten, wo es fünfzehn Grad Kälte gibt, und dann mit leerem Magen und ohne einen Tropfen Rum, da wirst du die Geschichte schon unbequem finden.« Robert zuckte die Achseln. »Der Kapitän ißt, was wir bekommen«, antwortete er. »Es wird für ihn nichts anderes gekocht, also was willst du?« Aber der Amerikaner gab nicht nach. »Gerade das ist eine Schande«, sagte er. »Man muß seine Vorgesetzten auch achten können, wenn es gut gehen soll. Der aber würde immer nur Furcht erwecken, das heißt, mir nicht. Ich hielte ihm lieber heute als morgen meine Faust unter die Nase.« Robert lachte. »Lieber nicht, Kamerad. Er antwortet dir bestimmt mit Kettenarrest, darauf kannst du dich fest verlassen. Und vielleicht gibt's ja bald auch Branntwein.« »Den Teufel gibt es. Der ›Vogel Greif‹ behält keinen Mann länger als für die eine Reise, während der man ja nicht von Bord kann, nachher gehen alle. Es ist auf dem ganzen Schiff nicht einer, der vor der letzten Ausfahrt schon dagewesen wäre. Wie bist du eigentlich hierher geraten, wo doch meistens nur – –, du weißt schon, was ich meine.« Aber an Roberts erstauntem Gesicht sah er, daß der wirklich nicht wußte, worum es sich handelte. »Nun, nun«, fügte er rasch hinzu, »man hat ja verschiedene Gründe. Und du bist ja überhaupt noch zu jung, um schon einmal drüben gewesen zu sein.« »Wo drüben?« »Im Sing-Sing (das Zuchthaus des Staates New York)! Heutzutage heuert ja niemand, dessen Papiere ganz sauber sind, auf einem Grönlandfahrer. Aber wenn man einmal von den verdammten Tintenklecksern ins schwarze Buch geschrieben ist, dann ist es schwer, einen guten Kapitän zu finden.« Robert lachte, diesmal jedoch etwas gezwungen. »Nein«, rief er, »das waren wirklich nicht meine Gründe. Aber, – verzeih, ich will dich nicht beleidigen – aber bist denn du – – –?« Sheppard nickte. »Ja«, seufzte er, »leider. Aber ich bin kein Dieb oder Straßenräuber. Es ging nur einmal unglücklicherweise eine Pistole los, im Streit natürlich, – na, und die traf einen anderen vor die Stirn. So kommt es im Leben.« Robert bewahrte seine äußere Ruhe, obwohl ihm das Herz heftig schlug. Er war von den Bukaniern der westindischen Inseln schon einiges gewohnt, daher erschrak er nicht so sehr, trotzdem aber hatte er ein unangenehmes Gefühl. Neben ihm saß also wieder einmal ein Mörder, und vielleicht waren unter der übrigen Mannschaft noch mehrere, die auch keine bessere Vergangenheit hatten. Das Blut stieg ihm heiß zu Kopf. Wenn er das vorher gewußt hätte! »Nun«, fuhr Sheppard fort, »du bist mir auf meine erste Frage noch die Antwort schuldig. Wie bist du hierher gekommen?« Robert nahm sich gewaltsam zusammen. »Oh«, sagte er, »ich wollte die Welt kennenlernen, weiter nichts.« Der Amerikaner rückte näher. »Halten wir zusammen, du?« fragte er. »In allem, was recht ist, ja.« »Du bist ein Schlauberger!« lächelte Sheppard. »Aber ich meine auch nur das, was recht ist, verlaß dich darauf.« »Dann sind wir gute Kameraden.« Hier wurde die Unterhaltung von anderen unterbrochen, und es vergingen mehrere Tage, ohne daß Robert wieder mit dem Amerikaner sprach. Man hatte jetzt die gefährlichen Bänke hinter sich und segelte im nördlichen Atlantik. – Die Auswanderer mußten, da sie zum Seedienst untauglich waren, das Schiff scheuern, Kartoffeln schälen, Geräte reinigen und andere untergeordnete Arbeiten leisten, also blieben die Leichtmatrosen von diesen unangenehmen Dingen ganz verschont. Robert konnte manche freie Stunde dazu verwenden, einige gute Bücher, die ihm der Untersteuermann lieh, zu lesen und dadurch seine geistige Ausbildung fördern. Während die andern würfelten oder auf den Kapitän schimpften, vertiefte er sich in Werke über Länder- und Völkerkunde, oder er versuchte sein Matrosenenglisch durch grammatische Kenntnisse zu erweitern. Die Insel Jan Mayen war erreicht, Robert sah Scharen von Seehunden auf den Eisfeldern liegen und erwartete, daß jetzt eine aufregende Jagd beginnen müsse, aber der Kapitän erklärte, keine Seehunde fangen zu wollen. Die Leute sahen sich an. »Paßt auf«, raunte Sheppard, »er will bis nach Nowaja Semlja hinauf, um Wale zu fangen. Diese Fische sind jetzt so selten geworden, daß man bis an solche entlegenen Küsten vordringen muß, um sie zu treffen. Es wird gerade Tag geworden sein, wenn wir in der Eiswüste ankommen.« Mehrere andere, besonders die Auswanderer hörten bedenklich zu. »Gerade Tag, Sheppard, wie meinst du das?« Der Amerikaner lächelte ärgerlich. »Gerade so, wie ich es sagte, Jungens. Auf Nowaja Semlja herrscht von Oktober bis Anfang März ununterbrochene Nacht. In diesen Breiten kann kein Mensch leben, und das Innere der Insel ist so unbekannt und unerforscht, wie das Innere von Afrika.« Die biederen Schuster und Schneider schüttelten sich vor Angst. »Jesus«, fragte einer, »ist es denn auf dem Meer auch Nacht?« Gelächter der Seeleute antwortete ihm. »Nun«, tröstete Sheppard, »es wird ja Mitte März werden, bis wir frühestens da oben angelangt sind, wenn – – –« hier machte er eine Kunstpause und sah langsam von einem zum andern, »wenn wir uns überhaupt damit einverstanden erklären, daß das Schiff so weit gegen die Eisgrenze vordringt.« Robert antwortete mit einem bedeutsamen Wink. »Sheppard«, sagte er, »überleg dir deine Worte, Mann.« Der Amerikaner zuckte die Achseln. »Ich meine nur so, Robert«, sagte er. »Wenn alle so dächten wie ich, dann würde bei Jan Mayen der Seehund gejagt, und nicht bei solcher Verpflegung, wie wir sie bekommen, blindlings auf die Eisgrenze losgesteuert.« Mehrere andere umdrängten ihn. »Was meinst du damit, Sheppard?« fragten sie. »Gibt es denn eine Grenze, wo das Wasser aufhört flüssig zu sein, wo, wie man so sagt, die Welt mit Brettern vernagelt ist?« Sheppard nickte. »Ich bin 1864 mit Nordenskjöld dort oben gewesen«, sagte er, »und weiß Bescheid. Da müßt ihr euch außerhalb des heizbaren Raumes das Getränk so in den Mund schütten, daß eure Lippen von dem Gefäß nicht berührt werden. Die Kälte ist so stark, daß das Metall die Haut zu verbrennen scheint.« »O Gott! – Davon hat in New York der Agent keine Silbe gesagt.« Der Amerikaner lachte spöttisch. »Das glaube ich euch, Leute. Würde auch verdammt schlecht als Empfehlung gepaßt haben, meine ich.« Robert schwieg. Er hatte über die Erlebnisse verschiedener Forscher zu viel gelesen, um nicht zu wissen, daß Sheppard die Wahrheit sprach, aber einerseits schreckte ihn der Gedanke an bevorstehende Strapazen nicht besonders zurück, und zum andern hielt er es nicht für richtig, die Stimmung der Leute so zu beeinflussen. Doch Sheppard gab nicht nach. »Wenn wir nur ganz einig wären«, fuhr er fort, »dann ließe sich die Sache so leicht machen. Man erklärt dem Kapitän ganz höflich, daß er entweder umkehren oder die ganze Arbeit allein machen müsse. So wird ihm die Wahl sehr vereinfacht, sollte ich meinen!« Robert sah in Sheppards erregtes Gesicht. »Das ist die eine Seite der Sache«, sagte er möglichst unbefangen, »aber es gibt auch noch eine zweite. Wenn wir das Pech hätten, einem amerikanischen Kriegsschiff zu begegnen, so könnte es uns passieren, daß wir sämtlich mit einer Kanonenkugel unter den Füßen an die Raa gehängt würden. Hast du daran auch gedacht, Kamerad?« »Pah, ein Kriegsschiff kommt nicht hierher. Und außerdem, sterben müssen wir doch, wenn bei Nowaja Semlja ohne Branntwein gejagt werden soll. Ich will lieber an der Unterraa hängen, als verhungern und erfrieren.« »Ich auch!« antworteten mehrere Stimmen. »Hört«, meinte Morris, nachdem eine drückende Pause vergangen war, »ich hätte euch etwas Vernünftiges vorzuschlagen. Sagt aber vorher eins! Weiß jemand, ob auch wirklich Branntwein an Bord ist? Denn sonst helfen ja alle Worte nichts.« Wenigstens zehn bis zwölf Männer riefen einstimmig: »Es ist genug da! Wir haben mehrere Fässer voll gesehen.« »Well«, nickte Morris, »dann schickt in aller Güte eine Abordnung zum Kapitän und laßt ihn um eine kleine tägliche Ration bitten. Wir werden ja daraus sehen, wie er denkt.« Sheppard kräuselte spöttisch die Lippen. »Versucht es«, antwortete er kurz. »Beugt den Nacken, und er wird ohne zu zögern darauf treten. Übrigens – wer wollte denn zu ihm gehen und um etwas bitten?« »Ich!« – »Und ich!« – »Wir auch!« kam es von allen Seiten. Sheppard kreuzte die Arme. »Zu dem rothaarigen Judas? ›Hütet euch vor den Gezeichneten‹, steht in der Bibel!« Roberts Blicke gingen wieder zu dem Matrosen. »Sheppard, kannst du im Ernst so ungerecht sein, einen Mann um der Farbe seines Haares willen als schlechten Menschen hinzustellen?« Sheppard lachte. »Die Bibel sagt es ja, nicht ich«, antwortete er. »Übrigens scheinst du als Seemann deinen Beruf ein wenig verfehlt zu haben, mein Kleiner. Hättest lieber ein Geistlicher werden sollen. Der Reverend Kroll hätte bestimmt auf seine Zuhörer einen gewaltigen Eindruck gemacht.« Robert errötete, aber er blieb ruhig. »Das ist möglich, Sheppard. Mir war aber das Seemannsleben doch lieber, besonders weil ich – seine Gefahren und Entbehrungen nicht so hoch bewerte. Nehmt mich gefälligst aus, wenn ihr im Namen der Mannschaft um Rum bittet.« Die Augen des Amerikaners blitzten. »Du bist wirklich für deine siebzehn Jahre ziemlich vorlaut«, sagte er. »Aber warte doch ein wenig, bis du das letzte Wort sprichst. Ich habe noch eine Trumpfkarte auszuspielen, die auch dich stutzig machen wird, mein Junge.« Robert bewahrte seine kühle Haltung. »Meinetwegen, Sheppard«, sagte er. Der Matrose sah von einem zum andern. Er schien sich an der angstvollen Spannung der Gesichter heimlich zu freuen. »Hört also«, begann er, »daß uns etwas Furchtbares droht! – Im Logis liegt einer der Männer krank und elend in seiner Koje, – er hat Skorbut!« Sheppard sprach halblaut und machte lange Pausen zwischen seinen Worten, um ihre Wirkung zu erhöhen. Keiner wagte eine Silbe zu sprechen. Jeder fühlte zentnerschwer das Gewicht des Gesagten, mehr als einer wurde bleich bis in die Lippen. »Steckt das an?« fragte endlich zaghaft einer der Auswanderer. »Wie die Pest!« antwortete Sheppard. »Voraussichtlich wird kein Mann auf dem ganzen Schiff verschont bleiben, und warum das? – Weil der Kapitän mit Branntwein, Zucker und Sauerkraut an uns gespart hat, weil er uns zwingt, in unmenschlicher Kälte zu leben. Dadurch kommt der Skorbut, und wir müssen umkehren, ehe es zu spät ist.« Man sah jetzt, wie die Aufregung stieg. Einzelne Gruppen flüsterten, und das Für und Wider wurde lebhaft erwogen. »Aber wenn er nicht will, wenn er durchaus nicht will?« fragten die Zaghaftesten. »Er muß, wenn wir wollen!« »Der verfluchte Agent!« hieß es jetzt. »Der Betrüger, der uns ins Unglück gestürzt hat. Kanntest du ihn, Robert? – Du sprachst bei der Abreise so eifrig mit ihm, daß er darüber ganz vergaß, die Maklergebühr von uns zu fordern.« Robert lächelte. »Ja«, sagte er gedehnt, »das vergaß er, – vielleicht, weil ich es so wollte. Ich fand es schon schlimm genug, daß er euch auf einen Grönlandfahrer gelockt hatte und fand, daß er dafür keine besondere Belohnung mehr brauchte.« Sheppard hatte erstaunt zugehört. Jetzt schlug er derb auf Roberts Schulter. »Das war brav von dir, Junge«, sagte er lebhaft. »Wie fingst du das an?« »Nun – ich versprach ihm eine Tracht Prügel. Das ist sehr einfach.« »Teufelskerl!« lachte der Amerikaner. »Und wer solche Haare auf den Zähnen hat, wie du, der will sich gegen seine Kameraden mit einem Leuteschinder von Kapitän verbünden?« »Durchaus nicht. Aber ich finde, daß Männer den Entbehrungen widerstehen müßten, daß ihr nur des vernachlässigten Magens wegen nicht klein werden dürftet. Hat einer von der Mannschaft den Skorbut, so ist das schlimm, aber die Behauptung, daß wir alle ihn bekommen, scheint mir ziemlich gewagt.« »Das ist sie nicht. Die Krankheit steckt an, sage ich euch!« Robert schüttelte den Kopf. Er ging, ohne ein weiteres Wort hinzuzufügen, an die Koje des Kranken und fragte ihn freundlich, ob er etwas für ihn tun könne, aber der Arme hörte ihn kaum. »Etwas Säuerliches«, flüsterte er halb verständlich, »etwas Säuerliches zu trinken.« Roberts gutes Herz empörte sich in diesem Augenblick gegen die Härte des Kapitäns vielleicht noch mehr, als es bei den andern der Fall gewesen war. Alle anderen dachten an sich selbst, er dagegen hatte nur den hilflosen Kranken im Auge. »Ich will sehen, was ich machen kann!« tröstete er und blieb dann überlegend vor der Tür des Logis stehen. Eine schneidende Kälte fuhr ihm entgegen, der Schnee wirbelte um seinen Kopf, und der Atem stockte ihm fast in der Kehle. Wie Eisbären, beschneit und von oben bis unten in ihre Jacken geknöpft, sahen die wachthabenden Matrosen aus. Robert blickte über das Schiff weg zur Tür der Kajüte. »Ob ich geradewegs zu ihm gehe und ihm die Sache vortrage?« dachte er. »Ich darf es eigentlich nicht, es ist gegen alle Schiffsgesetze, aber wenn noch ein Funke von Menschlichkeit zurückgeblieben ist, so muß er den Kranken besser verpflegen.« Der Obersteuermann, der gerade Wache hatte, ging in diesem Augenblick nahe an Robert vorüber. Robert berührte leicht mit der Hand die Mütze. »Herr Obersteuermann,« fragte er, »wissen Sie, daß einer der Matrosen krank ist?« Der Offizier runzelte die Stirn. »Ja«, sagte er kurz. »Und was kümmert das Euch, wenn man fragen darf?« »Alles, Herr Obersteuermann. Für den Kranken wie für die gesamte Besatzung des Schiffes. Der Matrose hat Skorbut.« Mr. Pikes, der Obersteuermann, sah flüchtig hinüber zur Kajüte, als fürchte er, daß möglicherweise drinnen das schlimme Wort gehört sein könne. »Still!« raunte er in barschem, befehlendem Ton. »Wohinein mischt Ihr Euch? – Das ist kein Skorbut, und der Kranke ist nur einer dieser faulen hessischen Brotfresser, die der Kapitän umsonst füttert, bis später die gefangenen Fische zerhackt und ausgebraten werden. Für diese Weiberarbeiten bekommt die Bande den vollen Matrosenlohn, und dann reißt sie noch das unverschämte Maul weit auf. Kümmert Euch nicht um den Mann, Kroll, ich rate Euch gut.« Aber Robert schüttelte den Kopf. Sein alter Trotz brach wieder durch. »Herr Obersteuermann«, antwortete er, »das ist gleich, wer von der Mannschaft erkrankt. Keiner darf ohne Pflege bleiben. Wollen Sie den Kapitän bitten, sich der Sache anzunehmen? Weiß er überhaupt, daß der Skorbut ausgebrochen ist?« Mr. Pikes stampfte mit dem Fuß auf. »Woher wißt Ihr das?« rief er. »Von Sheppard, der diese Krankheit zu kennen behauptet. Ich selbst war eben noch bei dem unglücklichen Menschen. Es wird doch an Bord eine Apotheke sein?« Mr. Pikes antwortete darauf nicht. »Geht ins Logis, Kroll«, sagte er. »Das ist alles meine Sache, nicht aber Eure.« »Sie wollen also dem Kapitän keine Mitteilung machen, Herr Obersteuermann? Dann geschieht es von anderer Seite, verlassen Sie sich darauf.« »Ah! – Drohungen?« »Nein. Aber ich will Sheppard und den andern das sagen, was ich eben von Ihnen hörte, Mr. Pikes. Dann geht eine Abordnung der Matrosen zum Kapitän und vertritt bei ihm die Sache des kranken Kameraden. Ich hoffe, daß Sie hierin keinen Verstoß gegen die Schiffsgesetze sehen.« Der Obersteuermann, ein Amerikaner vom gleichen harten Holz wie der Kapitän, – der Obersteuermann sah mit aufeinandergepreßten Lippen in das frische Gesicht des hochaufgeschossenen Matrosen. Er hatte mit dem geübten Blick langjähriger Erfahrung schon längst den Stand der Dinge erkannt und wußte, daß ein einziges Fünkchen genügte, um das Pulverfaß in die Luft zu sprengen. Er selbst mußte auf der Seite des Kapitäns stehen und schien nicht daran zu zweifeln, wer die Oberhand behalten würde. »Sprecht nicht von Skorbut!« sagte er leichthin. »Der Kranke wird natürlich in Behandlung genommen werden, aber wozu gleich Lärm schlagen? Ich will den Kapitän benachrichtigen.« Robert griff wieder an seine Mütze, und der Obersteuermann sah ihm, als er in das Logis zurückging, böse nach. »Was bis jetzt auf allen Schiffen gelungen ist«, dachte er grimmig, »das mußte gerade hier fehlschlagen. Es war mir unmöglich, unter den Matrosen verschiedene Parteien zu bilden, ich konnte keinen einzigen auf meine, das heißt auf die Seite des Kapitäns bringen. Aber weshalb entzieht er auch den Kerlen das letzte, warum knausert er um ein paar Dollar für Grog? – Verdammt, daß ich ihm jetzt die Geschichte melden muß.« Er zögerte noch so lange wie möglich und ging erst, nachdem seine Wache abgelaufen war, zum Kapitän in die Kajüte. Dort sagte er, daß sich einer der Auswanderer krank gemeldet habe. Thomas Wright blickte auf. »Was ist es, Mr. Pikes?« Der zuckte die Achseln. »Kommen Sie selbst herüber, Herr Kapitän. Faulheit scheint es nicht zu sein. Der Mann hat volles Bewußtsein, aber die Lippen sind blau, das Gesicht leichenblaß und die Augen eingesunken. Er klagt über Gliederreißen.« Der Kapitän zog die Mundwinkel herab. »Es ist gut«, sagte er rasch. »Ich komme.« Und fünf Minuten später erschien er im Logis, wo ihn ein unheimliches Schweigen empfing. Der Obersteuermann begleitete seinen Vorgesetzten und führte ihn an die Koje des Kranken. »Hier, Herr Kapitän. Der Mann ist offenbar leidend.« Thomas Wright beugte sich über den Unglücklichen und untersuchte sorgfältig dessen Zahnfleisch. Mit einem leisen »damned« richtete er sich wieder auf. »Es soll sofort im Raum zwischen den Fässern ein Lager zurechtgemacht werden«, befahl er, »und dorthin bringt ihr den Kranken mit dem nötigen Bettzeug. Der Koch soll ihm Pflaumen so zubereiten, daß er sie trinken kann, außerdem muß ihm der Mund dreimal täglich mit Löffelkrautspiritus ausgewaschen werden. Macht, daß ihr hinunterkommt, und friert den Kranken, so legt eine Wärmflasche an seine Füße. Das ganze Logis wird sofort mit Karbolessig gescheuert.« Er sprach die Worte in festem, befehlendem Ton, er war so vollständig der Herr der Lage, daß niemand daran dachte, sich dieser grausamen Anordnung zu widersetzen. Begleitet von einem »Zu Befehl, Herr Kapitän« – des Obersteuermanns, verließ er das Logis. Der Kranke kümmerte sich um nichts. Leise wimmernd lag er da. Sheppard war der erste, der wieder Worte fand. »Habt ihr nun den Beweis?« raunte er. »Es ist Skorbut, und der arme Teufel soll da hinunter in die Eisluft, um so schnell wie möglich zu – sterben.« »Nun, nun«, begütigte ein anderer. »So schlimm braucht man es ja nicht gleich zu sehen. Es geschieht, um uns zu schützen.« Sheppard zuckte die Achseln. »In drei Tagen haben wir einen Toten«, sagte er. »Bis dahin aber werden noch mehr Leute erkrankt sein, paßt nur auf, was ich sage. Wer zwanzig Jahre lang zur See gefahren ist, der kennt die Geschichte.« Morris spuckte grimmig den Kautabak auf den Fußboden. »Ist es nicht schändlich«, flüsterte er, »daß der Kapitän mit Gewalt Walfische jagen will? Alle diese Eisinseln, an denen wir vorüberkommen, sind voll von Walrossen, die Seehunde gar nicht zu zählen, – aber nein, der Kapitän hat es nur auf Walfische abgesehen.« »Ich weiß weshalb«, fuhr Sheppard fort. »Dies ist seine letzte Reise. Er will dann den ›Vogel Greif‹ verkaufen und in New York Häuserspekulant werden. Vorher aber will er noch einen guten Fang von Spermfischen machen. Diese Tiere liefern ja den teuern Walrat für Kirchenlichter, also ist eine Ladung davon ein kleines Vermögen für sich allein. Daß wir darunter leiden, den geizigen Kapitän reich zu machen, daß vielleicht mehrere von uns dabei drauf gehen, – was fragt er danach?« Inzwischen hatten mehrere Matrosen den Kranken aufgenommen, in Wolldecken gehüllt und hinuntergetragen in den Raum, wo er auf altem Segeltuch gebettet wurde. Die Luft war hier schrecklich. Über einer Ladung von Ballast lagen die für den Tran bestimmten Fässer, die einen so abscheulichen Geruch ausströmten, daß es fast unmöglich war, in ihrer Nähe zu atmen. Dazu kam die Kälte des ungeschützten, unter der Oberfläche des Wassers liegenden Raumes, die feuchte, drückende Luft und die ständige Dunkelheit, die durch keinen Tageslichtschimmer erhellt wurde. Hier gesund zu werden, schien ganz unmöglich. Nachdem der Umzug des Kranken beendet war, mußten die Auswanderer das Volkslogis von oben bis unten reinigen. Die Matrosen von der Freiwache halfen unaufgefordert mit, und es schien fast, als ob die Ruhe wieder einigermaßen hergestellt sei, da brachte ein Zwischenfall neuen Zündstoff. Einer der Auswanderer wollte die Luke öffnen und zu seinem kranken Gefährten in den Raum hinabklettern, um nach ihm zu sehen, aber der Obersteuermann vertrat ihm rasch den Weg »Niemand darf hinunter!« befahl er. »Der Kapitän hat es verboten.« Der Mann wagte keinen Widerspruch, aber die Sache wirkte auf die Leute sehr entmutigend, und Sheppard nahm die Gelegenheit wahr, das Feuer zu schüren. »Der da unten krepiert wie ein Hund«, sagte er, »und nach ihm kommen andere. Vielleicht wandern wir alle in den Raum hinab, um dann in ein paar Tagen den Haifischen vorgesetzt zu werden. Ihr wollt es ja nicht besser haben.« »Es ist zu gewagt!« meinten einige. »Wir haben heute den letzten Tag im Februar«, sagten andere, »in wenigen Tagen muß ja unser Ziel erreicht sein, in jedem Augenblick kann sich die erste Walfischherde zeigen, – warum sollen wir also in zwölfter Stunde noch ein Wagnis unternehmen?« Dabei blieb es, und die Leute taten nach wie vor ihre Arbeit, aber unter drückendem Schweigen, das der Kapitän offenbar sehr wohl bemerkte. Er hatte gewiß seine bestimmten Gründe, als er befahl, die Harpunen hervorzuholen, instand zu setzen und Leinen daran zu befestigen. Ebenso ließ er größere Stücke Fleisch kochen und mit Schiffsbrot und Wasser in Körbe packen, damit alles bereit sei, die Boote zu besteigen, wenn sich ein Walfisch zeigen sollte. Es kam aber keiner. Walrosse und Pinguine auf allen Eisschollen, träge Seehunde, die sich im kümmerlichen Sonnenschein ausruhten, Eisbären, die ihre furchtbaren Pranken gegen das Schiff erhoben, weiße Füchse und Robben, alles war zahlreich vertreten, aber weit und breit von Walfischen nichts zu sehen. – Der Kranke im Raum mußte noch leben, da keine Bestattung angeordnet war, aber keiner seiner Gefährten hörte etwas von ihm. In aller Stille waren noch drei weitere Männer hinuntergeschafft worden, und zwei andere klagten heimlich über Gliederschmerzen, aber sie flehten die übrigen an, davon dem Obersteuermann nichts zu sagen, das schreckliche Gefängnis unter Deck war ja schlimmer als selbst der Tod. Am Abend des vierten Tages ließ der Kapitän sämtliche Harpunen in seine Kajüte bringen. Er selbst, der Obersteuermann und die beiden Untersteuerleute standen vielleicht nicht ganz zufällig dicht nebeneinander, als der Befehl gegeben wurde, zwei Stücke Segeltuch sowie zwei Trossen Bindgarn bereit zu halten und an zwei Brettern kleine Säcke mit Steinkohlen zu befestigen. Totenstille folgte den Worten. Sheppard streckte verstohlen zwei Finger aus. »Zwei Leichen!« sagten seine Augen. Und jeder hatte ihn verstanden. Der Befehl mußte lauter und nachdrücklicher wiederholt werden, bevor er befolgt wurde. Es war ganz klare, heitere Luft, natürlich unter schneidender Kälte, da man sich dem 75. Grad nördlicher Breite nahe befand. Riesige Eisschollen dehnten sich rechts und links, Eisberge segelten in majestätischer Pracht nickend und winkend von fernher vorüber, eine blutrote Sonne, Kälte verheißend und machtlos, sank gegen den Horizont herab, fast gänzliche Windstille lag über der eingefrorenen Welt. Der Obersteuermann befahl vier Matrosen, in den Raum hinabzusteigen und die Leichen, in ihre Decken gehüllt, heraufzutragen. Als jedoch die Luken geöffnet wurden, ertönten aus dem Innern des Schiffes schwache, wimmernde Laute, die einen Stein hätten, rühren müssen. Die unglücklichen Kranken baten um Gottes willen, sie in freier Luft, unter Menschen und wie Menschen sterben zu lassen, aber nicht in dem gräßlichen, lichtlosen, von solcher Pestluft erfüllten Raum. »Erbarmen! Erbarmen!« jammerte es. »Um Gottes willen, Erbarmen!« Wie ein Mann drangen die Matrosen bis zur großen Luke vor. Ohne eine Frage, eine Erklärung wollten sie die sterbenden Menschen an Deck bringen, – da ertönte die Stimme des Kapitäns. »Die Kranken bleiben im Raum! – Holt die Leichen!« Ein Schrei der Entrüstung antwortete ihm. »Das ist Barbarei!« rief Sheppard. »Auf, Jungens, das läßt sich kein redlicher Mann. gefallen!« Der Kapitän hatte sich blitzschnell zur Kajüte gewandt und stand dann vor dem ganzen erbitterten Haufen seiner Leute, ehe noch einer Zeit fand, sich zu entschließen. In der Rechten hielt er die blitzende Harpune. »Der erste, der ohne meinen Befehl in den Raum hinabsteigt, hat das Eisen im Leibe!« sagte er so kaltblütig, als habe er die gleichgültigste Maßnahme angeordnet. »Vier Mann vor! Ihr da und ihr!« Er bezeichnete die Männer, welche die Toten heraufschaffen sollten, mit ausgestreckter Hand. »Beeilt euch!« fügte er hinzu. »Erbarmen, Erbarmen!« wimmerte es unten. »Gott im Himmel, vergib uns unsere Sünden, erlöse uns vom Übel!« – Robert drängte sich vor. Sein Gesicht war leichenblaß. »Herr Kapitän«, rief er außer sich, »Sie versuchen Gott!« Sheppard jauchzte. »Hast du endlich genug, Kamerad? – Auf, laßt uns die Kranken heraufholen, selbst wenn dafür einer von uns harpuniert werden sollte wie ein Tier. Dann wird der Mörder von den übrigen in Stücke zerrissen.« Wilde Blicke und wilde Rufe antworteten von allen Seiten. »Herr Kapitän«, rief Robert, »Sie haben mir gedroht; und ich werde der erste sein, der hinabsteigt. Ich setze mein Leben ein für meine gerechte Überzeugung!« Er betrat die Leiter und kletterte in den Raum, während Thomas Wright, rasend vor Zorn, die schreckliche Waffe durch die Luft schleuderte. Das alles geschah innerhalb weniger Minuten. Sheppard, der ununterbrochen die Bewegungen des Kapitäns verfolgt hatte, hob im gleichen Augenblick, als die Waffe geschleudert wurde, eine Stange, die er schon vorher ergriffen hatte, und die Harpune, kräftig getroffen, flog wie vom Bogen geschnellt durch das Takelwerk und weit hinaus in das stille, eisglitzernde Wasser. Ebenso schnell hatten drei oder vier Matrosen vor der Tür der Kajüte Posten gefaßt. Der Kapitän und seine Getreuen hatten nur die Wahl, entweder ihre Sache verloren zu geben oder sich mit der Mannschaft in einen Faustkampf einzulassen. Es war Mr. Pikes, der Obersteuermann, der den schäumenden Kapitän an beiden Schultern ergriff und ihn hinderte, sich auf Sheppard zu stürzen. »Ruhig, um Gottes willen, ruhig!« mahnte er. »Noch ist kein Verbrechen geschehen, noch läßt sich alles in Güte ausgleichen. Herr Kapitän, lassen Sie die Leute, damit erst die Leichenbestattung vor sich gehen kann. Wollen wir denn unsere toten Kameraden ohne alle Feierlichkeit über Bord werfen?« Sheppard lachte. »Die Harpunen heraus, oder wir weichen keinen Schritt.« »Holt sie!« befahl Mr. Pikes, der für den halb besinnunglosen Kapitän eintrat. »Dann aber gebt Ruhe.« Sheppard und Morris betraten die Kajüte, um die schweren Wurfgeschosse in das Mannschaftslogis hinüberzubringen. Sie nahmen auch die beiden Revolver des Kapitäns an sich. Als die beiden Männer das Deck betraten, sahen sie, wie Robert mit mehreren andern die Kranken heraufschaffte. Beide lagen im Sterben, aber sie dankten dennoch durch rührende Blicke und halblaute Worte ihren Helfern. Inzwischen waren auch die Toten eingehüllt und auf ihrem letzten, mit einer Last von Kohlen beschwerten Lager befestigt worden. »Herr Obersteuermann«, sagte Sheppard ruhig, »wollen Sie das Schiff beilegen lassen?« Mr. Pikes antwortete ihm keine Silbe. Er redete dem Kapitän zu, sich mit Fassung in das Unabänderliche zu fügen und scheinbar nachzugeben. »Über kurz oder lang bietet sich die Gelegenheit zu einem Handstreich!« fügte er flüsternd hinzu, »wir lassen dann die Rädelsführer in Eisen legen und haben gewonnenes Spiel. Gehen Sie jetzt in die Kajüte.« Thomas Wright schien das einzusehen, oder er war vielleicht vor Zorn unfähig sich zu fassen, jedenfalls gehorchte er wie ein Kind, und nachdem er sich entfernt hatte, gab der Obersteuermann die erforderlichen Befehle, das Schiff beizulegen. Als der »Vogel Greif« mit weitausgespannten Flügeln wie eine Möwe auf dem Wasser lag, regungslos und von den Sonnenstrahlen rosig überhaucht, da traten alle diese wetterharten Männer, diese rauhen und zügellosen Burschen still und ernst an die Bordwand. Heute wurden zwei Männer aus ihrer Mitte dem Meer überliefert, – nach wenigen Stunden sollten ihnen zwei weitere folgen, und vielleicht stand in kürzester Frist auch ihnen das gleiche Schicksal bevor. Niemand konnte voraussehen, wie bald ihn die Seuche befallen und dem Tode in die gierig geöffneten Arme werfen würde. – Es ist etwas unendlich Ergreifendes, so ein Seemannsbegräbnis. Ernst und still waren die beiden Leichen aufgehoben und halb über die Bordwand hinausgelegt worden. Langsam, feierlich schwebte das Sternenbanner der Vereinigten Staaten am Großmast auf Halbstock, dreimal empor und dreimal wieder herab, – letzte Grüße, letztes Lebewohl für die toten Kameraden. Und dann trat Robert vor. Sein offenes Gesicht war blaß vor innerer Bewegung. »Matrosen«, sagte er, »unser Kapitän ist nicht, erschienen, um für die Toten wie üblich ein Gebet zu sprechen. So laßt es mich an seiner Stelle tun, da doch die beiden Toten meine Landsleute waren, arme deutsche Auswanderer, denen eine Gesellschaft von Seelenverkäufern auch noch das Letzte nahm, das sie besaßen, Gesundheit und Leben. Laßt mich Gott bitten, daß dem schändlichen Treiben dieser Schurken bald ein Ende gemacht werde, um der vielen armen Menschen willen, die in ihre Hände fallen, und daß er diesen Unglücklichen ewigen Frieden schenken möge. Amen!« Alle hielten die Mützen in der Hand, auf allen Gesichtern lag tiefer Ernst. Sie standen ganz unter dem Eindruck der Stunde. »Los!« befahl halblaut der Obersteuermann. Soweit wie möglich streckten sich die Arme, ein letzter Blick, ein Gedanke wie ein Segenswunsch, und das Meer spritzte auf. Unaufhaltsam zog das mitgegebene schwere Gewicht die Toten in die Tiefe. »Braßt voll, hinten!« ertönte die feste Stimme des Obersteuermanns. Jeder der Matrosen tat seine Schuldigkeit, die Raaen flogen herum, und das Schiff setzte langsam den alten Kurs fort, – dann aber sammelten sich alle vor der Tür der Kajüte. Sheppard ergriff das Wort. »Wir bitten den Kapitän, uns jetzt anzuhören«, sagte er. Mr. Pikes zeigte seine ruhigste Miene. »Seid vernünftig, Leute«, antwortete er. »Ein schnelles Wort ist bald gesprochen, wie ihr alle wißt, aber es wird oft bereut. Der Kapitän wollte euretwegen die rettungslos verlorenen Kranken im Raum lassen, um die Gefahr der Ansteckung zu bekämpfen. Ihr habt die Sterbenden eigenmächtig in das Logis heraufgetragen und müßt nun die Folgen auf euch nehmen. Was wollt ihr noch mehr?« Sheppard lächelte spöttisch. »Eine Kleinigkeit, Herr Obersteuermann«, sagte er. »Wir verlangen, daß das Ruder gedreht wird. Wir wollen in solchen Breiten, wo Menschen zu leben gewohnt sind, unsere Arbeit tun. Wir hätten auch bei gehöriger Verpflegung und besonders mit den gewohnten Branntweinrationen die Fahrt bis nach Nowaja Semlja unweigerlich fortgesetzt, aber elendig umkommen, damit der Kapitän an uns eine Handvoll Dollar spart, das wollen wir nicht. Noch sind uns keine Walfische begegnet, und wer weiß, ob wir überhaupt welche treffen – vielleicht, wenn der Skorbut die ganze Jagd unmöglich gemacht hat. Also müssen wir umkehren.« Mr. Pikes blieb ganz ruhig. »Umkehren, nachdem noch kein Cent verdient worden ist, Leute? Umkehren in dem Augenblick, wo uns vielleicht goldene Berge erwarten? Jede Stunde kann den Gewinn bringen, jeder Augenblick kann Walfische in Scharen an unser Schiff führen.« Sheppard schüttelte den Kopf. »Oder auch den Tod für uns alle«, sagte er finster. »Wir sind entschlossen, umzukehren; wir wollen den Kapitän zwingen, seinen Kurs zu ändern. Gebt Raum, Sir, oder es geht nicht gut!« Mr. Pikes ließ seine Blicke von einem zum andern gehen. »Das ist Meuterei!« sagte er in ernstem, mahnendem Ton. »Habt ihr euch die Folgen genau überlegt, Leute?« »Ganz genau. Der Kapitän und alle Offiziere müssen vor dem Hafen von New York einen Eid schwören, von dem Vorgefallenen mit niemand zu sprechen, oder – keiner sieht das Land wieder. Wir sind uns unserer Rechte und unseres Entschlusses vollkommen bewußt.« Der Obersteuermann trat zur Seite. »So versucht euer Heil, Leute. Kommt als Bettler, vielleicht krank und elend nach New York zurück, werft euren eigenen Vorteil über Bord und ruiniert einen ehrlichen Mann, während die Gelegenheit günstig ist. Ich habe euch nichts mehr zu sagen.« Er wandte sich ab. Sheppard streckte die Hand aus, um den Türdrücker der Kajüte zu ergreifen – – – Da ertönte vom Vorschiff her ein lauter, fast jubelnder Ruf. Der Mann am Ausguck verließ seinen Posten und kam zu den andern gestürzt. »Die Fische! – Die Fische!« Wie ein elektrischer Schlag durchzuckte das Wort die erregten Männer. Als hätten alle nur noch einen Gedanken, so folgten die Augen der Richtung, in die der Matrose mit ausgestrecktem Arm wies. Vergessen schien der wilde Entschluß offener Meuterei, vergessen war die Furcht vor der Krankheit, – untergegangen in der plötzlichen Hoffnung auf Gewinn. »Die Fische!« jauchzten zwanzig Stimmen, »die Fische!« Mr. Pikes atmete auf wie ein Halbertrunkener, den eine unerwartete Hilfe dem Meer entriß. Er erkannte im Augenblick seinen Vorteil, er zögerte keinen Augenblick, ihn zu ergreifen. Ohne den Kapitän zu fragen, befahl er, die Boote herabzulassen und die Körbe mit Lebensmitteln hineinzusetzen. Dann wandte er sich zu Sheppard. »Holt die Harpunen, Maat, – Ihr habt sie in Verwahrung, soviel ich weiß.« Der Amerikaner sah mit düsteren Augen auf das Drängen und Treiben der anderen. Niemand beachtete ihn, niemand kümmerte sich um das Verhängnis, das im entscheidenden Augenblick den Sieg in die Hände des Gegners hinüberspielte. Gewinn – Geld – das war es, was den Leuten vorschwebte, was sie, einer den andern zurückdrängend, in die Boote trieb. Sheppard kreuzte die Arme. »Holt die Harpunen, Mr. Pikes«, sagte er, »und gebt dem wilden Kapitän die schwerste in die Hand, damit er seine Mordlust befriedigen kann. Die Menge ist es niemals wert, daß sich ein ehrlicher Kerl um ihretwillen aufopfert – ich habe es bitter genug in diesem Augenblick erfahren müssen.« Der Obersteuermann ließ die Harpunen verteilen und gab auch Sheppard eine in die Hand. »Geht mit, Mann«, ermunterte er ihn, »kühlt Euer heißes Blut auf der Jagd. Und dort, seht hin, eine Möweninsel! Tausende von Eiern, ungezählte frische Braten, – macht, daß Ihr fortkommt. Das Vorgefallene ist vergessen, ich schwöre es Euch im Namen des Kapitäns.« Sheppard lächelte spöttisch. »Wir sind Todfeinde, Sir«, sagte er, »und jeder würde dem andern das Genick brechen, wenn es ihm möglich wäre. Sucht keinen Schleier darüber zu werfen! – Wessen Stunde zuerst schlägt, der packt das Glück beim Schopf.« Er hob spielend die schwere Harpune zwischen zwei Fingern hoch, und als der Obersteuermann unwillkürlich zurücktrat, lachte er laut. »Ich bin kein Meuchelmörder, Mr. Pikes, aber ebensowenig fürchte ich auch einen ehrlichen Kampf, bei dem es Blut kostet. Das merkt Euch. Die da frei herumlaufen und wie vornehme Herren behandelt werden, das sind oft größere Schurken, als die armen Teufel hinter den Eisengittern des Sing-Sing.« Er sprang in das letzte Boot, daß die Wellen spritzten, und Mr. Pikes murmelte hinterdrein einige Worte, die halb wie eine Verwünschung, halb wie Spott klangen. Dann sah er über das ruhige Meer. Die Fische waren dem Schiff immer näher gekommen. Wie Rauchsäulen stiegen geräuschvoll die weißen Wasserstrahlen aus den Nüstern der gewaltigen Tiere empor. Wenigstens dreißig Wale schwammen dem »Vogel Greif« entgegen. »Das kam zur rechten Zeit!« dachte der Obersteuermann erleichtert. »Jetzt einige ertragreiche Züge, etwas Jagdglück, und wir haben die Meute in unsern Händen. Die beiden Anführer Sheppard und Kroll werden bei nächster Gelegenheit in Eisen gelegt, und wenn einmal diese Hitzköpfe beseitigt sind, so zittern die übrigen vor einer ungeladenen Pistole.« Er drehte sich um und klopfte an die Tür der Kajüte, aber niemand antwortete ihm. Konnte der Kapitän in solchem Augenblick schlafen? Unmöglich! Er klopfte noch einmal. Wieder keine Antwort. – Einer unbewußten Furcht nachgebend öffnete er die Tür und sah den Kapitän ohne Besinnung auf dem Fußboden liegen. Der furchtbare Blutandrang hatte dem jähzornigen Mann das Bewußtsein genommen. Mr. Pikes behielt seine ganze Geistesgegenwart. Er schlug dem Kapitän eine Ader und legte ihm Eis auf die Stirn, ohne irgend jemand zur Hilfe zu rufen. Dann, als der Kranke wieder zu sich kam, teilte er ihm die Nachricht von dem Erscheinen der Walfische mit und sah jetzt seinen Vorgesetzten ebenso überrascht und beglückt, wie es vorher die Mannschaft gewesen war. »Sind alle fort?« fragte der Kapitän, sich gewaltsam sammelnd. »Haben die Leute endlich Ruhe gegeben? Sind die Anführer in Ketten gelegt worden?« Mr. Pikes erzählte in kurzer, klarer Schilderung das Vorgefallene und kam dann mit seinem Vorgesetzten dahin überein, es gänzlich totzuschweigen. Kapitän und Mannschaft eines Schiffes, hoch oben auf dem 75. Grad nördlicher Breite, verlassen von aller Welt und allen Gefahren ausgesetzt – Kapitän und Mannschaft eines solchen Schiffes waren zu sehr aufeinander angewiesen, um nicht um jeden Preis Frieden halten zu müssen. Später, wenn man in befahrene Gewässer zurückkam, wenn man anderen Schiffen begegnete oder vielleicht irgendeinen Handstreich vollführen konnte, dann – – Die Augen des Kapitäns und des Obersteuermanns trafen sich. Sie hatten sich vollkommen verstanden. Und dann gingen sie wieder an Deck. Weder von den Walfischen noch von den Booten war das Allergeringste zu sehen. Der Mann am Ruder gab die Richtung, welche die Jäger genommen hatten, als nördlich an, und das Schiff hielt jetzt diesen Kurs. Kapitän Wright ging in brennender Ungeduld rastlos auf und ab; er konnte sich kaum zurückhalten, mit dem letzten noch übrig gebliebenen Boot die Jäger zu begleiten und persönlich an der Verfolgung teilzunehmen, aber die Sonne sank ins Meer herab, ohne daß auf der glitzernden, eisigen Fläche das mindeste zu entdecken gewesen wäre. Selbst der ruhige Mr. Pikes zeigte auf seiner Stirn mehrere Falten. Wo nur die Leute blieben! – Es waren auf dem Schiff außer den beiden obersten Offizieren nur noch vier Mann, – mit diesen allein den Hafen von New York jemals wieder zu erreichen, war eine Unmöglichkeit. »Lassen Sie alle fünf Minuten einen Kanonenschuß abfeuern«, befahl der Kapitän, »und dazwischen eine Rakete steigen.« Mr. Pikes wiederholte den Befehl, aber die Unruhe wurde dadurch nur noch vermehrt. Der Schuß verhallte mit hundertfachem Echo; die Rakete, blaue und goldene Lichter über das Meer ausgießend, zeigte den erstarrten Blicken der Männer fast im gleichen Augenblick die Lösung des Rätsels: Eisberge umgaben von allen Seiten das schwer bedrohte Schiff. Zwischen den Schüssen war es totenstill auf Deck. Nur aus den Kojen der Kranken und Sterbenden drang leises Wimmern herüber – – »Wir müssen das Schiff backlegen«, entschied nach einer Pause der Kapitän. »Mir scheint, daß der Wind etwas stärker geworden ist, und außerdem wissen wir nicht, welchen Kurs die Boote steuern. Es ist nicht unmöglich, daß wir uns voneinander entfernen.« Mr. Pikes griff an die Mütze. »In diesem Fall würden Sie und ich selbst mit Hand anlegen müssen, Herr Kapitän«, sagte er. »Das macht nichts, Sir. Man hat es ja schon oft getan.« Und Thomas Wright erkletterte trotz des verwundeten Armes die Masten, um mit dem Obersteuermann und den übrigen vier Leuten das erforderliche Segelmanöver auszuführen. Abwechselnd krachten die Schüsse und stiegen die Raketen und Leuchtkugeln auf, aber niemand beantwortete die Zeichen. Ein Eisberg, hoch wie ein Haus, schwamm so hart an dem Schiff vorüber, daß es knirschte und rauschte, daß Splitter davonflogen, – Möwen glitten mit schwerem Schlag durch die Luft, der Sturmvogel umkreiste das Takelwerk und stieß eigentümliche, kurze, wie ein Signal klingende Töne aus, – aber nichts zeigte sich. Da endlich, gegen Mitternacht, durchdrang ein Laut die tiefe Finsternis. Ein langgezogenes »Ahoi! Ahoi!« scholl deutlich zu den beiden horchenden Offizieren herüber, und beide sprangen hocherfreut von ihren Sitzen auf. Die Leuchtkugeln folgten ununterbrochen, die Zurufe wurden erwidert und das Feuer in allen Öfen geschürt. Welch ein Fang war jetzt wohl gemacht worden, welcher Gewinn stand in Aussicht! »Herr Kapitän«, sagte bescheiden der Obersteuermann, »sollte es nicht gut sein, wenn diesmal Branntweinrationen verteilt würden?« Thomas Wright schüttelte den Kopf. »Damit die Kerle glauben, daß sie mir Furcht eingeflößt haben, Mr. Pikes? – Arbeiten sollen sie, und die Pistolen kommen nicht mehr aus meinem Gürtel. Übrigens ist nichts zu fürchten, wenn klingende Belohnung in Aussicht steht.« Er ging bis zum Fallreep den Ankommenden entgegen und beugte sich vor, um zu sehen, wie groß die Ausbeute gewesen war. »Hallo, Jungens,« rief er, ganz gegen seine Gewohnheit, »was bringt ihr denn?« Ein leises Lachen antwortete. Das war Sheppards Stimme, aber er sprach kein Wort. »Los«, drängte Robert, »antworte doch!« »Tu du es. Ich würde den Schuft am liebsten mit der Harpune anreden.« »Nun, Leute«, fragte noch einmal der Kapitän, »was habt ihr gefangen?« »Nichts, Sir!« antwortete Robert durch die tiefe Stille: »Nachdem unsere Boote ziemlich weit vom Schiff entfernt waren, haben wir die Walfische aus den Augen verloren und trotz aller Bemühungen nicht wieder auffinden können.« »So hat also keine Jagd stattgefunden?« »Keine, Herr Kapitän.« Thomas Wright erschrak, aber ohne sich den Leuten gegenüber etwas merken zu lassen. »Schadet ja nichts!« rief er ermunternd. »Wenn erst einmal der Fisch in der Nähe ist, so trifft man ihn bald genug wieder. Morgen wird die Jagd neu beginnen und dann glücklicher sein!« Er ging in die Kajüte, um sich von seinem Ärger einigermaßen zu erholen, während die Matrosen halberfroren, müde bis zum Umsinken, das Logis aufsuchten. Sheppards erster Blick ging zu den Kojen der Kranken. »Beide eiskalt!« flüsterte er in Roberts Ohr. »Gestorben wie ihre Vorgänger, allein und ohne Pflege! – Hörst du den Sturmvogel? Seine Stimme bringt Unglück; er ist ein Warner, der nur verfluchte, dem Untergang geweihte Fahrzeuge umkreist.« Robert lächelte gezwungen. Er dachte zurück an die Erzählung seines alten Freundes, wie hoch in der Luft die Möwe lachte, als Mohr, von tollem Übermut getrieben, den fliegenden Holländer herbeirief. »So schicke dem Schreier eine Kugel durch die Brust, dann schweigt er bestimmt!« antwortete er. Sheppard hob erschrocken die Hand. »Um Himmels willen nicht! Wer den Sturmvogel tötet, der zieht das Verhängnis auf sich herab. Gib nur acht, – wir sehen keinen Fisch wieder, wir gehen hier oben elend zu Grunde.« Robert antwortete nicht, und die beiden krochen so schnell wie möglich unter ihre Wolldecken, um wenigstens die erstarrten Glieder einigermaßen aufzutauen. Am folgenden Morgen waren wieder zwei Matrosen unfähig aufzustehen, obgleich bei den abgehärteten Seeleuten die Krankheit nicht so heftig auftrat, wie bei den unglücklichen deutschen Auswanderern. Sie mußten sich krank melden, aber sie baten die andern, zu verhindern, daß sie in den Raum geschafft würden. Sheppard nickte, – sonst zeigte keiner, daß er das angstvolle Flehen verstanden habe. Robert, der gerade Ausguckwache hatte, war nicht dabei. Der Kapitän versuchte diesmal keine Zwangsmaßregeln. Er gab den noch vorrätigen Löffelkrautspiritus heraus, ließ Pflaumen abkochen und bewilligte den Kranken etwas Zucker, im übrigen kümmerte er sich nicht um sie. Auch das Begräbnis der beiden in der letzten Nacht Gestorbenen wurde auf seine Anordnung möglichst abgekürzt, damit man, wenn sich Fische zeigen sollten, die Verfolgung sofort aufnehmen könne. »Heute haben wir einen hellen, klaren Tag, Jungens«, sagte er, »da kann uns gar nichts fehlen. Paßt nur auf, sobald sich das Blasen der Fische bemerkbar macht!« Er ließ auch zur Vorsicht die großen Trankessel und mehrere Fässer an Deck bringen. Gegen Robert und Sheppard veränderte er keine Miene. Es mochte vielleicht neun Uhr morgens sein, als der Ausguckmann dasselbe Zeichen gab wie gestern. »Die Fische! Die Fische!« Zwischen den Eisriesen, die im stillen Wasser überall majestätisch dahinsegelten und langsam der schwachen Windrichtung folgten, zeigten sich die blasenden Walfische. Es war ein schönes und anregendes Schauspiel, der goldene Sonnenschein, der die Eisriesen umspielte und mit tausend diamantenen Tropfen überflutete, die emporgeschleuderten Wasserstrahlen aus den Nüstern der riesenhaften Tiere und das stille, beinahe unbewegte Meer mit seinen zahllosen treibenden, größeren und kleineren Eisschollen. Man konnte begreifen, daß sich die Jagdlust der Männer bis zum Taumel steigerte. In zehn Minuten stießen die Boote ab. In dem Fahrzeug des Kapitäns waren außer Robert noch drei Matrosen. In atemloser Eile ging es den blasenden Fischen entgegen. Thomas Wright stand aufrecht mit der Harpune in der Hand. Sein rotes Haar schien phosphorisch zu leuchten, seine Augen glühten. Eine starke, wilde Leidenschaft sprach aus jeder Bewegung. Immer näher kamen die Boote den Fischen. Schon sah man die mit Moos und Schlingpflanzen überwachsenen, von Muscheln Wassermäusen, Spinnen und Käfern bewohnten breiten Rücken der Wale deutlich durch das kristallklare Wasser schimmern, schon erwarteten zwanzig Arme den Augenblick, um die tödliche Waffe in das Fleisch des Opfers zu bohren, da – hörte das Blasen auf, das Wasser beruhigte sich, die grünen, inselgleichen Erhöhungen über der Oberfläche verschwanden, und von den Fischen war nichts mehr zu sehen. Ganz wie am Tage vorher entzogen sie sich den Blicken der Fänger, als eben die Jagd beginnen sollte. Thomas Wright wurde blaß bis in die Lippen. »Ihnen nach!« rief er wütend. »Sie können nicht weit sein, und ich will unter keinen Umständen ohne Beute zum Schiff zurück.« Sein Eifer hatte die übrigen angesteckt. Alles ruderte um die Wette, alles überbot sich, zwischen den Eisschollen hindurchzusteuern und die Spur der entflohenen Tiere zu verfolgen, aber – ohne Erfolg. Weit und breit war kein Fisch zu sehen. »Wir müssen uns geirrt haben!« rief der Kapitän. »Vielleicht hinter diesen Eisblöcken. Zwei Boote in gleicher Linie. Dort werden sie sein!« Ob er sich und die andern täuschte, niemand konnte es wissen. Sein ganzes Gesicht war aschfahl, als auch hinter dem bezeichneten Eisberg kein Walfisch gefunden wurde, »Damned«, rief er, »steckt denn der Teufel in den Tieren?« Sheppard und Morris wechselten einen höhnischen Blick. »Der Sturmvogel!« raunte der erste. »Hast du ihn gestern gehört?« Und als wolle das Verhängnis seine Worte bestätigen, so zeigte sich in diesem Augenblick der Warner hoch oben in der Luft und blieb lange flügelschlagend gerade über den Köpfen der Leute stehen. Sein Schrei, heftig und ruckartig, tönte weit über das Wasser. Thomas Wright sah wild empor. »Verfluchter Vogel, was willst du?« rief er zähneknirschend, während er zur Büchse griff. »Da – nimm das!« Der Schuß krachte, und das getroffene Tier stürzte unmittelbar neben dem Boot des Kapitäns ins Meer. Nur der rechte Flügel war getroffen worden, daher lebte es und setzte, heftig flatternd, sein Geschrei in verstärktem Maße fort. Die Augen sahen dem Kapitän gerade ins Gesicht, der Schnabel hatte sich gegen ihn geöffnet. »Der Wahnsinnige«, flüsterte Sheppard, »er selbst hält über sich Gericht.« Von allen Booten sahen die Matrosen stumm erschreckt herüber. Aller Augen waren auf den Kapitän geheftet, der blind vor Zorn vorwärts stürzte und offenbar den Vogel mit bloßer Faust erwürgen wollte, denn er griff so heftig und unvorsichtig über den Bootsrand hinaus, daß er das Gleichgewicht verlor und kopfüber ins Wasser fiel. Die Eisschollen, neben dem Boot treibend, gerieten in größere Bewegung, schlossen sich über- und nebeneinander, schaukelten auf den blau- oder grünschillernden Wellen – von Thomas Wright war keine Spur zu sehen. Totenstille herrschte einen Augenblick lang in den Booten. Unsicher sahen sich alle an. Sheppard hob sein Ruder, wie um zu sagen: »Wer ihn auftauchen sieht, der schlage zu!« Aber nur einen Augenblick lang lag der Druck auf den Männern. Dann war Robert dem Kapitän nachgesprungen und wie eine Ente in das Eiswasser hinabgetaucht. Sheppard ließ das Ruder fallen. »Wie schade, wenn um dieses Schurken willen der brave Junge ertrinken sollte!« rief er. Morris schüttelte den Kopf. »Die beiden sind verloren!« Es schien aber, als sollte sich die schlimme Vermutung nicht bestätigen. Roberts Kopf kam in einiger Entfernung vom Boot an der Oberfläche zum Vorschein, und bald danach auch der des Kapitäns, der jedoch besinnungslos zu sein schien. »Hilfe! Hilfe!« rief Robert mit lauter Stimme. »Kommt, so rasch ihr könnt, hierher.« Ohne Zögern wurden alle Ruder eingesetzt, und schon in weniger als einer Minute nahm das vorderste Boot die beiden Verunglückten an Bord. Robert war unverletzt, aber der Kapitän blutete aus mehreren Kopfwunden, besonders jedoch aus der Wunde am Arm, deren Verband sich gelöst hatte. Er öffnete wohl hin und wieder die Augen, ohne aber etwas anderes als verworrene Worte zu sprechen. Robert preßte, nachdem er den Rockärmel aufgeschnitten hatte, Daumen und Zeigefinger auf die verletzte Ader. Dann band er mit Hilfe einiger anderer um den ganzen Arm ein festgedrehtes Tuch. Ohne daß weiter gesprochen worden wäre, kehrten die Boote zum Schiff zurück. Im Wasser schrie immer noch der angeschossene Sturmvogel. Als das letzte Boot an Bord geheißt war, sahen alle in der Ferne die speienden Fische. Am folgenden Morgen und an noch vielen anderen wiederholten sich die Ereignisse der beiden letzten Tage. Einer nach dem andern erkrankten die Matrosen, Leiche auf Leiche wurde in das Meer versenkt, und die Stimmung der Leute sank immer mehr. Der »Vogel Greif« kreuzte auf und ab, verfolgte nach verschiedenen Richtungen meilenweit die Spur der Fische und kämpfte beharrlich gegen Wind und Wetter, immer noch nach dem Willen des starrsinnigen Kapitäns, der unter allen Umständen mit einer reichen Ausbeute heimkehren wollte. Es war, als hätten sich geheimnisvolle Mächte verschworen, an jedem neuen Tage Scharen von Fischen in die Nähe des Schiffes zu führen, immer wieder die Hoffnung der Leute aufzustacheln und sie dann ebenso häufig auf das grausamste zu täuschen. Manche von den Matrosen weigerten sich bereits, diese schreckliche Jagd mitzumachen, sie blieben zur Bedienung des Schiffes zurück und sahen dann den andern nach, wie sie in rasendem Eifer die Boote vorwärts trieben, um den blasenden Tieren näher zu kommen, und wie dann in dem Augenblick, als die Harpunen geschwungen, werden sollten, – die Fische verschwanden. »Geht das mit rechten Dingen zu?« fragten sie sich. Ein Kopfschütteln war die Antwort. »Ich glaube es nicht, und ich weiß auch, woran die Sache liegt. Der Kapitän bringt dem Schiff Unglück.« »Pst!« warnte der erste. »Deine Worte können dich den Hals kosten.« »Ach, was gebe ich viel auf den herzlosen Menschen! – Sag doch, bist du kürzlich unten im Raum gewesen?« Der andere schüttelte sich. »Seit wir die armen Kerle da unten ächzen und um eine ruhige Sterbestunde bitten hörten«, antwortete er, »gehe ich nicht hinunter.« Sein Kamerad neigte sich noch dichter zu ihm. »Du«, raunte er, »die da unten ächzen noch. Glaub es, oder glaub es nicht, aber wenn dich der Steuermann hinunterschickt, so sprich vorher ein Gebet, denn ich sage dir, daß es im Raum nicht geheuer ist. War auch eine Schändlichkeit sondergleichen, die armen Kerle in der Pestluft ersticken zu lassen.« Nach einer Pause spuckte der erste den Kautabak über Bord und nickte geheimnisvoll. »Daran liegt es auch, daß wir keine Fische fangen«, flüsterte er. »Der Wüterich konnte ja nicht einmal dem unschuldigen Vogel das Leben schenken.« »Sheppard sagt, er möchte gern in New York ein Häuserspekulant werden, so ein Halsabschneider, der den Leuten das letzte wegnimmt und damit Wucher treibt, wenn er wirklich jemals seine Heimat wiedersieht!« »Ja, wenn! – Da hast du recht. Sieh, die Boote kommen schon zurück, es besteht kein Zweifel, daß über Schiff und Besatzung ein Fluch liegt. Wäre der Mörder von Bord, so könnte es schon anders vorwärts gehen.« »Pst! Laß das Sheppard nicht hören. Was kommen soll, das kommt doch!« Die Unterhaltung wurde hier durch das Auftauchen der Boote gestört. Nur noch zwölf Matrosen, der Obersteuermann und der Kapitän waren an Bord des »Vogel Greif«, die übrigen waren der schrecklichen Krankheit erlegen, während noch zwei andere, der eine Untersteuermann und ein Matrose, krank umherschlichen. Die Stimmung war äußerst gedrückt, obwohl Sheppards unausgesetzte Hetzereien jetzt selten ein williges Ohr fanden. Der Gedanke, nur mit elf anderen den Gewinn einer vollen Ladung zu teilen, der Gedanke, vielleicht durch diese einzige Reise reich zu werden, berauschte die Männer. Die sehnlichst erhoffte Jagd konnte ja nicht immer täuschen! Speiende Fische zeigten sich überall, kamen bis auf wenige Meter an das Schiff heran, folterten in der Nacht durch ihr Blasen die aufgeregten Männer und schwammen in langen Zügen an den Eisbergen vorüber – sie mußten doch einmal gefangen werden können! Und dann malte sich jeder das Bild weiter aus. Vier- bis fünfhundert Dollar würden auf seinen Anteil fallen, er brachte vielleicht ein kleines Vermögen mit nach Hause! – Nein, nein, jetzt nicht weich werden, nicht unverrichtetersache heimkehren! Morgen hatte man vielleicht schon den ersten Fisch an der Harpune, – bei Tagesanbruch kam das langersehnte Glück! – – Sheppard nickte, wenn ihm solche Einwendungen entgegengehalten wurden. »Well, also ihr glaubt, daß sich das Glück unserem verfluchten Schiff zuwenden könnte?« fragte er. »Unsere toten Kameraden haben ihren Mörder bei Gott verklagt, und um ihretwillen wird der ›Vogel Greif‹, wenn ihr nicht endlich zur Einsicht kommt, hier mit Mann und Maus untergehen. Jetzt sind wir vier Monate lang unterwegs, – woher sollen denn die Lebensmittel genommen werden, um uns wieder nach New York zu bringen? Und wenn auch noch der Obersteuermann stirbt, wie wollen wir es machen, mit so schwacher Mannschaft das Schiff zu bedienen?« »Sieh doch nicht so schwarz!« hieß es dann. »Der erste Steuermann ist ja ganz gesund.« »Heute noch!« rief der Amerikaner. »Aber wißt ihr, was morgen geschieht?« »Morgen fangen wir vielleicht den ersten Wal!« Sheppard lachte spöttisch. »Denkt an mich, – ihr fangt ihn nie!« Die beiden Matrosen, deren Gespräch wir neulich belauscht hatten, nickten finster. Heute schwiegen sie noch, aber bei der nächsten Gelegenheit traten sie offen auf Sheppards Seite. »So kann die Sache nicht länger gehen«, sagte der eine. »Wenn nur die größere Hälfte der Mannschaft zu uns hielte, dann ließe sich noch etwas hoffen, aber unter den augenblicklichen Verhältnissen steuert die Geschichte in den Abgrund, das ist sicher.« »Morris steht zu uns!« flüsterte Sheppard. »Wollen wir einen Handstreich wagen?« Der eine Matrose hob den Arm, wie zum Schlag. »Du meinst so?« fragte er bedeutsam. »Ja«, antwortete der Amerikaner kurz und kalt. »Wenn es darauf ankommt, ob vierzehn Menschen zu Grunde gehen sollen oder ob einer ins Gras beißt, so kann die Entscheidung nicht zweifelhaft sein.« Jetzt war das Eis gebrochen, und die vier Verbündeten hielten heimlich Rat, wie der verbrecherische Plan am leichtesten auszuführen sei. »Wenn wir nur den Kroll zu uns herüberziehen könnten«, meinte der eine, »das wäre schön. Dieser Bursche fürchtet sich vor dem leibhaftigen Satan nicht!« Sheppard schüttelte den Kopf. »Aber ebensowenig wird er gutheißen, was er nun einmal Mord nennen würde!« sagte er. »Laßt ihn ganz aus dem Spiel, – womöglich könnte er den Kapitän noch warnen. Hat er ihn doch neulich unter Gefahr seines eigenen Lebens aus dem Wasser gezogen.« »Laßt ihn ganz beiseite«, meinte auch Morris. »Wir vier können es gut allein, und wenn einmal der rothaarige Judas den Haifischen vorgeworfen ist, so kommt das Schiff aus dem Bann los. Wir fangen Fische, bis die Ladung voll ist, und sind wohlhabende Leute. Der Obersteuermann muß nach unserer Pfeife tanzen.« Die vier Verbrecher reichten sich die Hände. »Heute noch?« fragte Sheppard. »Je eher, desto besser, denke ich. Der Kapitän muß jetzt Wache halten, so gut wie irgendeiner von uns, also überfallen wir ihn, während Mr. Pikes schläft.« »Nun gut. Am besten zwischen zwölf und ein Uhr nachts, weil dann die ermüdeten Leute fest schlafen, und also der Kapitän nicht sofort Hilfe herbeiholen kann. Eins nur beunruhigt mich.« »Was denn?« fragte Morris. »Daß wir nach dem Tode des Kapitäns nur einen Steuerkundigen an Bord haben. Der zweite Steuermann lebt zwar noch, aber er kann es nicht mehr lange machen. Wir wären also verloren, wenn Mr. Pikes das Geringste zustieße!« Morris zuckte die Achseln. »Das muß gewagt werden«, sagte er. »Und das soll es«, nickte Sheppard. »Also um Mitternacht.« Sie gaben sich noch einmal das Versprechen gegenseitiger Treue, dann gingen sie ihrer Arbeit nach. An diesem Tage wurde nicht versucht, Walfische zu jagen, obwohl sich die Tiere ebenso zahlreich wie sonst in der Nähe des Schiffes zeigten. Kapitän Wright stand an der Schanzkleidung und sah düster über das Meer. Wie war der Mann verändert! Dunkle Ringe lagen unter seinen Augen, das früher so braune, frische Gesicht erschien fahlgrau, und wie gebrochen war seine ganze Haltung. »Heute ist Montag«, dachte er, »und an diesem Tag soll man keine Entschlüsse fassen, nichts anfangen und nichts vollenden, aber morgen – morgen will ich noch einmal diese unheimliche, schreckliche Jagd beginnen, und ihr Ausgang soll mein Schicksal bestimmen! Wird wieder keiner dieser gespenstischen Fische gefangen, so kehre ich um und begnüge mich mit Robben und Walrossen. Damned! – Es ist die schwerste Stunde meines Lebens, wo ich befehlen muß, das Ruder zu wenden, und wo mir diese Satansbrut ins Gesicht lachen darf.« Seine Lippen preßten sich aufeinander. »Ich kann mein Ziel noch nicht erreichen«, dachte er, »ich kann nach den schweren Verlusten dieser Unglücksfahrt das Schiff noch nicht aufgeben. Der Teufel hole die verwünschten Tiere, die mich an der Nase herumführen.« Er sah nach allen Seiten, und seine bleichen Lippen zuckten vor Erregung. »Vier – sechs – zehn Fische!« murmelte er, »und dort noch einer, und dort, aber was nützt es mir, sie zu verfolgen? – Oh, der Wahnsinn könnte mich erfassen, sooft ich daran denke!« Seine Blicke schweiften wie im halben Irrsinn über das Wasser. »Der dort kommt immer näher«, dachte er, »immer näher! Er fordert mich heraus – ob ich das Boot aussetzen lasse und ganz allein die Jagd beginne? Wahrhaftig, das Tier schwimmt bis unter den Bug des Schiffes! Es ist ein Riese seiner Art, wenigstens zwanzig Meter lang, und was für ein Umfang! – Ich werde ihm eine Kugel in den Kopf jagen, nur um ihn zu töten!« Er schlich auf Zehenspitzen zur Kajüte, als könne das Geräusch seiner Tritte den Fisch verscheuchen, und nahm von der Wand die doppelläufige Flinte. Aber als er zwei Minuten später zu der verlassenen Stelle zurückkehrte, scholl ein heiseres, halblautes Gelächter über das Deck. »Schon den Gedanken lesen einem diese Teufelstiere aus dem Hirn heraus!« knirschte er. »Ich möchte mich ins Meer stürzen und auf dem untersten Grund suchen, um sie mit bloßen Fäusten anzufallen!« – Er warf das Gewehr weg. Seine Augen funkelten wie die eines Tigers, seine Nägel gruben sich in das eigene Fleisch, bis das Blut, hervorkam. »Wenn mich doch der deutsche Bursche nie gerettet hätte«, dachte er in maßlosem Groll. »Was nützt es, zu leben, wenn der Einsatz verloren ist? Diese Meuterer werden mir von morgen an offen Hohn sprechen!« Er verbarg das Gesicht hinter der vorgehaltenen Hand. Niemand sollte sehen, wie es in seinen Zügen arbeitete, wie die rasende Verzweiflung darin Raum ergriff. Und weiter und weiter lief der Zeiger des Chronometers, der Tag neigte sich dem Abend zu. »Morgen noch!« dachte er, »morgen noch, und dann – gebe ich das Spiel verloren.« Der Kapitän wanderte auf und ab, bis um acht Uhr abends seine Wache, zu der auch Robert gehörte, abgelöst wurde und er sich in der Kajüte auf das Sofa strecken konnte. Wirre Bilder durchzuckten seine erhitzten Sinne. Bald sah er seine vierzehn toten Matrosen, wie sie ihn aus hohlen Leichengesichtern anstarrten und kläglich um Erlösung aus dem dumpfen Raum flehten, wie sie ihm zunickten und die Knochenhände erhoben: »Daran ist allein dein unmenschlicher Geiz Schuld, deine Härte, mit der du uns das Notwendigste zum Leben vorenthieltest, nur weil wir dir wehrlos ausgeliefert waren, weil uns die Möglichkeit fehlte, das Gesetz gegen dich zur Hilfe zu rufen!« – Und wieder lachten die Toten. »Merkst du nichts? – Wir rächen uns da, wo es dich am empfindlichsten trifft, an deinem Geldbeutel; wir machen mit den Fischen gemeinsame Sache und zwingen dich, das zu tun, was du aus Menschlichkeit, um sterbender und leidender Unglücklicher willen, nicht wolltest!« – Im Traum wälzte sich der gefolterte Mann unruhig von einer Seite zur andern. Er erwachte endlich in Schweiß gebadet, zuckend an allen Gliedern. Nur langsam konnte er sich aus dem heftigen Anfall erholen und die Gegenwart in sein Gedächtnis zurückrufen. Ja, ja, er hörte es, das Blasen der Fische rings um das Schiff, er hörte es mit unbeschreiblicher Wut. »Diese Qual muß ein Ende haben«, dachte er, »oder es ist mein Tod.« Als ihn Mr. Pikes weckte, hatte er keinen Augenblick ruhig geschlafen. Fieber glühte auf seiner Stirn, seine Hände zitterten. »Es ist gut, Sir«, sagte er, »ich komme gleich. Alles in Ordnung, nicht wahr?« Der Obersteuermann griff an die Mütze. »Alles beim alten, Herr Kapitän«, antwortete er doppelsinnig. Thomas Wright unterdrückte einen Seufzer. »Ich verstehe Sie recht gut, Mr. Pikes«, begann er wieder, »und ich weiß auch, daß Sie recht haben. Morgen mit Einbruch der Dunkelheit wird das Schiff gewendet, wenn nicht – – die Jagd begonnen hat.« Der Obersteuermann trat einen Schritt näher. »Herr Kapitän«, sagte er, »wenn es möglich wäre, Einfluß auf Ihre Entschlüsse auszuüben, so würde ich dringend raten: Lassen Sie uns schon heute, schon jetzt umkehren! – Auf den Gesichtern der Leute steht nichts Gutes!« Thomas Wright schüttelte den Kopf. »Heute, am Montag, Sir? Ich kann es nicht, und ich muß auch noch den morgigen Tag haben, um meine Frage an das Schicksal stellen und seine Antwort erhalten zu können. Morgen soll noch eine Jagd stattfinden, eine letzte, angestrengte Jagd, und das Ergebnis soll als Urteilsspruch gelten. Fangen wir auch nur einen Fisch, ja, haben wir auch nur mit einem Wal einen Kampf zu bestehen, so bleibe ich noch, anderfalls – –« Eine Handbewegung vollendete den Satz. – »Haben Sie übrigens bei der Mannschaft irgendwelche besonderen Merkmale beobachtet, Sir?« fügte er hinzu. Der Obersteuermann zuckte die Achseln. »Nichts Bestimmtes, Herr Kapitän, aber dennoch – ich weiß nicht – –« Der Kapitän reichte ihm die Hand. »Gut, gut, Mr. Pikes«, sagte er freundlich. »Sie erfüllen Ihre Pflicht zu meiner vollen Zufriedenheit. Das werde ich Ihnen nicht vergessen. Was Ihre Vermutungen betrifft, so wäre es wohl das beste, wenn wir beide bis morgen abend nicht mehr zu Bett gingen, damit keiner von uns den Meuterern allein gegenübersteht. Was halten Sie davon, Sir?« »Ich bin vollständig Ihrer Meinung, Herr Kapitän. Doch dürfen wir die Leute nicht aufmerksam machen. Also bleibe ich bei halbangelehnter Tür in der Kajüte, falls meine Gegenwart an Deck notwendig werden sollte.« Thomas Wright nickte. »Well«, sagte er, »ich werde gleich erscheinen.« Der Steuermann zog sich zurück, und zwei Minuten später hatte der Kapitän seine Wache übernommen. Robert stand am Ruder, als er das Deck betrat. Der schwache Wind der letzten Tage war in vollkommene Windstille übergegangen. Die Segel hingen schlaff herab, das Meer glich in seiner Unbeweglichkeit einem schwarzen, nur von einzelnen Lichtstrahlen überglänzten Spiegel, dessen Ruhe und Einförmigkeit drückend wirkte. Kern Laut ringsumher unterbrach die Stille. Kapitän Wright blickte prüfend zu den Welken auf. Eine tiefschwarze, breite Bank, nach oben von grauen Streifen umsäumt, stand regungslos wie ein Fels im Norden. – »Aha«, murmelte der Seemann, »ich dachte es doch. Diese Ruhe konnte nur ein Vorbote sein.« Er ließ die leichten Segel wegnehmen und beobachtete dann den dunklen Horizont. Über der Wolkenbank erhob sich allmählich ein breiter, scharf begrenzter Lichtbogen, der in steter, wellenförmiger Bewegung einmal zu wachsen, ein andermal schwächer zu werden schien. Die Mitte des Bogens in schönstem, prachtvollstem Rot nahm plötzlich eine glänzendere, durchsichtigere Färbung an, es bildete sich eine Feuerkugel, aus der in schneller, blendender Reihenfolge einzelne blitzartige Strahlen hervorschossen, die nun stärker und immer stärker die schwarze, untere Bank durchdrangen. Sich nach allen Himmelsrichtungen ausdehnend, flatternd wie ein windbewegtes Band, sich krümmend in plötzlichen, anmutigen Windungen wie eine Schlange, so sah man diese purpurnen, lichtdurchschimmerten Streifen an ihren äußersten Spitzen bald in grünen, bald in blauen oder gelben Farbtönungen. Ein eigenartiges zischendes Geräusch, ein Knattern und Rollen wie von zerplatzendem Feuerwerk begleitete diese Naturerscheinung, die in solcher Schönheit nur an den beiden Polen der Erde beobachtet werden kann. Das Nordlicht, in unseren Breiten ein dunkler und ein rötlicher, am Himmel feststehender Streif, dem man keine besondere Schönheit abgewinnen kann, bietet in den Polarregionen ein so wunderbares Schauspiel, wie man es kaum beschreiben kann. Eine halbe Stunde mochte vergangen sein. Noch stand das Nordlicht am Horizont und noch schlief der Wind. Kapitän Wright lehnte mit gekreuzten Armen an der Kombüse und beobachtete die Erscheinung, die selbst er, der langjährige Grönlandfahrer, in so seltener Pracht noch niemals gesehen hatte. Vielleicht hatte er, seinen Gedanken überlassen, im Augenblick ganz vergessen, daß ihn meuternde und erbitterte Matrosen umgaben, vielleicht war er zu unerschrocken, um überall Verrat und Gefahr zu fürchten, jedenfalls bemerkte er nicht, daß zwischen der Kombüse und dem Mannschaftslogis mehrere dunkle Gestalten am Boden kauerten, und daß ab und zu ein leises, kaum vernehmbares Flüstern die Nacht durchdrang. Seine Augen suchten in den Segeln nach dem ersten stärkeren Luftzug, und seine Ohren horchten mit stillem Grimm auf das ferne Geräusch der blasenden Walfische. Er stand unbeweglich gegen die Wand der Kombüse gelehnt. »Damned!« flüsterte hinter ihm, von dem Geräusch des Nordlichts übertönt, Sheppard, »wie lange will er uns noch den Rücken kehren?« »So gib ihm den Stich zwischen die Schultern!« raunte Morris. »Ein kaltes Eisen schmeckt auch da nach Tod.« »Wenn es richtig trifft!« nickte Sheppard. »Mir ist der Hals lieber.« »Pah!« meinte einer der Deutschen, »warum greifen wir ihn nicht offen an? Freunde hat er nicht, und sich gegen uns alle wehren, kann er ebensowenig.« »Das zwar nicht, aber Freunde könnte er doch finden. Zum Beispiel Kroll! Wo steckt der?« »Pst! Er hat die Wache am Ruder. Hört zu, Leute, ich will in dem Augenblick, wenn sich der Kapitän zufällig hierherwendet, den Stich in die Brust wagen, – dann aber müßt ihr mir beistehen. Morris schießt die Pistole auf ihn ab, damit er endgültig genug hat, du August, verriegelst die Tür der Kajüte, und du, Emil, wirfst dich denen entgegen, die etwa an Deck stürzen und ihm beistehen wollen. Vor allen Dingen aber, – das laßt euch um Gottes willen gesagt sein! – vor allen Dingen ist die Person des Steuermanns unverletzlich. Wir spielen um hohen Einsatz, wenn wir mitten im Eismeer den einen der beiden Steuerkundigen töten, das wißt ihr alle, und darum denkt daran, was ich euch sage: Mr. Pikes ist selbst in einem Handgemenge unverletzlich.« Die Verbündeten gaben leise ihre Zustimmung, und dann warteten alle, bis der Kapitän seine jetzige Stellung ändern würde. Sie hatten, nicht lange zu warten. Ein weißlicher Schaum bildete sich an dem glockenförmigen Bug des »Vogel Greif«, ein kalter Hauch wehte über die Stirnen der Männer, und ein leiser, pfeifender Ton fuhr durch das Takelwerk. Die Erscheinung war ein Vorläufer des Sturmes. Kapitän Wright ging mit langsamen Schritten über das Deck. »Da hätte ich höchstwahrscheinlich schon den Ausspruch des Schicksals«, dachte er. »Morgen wird es mir kaum möglich sein, mit der geringen Anzahl Leute die nötigen Segelmanöver auszuführen, viel weniger kann ich an eine erfolgreiche Jagd denken. Damned, das Verhängnis ist gegen mich!« Diese Worte – ein Fluch – sollten seine letzten sein. Er hatte sich beim Zurückgehen der Kombüse wieder genähert, und diesen Augenblick benutzte Sheppard, um wie eine Tigerkatze vorzuspringen und ihm das Messer bis ans Heft in die Brust zu stoßen. Ein wilder, gellender Schrei aus dem Munde des tödlich Getroffenen weckte im gleichen Augenblick die ganze Mannschaft. Morris, der erhaltenen Anweisung getreu, erhob die Pistole, um auf den noch im Sterben ringenden Kapitän zu schießen, als von der Kajüte her Mr. Pikes, bewaffnet und angezogen, dem Kampfplatz zustürzte. »Schufte«, rief er. »Feige Schurken, ihr –!« Weiter kam er nicht. Der Schuß krachte, und ins Herz getroffen stürzte Mr. Pikes neben dem sterbenden Kapitän auf das Deck. Ströme von Blut liefen über die Planken, – noch wenige Augenblicke starren, wortlosen Entsetzens, dann waren beide Verwundeten tot. Der erste, der sich aufraffte, war Sheppard. »Unglücklicher«, rief er, »was hast du getan? – Jetzt sind wir alle verloren.« Morris stand totenbleich da. Seine Hände zitterten, seine Augen rollten wild. »Ich habe geschossen«, antwortete er mit heiserer Stimme, »wie du es befahlst, Sheppard. Kann ich dafür, wenn mir ein anderer in den Weg läuft?« Niemand widersprach ihm. Bleiche, entsetzte Gesichter sahen sich an; tödlicher Schreck sprach aus ihnen. Die Frage »Was nun?« drängte sich unwillkürlich jedem einzelnen auf. Auch Robert sah von einem zum andern. Da trafen sich seine und Sheppards Blicke. »Was willst du?« rief mit steigender Wut der Amerikaner. »Mich einen Mörder nennen, uns alle ans Messer liefern, wenn das Schiff jemals einen Hafen wiedersieht, nicht wahr? – Geh fort, hole ein Rumfaß, ich befehle es dir.« »Sheppard, im Angesicht der Toten willst du trinken?« Der Amerikaner lachte. »Auf diesem Schiff regiert der Teufel«, rief er. »Es wird früh genug als Wrack am Strande liegen, also laßt uns die paar Tage genießen, so gut es geht. Den Rum her, sage ich.« Zwei von der Mannschaft, gierig und unbändig wie er selbst, waren bereits in den Vorratsraum hinabgestiegen, hatten die Tür mit Axtschlägen geöffnet und schleppten jetzt eins der Branntweinfässer herbei. Um keine Zeit zu verlieren, schlug man auch hier den Boden heraus, so daß sich Blut und Branntwein an Deck miteinander mischten. Dann begann das Gelage. Nachdem die Leute vier Monate lang den gewohnten und beinahe unentbehrlichen Alkohol jeden Tag vermißt hatten, stürzten sie jetzt wie die wilden Tiere darüber her, so daß sie schon nach einer Viertelstunde vollständig betrunken waren, und in diesem Zustand schreckten sie vor keiner Abscheulichkeit mehr zurück. »Faßt an!« rief Sheppard. »Über Bord mit den Toten!« Ein rohes Lachen antwortete ihm. »Eins, zwei, – – drei!« Das Wasser spritzte hoch empor, das Meer zog weite Kreise, und ein Hai, der dem Schiff schon längere Zeit gefolgt war, öffnete gierig das Maul mit den sechs Reihen nach innen gebogener, sägenförmig ausgefeilter Zähne – – – noch einmal wiederholte sich das barbarische Schauspiel, dann wurde notdürftig das Blut abgewaschen und weitergetrunken, bis alle Teilnehmer des entsetzlichen Gelages unfähig waren, auch nur noch die Hände aufzuheben. Fünf von den Männern lagen regungslos an Deck und hätten unbedingt erfrieren müssen, wenn nicht die andern so barmherzig gewesen wären, sie in das Logis zu schleppen. Als die wilden Stimmen verhallt waren, hielten die Besonnenen einen verzweifelten Kriegsrat. »Was soll aus uns werden?« fragten die Mutlosesten. »Dieser Sheppard wird jetzt wie ein Teufel an Bord regieren und uns alle, sobald es ihm gefällt, dem Kapitän nachschicken.« »Morgen haben wir Sturm!« warf ein anderer ein. »Es ist gleichgültig, was wir wünschen und was wir beschließen, – das Schiff wird ein Wrack sein, ehe noch die nächste Nacht vergeht. Sheppard muß uns vor Gott verantworten, – uns rettet nichts.« Eine unheimliche Stille folgte diesen nur zu wahren Worten, dann fuhr der Sprecher fort: »Ist einer unter uns, der etwas von Steuerkunde versteht?« Alle schüttelten die Köpfe. »Aber der zweite Steeurmann lebt ja noch!« rief plötzlich Robert. Man eilte zu seiner Koje. Der Mann war noch warm, aber – vor einer Viertelstunde etwa gestorben. »Es nützt nichts!« sagte verzweifelt der Matrose. »Wir sind verloren. Hört ihr, wie es durch das Takelwerk heult?« Wirklich pfiff und ächzte der Wind in den Segeln. Das Schiff flog wie eine Möwe über die Wellen. Niemand achtete auf den Kurs, niemand befahl und niemand gehorchte. Bange Todesstille herrschte in dem kleinen Kreis. »Wäre nur Sheppard erst einmal nüchtern«, meinte Robert. »Er versteht vielleicht das Notdürftigste; denn er hat ja die ganze Sache eingeleitet.« Der andere schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht, und ebenso sicher ist es auch, daß Sheppard nicht mehr nüchtern werden wird, bis er zur Hölle fährt. Du kennst diese Sorte von Seeleuten nicht, sie sind wilde Bestien, wenn der Alkohol ihren Verstand umnebelt. Sheppard hätte bei täglichen, mäßigen Rationen seine Arbeit treu erfüllt und wäre vernünftig geblieben, bei vollen Fässern aber wird aus ihm ein Teufel, der alle Vernunft verlacht. Er trinkt, trinkt – und geht bewußtlos mit den letzten auseinanderbrechenden Planken des ›Vogel Greif‹ in die Tiefe. Uns zieht er nach sich, das ist das Schlimmste.« Roberts Augen glühten. »So laßt uns jetzt gleich die Fässer an Deck rollen«, rief er, »und laßt das Teufelsgebräu aus den Speigatten laufen. Dann bleibt Sheppard nüchtern, ob er will oder nicht.« Der Kamerad lächelte. »Willst du ihm sagen, daß du es warst, der den Branntwein verschüttet hat?« fragte er. »Ja. Weshalb nicht?« »Weil er dich auf der Stelle totschlagen würde, mein Freund!« »Das ist wahr!« sagte eine andere Stimme. »Wir können es nicht tun. Alles, was uns übrig bleibt, ist – Gott um Gnade bitten. Wüßten wir wenigstens, wo wir im Augenblick sind und ob eine Küste in der Nähe ist.« Der erste Matrose nickte. »Das glaube ich euch sagen zu können, Kameraden. Die letzten Wale, die ich gestern abend gesellen habe, waren Breitnasen, – eine Gattung, die man vor allem an der nördlichsten Küste von Lappland trifft. Dort also müssen wir sein.« Robert atmete auf. »Lappland!« wiederholte er, »das ist immer noch besser als Grönland oder Nowaja-Smelja, die beide an ihren Eismeergrenzen ganz unbewohnt sind. Werden wir an die Küste getrieben und kommen mit dem Leben davon, so besteht doch einige Aussicht, daß uns ein Stamm der Wanderlappen begegnet, – daß wir zu Menschen gelangen.« Die übrigen seufzten. »Was für einen Mut du hast, Kamerad! Als ob man daran denken dürfte, lebend den Strand zu erreichen.« Roberts frisches Gesicht sah aus wie lauter Jugendkraft und Zuversicht. »Matrosen«, sagte er, »das ist nicht der Weg, der zum Ziel führt. Wir müssen an die vielen Schiff brüchigen denken, die schon gut an Land gekommen sind, und müssen alle unsere Kraft einsetzen, um den Tod zu schlagen. Jeden Augenblick kann das Schiff auf die Klippen laufen, darum laßt uns gerüstet sein. Einer muß an den Ausguck. Wen wählt ihr dazu?« Der erste Matrose reichte ihm die Hand. »Geh du selbst, Kamerad. Dein Herz und deine Augen sind jung, geh du! An Rettung ist nicht zu denken, aber warne uns rechtzeitig, daß man im letzten Augenblick ein Vaterunser beten und wenigstens ruhig sterben kann.« Robert hörte nicht auf das, was die Mutlosen sagten. Er kletterte trotz des wilden Wetters so ruhig über die Bordwand hinaus und an den Strickleitern empor, als sei es der schönste Sommerabend und kein Wölkchen am Himmel. Der Wind flog durch sein dichtes Haar, riß und rüttelte an den schwachen Strängen, denen er sich so sorglos anvertraute, bog die Raaen unter seinen Füßen und peitschte das lose Takelwerk hoch oben am Messingknauf, den die Strafwache putzen muß und an dem er selbst so manches Mal gehangen hatte, aus reiner Lust am gefährlichen, übermütigen Spiel. Er atmete tief auf und sah um sich, so gut es die Dunkelheit zuließ. Nichts als weißen, schäumenden Gischt, haushohe Wellen und schwarze, gähnende Abgründe konnten seine Augen unterscheiden. »Jetzt sterben?« dachte er. »Unmöglich, das kann Gott nicht wollen. Ich glaube, daß ich mich retten werde und vielleicht die anderen dazu. Dann gibt es eine Wanderschaft durch die Eiswüsten. Rentierblut oder vielleicht sogar Tran als Nahrung, Kampf mit Bären und Wölfen, endlose Einsamkeit in Schnee und Kälte, – dann heißt es jeden Augenblick um das Da sein kämpfen und ihm jeden Fußbreit Boden ablisten. Mag es schwer werden, mögen die Hände bluten und die Füße den Dienst versagen, ich will aushalten, aber – nur nicht sterben!« Er schlug die Arme um den Körper und hielt scharfen Ausguck, bis der Morgen dämmerte, aber kein Land kam in Sicht. In unaufhaltsamer Fahrt stürmte der »Vogel Greif« durch die Wogen vorwärts. Als es heller Tag geworden war, kam der Neger, um Roberts Wache zu übernehmen. Drinnen in der Kajüte brannte ein behagliches Feuer, ebenso war Kaffee gekocht worden und etwas kaltes Fleisch hervorgesucht. Die fünf Betrunkenen taumelten und krochen überall umher, um sich mühsam der letzten Vergangenheit zu erinnern und dann wieder an die Branntweinfässer zurückzukehren. Vergeblich waren Roberts Bitten, vergeblich seine eindringlichen Vorstellungen. Sheppard brummte einen Fluch. »Wer kann gegen das Schicksal«, sagte er, »wer kann sich gegen den Teufel behaupten? Das Schiff ist ihm verfallen, seit der verfluchte Mörder, den nun die Haifische gefressen haben, den Sturmvogel erschoß. Da hilft nichts, also laßt uns lustig sterben, wenn doch einmal gestorben sein muß.« Robert gab aber die Sache noch nicht auf. »Sheppard«, sagte er, »willst du nicht uns allen helfen, statt dich sinnlos zu betrinken und vielleicht aus dem tierischen Rausch nie wieder zu erwachen?« »Geh zum Teufel mit deinem Geplärr!« Und das zweite Rumfaß wurde in die Kapitänskajüte geschleppt, wüste Gassenhauer wurden angestimmt und weitergezecht und gejubelt, bis tiefe Stille eintrat, – bis da unten in dem kleinen, gemütlichen Raum wieder fünf leblose Körper auf dem Boden lagen wie gestern. Aber die andern hatten keineswegs die Hände in den Schoß gelegt, sondern getan, was sich im Augenblick tun ließ. Man spannte schwere Seile quer über das Deck, um für die notwendigsten Maßnahmen einen einigermaßen festen Halt zu haben, dann wurden auch die großen Segel eingezogen und auf diese Weise die Fahrt des steuerlosen Schiffes etwas ermäßigt. Da sich kein Kurs verfolgen und kein Segelmanöver ausführen ließ, so kam es ja allein darauf an, der Strömung zu folgen und das Weitere abzuwarten. Der Wind wurde gegen Mittag immer stärker. Das Barometer fiel plötzlich sehr tief, und der Orkan brach los, so daß sich das Schiff mit kahlen Masten ganz auf die Seite legte. Nachdem es sich ebenso schnell wieder aufgerichtet hatte, setzte es die Fahrt mit unheimlicher Geschwindigkeit fort, wohin, das wußte niemand. Der Druck des Windes war so groß, daß er keine hohe See mehr aufkommen ließ, sondern alles Wasser gleich in Schaum verwandelte. Da klang durch das Toben des Sturmes ein Schrei, wie ihn ein Mensch nur in höchster Verzweiflung und Todesnot ausstoßen kann. »Land! – Land! Gott im Himmel, das ist die Küste!« Zwischen den aufgespannten Seilen hielten sich die Matrosen mühsam aufrecht. Aller Augen starrten auf die verhängnisvollen Eisblöcke, die sich in einer Entfernung von wenigen hundert Metern riesig und unbeweglich emportürmten. Nein, das schwamm nicht, das stand fest im Sturm und streckte seine letzten Ausläufer bis in das brodelnde, zischende Meer, dessen Wellen es zuweilen hoch überspülten und für den Augenblick ganz in sich vergruben. Wie ein Pfeil schoß das Schiff geradewegs der Brandung entgegen. Noch einige Minuten, und es mußte in tausend Trümmer zerschellen. Der alte Neger stand zufällig zwischen den Haltetauen neben Robert. »Jetzt ist es vorbei«, sagte er. »Der Tod erwartet uns.« »Noch nicht!« rief Robert unter Aufbietung aller seiner Kräfte, »noch nicht, Mongo! Es ist noch Hoffnung, solange wir leben.« Fast im gleichen Augenblick stand das Schiff in einer fürchterlichen Brandung und lief mit solcher Wucht auf Grund, daß der Stoß die ganze kleine Besatzung zu Boden warf. Die Masten drehten sich knarrend, schwankten und stürzten gleichzeitig über Bord, das ganze Achterdeck wurde wie ein Federball fortgeschleudert, für Sekunden sah Robert noch die Leichengesichter Sheppards und seiner Genossen, dann kam die Katastrophe. Ein unheimlicher, donnerähnlicher Krach spaltete das Schiff von einem Ende zum anderen, weiße Sturzseen gingen darüber hin, Robert fühlte sich emporgehoben, vom Wirbel fortgerissen und geblendet von den rauschenden Fluten – – Dann verlor er die Besinnung. »Im hohen Norden« »Im hohen Norden« Kennt ihr das Märchen von der Entstehung Norwegens? Laßt es euch erzählen! Als Gott der Herr die Welt erschaffen und alles ringsumher geordnet hatte, da blickte er zufrieden auf das vollendete Werk. Plötzlich aber wurde sein Nachsinnen gewaltsam gestört durch den Fall eines ungeheuren Felsbrockens, der in das Meer stürzte. Als der Schöpfer aufsah, erblickte er den Teufel, der hohnlachend dem gewaltigen, von seiner Hand geschleuderten Block nachschaute. »Die Achse des neu entstandenen Erdballs soll brechen!« rief Luzifer, »der ganze Bau soll in Trümmer fallen, weil ich ihn hasse!« Aber Gottes Liebe war stärker als der Haß des Bösen. Zwar schwankte der Erdball und drehte sich, in seinen Grundfesten erschüttert, um die eigene Achse, aber des Herrn Hand gab dem Felsblock einen Halt im Meer, und sein Herz erbarmte sich des toten, starren Gesteins. Er segnete die wildzerrissenen schwarzen, überall wie unheimliche Riesen aus dem Ozean auftauchenden Berge und streute in die tiefen Täler den letzten Rest übriggebliebener Erde. Aber ach! Er begann mit diesem Werk der Barmherzigkeit im Süden, wo bald darauf hohe Bäume, grüne Wiesen und goldene Ährenfelder wuchsen, – für den Norden behielt er kein Körnchen Erde zurück. Dennoch belebte der Segen des Weltschöpfers auch die kahlen, toten Felsen. Keine Blume blüht dort, keine Frucht reift und kein Vogel singt, aber in die ewigstarren Eisfelder setzte Gott ein Geschöpf, halb Kuh, halb Hirsch, das mit Milch und Butter, Blut, Fleisch, Fell und Sehnen die Menschen vor dem Hungertode bewahrt: das Rentier. Und alle Ströme, alle Seen und Flüsse, das Meer und die Fjorde füllte er mit Fischen. Das ist Norwegen, das ist das Land hoch oben unter dem siebzigsten Breitengrad, wo auch Walfisch und Eisbär leben. Abwechselnd schwarz und mit Eis überzogen ragen die Felsspitzen vom Meer bis zu den Wolken in hundertfachen Abstufungen hoch und immer höher empor. Hier schlägt die Brandung, grünlich schillernd, weißschäumend und gewaltig wie ein wildes Urweltgeschöpf, donnernd im sprungartigen Anprall gegen einen Felsen, der seit dem ersten Schöpfungstage die steinerne Brust flach und unbewehrt dem Toben des Meeres darbietet, der wie ein Kaiser im wallenden Mantel von Schnee und Eis stolz über seine Vasallen hinwegsieht und dessen Haupt die Sonnenstrahlen krönen. Dort stürzen die Wellen, sich gegenseitig überholend und zurückdrängend, wie von Feinden getrieben, in regelloser Flucht durch die schwarzen, steinernen Säulen, unter deren Bogen ein verborgenes Echo wohnt, das spottend seit Jahrtausenden jeden Laut zurückwirft. Wie die Ruinen und halb verkohlten Überreste einer zerstörten Riesenstadt, so ragen die zerrissenen, gespaltenen und vielgeformten Felsgipfel aus dem Meer hervor, wie ein starrer, steinerner Gürtel umgeben sie terrassenförmig das Land. Und über die höchsten Spitzen erheben sich schneebedeckt, unnahbar und ehrfurchtgebietend die fernen Gipfel der Riesenberge, blauverhüllt von. Dunst und Wolkenschleiern, vom Zauber der Sage geheiligt. – – Die Sonne schien hell herab, das Meer lag ruhig wie ein schlafender Riese, die Möwen schwebten mit weißen Flügeln über dem Wasser, und hoch oben in der reinen, eiskalten Luft zog ein Adler seine Bahn – – Er schraubt sich tiefer und tiefer herab, er späht mit seitwärts gewandtem Kopf und zieht immer engere, kleinere Kreise – – Was da unten die Wellen spielend emporheben, was sie bald der Küste zuführen wollen und bald von ihr wieder entfernen, das weiße, stille Gesicht mit der klaffenden Stirnwunde und den geschlossenen Augen, – ist es ein willkommener Fund, eine Beute für die kreischende Brut im unzugänglichen Felsennest? Tiefer senkt sich der Raubvogel, noch tiefer – – So bleich das Gesicht, so reglos die ganze Gestalt – der da auf den Wellen treibt, ist tot – – Noch wenige Armeslängen, und der Adler packt mit scharfem Schnabel seine Beute. Schon schwebt er unmittelbar über dem Körper des Leblosen – – Da fliegt ein schweres Holzstück sausend durch die Luft, das Raubtier stößt einen Schrei aus und taumelt empor in eiliger Flucht – – Schwarze Arme teilen die Flut, ein dunkles Gesicht beugt sich über den Toten, und kräftige Hände tragen ihn an den Strand, auf das Bett von Felsen und Schnee. Mongo, der alte Matrose, schüttelt den Kopf. »Wenig Hoffnung«, denkt er, »aber doch will ich es versuchen, doch alles mögliche tun, bevor ich den armen Jungen seinem Schicksal überlasse!« Und er entblößt die Brust des Bewegungslosen, er reibt mit. Schnee die starren Glieder, er walkt den ganzen Körper, wie der Bäcker den Teig, damit das verschluckte Wasser herauslaufe, er haucht den eigenen Atem zwischen die kalten Lippen – Und endlich, nach langer, unermüdlicher Anstrengung hört er den ersten schwachen Seufzer, der das zurückkehrende Leben ankündigt. Ein Freudenstrahl überfliegt sein schwarzes Gesicht. »Wo bin ich? – Wo sind die andern?« Robert griff mit beiden Händen in den Schnee, wie um sich zu halten, um sich zu überzeugen, daß er wache. Seine Augen forschten gespannt in den Zügen des Negers. »Mongo«, fragte er »wo ist der ›Vogel Greif‹?« Der Schwarze schüttelte den Kopf. »Frage die Wellen, Bob, frage den Sturm. Jeder hat ein Teil davongetragen.« Robert stützte sich auf die Ellbogen. In diesem Augenblick war selbst sein Trotz, sein unbesiegbarer Mut gebrochen. Wo noch vor kurzem das schwere, stattliche Schiff gelegen hatte, da dehnten sich die Wogen in blauer Unendlichkeit, wo ihn ein sicheres, festes Dach vor Sturm und Schnee beschützt hatte, da strich der Wind kalt durch sein Haar und über seine Glieder. »Mongo«, flüsterte er, »sind wir die einzigen Geretteten?« »Ja, Bob. Als ich zur Besinnung kam, da war alles fort, nur ein paar Trümmer schwammen auf den Wellen, und etwas weiter zwischen Klippen sah ich dich. Das übrige weißt du. – Ich fürchte, wir sind dem Tode des Ertrinkens nur entgangen, um jetzt zu verhungern«, fügte er hinzu. Robert erhob sich mit schmerzenden Gliedern und versuchte einige Schritte zu gehen. »Nichts ist verloren, Mongo«, antwortete er, eine Zuversicht heuchelnd, die er in Wirklichkeit nicht besaß. »Auf, wir müssen in den Klippen nachsuchen, ob irgendwo ein Vorratsfaß oder einige Warfen an das Ufer gespült worden sind. Es waren Kisten voll Säbel und Pistolen an Bord.« Mongo lächelte ungläubig. »Was wolltest du damit, Bob?« »Gegen Feinde uns wehren, Mongo, und Beute machen, damit wir essen können. Laß uns suchen!« Der Neger war zwar nicht überzeugt, aber er erhob sich doch und begann mit Robert die Klippen zu durchstreifen. Bretter, Bohlen und Planken, Stücke von den Kajütenmöbeln, Segeltuch und hundert andere Kleinigkeiten trieben auf den Wellen, aber es war nichts zu finden, das mit einer Waffe oder etwas Eßbarem die mindeste Ähnlichkeit gehabt hätte. Stunde auf Stunde verging, die beiden eifrigen Sucher stillten den nagenden Hunger mit etwas Schnee, den sie im Munde schmelzen ließen, sie trösteten sich gegenseitig und durchstöberten unermüdlich jede Felsspalte, immer in der Hoffnung, doch noch irgend etwas Brauchbares zu finden. »Vielleicht hier«, rief Robert, sooft er in eine neue Vertiefung hinabsah, »es muß uns doch endlich gelingen.« Aber nichts zeigte sich ihren forschenden Augen. Langsam brach die Dämmerung herein. Sterne erschienen am Himmel, der Mond erhob sich in festen, klaren Umrissen, aber nicht der geringste Erfolg krönte die Bemühungen so vieler Stunden. Die beiden Schiffbrüchigen sahen sich fragend an. »Was nun, Bob?« fragte kopfschüttelnd der Neger. »Erst einmal fort von hier!« antwortete der junge Matrose. »Vielleicht lebt hinter den nächsten Bergen ein Stamm der Küstenlappen, und wenn wir den erreicht haben, so ist wenigstens das Leben gerettet. Der Winter hat sich ausgetobt, Mongo, das Schlimmste ist überstanden, daher laß uns kämpfen, solange wir atmen.« Der Schwarze antwortete nicht. Er ging an Roberts Seite landeinwärts über Klippen und Vorsprünge, durch Schluchten und Täler, bis sie in verhältnismäßig flaches Gelände kamen, wo sie leicht Fuß fassen konnten, und wo die Kälte weit weniger spürbar war, da hier der eisige, von Norden kommende Seewind keinen Eingang fand. Beide hatten sich zum Schutz gegen Raubtiere mit Trümmern von Schiffsplanken bewaffnet und wanderten schweigend weiter. Mond und Sterne verbreiteten einen so hellen Schein, daß nur in den Schluchten der Felsen die Nacht ihr dunkles Recht geltend machen konnte. Zu weilen krächzte ein Raubvogel oder strich mit scheuer Hast ein weißer Hase vorüber, sonst war alles still. Robert achtete genau auf die Pflanzenwelt. Daß hier in dieser nördlichen Zone nichts Genießbares wuchs, wußte er recht gut, aber das war es auch nicht, was er suchte. In diesen Küstenstrichen nistet auf flachem Boden in den Ranken der kümmerlichen Pflanzen, besonders der wollblättrigen Weide, der große Eistaucher, dessen Eier in niederen Nestern ausgebrütet werden. Robert hatte gelesen, daß mit diesen Nestern manchmal ganze Flächen bedeckt sind, und daher war seine Hoffnung, wenigstens einige Vogelfamilien zu finden, durchaus nicht ganz unbegründet. »Auf, Mongo«, sagte er, »jetzt werden wir Eier essen. Gib nur acht, bald ist der Tisch für uns gedeckt.« Der Neger seufzte schmerzlich. »Mich friert«, entgegnete er. »Es ist schrecklich, so unter Eis und Felsen zu sterben!« »Still, Mongo, wer denkt daran! Du mußt Mut fassen, Alter!« Und Robert versuchte, den Schwarzen zum Sprechen zu bringen. Das würde ihn ermuntern, ihn neu beleben und die Wanderung durch Hunger und Kälte erträglicher machen. »Erzähle mir einmal, wo du geboren bist, alter Seewolf«, fuhr er fort. »Natürlich in Afrika, wo die Sonne am stärksten brennt.« Der Schwarze nickte. »Wer ich bin?« fragte er, halb traurig, halb triumphierend, »wer ich bin? – Der rechtmäßige König von Dahomey, mein Junge.« Robert lachte, daß wenigstens sechs verschiedene Felsenechos lustig den Klang zurückwarfen. »Du ein König?« wiederholte er. »Alle tausend Donnerwetter, da muß ja ein gewöhnlicher Sterblicher wenigstens zehn Schritte hinter dir gehen und dich Majestät nennen!« Der Neger lachte gutmütig mit. »Du junger Spitzbube«, schmunzelte er, »du übermütiger Schlingel. Aber was ich gesagt habe, ist buchstäblich wahr.« »Nun«, rief Robert, »und wie kamst du denn von deinem Bambusthron in die Matrosenjacke hinein?« Der Schwarze schauderte, halb vor Kälte, halb in der Erinnerung an das, was er vor dieser Unglücksfahrt im Leben schon durchgemacht hatte. »Ich wurde mit Hunderten meiner Brüder als Sklave nach Nordamerika verkauft«, antwortete er. »Als Sklave?« wiederholte der Junge. »Du Armer, wie kam das? – Erzähle doch davon! Wenn wir den Ernst und die Gefahren des Augenblicks vergessen, so werden wir die Wanderung viel leichter ertragen.« Der Neger schüttelte den Kopf. »Die Wanderung ohne Ziel!« sagte er hoffnungslos. »Das weißt du ja noch nicht, Mongo. Erzähle mir lieber, wie es in dem königlichen Palast in Dahomey aussieht. Kennt man überhaupt bei deinem Stamm Gesetz und Rechte?« Der alte Neger schwieg längere Zeit. »Rechte?« sagte er dann. »Nein, Bob, das Volk hat keine, kennt und wünscht keine Rechte, nur der König herrscht nach Laune und Willkür zusammen mit den Priestern, die zwischen ihm und seinen Untertanen als Vermittler stehen. Siehst du, mein Junge, ich bin jetzt länger als dreißig Jahre ein Christ wie du, ich verabscheue natürlich die Grausamkeit und die zügellose Wildheit meines Volkes, aber dennoch geht mir das Herz weit auf, wenn ich an Afrika zurückdenke. Die Stadt, in der ich geboren wurde, heißt Abomey, und das königliche Haus meines Vaters war eine große, breite Halle aus Bambusstäben und Lehm, mit einem Dach aus Segeltuch. Zahme Strauße gingen majestätisch nickend auf und ab, junge Panther spielten mit mir im Sande, und die zahlreichen Sklaven waren meine Pferde, auf deren Rücken ich spazieren ritt, sooft es mir Spaß machte. Ich trug als das Königskind von Dahomey an meinem Körper nur Seide und goldene Spangen, ich spielte mit den Schädeln erschlagener Feinde und schoß zum Zeitvertreib die auf Stangen gesteckten Köpfe hingerichteter Untertanen mit dem hölzernen Bogen herab. Ach, Bob, du kennst Afrika nicht, das Paradies der Erde. Alles wächst dir dort entgegen, ohne daß du zu säen oder das Feld zu bestellen brauchst; die Bambusstäbe liefern dir das Dach, unter dem du schläfst, das Meer ist dein Badeplatz, die Sonne dein Feuer. Du brauchst als Kleidung nur einen Lendenschurz, du kennst keine Arbeit, keine Mühe und Sorgen; das Leben ist überall Genuß, nirgends ein Kampf. – Ach, es bedrückt mich doch, so in der Eiswüste zu enden, – es graut mir vor dem Norden mit seinem Frost und Sturm!« Robert schüttelte abwehrend den Kopf. »Ich liebe den Norden, alter Mongo!« rief er, »ich liebe das Kalte und Großartige, – ich will säen, bevor ich ernte, ich will nichts geschenkt haben, sondern alles erringen und selbst verdienen. Siehst du, wenn jetzt ein gedeckter Tisch hier am Wege stände, dann könnte man sich wohl hinsetzen und die guten Dinge über den Schnabel nehmen, nicht wahr? – Aber schau her, es gehört schon ein bißchen Geduld und Verständnis dazu, aus diesen kleinen Brustfedern, die hier und da auf dem Boden liegen, auf Brutstätten der Eisvögel zu schließen. Gib nur acht, ich finde bald die Nester, und dann schmeckt das mühsam Gesuchte besser, als hätte es der Zufall hergeweht. – Horch, schrie nicht dort ein. Vogel?« Der Neger faßte den Stock fester in die Hand. »Ein Tier war es jedenfalls!« sagte er. Robert schlich auf den Zehenspitzen um den nächsten Felsen herum, und dann ertönte ein heller Freudenruf, dem ein Kreischen, Flattern und Piepsen von zahllosen Vogelstimmen folgte. »Hurra, Mongo, Hurra! Wenigstens tausend Nester, wenigstens dreitausend große Eier!« rief Robert. »Jetzt laß uns essen, und wenn jemals ein Abendbrot besser geschmeckt hat, als dieses aus rohen Eidottern, so will ich nicht Robert heißen. Lappland soll leben!« Er schleuderte, als er das erste Ei getrunken hatte, die zerbrochene Schale hoch in die Luft und machte sich über das zweite her. Der Neger folgte seinem Beispiel, so daß während der nächsten Minuten das Gespräch völlig stockte. Wenn eine der aufgeschreckten, angstvollen Vögelmütter zu nahe herankam, so mußte der Stock helfen, und endlich sahen sich die beiden neu gekräftigt an. »Hast du jetzt wieder Mut, Mongo?« »Du bist ein Schlingel. Ich habe dir's ja schon früher gesagt.« Robert lachte. »Wer schweigt oder die Antwort umgeht, der hat zugestimmt, wie du weißt, Alter. Jetzt nehmen wir noch ein paar Eier mit uns – aus jedem Nest eins, der armen Mütter wegen – und dann weiter.« Er ging voran, eine lustige Seemannsmelodie pfeifend. »Komm, Mongo«, fuhr er fort, »rasch nach Afrika, dort ist es gemütlicher als hier in Lappland. Du hast mir den Palast beschrieben und deine Spielgefährten, zweibeinige und Vierfüßler; jetzt sei so gut, ein wenig von der Leibgarde zu erzählen. Gibt es Soldaten bei euch?« Der Neger lächelte, daß seine weißen Zähne hervorschimmerten. »Amazonen, mein Junge, ein reguläres Korps von Weibern«, antwortete er. »Damit führte mein Vater Krieg und hat viele Schlachten siegreich gewonnen. Die tapferen Frauen sind, wie alle Einwohner des Königreichs, bis zum Gürtel unbekleidet, tragen aber an allen Gelenken, in Nase und Ohren, eine Unmenge Schmuck, Ketten und Spangen, Knöpfe, Glasperlen und Federn. Sie führen als Waffe einen kurzen Hirschfänger, den sie mit großer Geschicklichkeit handhaben. Ihre Musikinstrumente sind Trommeln und Pfeifen. Wenn aber die alljährlichen Menschenopfer beginnen, so erfüllt diese eigenartige Garde erst ihre wahre Bedeutung. Der dazu bestimmte Tag fällt nach christlicher Zeitrechnung auf den sechsten Mai, und die Feier selbst ist wirklich bestialisch. Hast du starke Nerven, Bob, um das anhören zu können?« Robert nickte lebhaft. »Aber Mongo, es sind ja keine Erfindungen, die du mir erzählen willst, sondern ein Stück Völkerkunde, etwas wirklich Wahres, also laß mich alles erfahren. Die Menschenopfer eines heidnischen Volkes können wohl nur scheußlich und bestialisch sein, glaube ich.« Der Neger seufzte. »Ja, du hast recht, Bob«, antwortete er, »scheußlich ist das alles. Aber da es dein Wunsch ist, diese Dinge kennen zu lernen, so höre weiter. Das Fest, von dem ich sprach, wird zu Ehren Abomas, der großen Abgottsschlange, gefeiert, und zwar folgendermaßen. Der König, mein Vater, eröffnet selbst den Zug. Seine Kleidung besteht aus weiten türkischen Hosen, gelben Maroquinstiefeln, einer Unzahl verschiedenfarbiger seidener Halsund Leibbinden und einem dreieckigen Hut mit wallenden Straußenfedern. Ihn umgeben seine Gardisten, ungefähr zweihundert gänzlich verwilderte, blutdürstige Weiber, und nun beginnt das eigentliche Opfer. In einiger Entfernung von dem mit farbiger Seide und metallenen Zieraten reichgeschmückten Thron entfernt stehen hinter einer dornigen Hecke vielleicht fünfzig bis sechzig Gefangene, die schon vorher zum Tode verurteilt waren und die nun durch die Amazonen bis an den Thronsessel geschleppt werden. Bluttriefend, zerfetzt an allen Gliedern kehren diese entmenschten Furien mit ihren Opfern über die tausend spitzen Stacheln der Hecke zum Richtplatz zurück, und nun entreißt der König der ersten, die ihm ihren Sklaven zu Füßen legt, das Schwert, um damit auf einen Schlag dem Unglücklichen das Haupt abzuschlagen. Ist erst einmal Blut geflossen, so beginnt eine Szene, wie sie grauenhafter nicht gedacht werden kann. Es scheint, als ob sich eine Art von Wahnsinn der Menschen bemächtigte, als ob die Grenze zwischen Mensch und Tier für den Augenblick niedergerissen worden sei. Fünf Tage lang dauert das Morden, wobei die Amazonen zuletzt das warme Blut ihrer Opfer mit Branntwein vermischen und trinken, während der gräßlich Verstümmelte noch lebend zusieht. Am sechsten Tage, nachdem Massen von Sklaven getötet worden sind, kehrt alles zur gewohnten Ruhe zurück.« Robert hatte schweigend zugehört. »Das übersteigt wirklich alles Glaubhafte«, sagte er dann. »Ich begreife nicht, wie sich ein Volk von seinem Herrscher das gefallen lassen kann. Finden vielleicht noch andere Opferfeste statt?« »Es gibt noch eine zweite heilige Schlange, Daboy genannt, und. diese fordert das Opfer einer einzigen, aber der schönsten Jungfrau des Landes. Alljährlich am ersten November erläßt der König einen Befehl, daß sein Injumann oder Oberpriester die Runde macht, um das unglückliche Mädchen, das getötet werden soll, auszuwählen. Während dieser Stunden darf kein Untertan das Haus verlassen, denn wer etwa dem Priester begegnen würde, der wäre des Todes schuldig. Das dumme, irregeleitete Volk löscht sogar aus Furcht, gesehen zu werden, das Feuer in den Hütten. Um Mitternacht verläßt der Injumann einen geweihten Hain, dessen Betreten allen nicht zur geistlichen Brüderschaft gehörenden Negern auf das strengste untersagt ist. Seine Kleidung besteht aus einem langen Mantel aus schwarzem Pelz, der bis auf den Fußboden herabfällt. Eine ebensolche Kapuze bedeckt den Kopf, der mit dieser mächtigen, spitz zulaufenden und übermäßig großen Haube genau wie die Schnauze eines Bären aussieht, – die Hände stecken in Tigertatzen, und vor dem Gesicht trägt er eine ganz weiße Maske mit überlanger, spitzer Nase.« »Ha, ha, ha«, lachte Robert, der seine Heiterkeit nicht länger im Zaum halten konnte. »Der reine Polichinell, wie ich ihn in Hamburg habe auf der Straße reiten sehen, mit einem großen Knüppel bewaffnet und ebenso aussehend. Das ist darauf berechnet, den dummen Schwarzen Respekt einzuflößen! Nimm's mir nicht übel, Mongo, aber darüber muß ich wirklich lachen.« Der Alte gab ihm einen scherzhaften Schlag auf die Schulter. »Tu dir keinen Zwang an, mein Junge«, sagte er gutmütig. »Ich weiß ja selbst, daß nichts anderes dahintersteckt und daß der Injumann meines Vaters ein großer Spitzbube war, ein Gauner, der sei nen Vorteil kannte und wahrzunehmen verstand. Er hatte auch, um für alle Fälle gerüstet zu sein, ein Gefolge von zehn Priestern, die ähnlich gekleidet waren und ihn auf Schritt und Tritt begleiteten. Diese schreckliche Schar findet auf ihrem Weg jede Tür weit geöffnet, um das schönste Mädchen aussuchen zu können. Sobald sich aber der greuliche Lärm, den alle elf auf trompetenartigen Instrumenten hervorbringen, von weitem hören läßt, fallen sämtliche Einwohner auf ihre Knie und verbergen das Gesicht im Sand. Wer es nicht täte, der wäre verloren. So zieht der Injumarnn bis zum nächsten Morgen durch die Straßen, wobei er auch zur Wahrung seines Ansehens von Zeit zu Zeit ein paar Menschen ermordet. Bei Anbruch der Dämmerung packt er plötzlich das erkorene Opfer, um es in den geheiligten Hain, zu schleppen. Während er das zitternde Mädchen entführt, müssen die Eltern und sonstigen Angehörigen das Gesicht wie alle übrigen im Sand verbergen und dürfen durch keine Bewegung, keinen Laut verraten, daß sie überhaupt von dem ganzen Vorgang etwas bemerken. Auch am folgenden Tage scheint kein Glied der Familie das junge Mädchen zu vermissen, wenn nicht etwa, wie das häufig geschieht, Vater und Mutter mit der Ehre prahlen, die ihnen durch die Wahl des Injumanns zuteil geworden ist. Am dritten Tage versammelt sich das ganze Volk und mit ihm der König am Ufer eines Flusses. Greuliche Musik begrüßt den Herrscher, das Opfer wird herbeigeführt, und der Injumann, jetzt in gewöhnlicher Kleidung, naht von anderer Seite. Das Gesicht und der ganze Körper des unglücklichen Wesens sind bis zu den Fußspitzen herab mit Kreide dick bestrichen, so daß es selbst den Eltern unmöglich sein würde, ihr Kind zu erkennen. Mit langsamen, gemessenen Schritten bewegt sich das bebende Opfer bis zu einer Bank, an der es in hegender Stellung befestigt wird. Der Injumann nimmt neben ihm seinen Platz ein und scheint mit emporgewandten Blicken auf das Volk den Segen der Gottheit herabzuflehen, worauf nach einem einzigen Schwertstreich der Kopf des Schlachtopfers in den Fluß hinabrollt. Der blutende Körper wird sorgfältig unter dem höchsten Baum auf eine Matte gelegt, wo er bleiben soll, bis ihn die Göttin Daboy in das Land der Ruhe trägt. Tatsächlich aber – –« »Bringen ihn die Priester schon in der nächsten Nacht beiseite, um dann dem Volk von einem Wunder erzählen zu können, nicht wahr?« fragte Robert. »So ist es, Bob!« antwortete der Neger. »Aber trotz aller dieser Abscheulichkeiten, trotzdem – liebe ich Afrika. Unter seiner Sonne möchte ich begraben liegen. Es ist seltsam, aber je älter ich werde, desto heftiger packt mich das Heimweh.« Stumm ging Robert neben seinem Gefährten lange Zeit dahin, bis er endlich leise fragte: »Und du warst nie wieder in deiner Heimat, Mongo?« »Nie!« antwortete der Neger. »Nachdem ich dreißig Jahre lang Sklave gewesen war, hatte ich vom Christentum und dem Segen der bürgerlichen Welt zuviel gesehen und die Barbarei meiner Väter zu sehr verabscheuen gelernt, um jemals wieder in Afrika leben zu können, am wenigsten als König von Dahomey, dessen Thron aus den Schädeln Erschlagener aufgebaut ist, dessen Füße die Köpfe von Sklaven als Schemel benutzen und der alljährlich diese grauenvollen Opfer begehen muß. Ich bleibe meiner Heimat fern, – eben um des Heimwehs willen, so seltsam das auch klingen mag.« Robert verstand den Alten vollkommen, und ernste Gedanken bewegten sich hinter seiner jungen Stirn. Wie vieles hatte er schon gelernt und manchen Irrtum eingesehen, obgleich er doch erst anderthalb Jahre von Hause fort war! – Er dachte an den strengen, unerbittlichen Vater in diesem Augenblick mit einer Art von Rührung. Der Alte hatte wohl gewußt, wie schwer es ist, sich den Weg durch das Leben selbst zu bahnen, er wollte keineswegs irgendein launenhaftes Gelüst zur Geltung bringen, wenn er den Sohn hart anfaßte, sondern er hoffte und wünschte, dem einzigen geliebten Kind Sicherheit fürs Leben zu geben. In den Augen des jungen Matrosen schimmerte es feucht, er legte den Arm um die Schultern des Negers. »Du, Mongo, wollen wir da hinaufklettern, hoch hinauf, wo der Felsgrat über dem Abgrund hängt – und uns hinunterstürzen? Dann hat alles ein Ende.« Der Neger schüttelte den Kopf. »Du Wildfang, wie der Augenblick mit dir durchgeht! Bist du es etwa jetzt, dem die Beschwerden der Wanderung zu groß werden?« Robert errötete. »Wirklich nicht, Mongo«, rief er, »aber du hattest mich mit deiner Erzählung ganz durcheinander gebracht. Warum ist im Leben alles so schwer und so unsicher? – Sieh, wenn ich ein Schneider geblieben wäre, bescheiden und anspruchslos, die Mütze in der Hand und den Buckel krumm, dann könnte ich ein gemachter Mann sein, der sich in vier engen Wänden die Welt erträumt, Taler auf Taler legt und endlich stirbt wie eine Pflanze, die der Herbst verweht – und wenn du nach Dahomey zurückkehren wolltest, so könntest du sogar König sein; – aber nun sag mir, warum es uns, gerade uns, von da forttreibt, wo uns das Glück erwartet! Kannst du das Rätsel lösen, Alter?« Der Schwarze wiegte bedächtig den Kopf. »Ich glaube, daß ich es kann«, sagte er freundlich lächelnd. »Der Mensch soll sich überwinden lernen, das ist es.« Robert schüttelte sich. »Du, das beklemmt die Brust!« antwortete er. »Paß auf, ich muß einmal richtig laut schreien, daß sich die alten Berge wundern, sonst ersticke ich!« Er blieb stehen und streckte beide Arme aus, als ob er seinen Lungen den weitesten Spielraum verschaffen wollte. Dann wiederhallten die düsteren Bergesschluchten von einem langgedehnten Schrei, der als Echo noch minutenlang, erst stärker und dann immer schwächer, in der Ferne nachklang. – Unwillkürlich horchten die beiden Wanderer, als müsse doch eine Antwort zu hören sein. Aber ringsumher schwieg alles. Der Wind fuhr kalt über kahle Höhen daher, sonst kein Laut, keine Lebensnähe. Die beiden setzten ihren Weg fort. Immer mehr ging es bergan, immer steiler wurde der Pfad, immer spärlicher der Pflanzenwuchs. Endlich begann der Boden zu knistern und zu krachen, – das Eis war hier nicht geschmolzen, sondern bedeckte als harte Schicht den Felsen. Nur langsam konnten die Wanderer vorwärts kommen. Am Himmel erlosch Stern auf Stern, die kalte Luft schnitt förmlich in die Lungen der beiden und raubte ihnen fast alle Kräfte. Gesprochen wurde nicht mehr. Der Neger berührte Roberts Schulter. »Dort hinter dem Felsblock laß uns einen Augenblick rasten«, sagte er mit matter Stimme. »Du bist jung, Freund, aber meine Glieder versagen fast den Dienst.« Robert nickte stumm. Er ließ den Alten sich setzen und gab ihm das letzte Ei, das noch übriggeblieben war. »Erhole dich, Mongo«, sagte er. »Ich glaube, daß dort die Sonne aufgeht, – wir werden also wenigstens bald sehen können, in welcher Umgebung wir uns befinden.« Er erkletterte den höchsten Gipfel und beobachtete von hier aus den Sonnenaufgang. Erst gelblich und dann in leichtes Rot übergehend, spielten breite Säume an den Wolkenrändern, wie Feuerschlangen, die weiter kriechend an Umfang zunahmen und deren Licht langsam anfing, nach unten hin die Gipfel und Felskämme zu erhellen, während die Schluchten noch im tiefsten Dunkel dalagen. Spitze auf Spitze trat scharf hervor, hier wie ein Kirchturm, schlank und vereinzelt, dort wie ein kniendes Weib, und dort wieder wie eine mittelalterliche Ritterburg mit Zinnen und Türmen. – – Immer tiefer drangen die goldenen Sonnenstrahlen. Überall Zacken an Zacken, wohin das Auge sah, überall Eis und Stein, wie gemeißelt die ganze Umgebung. Nur ein Adlerpaar schwebte fern am Wolkensaum, sonst war es, als läge der Hauch des Todes über dieser steinernen Welt. Kein Baum, kein Tier, keine Menschenwohnung, ja nicht einmal ein grünes Blatt erinnerte an das Leben. Jetzt stand die Sonne hoch am Himmel. Robert wandte sich, um rückwärts zu blicken, und nun atmete er auf. Was dort hinten so blau und silbern glänzte, das war das Meer, das war seine geliebte – seine vergötterte Welt. Lange blieb er so, dann aber, nachdem er sich überzeugt hatte, daß kein Schiff in der Nähe war, ging er zurück zu seinem alten Kameraden, der noch immer den Kopf an die Felswand lehnte und ihn mit trübem Lächeln empfing. Robert sah mitleidig, wie grau das früher so glänzende Schwarz des Negers geworden und wie geschwächt er war. »Auf, Mongo«, sagte er ermunternd, »hier können wir nicht bleiben, du weißt es, so gern ich dich auch schonen möchte. Sieh, das dort ist das Eismeer, also die Nordgrenze von Lappland, demnach führt der Weg durch diesen Engpaß nach Süden. Wir müssen ihn verfolgen, damit uns Wanderlappen begegnen, denen wir uns auf ihrem Zug nach den Lofoten anschließen können. Komm, Mongo!« Der Schwarze erhob sich nickend. »Du hast recht, Bob«, antwortete er, »obwohl ich doch nicht glaube, daß es uns etwas nützen wird. Aber zuerst, mein junger Freund – ist heute Sonntag!« Er nahm das Taschentuch, das er an Stelle der verlorenen Mütze um den Kopf gewunden hatte, ab, und Robert tat dasselbe. So standen die beiden und sahen vom Felsen herab stumm in das schweigende, steinerne Tal zu ihren Füßen. Vielleicht dachten sie kaum ganz bewußt, dachten keine Worte, keine Gebete, aber dennoch hörten sie ein Klingen wie von Kirchenglocken, doch wendeten sich ihre Blicke langsam zur Sonne, und ein stiller, tiefer Friede kam über beide. – – Robert lächelte dem Alten entgegen. »Komm«, sagte er, »nun geht's bergab. Das wird dir leichter werden.« Mongo antwortete nicht. Nachdem die bunten Turbane geordnet waren, zogen beide Wanderer durch einen schmalen, steilen Felsenpaß, dessen beide Seiten sich manchmal über ihren Köpfen berührten, in das Tal hinab und sahen nun eine weite Ebene vor sich. Die Vegetation zeigte hier wieder Unmassen von Rentierflechten, aber auch schon einige kleine verkrüppelte Gebüsche, die Robert als Kiefern erkannte. Er suchte zu seinem heimlichen Bedauern vergebens unter allen Ranken nach Vogelnestern, – es fand sich kein einziges. »Mongo«, erinnerte er, »du bist gestern mit deiner Erzählung im Rückstand geblieben. Wie gerietest du in die Sklaverei der Amerikaner?« »Durch den Krieg«, antwortete der Neger. »Ich war vielleicht vierzehn Jahre, als uns ein feindlicher Stamm überfiel und in einer einzigen Schlacht zu Grunde richtete. Mit etwa vierzig oder fünfzig anderen Gefangenen, Männern und Frauen, wurde ich nach Lagos geschleppt, wo ein Sklavenschiff bereit lag, uns nach Amerika zu bringen.« Robert horchte auf. »Mongo, du sagst ein ›Sklavenschiff?‹ – Gab es denn Fahrzeuge, die für den Menschenhandel ganz besonders eingerichtet waren?« Der Schwarze nickte. »Ja, mein Junge. Die Kostbarkeit der Ware erforderte eine sehr sorgfältige Behandlung. Auf keinem Fahrzeug der gesamten Handelsmarine herrschte solche Sauberkeit und Ordnung, wie auf einem Sklavenschiff. An jedem Morgen mußte das Deck mit Sand und Steinen abgekratzt werden, dann ließ der Kapitän alle Sklaven einzeln an sich vorübergehen und bewachte selbst die regelmäßigen Mahlzeiten seiner lebendigen Fracht. Es gab auch täglich Rum, um Skorbut zu verhüten, aber von irgendeiner Freiheit, von Menschenrechten konnte natürlich keine Rede sein.« Robert horchte atemlos. Er vergaß Hunger und Einsamkeit, um seiner ganzen Entrüstung Luft zu machen. »Und dafür fanden sich Seeleute?« rief er. »Sie ließen sich wohl auch noch für ihr Schweigen bezahlen?« »Das will ich meinen, Bob. Die Matrosen eines Sklavenschiffes müssen Henkersdienste tun und dürfen, keine zartfühlenden Menschen sein. Zuerst wird an Bord des Schiffes der Sklave vollständig entkleidet und das Haar glatt abrasiert, dann bringt man die Männer in den Schiffsraum und die Weiber in die Kajüte, während sämtliche Kinder an Deck bleiben, wo ihnen als einziger Schutz gegen das Wetter ein Stück Segeltuch gespannt wird. Je zehn müssen immer aus einer Schüssel essen, und zwar nach einem bestimmten Verfahren, um eine ungleiche Verteilung zu vermeiden. Auf einen Wink des wachhabenden Matrosen dürfen sie zugreifen und bei einem zweiten schlucken. So wiederholt sich das Verfahren, bis alle satt sind. Es kommen aber auch Fälle vor, wo sich einzelne in der Absicht des Selbstmordes weigern, das Essen anzurühren, und diese werden dann scharf beobachtet. Meldet der Aufpasser, daß die Krankheit erfunden ist, so beeilt man sich, den scheinbar verlorenen Appetit durch die neunschwänzige Katze wieder herzustellen, scheint aber der Sklave tatsächlich leidend zu sein, so kommt er auf die Krankenliste, das heißt, man hängt ihm eine Schnur mit einem Knopf um den Hals und schickt ihn in das Vorderkastell. Wenn alle gegessen haben, so müssen sie die Hände und das Gesicht in Seewasser waschen, außerdem reinigt man ihnen dreimal wöchentlich das Innere des Mundes mit Weinessig, ebenso werden die Männer rasiert und allen die Nägel geschnitten, weil sie fast dauernd, besonders nachts, miteinander kämpfen.« Robert hob fragend den Blick. »Aber weshalb, Mongo? Diese Männer hätten zusammenhalten müssen, alle für einen und einer für alle, dann wäre es ihren Peinigern weniger leicht geworden, sie zu Sklaven zu machen!« Der Neger schüttelte den Kopf. »Sie waren damals, vor beinahe vierzig Jahren, nicht viel besser als Tiere«, antwortete er, »sie ließen sich mißhandeln, ohne mehr als einige seltene, von Mischlingen angefachte Aufstände zu wagen – Männer konnte man diese entnervten Geschöpfe nicht nennen. Wie sie vor dem Injumann ihrer Heimat die Gesichter im Sande versteckten, so beugten sie vor den Weißen das Haupt und ließen sich zur Schlachtbank führen wie zahme Schafe oder Gänse, die dem Tod wehrlos entgegengehen.« Robert klopfte vertraulich auf die Schulter des Alten. »Armer Mongo«, sagte er, »und das alles hast auch du erduldet?« Der Neger lächelte. »Das Bob? O, ich sage dir, daß es nichts war, sich auf dem Sklavenschiff allnächtlich zu halber Länge zusammenzukrümmen, des beschränkten Raumes wegen, daß es nichts war, sich mit dem Eisenring um den Hals an die Decksplanken schließen zu lassen und am Tage mit noch einem andern Unglücksgefährten zusammen an eine fußlange Eisenstange geschmiedet zu sein, die es weder ihm noch mir erlaubte, eine schnelle, unbedachte Bewegung zu machen, – nichts gegen das, was ich später erlebte.« »Ach«, rief Robert, »nachdem du verkauft worden warst, Mongo?« »Ja, Kind, dann. Als junger Bursche in deinem Alter, kräftig, sorglos, unbekümmert um die Zukunft, ertrug ich alle Strapazen des ungewohnten Lebens, ohne mir viel daraus zu machen, wechselte oft meine Herren, weil immer hohe Preise für mich bezahlt wurden, und erwarb mir überall Freunde, – aber später kam das Unglück. Wirst du mir glauben, Bob, daß ich vier Kinder habe, – auch einen Jungen in deinem Alter! – und daß sie mir zusammen mit meiner Frau aus dem Hause weg verkauft wurden, während ich machtlos zusehen mußte, wie man sie fortschleppte, die armen Unglücklichen, Hilflosen!« Robert stand still. Seine Augen flammten vor Zorn. »Mongo!« sagte er, »Mongo, und du schlugst nicht alles tot, was dir in den Weg kam? Du ließest dir die Deinen rauben, ohne sie zu verteidigen?« Der Neger seufzte. »Lieber Bob, das kennst du nicht!« antwortete er. »Mit mir litten noch sechzehn andere brave Männer das gleiche Schicksal, und selbst unser Herr, ein guter, menschenfreundlicher Mann, ging an diesem Tage blaß und traurig umher, aber er konnte nicht anders handeln als er tat, die bestehenden Verhältnisse zwangen ihn zu der unvermeidlichen Grausamkeit, die seinem Herzen ganz fern lag. Ich würde ihm heute noch die Hand drücken, wenn er mir begegnen sollte.« »Mongo, dem Mann, der dir Frau und Kinder verkaufte?« »Ja, Bob, ja! Es geht im Leben nirgends mit dem Kopf durch die Wand, das habe ich dir schon so oft gesagt, – der Mensch muß es lernen, sich in das Unabänderliche zu fügen.« »Sieh«, fuhr er fort, »wir lebten auf einer Farm, etwa zehn Meilen von New Orleans entfernt, und unser Herr behandelte uns gut, vielleicht zu gut sogar, er achtete in seinem Sklaven den Mitmenschen und war der menschenfreundlichste, liebenswürdigste Grundbesitzer der ganzen Umgebung. Jeder Neger hatte seine Hütte und sein Gärtchen, jeder durfte es wagen, frei und offen mit der Herrschaft über alles das zu sprechen, was er wünschte und worüber er sich mit Recht beklagen zu können glaubte – aber eben deshalb war auch dieser gütige und gerechte Mann von allen benachbarten Gutsherren gehaßt. Als ihn mehrere Mißernten und verschiedene Überschwemmungen in Geldverlegenheiten brachten, da fand er alle Türen verschlossen, bis endlich ein Wucherer ihn in die Krallen bekam und das schöne Grundstück mit sämtlichem toten Inventar gegen eine Fabrik in der Stadt vertauschte. Was half also alle Trauer, alle Verzweiflung, – das lebende Inventar, nämlich die Sklaven, mußte unter den Hammer, um die Umzugskosten und die der ersten Einrichtung zu decken. Wir Männer waren für die Fabrikarbeit bestimmt, aber mit den Frauen und Kindern konnte man in der Stadt nichts anfangen, also wurden sie verauktioniert. O, Bob – das war ein fürchterlicher Tag, und mehr als einmal habe ich während dieser Stunden bei mir gedacht, daß es eine schreckliche, aber gerechte Wiedervergeltung sei für die Menschenopfer von Dahomey! Was meine Väter viele Menschenalter hindurch ihren Untertanen zugefügt hatten, das wurde jetzt gerächt – es war zum Sterben traurig, Bob, aber doch noch besser, als wäre ich regierender König geworden und hätte Leid über andere Menschen gebracht! – Unser Herr berief uns alle zu sich. Er war so blaß wie eine frischgetünchte Wand, als er das schreckliche Urteil ausgesprochen hatte. ›Ihr wißt es, Leute‹, sagte er, ›ich kann nicht anders. Ich würde in Gottes Namen Konkurs erklären und als Squatter im Urwald neu wieder anfangen, wenn ich damit so viele Familien vor Leid und Unglück bewahren könnte, aber was würde das nützen? Meine Gläubiger verkaufen euch doch.‹ Niemand antwortete ihm, denn da war kein einziger, der nicht gewußt hätte, daß der arme Mann die Wahrheit sprach. Einen Eigentümer mußte damals jeder Sklave haben, so gut wie jedes Haustier, wie jeder Gegenstand irgend jemand gehören muß. Es erhob sich keine Stimme, kein Widerspruch, nur ein verhaltenes Schluchzen hörten wir, – das kam von einem, der mit seiner alten Mutter zusammenlebte und der es nicht ertragen konnte, ruhig an den Verkauf der gebrechlichen alten Frau zu denken. Unser Herr legte seine Hand über die schmerzende Stirn. ›Wenn ihr mich tötet‹, sagte er, ›wenn ihr mich nicht lebend aus eurer Mitte laßt, – so kann ich das begreifen.‹ Und da tat es mir im Herzen leid um den unglücklichen Mann, Bob. Ich ging zu ihm, der immer gütig und freundlich gewesen war, und gab ihm die Hand, ein Mensch dem andern. Und alle meine Brüder taten dasselbe.« »Mongo, Mongo, – ich hätte ihn zwischen meinen Fäusten erwürgt!« Der Neger sah ruhig in die glänzenden Augen seines jungen Gefährten. »Weil du noch keine Besonnenheit kennst, Bob, weil du bis jetzt nur das für wahr und echt hältst, was sich wie ein Wirbelsturm Bahn bricht«, antwortete er. »Glaub mir, ich fühlte es tief genug, als sich mein Weib und meine Kinder zum letztenmal an mich hingen, aber ich trug das für mich allein, Bob, ich machte weder den Meinen, noch dem armen Herrn das Herz schwerer, als es ja schon war.« Robert verstummte vor dieser Seelengröße des armen alten Negers. »Er ist mehr Fürst, als er selbst ahnt«, dachte er. »solche Gesinnung muß man wahrhaft königlich nennen.« »Hast du die Deinen nie wiedergesehen, Mongo?« fragte er nach einer Pause. »Meine älteren Söhne!« antwortete der Neger. »Sie haben mich, als später der Bürgerkrieg ausbrach, aufgesucht und dann Seite an Seite mit mir für die Freiheit des schwarzen Volkes gekämpft. Sind beide an einem Tage gefallen, die armen Jungen – ich selbst habe sie begraben.« »Armer Mongo! – Und deine anderen Kinder, deine Frau?« »Der Jüngste lebt. Ich sagte ja, er ist in deinem Alter und fährt zur See wie wir. Von meiner Frau und meiner Tochter habe ich nie wieder gehört. Sie sind damals nach Matanzas verkauft und meinen Nachforschungen ganz entzogen worden.« »Aber Mongo, wie ist es einem Menschen möglich, das alles so ruhig zu ertragen? Ich an deiner Stelle hätte – –« Der Neger lächelte. »Nun, kleiner Bob, was hättest du?« »Ich weiß es nicht!« gestand Robert. »Aber sicher ist es, daß ich niemals lernen werde, ein Unglück oder etwas, das sich meinen Absichten gerade in den Weg stellt, mit Ruhe oder sogar mit Ergebung zu tragen.« Mongo sah ihn gutmütig spottend an. »Wollen es noch nicht aufgeben«, antwortete er. »Die Zeit ändert vieles und macht aus jungen Brauseköpfen ernste, verständige Männer. Wir müßten allerdings erst einmal wieder aus dieser Einöde heraus und unter Menschen sein, bevor es überhaupt möglich ist, an irgend etwas anderes zu denken. Findest du nicht, daß der Boden allmählich an Festigkeit verliert?« Robert erschrak. »Mongo«, stammelte er, »du hast recht. Was bedeutet das?« Der Neger blickte sorgenvoll über die endlose Niederung. »Es ist ein Sumpf in der Nähe!« antwortete er. »Wir gehen ihm entgegen, furchte ich.« »Mein Gott, – was soll dann aus uns werden?« Der Neger schwieg, und beide gingen vorwärts. Immer unsicherer wurde das Erdreich unter ihren Füßen, bis endlich ein weiteres Vordringen unmöglich war. Robert schleuderte einen Stein etwa zwanzig Schritte weit voraus, und schon dort spritzte der Schlamm hoch auf. »Was nun?« dachte er unwillkürlich. Mongo prüfte bedächtig beide Seiten des langgestreckten Tales. Zur Linken die steile Felsenkette mit himmelhohen Spitzen, zur Rechten niedere Anhöhen, zerklüftet und unwegsam, aber doch die einzige Aus sicht auf einen festen Fußpfad, der sich wenigstens betreten ließ, ohne plötzlich unter den Schritten der Wandernden zu versinken. »Dorthin müssen wir uns wenden!« sagte er. »Es ist fast aussichtslos, fürchte ich, aber dennoch – laß uns das letzte versuchen.« »Wie mich der Durst quält!« seufzte Robert. »Was gäbe ich um eine Handvoll von dem Schnee, der dort oben liegt!« »Mir wäre ein Fuhrwerk lieber«, versuchte der Neger zu scherzen. »Die alten Beine wollen nicht so recht weiter, besonders wenn man Seemann ist, der immer nur im Vorschiff wie auf einer Präsentierschüssel umherstelzt, ohne die Kräfte anders als mit den Fäusten zu üben.« Inzwischen suchten die beiden Verirrten den Rand des Sumpfes, um auf kürzestem Wege in das jenseitige Felsengebirge hinüberzugelangen. Ihre Richtung verlor dadurch den südlichen Strich und wurde etwas westlich, aber das ließ sich nicht ändern, weil ihnen keine andere Wahl blieb. Nach stundenlangem Klettern, Überspringen und Ausbiegen war endlich ein Zugang gefunden, und die beiden Wanderer nahmen ihre alte Richtung wieder auf, ohne zu wissen wohin. Der Hunger quälte beide, die Schwäche des Negers wurde immer größer und die Beschwerden des Weges von Viertelstunde zu Viertelstunde unerträglicher. Manchmal öffnete sich unter ihren Füßen plötzlich die Erde, und ein Felsspalt, ins Bodenlose hinabgähnend, zeigte sich, dann wieder schoß springend und stäubend ein Gießbach rechts oder links über die Klippen herab, fast ihren Lippen erreichbar, nur auf wenige Meter von ihnen getrennt, aber durch eine Kluft von schwindelnder Tiefe. Robert beugte sich halb verzweifelt vor, so weit es ihm irgend möglich war, er suchte mit den Händen das Wasser zu erreichen, aber ganz vergeblich. Der Wasserstaub befeuchtete sein Gesicht, während er vor Durst gerade durch die Nähe des Wassers rasend wurde. »Es ist vergeblich«, seufzte er. »Laß uns weitergehen, Mongo, ich kann den Bach nicht sehen, ich sterbe beinahe vor Durst.« Der Alte richtete sich aus seiner zusammengesunkenen Haltung wieder auf. »Daß dich nach dem kalten Wasser so verlangt«, murmelte er, »ich begreife es nicht. Mir wäre ein bißchen Wärme viel lieber. Hu, wie kalt es hier oben ist.« Wieder ging es vorwärts, ohne daß weiter gesprochen wurde. Es schien, als sei die Lage zu ernst, zu unerträglich, um noch eine Unterhaltung zuzulassen. Nur manchmal hustete der Schwarze, wenn ein neuer Windstoß, kälter als die früheren, über den Höhenkamm daherfuhr. Die Sonne begann hinter den Bergen zu versinken. Robert dachte mit Grauen an den Einbruch der Nacht und an die Notwendigkeit, diese langen, düsteren Stunden frierend und hungernd auf den Steinen zu verbringen. Ihn schwindelte bereits, sein Kopf schmerzte, und der Wunsch, um jeden Preis zu schlafen, wurde immer stärker. Er hätte die Augen schließen und alles um sich herum vergessen mögen. »Wärme!« ächzte Mongo, »ach, Wärme! Ich kann nicht weiter.« »Wasser, Wasser, – meine Zunge klebt am Gaumen.« »Laß uns eine Stelle suchen, wo wir sitzen können«, flüsterte matt der Neger. »Meine Füße tragen mich nicht mehr. Oder nein, Bob, geh du allein weiter, geh in Gottes Namen, mein Kind, und überlaß mich dem Tode, der schon seine Arme nach mir ausstreckt. Du sollst nicht bei mir bleiben, hörst du?« Robert schüttelte den Kopf. »Nein, Mongo, niemals. Ehe ich dich verlasse, sterben wir beide zusammen. Nein, keine Macht der Welt ändert diesen Entschluß.« Der Alte blieb erschöpft stehen. »Wie plötzlich das kommt«, murmelte er. »Ich kann unmöglich weitergehen, Bob.« Robert zog den Arm des Negers unter den seinen. »Dort sehe ich eine Art Vorsprung oder Plattform«, sagte er, »komm, Mongo, stütze dich auf mich. Wir wollen langsam hingehen.« Schritt für Schritt den taumelnden alten Mann führend, gelangte er zu einer Art Terrasse oder natürlicher Bank, vor der sich ein breiter Felsspalt öffnete. Was auf der andern Seite lag, war schwarzer, verwitterter Fels mit zahllosen Schluchten und Höhlungen, deren tiefes Dunkel ihm unheimlich entgegengähnte. Robert kümmerte sich nicht mehr darum. Er selbst war weit entkräfteter, als er dem Alten zugestehen wollte, und auf seinen Augenlidern lastete es wie Blei. »Das ist der Tod«, dachte er. »Hunger und Kälte drohen uns zu besiegen. Oh, es wäre schrecklich, hier zwischen nackten Felsen zu sterben, von aller Welt verlassen – den Raubtieren zur Beute.« Mongo legte die todkalte Rechte auf seines jungen Freundes Schulter. »Bob«, sagte er noch einmal, »Bob, geh fort. Du mußt leben, weil du jung bist, um deiner Zukunft, deiner Eltern willen. Geh, weshalb willst du mich sterben sehen? – Noch bist du nicht hungrig genug, um mein Blut trinken zu können. – Geh! – Geh! –« Robert schluchzte, ohne es zu wissen, aus Schwäche. »Dein Blut, Mongo? Großer Gott, sprich nicht so schreckliche Worte! – Ich sterbe mit dir, oder wir – –« Er unterbrach sich plötzlich selbst. »Mongo, was ist das? – Ein Schatten, der sich bewegt, dort, – dort!« Seine ausgestreckte Hand deutete auf den gegenüberliegenden Felsen. »Sieh, Mongo, ich bitte dich, sieh!« Der Neger öffnete gleichgültig die Augen. Ein matter, seelenloser Blick streifte die bezeichnete Richtung. »Wo, Bob, ich sehe nichts?« Im nächsten Augenblick sanken die Wimpern bereits schwer wieder herab. Seine Lippen bebten wie die eines bewußtlosen Fieberkranken. Roberts Herz klopfte schneller. Dort drüben bewegte sich ohne Zweifel ein lebendes Wesen. Schatten zuckten auf und verschwanden, er sah es deutlich – und er sah sogar noch mehr, – den Kopf eines Tieres mit geöffnetem Maul und lechzender Zunge, – er hörte ein heiseres Schnaufen – »Mongo, Mongo, ein Wolf!« Er konnte sich nicht mehr um den Alten kümmern. Langsam erschien jetzt hinter der Felsenecke auf der andern Seite der breiten Kluft die hagere, langgestreckte Gestalt des Raubtieres. Der dicke, unförmige Kopf, die falschen, schiefstehenden Augen, besonders aber die heiße, rote Zunge verrieten den schlauen Feind, der nur von äußerstem Hunger getrieben werden kann, einen lebenden Menschen anzufallen, der dann aber auch alles daransetzt und unerbittlich sein Opfer verfolgt, bis er es gepackt und überwältigt hat. Das Tier mußte halb verhungert sein, denn es bestand fast nur noch aus Haut und Knochen. Das fahlgelbe, ins Weißliche spielende Fell hing ihm schlotterig um die Rippen, und der lange behaarte Schweif schleppte am Boden. Fast schien es, als sei das Tier im Begriff, zum Sprung anzusetzen, dann aber zog es sich plötzlich zurück, als ob es fürchtete, daß für die weite Entfernung seine Kraft nicht ausreichen werde. Es stieß ein kurzes, dem Hundegebell ähnliches Kläffen aus und beobachtete die beiden unerwarteten Gäste seines Felsengebietes. Robert hatte alle seine Geistesgegenwart beisammen. Er maß in Gedanken die Breite der Kluft und fragte sich, ob der Angriff wahrscheinlich sei. – Wenn das Tier glücklich herüberkam, dann war er verloren, dann gab es gegen diese fürchterlichen Zähne keine Waffen. Natürlich, er hätte fliehen können, aber dann mußte er den hilflosen Alten im Stich lassen. Doch der Gedanke lag ihm völlig fern. »Nie, nie, und wenn ich in der nächsten Minute von den Fangzähnen des Tieres in Stücke zerrissen werde!« Fast schien es, als sollte es so kommen. Der Wolf trat an den äußersten Rand des Felsens, setzte Vorder-und Hinterläufe so nahe wie möglich nebeneinander und duckte sich zum gewaltigen Sprung. Ihn trieb der nagende Hunger, selbst das Aussichtsloseste zu unternehmen, um nur überhaupt etwas für die knurrenden Eingeweide zu erjagen. Robert wurde immer ruhiger, je näher der entscheidende Augenblick herankam. Er wußte, was ihm allein übrig blieb, wenn der Wolf den Sprung wagte, und er war entschlossen, sein eigenes und Mongos Leben so teuer wie möglich zu verkaufen. Seine Fäuste waren geballt, seine Augen begegneten dem Blick des Raubtieres. Da erhob sich der Wolf, wie es schien zögernd, mit innerem Widerstreben zum Sprung. Im nächsten Augenblick schwebte die dürre, gelbe Gestalt über dem Abgrund in der Luft. Das war es, worauf Robert gewartet hatte. Mit aller Kraft warf er die linke Faust der Bestie entgegen, während er sich selbst mit der Rechten an den Felsen klammerte. Hätte der Wolf mit Krallen oder Zähnen die andere Seite erreichen können, so würden ihn selbst die vereinten Kräfte mehrerer Männer von dort nicht wieder vertrieben haben, während bei dem übermäßig weiten Sprung schon der Stoß von Roberts Faust genügte, um das Tier aus dem Gleichgewicht zu bringen. Sekundenlang drehte sich, mit allen Gliedern arbeitend und ringend, das große Tier in der Luft, dann stürzte es mit dumpfem Poltern, hier und da aufschlagend oder die Wände streifend, hinab in das Bodenlose. Robert hörte ein kurzes Ächzen, einige röchelnde Töne, – und darauf wurde alles still. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, der trotz des eisigkalten Windes in großen Tropfen daraufstand. Er fühlte, daß er taumelte, daß sich alles um ihn drehte. Und was war das? – Was lief ihm warm über die linke Hand herab? Blut! – Ganze Ströme von Blut. Eine tiefe Fleischwunde zog sich über die obere Fläche der Hand hin, vielleicht von den scharfen Felszacken gerissen, vielleicht von den Zähnen des wütenden Tieres. Robert sah sich rasch nach dem Alten um. Was hatte vorhin der Neger gesagt: »Mein Blut möchtest du ja doch nicht trinken!« Das fiel ihm jetzt plötzlich wieder ein. Vielleicht ließen sich dadurch die schwindenden Kräfte des Verhungernden zurückhalten, vielleicht konnte Mongo noch schlucken und sich erholen. Er trat zu dem Betäubten, legte dessen Kopf in seinen rechten Arm und ließ von der Wunde der linken Hand das Blut auf die halbgeöffneten Lippen träufeln. Schon bei den ersten Tropfen sah er, wie Mongo begierig sog, aber offenbar ohne Bewußtsein, was um ihn herum geschah. »Es ist gut«, dachte Robert, »daß mich der Wolf ein wenig geschrammt hat. So konnte ich dem armen Mongo doch noch einen letzten Dienst erweisen. Wir werden nun beide schlafend erfrieren. Aber mich freut es doch, daß ich den Wolf tötete, – es muß gräßlich sein, lebend von Zähnen und Krallen zerrissen zu werden.« Nachdem die Wunde ausgeblutet war, ließ er den Kopf des Negers sanft gegen die Felsenlehne zurücksinken und suchte selbst eine etwas bequemere Stellung. Mongos Lippen bewegten sich. »Das war gut«, murmelte er, »ach, so warm. Nun möchte ich schlafen.« Robert lächelte, während ihm sein Herz schwer wurde. Er nahm in Gedanken Abschied von allen, die er liebte. Morgen mit Tagesanbruch würde er tot sein, er fühlte es, und der nächste Wolf, der dann des Weges kam, würde zwei Leichen zum Fraß vorfinden. Hin Schauer überrieselte ihn. Gab es denn keine, – keine Rettung? Nein, es war alles verloren. Schon der Versuch, aufzustehen und einige Schritte zu gehen, mißlang vollständig. Sobald er sich erhob, drehten sich Felsen und Klüfte, ja selbst die Sterne am Himmel im Kreise herum. Und dabei fühlte er weder Frost noch Hunger, nur eine unbeschreibliche Mattigkeit, ein Verlangen nach Schlaf, das fast bis zur Betäubung gesteigert war. Er schloß die Augen und faltete die Hände. »Vater im Himmel, dir befehle ich meine Seele, – vergib mir meine Schuld und laß mich – selig auferstehn – – –« Ein Lächeln umspielte seine Lippen. Er fühlte sich wie auf Flaum gebettet, wie getragen, und aller Druck war von seiner Brust genommen. Tönten nicht dort durch die Stille des Abends leise Glöckchen? Bewegten sich nicht dunkle Schatten durch den Felsenpaß auf ihn zu? Ein halblauter Anruf durchdrang die Luft. Wie Gespenster verschwanden die nächtlichen Gestalten, – nur ein leises Knacken war rings in den Felsspalten zu hören. Robert lächelte. Er wußte es jetzt, ihm hatte von der ganzen grauenvollen Wanderung durch die Steinwüste nur geträumt, – er war nicht einsam, nicht verlassen, sondern Menschen beugten sich über ihn, faßten seine Hände und redeten in fremder Sprache. Er wurde aufgehoben, ein scharfer Geruch drang in seine Nase, und heiß wie fließendes Feuer lief Branntwein durch seine Kehle hinab. Auf flüchtige Augenblicke erwachte er ganz. Im Sternenschein sah er kleine, dunkelhäutige und seltsam in Rentierfelle gekleidete Menschen um sich herum versammelt, er hörte, daß sie miteinander sprachen und fühlte die Wärme des eingeflößten Branntweins alle seine Adern durchrieseln. »Das sind wandernde Lappen«, dachte er glück lich, »gottlob, wir sind gerettet!« Und dann konnte er dem Schlaf nicht länger widerstehen – – Als er erwachte, strahlte die Sonne hell vom Himmel herab. Ein Dach aus Rentierfellen wölbte sich über seinem Kopf, Felle lagen unter ihm und auf ihm, während Mongo an seiner Seite ebenso weich gebettet noch fest schlief. Der Alte atmete ruhig, seine Farbe war nicht mehr so grau, sein ganzes Aussehen besser. Robert schob die Felle zurück und erhob sich, um mehr zu erfahren. Als er durch eine Spalte der Zeltbahnen hinaustrat ins Freie, drohten zwar seine Füße noch den Dienst zu versagen, aber er überwand diese Schwäche und blickte um sich. Ein vollständiges Zeltlager der Wanderlappen lag vor ihm. Überall waren auf starke Pfähle die Rentierfelle gespannt, überall wimmelte es von den braunen Gestalten, die hin- und herliefen, um auf heißen Steinen ihre Mehlkuchen zu backen, die Rentiere zu beaufsichtigen oder zu melken und sie dann hinunterzutreiben in das Tal, wo Rentierflechte und Moos wuchsen, das sich die klugen Geschöpfe selbst suchten. Nur ein mächtiges, großes Tier, ein Sechzehnender mit mehreren Glöckchen um den schlanken Hals, stand festgebunden neben einem Zelt, das etwas größer war als die übrigen. Dieses Ren schien gegen alle sonstige Gewohnheit als Reittier zu dienen, denn auf seinem breiten Rücken lag ein Sattel aus Leder und Wollzeug. An den Zeltstangen hingen Zügel, Peitsche und verschiedene Geräte, während alles nach großer Armut aussah. Die Kleidung schien bei Männern und Frauen gleich zu sein; sie bestand überall aus einem langen Pelzrock, der enge Beinkleider, ebenfalls aus Pelz, erkennen ließ. Dazu kam eine spitze, mit Federn geschmückte Mütze und sogenannte »Komager«, selbstgefertigte plumpe Stiefel aus Rentierleder. Eine kurze Pfeife sah Robert bei fast allen Männern und Frauen. Er hatte Zeit genug, sich umzusehen, da sich niemand besonders um ihn kümmerte, sondern jeder ganz mit dem Frühstück beschäftigt schien. Eine alte Frau, abschreckend häßlich und braun wie eine Indianerin, hockte neben einem flachen Fels, auf dem ein helles Feuer loderte. Sie rührte in dem darüberhängenden eisernen Kessel und sang mit tiefem Kehlton ein Lied, dessen schwermütige Weise zu der ganzen verödeten Umgebung besonders gut paßte. Als letztes Wort eines jeden Verses hörte Robert immer einen und denselben Namen: »Jubinal« – »Das wird die Zauberin des Stammes sein«, dachte er. »Die heilt Kranke und bespricht das Vieh und liest in den Sternen. Vielleicht gehört ihr sogar dieses schöne Rentier mit seinen klugen Augen.« Er streichelte den braunen Rücken, während ihn die Alte heimlich beobachtend ansah. Dann stand sie auf und brachte ihm einen hölzernen Napf voll dampfender Milchsuppe und einen Löffel. Ihre Gebärden luden ihn ein, sich zu setzen und zu essen. Robert übersah den schwärzlichen Rand der Schüssel und den plumpen Löffel von äußerst zweifelhafter Sauberkeit; er atmete mit wahrem Entzücken den Duft der frischen Milch. Aber das wollte er nicht allein haben, sondern Mongo sollte es mit ihm teilen. Er nickte lebhaften Dank und wollte ins Zelt zurückkehren, als ihn die Alte am Arm festhielt. Ihre Handbewegungen zeigten ihm, daß für seinen Begleiter noch reichlich Suppe da sei, er möge nur ruhig essen. Und so setzte er sich denn auf ein Felsstück, um das sonderbare Mahl zu beginnen. Einige Lappen brachten ihm heiße Mehlkuchen, die er vielleicht zu Hause in Pinneberg kaum für Pikas gut genug gefunden hätte, die ihm aber, erfroren und halb verhungert wie er war, ganz köstlich schmeckten. Das Mütterchen am Herd füllte mit stillem Lächeln zum zweitenmal den großen Napf und freute sich sichtlich, als auch diese Portion hinter Roberts Lippen verschwand. Was sie sagte, klang so entschieden wie ein »Nun wirst du's aushalten, mein Söhnchen«, daß er den Sinn deutlich heraushörte und mitlachte. Seine Kräfte waren jetzt so ziemlich zurückgekehrt, und sein Mut hatte seine alte Spannkraft vollständig wiedergefunden. Er ging von einer Gruppe zur anderen, versuchte überall vergeblich, in deutscher oder englischer Sprache eine Unterhaltung anzuknüpfen, und ließ sich endlich eine jener kurzen, verräucherten Pfeifen anbieten, die von allen geraucht wurden. Nachdem er schließlich alle einzeln begrüßt hatte, ging er in sein Zelt zurück und sah nach dem Neger. Mongo lag mit offenen Augen da und schien zu glauben, daß er träume. Ein Dach über ihm, warme Felle um ihn herum – er begriff nicht, was das alles bedeuten könne. »Bob!« murmelte er. »Bob, wo sind wir?« Robert lachte. »Noch auf derselben Stelle von gestern, Alter«, rief er fröhlich. »Die Geister des Gebirges haben uns alles Nötige hergebracht und stehen auch weiterhin zu unserer Verfügung. Soll ich sie dir zeigen?« Mongo richtete sich mühsam auf. »Du sitzst schon wieder auf dem hohen Pferd, Spitzbube,« sagte er gutmütig lächelnd. »Leih mir für ein paar Züge die Pfeife, hörst du!« Robert gab sie ihm sofort, und der Schwarze rauchte tüchtig drauflos. »Ach«, sagte er, »das wärmt, – das tut gut!« Und als er eine Zeitlang sinnend dagelegen hatte, während der heiße Rauch sein Gesicht umspielte, heftete er plötzlich auf Robert einen fragenden Blick. »Du«, sagte er, »Bob, was war das gestern, was hast du mir zu trinken gegeben? Es hat mir im letzten Augenblick geholfen! – War es Branntwein aus den Flaschen der Lappen?« Robert errötete. »Ich glaube wohl, Mongo!« versicherte er. Da sah der Neger die große, klaffende Wunde. »Bob«, rief er, »Bob, du sprichst die Unwahrheit, – du hast mich dein Blut trinken lassen, du guter Kerl!« Der Junge lachte. »Mach um Gotteswillen keine Heldentat daraus«, sagte er in heiterem Ton. »Der Wolf hatte das Loch gerissen, also konnte ich dir wohl den angenehmen Trunk in den Mund laufen lassen! Brr, ich sollte dich eigentlich um Verzeihung bitten, Mongo!« Der Neger reichte ihm matt die Hand. »Du bist ein braver, herzensguter Junge, Bob«, sagte er gerührt, »und wenn mein Leben auch nur das eines alten Niggers ist, – gerettet hast du's doch!« Robert schüttelte die dargebotene Hand. »Und so weiter!« lachte er. »Jetzt steh nur auf, Alter, und stütze dich auf mich, daß du hinauskommst in den Frühstückssalon aus Felsen mit einer blauen Wolkendecke darüber. Draußen wächst eine warme Milchsuppe, sage ich dir, daß dein Magen verborgene Schleusen auftut und mehr vertragen kann, als sonst in vier Mahlzeiten!« Er half dem Alten, sich zu erheben, und führte ihn dann in die Sonne, wo er zitternd auf den nächsten Sitz zurücksank. »Hat mich doch verteufelt angegriffen, Bob«, murmelte er. »Bin noch ganz schwach!« Robert sprang zurück und brachte einige Felle, die er dem Alten über die Schultern legte, und dann erschien auch das braune Weib mit der Holzschale, deren Inhalt den Neger neu belebte. Er schlürfte in langen, behaglichen Zügen. »Du«, sagte er endlich, »hat sich der Häuptling schon gezeigt, oder sahst du ihn noch nicht?« »Welcher Häuptling, Mongo?« »Nun, einen Anführer wird der Stamm doch haben, Kind. Und in diesem Zelt hier wohnt er.« Seine ausgestreckte Rechte deutete auf das größere und etwas sorgfältiger hergerichtete Zelt, das Robert schon früher aufgefallen war. »Das ist der Priester oder Anführer«, fügte er hinzu. »Dort hinter den Fellen steckt er, das kannst du mir glauben.« »Dann locke ihn heraus, Mongo.« Der Neger lächelte. »Wie leicht du umspringst mit solcher braunen Majestät, Bursche. Und nebenbei – wer kann sich in seiner Sprache verständlich machen?« »Ja, da steckt der Knoten. Ich hoffte, daß diese braunen Kerle dänisch reden würden, dann hätte ich zur Not antworten können, aber es muß mehr russisch sein, was sie sprechen, – dem Grunzen ihrer Rentiere nicht unähnlich.« »Du junger Taugenichts, wie dir der Kamm schwillt, sobald es dir einigermaßen leidlich geht! – Und ich habe dich doch gestern abend beten hören – oder dachtest du vielleicht laut, als es schien, daß alles verloren sei.« Robert drohte errötend dem Alten mit dem Zeigefinger. »Nun«, sagte er, »darf denn ein tüchtiger Kerl nicht mehr in der Not seinen Herrgott anrufen, ohne von solch einem bösartigen, hinterlistigen Mongo gleich belauscht zu werden? Du Erzschelm stelltest dich schlafend, um mich den Wolf allein töten zu lassen, jetzt weiß ich's.« Der Neger sah fragend von seiner Suppenschüssel auf. »Den Wolf, Bob? Ich denke, du hast die Geschichte nur geträumt!« »Dachtest du!« lachte Robert. »Das Tier liegt dort drüben im Abgrund, und hier meine Hand zeigt die Spuren des Kampfes.« Er hob die Wunde empor, so daß Mongo heftig erschrak. »Nun, nun«, rief er, »und damit läufst du so ruhig umher, als sei es ein Mückenstich. Aber warte, die braune Hexe dort wird bestimmt irgendeine Salbe besitzen, oder ich müßte mich auf solche klugen Mütterchen nicht verstehen.« Er erhob sich und ging mit langsamen Schritten, noch schwankend wie ein Schiff unter vollen Segeln, auf den Herd zu und setzte sich dort neben die Alte, mit der er eifrig gestikulierend ein Gespräch anzuknüpfen versuchte. Beide redeten, konnten sich aber kaum verständigen. Schließlich mußte Mongo seinen Zweck erreicht haben, denn das Mütterchen humpelte fort, um aus einem der Zelte einen alten, verrosteten Blechnapf herbeizuholen, den sie von einer dichten Staubschicht befreite, einige Splitter und Steine herauswarf, und darauf mit einem Messer etwas von dem Inhalt auf ein weiches Lederläppchen strich. »Komm her, Bob!« rief der Neger. »Laß dir die Hand verbinden!« Robert näherte sich gehorsam. »Weiß Gott«, dachte er, »wie sich die beiden alten Menschen verständigt haben. Es muß schon so eine Art von Verwandtschaft sein, die sie beide fühlen, anders könnte ich mir die Sache nicht erklären.« Er ging aber doch hin und spürte auch schon sehr bald die heilende Wirkung der Salbe. Das Brennen an den Rändern der Wunde hörte auf, die straffgespannte Haut wurde wieder weich, und die Röte ging zurück. Mongo erklärte, daß jetzt die Sache ohne Gefahr sei. »Und wo haben wir nun den erlegten Wolf?« fragte er. »Der Bursche muß doch diesen guten Leuten sein Fell abtreten, wenn die Kluft nur einigermaßen zugänglich ist.« Robert ging rasch zu der Stelle, die ihm vom gestrigen Abend her noch deutlich in Erinnerung war, und blickte in den sonnenbeleuchteten Abgrund hinab. »Da unten liegt der Räuber«, rief er. »du kannst ihn von hier aus deutlich sehen, Mongo, aber heraufholen läßt er sich nicht. In den zackigen Spalt würde kein Mensch hinabsteigen können.« Mongo lächelte. »Wir nicht, Bob, aber unsere braunen Freunde können das. Gib nur acht, was du erleben wirst.« Er winkte einen der Lappen zu sich heran, zeigte ihm in seiner Gebärdensprache das erlegte Tier und versuchte ihm klar zu machen, daß Robert der glückliche Sieger sei. Der Rentierjäger schien kaum seinen Augen zu trauen. »Mit der bloßen Faust?« fragten seine erstaunten Augen. Robert nickte lachend. Er deutete in den Abgrund hinab und schüttelte den Kopf, als wolle er sagen: »Aber dorthin führt doch kein Weg?« Der Lappe pfiff durch die Zähne. Dann besprach er sich mit einigen anderen, die neugierig herbeikamen und lebhaft durcheinander redeten. Der ganze Trupp machte sich an die Untersuchung der Felsschlucht, um auszukundschaften, ob nicht ein Weg hinabführe auf den untersten Grund, aber hier war alle Mühe vergebens, – man mußte von oben hineinsteigen, oder man kam niemals dahin. Robert bat die Leute, das Wagnis aufzugeben, fand jedoch damit kein Gehör. Im Gegenteil, der gewandteste Bursche ließ sich von den andern ein festes Seil um den Leib schnüren, das drei Männer festhielten, und kletterte dann mit einem langen, unten zugespitzten Gebirgsstock von Klippe zu Klippe in die Schlucht hinein. Mehr als einmal verloren seine Füße den festen Halt, so daß er plötzlich über der schwindelnden Tiefe in freier Luft am Seil schwebte, aber ohne ein Zeichen von Hast oder Unruhe suchte er die nächste Spitze, die ihm erlaubte, darauf zu treten, und gelangte so allmählich von Stufe zu Stufe immer tiefer hinab. In der Mitte des Weges verengte sich der Spalt, und es schien unmöglich, hier eine freie Bewegung auszuführen. Während der tollkühne Jäger mit halbem Körper zwischen den Felsen stand, konnte er nicht sehen, wohin seine Füße traten, sondern suchte tastend mit den Zehenspitzen nach einem erreichbaren Halt. Oben schwieg alles. Robert und Mongo sahen sich an. »Was wird er jetzt tun?« dachten beide, ohne jedoch auch nur ein einziges Wort zu sprechen. Der Lappe rief in seinen tiefen Kehltönen einige kurze Silben herauf, und sogleich ließen die drei Männer, die ihn hielten, langsam das Seil in die Tiefe hinab, bis endlich aus der Schlucht ein neuer Zuruf verkündete, daß unten der Jäger wieder festen Fuß gefaßt hatte. Frei am Seil hängend, hatte er sich furchtlos von den Fäusten der Obenstehenden durch den Engpaß tragen lassen und konnte jetzt wieder klettern. Robert klatschte unwillkürlich in die Hände. Das war mehr, als selbst ein tüchtiger Seemann leisten konnte, der im Sturm außenbords die Strickleitern erklettert. Diese Ruhe, diese tollkühne Sicherheit flößten ihm hohe Achtung ein. »Bravo!« rief er. »Bravo!« Die Lappen beachteten seinen Beifall kaum. Sie hielten die ganze Sache höchstwahrscheinlich für ein sehr alltägliches Ereignis und dachten nur an die Wolfshaut, die sie um jeden Preis an sich bringen wollten. Vom Grunde der Schlucht herauf hörte man jetzt wieder einige Worte, worauf das Seil sofort nachgab. Während es einer der Männer festhielt, liefen die beiden anderen fort, um ein zweites, ähnliches herbeizuholen, das dann auf den Felsboden der Schlucht herabgelassen wurde. Nachdem der untenstehende Jäger dies Seil an dem Körper des toten Wolfes befestigt hatte, ließ er sich in derselben Weise, wie er hinuntergekommen war, auch wieder heraufbefördern, und dann machten sich alle vier daran, mit vereinten Kräften den Wolf heraufzuziehen. »Siehst du!« sagte Mongo. »Ich wußte es wohl. So verbringen diese Menschen das ganze Leben. Immer in Gefahr, immer auf der Jagd, kletternd und springend, die gesunden Glieder aufs Spiel setzend und den Tod verachtend, – das ist ihr Beruf. Im Sommer fangen sie auf unzugänglichen Klippen und in tief versteckten Felsenhöhlen die jungen Möwen, die Alken und Schwimmvögel, im Winter jagen sie das Ren, und zu allen Jahreszeiten kämpfen sie mit großen Raubtieren, um doch für diese unausgesetzten Mühen und Gefahren kaum soviel zu haben, daß sie sich jeden Tag satt essen können. Das ist der strenge, geizige Norden.« Roberts Augen leuchteten. »Aber er erzieht Männer, Mongo!« antwortete er. »Im Süden gibt die Erde dem Menschen freiwillig alles, was er braucht, und erschlafft ihm daher ebenso, wie sie ihn übermütig macht. Denke an die Menschenopfer von Dahomey, Alter, und frage dich, ob sie hier im Norden unter solchen Männern möglich wären?« Mongo wiegte den Kopf. »Hm, hm«, antwortete er. »Menschen werden nicht mehr abgeschlachtet, das ist sicher, aber dennoch –« »Nun, Mongo, dennoch?« – Der Neger hob die Hand. »Ich weiß nichts Bestimmtes«, sagte er, »möchte aber behaupten, daß diese Leute doch noch Heiden sind. Es gibt so kleine Zeichen dafür.« Robert schüttelte den Kopf. »Das ist unmöglich, Alter. Seit länger als hundert Jahren sind die letzten Lappen zum Christentum bekehrt, werden getauft und konfirmiert wie alle anderen schwedischen oder norwegischen Bürger.« Mongo lachte. »Ja, Bob, das wohl. Sie zahlen auch Steuern und sind doch Wilde, ebenso lassen sie ihre Kinder taufen und beten doch zu Pakal und Jubinal. Ich bin schon einige Male in Trondhjem gewesen und habe selbst mit Leuten gesprochen, die das Innere Skandinaviens bereist hatten. Dorthin gehen noch heute die Missionare ebenso wie nach Grönland oder Afrika.« – Die Lappen hatten mittlerweile den toten Wolf heraufgezogen und über den Rand des Abgrundes auf die feste Erde gelegt. Das Tier war ein Riese seiner Art, fast anderthalb Meter lang, und mit Zähnen, die auch dem Mutigsten Furcht einflößen konnten. »Armer Kerl!« lachte Robert, »du hofftest, halb verhungert wie du warst, auf einen fetten Braten und fandest dagegen den Tod.« Mongo nickte. »Ging es Sheppard und Morris besser als diesem Tier?« fragte er. »Sie wollten Gewalt an die Stelle des Rechts treten lassen und mußten es mit ihrem eigenen Leben bezahlen. Wer andern eine Grube gräbt, fallt selbst hinein.« »Die Unglücklichen!« schauderte Robert. »Sahst du ihre Leichen, Mongo?« Der Neger schüttelte den Kopf. »Ich sah einen Hai, Bob, der mit grünlich schillerndem Rücken die Trümmer des gestrandeten Schiffes umschwamm. Ein Delphin glitt an ihm vorüber, ohne daß er es bemerkte, – er mußte also wohl sehr satt sein – –« Robert antwortete nicht. Seine Blicke bewunderten die schnellen Handgriffe, mit denen das Fell abgezogen und der Körper des Tieres zerlegt wurde. Während die unbrauchbaren Überreste ohne lange Umstände wieder in den Felsspalt geworfen wurden, hing man die ganze Beute an ausgespannten Seilen auf, um sie von dem scharfen Nordost vollständig austrocknen zu lassen. Die Lappen gingen in den Zelten ihren verschiedenen Arbeiten nach, machten Holzschnitzwaren, verfertigten aus Rentiersehnen einen groben Zwirn und strickten Handschuhe. Die Frauen webten einen braunen Wollstoff, aus dem ihre Sommerkleider bestanden, und das alte Mütterchen kochte auf den Steinen des Herdes zum Mittagsmahl ein Stück gedörrtes Rentierfleisch, dem Zwiebeln und verschiedene Wurzeln zugesetzt wurden. Noch immer hatte sich die Tür des großen Zeltes nicht geöffnet. Robert und Mongo machten sich auf, um die Ausdehnung und die nächste Umgebung des Lappenlagers auszukundschaften. Da sie mit keinem der Männer sprechen konnten, mußte die Verständigung über ferneres Beieinanderbleiben von selbst erfolgen. Gutmütig und harmlos, wie die armen Leute waren, schien das für sie offenbar eine ausgemachte Sache zu sein. Mongo sah vor einem der Zelte einen Lappen sitzen, der mit der Handschuhstrickerei beschäftigt war. Das luftige Gebäude lag etwas abseits von den übrigen und war ganz schmucklos und niedrig. Es schien als Stall zu dienen, denn aus dem Innern des kleinen Raumes drang das lustige Krähen eines Hahnes weit in das Gebirge hinaus. Mongo lächelte eigentümlich. »Komm«, sagte er, »laß uns einmal in dies Zelt hineinsehen. Alle anderen durften wir ja besichtigen, warum also dies nicht?« Er ging mit Robert bis an die Wand aus Fellen und wäre im nächsten Augenblick hineingeschlüpft, wenn nicht der Lappe plötzlich den Arm ausgestreckt hätte. Ein verständliches Kopfschütteln zeigte den beiden, daß das Betreten nicht erlaubt sei. In diesem Augenblick krähte der Hahn zum zweitenmal, und der langgezogene Ton schien den Lappen offenbar zu erschrecken. Er zuckte und sah mißtrauisch empor. Ein ungeduldiger Laut und ein gebieterisches Ausstrecken des Zeigefingers legte den beiden nahe, ihre Absicht sofort aufzugeben und weiterzugehen. Mongo hatte auch alles erfahren, was er wissen wollte. »Dort werden die Opfertiere gefangen gehalten«, sagte er. »Glaub mir, der Stamm hätte sich nie so weit nach Norden hinauf verirrt, wenn nicht die Reise mit einem geheimen Zweck verbunden wäre. Diese christlich getauften und konfirmierten norwegischen Bürger wollen einen heidnischen Götzendienst verrichten, deshalb sind sie hier.« »Oh, Mongo, du träumst!« »Aber nein, mein Junge. Die Regierung verfolgt und bestraft natürlich solche Ausschreitungen, sie kann sie aber nicht unterdrücken, sondern nur aus ihrem Bereich verbannen. Hier, wo kein Dorf und keine Ansiedlung mehr steht, wo kein Baum oder Strauch wächst und kein Mensch seinen Wohnsitz aufschlagen könnte, – hier hört das Gesetz auf, Gesetz zu sein. Die ›Saita‹, so heißt der Tempel oder Opferstein Jubinals, ist in dieser unwegsamen Wüste vor allen Blicken, allen Entheiligungen und Beobachtungen wirksam geschützt. Das Opfer kann vollzogen werden, ohne die heidnische Schar straffällig zu machen, und eben deshalb wandert der Stamm auf seinem Wege zum Meer durch diese wüste Gegend. Gib nur acht, wir werden die ›Saita‹ sehr bald finden.« Robert konnte nicht glauben, was der Neger sagte. »Aber Mongo«, wandte er ein, »wie wäre das möglich? Denk doch an den ständigen Verkehr der Lappen mit den Norwegern, ihren Küstenhandel, ihre Besuche auf den Märkten von Bergen und Trondhjem! Sie sind längst schon keine Wilden mehr.« Mongo schüttelte den Kopf. »Lappen und Lappen«, antwortete er, »das ist ein Unterschied. Während die Grenznachbarn des ›Norrlandes‹ am Lyngenfjord schon beinahe als gewöhnliche norwegische Ansiedler und Viehzüchter gelten können, sind die nomadischen Stämme oben an der Polargrenze wieder ein ganz anderer Menschenschlag, der zu den Samojeden und Kirgisen in weit näherer Verwandtschaft steht als zu den Weißen. Du mußt bedenken, daß Norwegen, von einem Ende zum anderen gemessen, seine dreihundert Meilen lang ist.« Robert nickte. »Das wußte ich zwar auch, Mongo«, antwortete er. »Aber wo hast du all diese Einzelheiten erfahren?« »Kind, ich bin länger als fünf Jahre auf Walfang. Was soll ein alter Mensch machen? In den Fabriken wollen die Leute einen vollwertigen Arbeiter haben, und in den vornehmen Häusern einen jungen, gewandten Diener, – also blieb mir nichts übrig, als auf Grönlandfahrern den Tran auszubraten, dafür taugt jeder, der nur Augen und Hände besitzt.« »Und nun gib acht«, fuhr er fort, »dort hockt wieder eine Lappe mit kurzer Pfeife und hölzernen Stricknadeln zwischen den Fingern. Es ist die ›Saita‹ die er bewacht.« Mongo versuchte nicht, sich diesem zweiten Hüter bemerkbar zu machen. Robert und er schlugen eine seitliche Richtung ein, um die ziemlich hohe Felsspitze von hinten in Augenschein zu nehmen. »Siehst du«, flüsterte der Neger, »dort wimmelt es von eingegrabenen Figuren und Zeichen. Das sind sogenannte ›Runensprüche‹, die aus der vorchristlichen Zeit stammen.« »Die will ich in der Nähe sehen!« drängte Robert, »und wenn ich zu diesem Zweck länger als der ganze Stamm hier bleiben müßte. Mongo, wer hat dir das alles erzählt?« Der Schwarze lächelte. »Ich bin fast sechzig Jahre alt, du Heißsporn, das vergiß nicht. Wenn jemand in meinem Alter zwei Drittel seines Lebens in guten Häusern verbracht hat, viel mit Missionaren verkehrte und im allgemeinen an der Geschichte der farbigen Völkerstämme durchaus Anteil nahm, so ist es kein Wunder, daß er ihre Religionsübungen, oder besser gesagt, ihren Götzendienst genauer studiert hat. Ich könnte dir voraussagen, wie lange die Lappen noch bleiben und – was sich dort an diesem Felsen am letzten Abend ihres Hierseins ereignen wird.« Robert zitterte vor Neugier. »Nun, Mongo, und –?« »Willst du es dir nicht lieber selbst ansehen?« lächelte der Neger. »Gern. Aber wird man uns zulassen?« »Natürlich nicht!« lachte Mongo. »Komm, laß uns einen anderen Zugang suchen. Dieser braune Geselle in seiner rührenden Einfalt zeigt uns ja, daß hier die Saita liegen muß.« Die beiden Abenteurer umgingen suchend den Felsen, dessen Rückwand sich in einem Gewirr von Klippen und Schluchten verlor, den aber doch eine ziemlich breite Kluft von seiner Umgebung derartig trennte, daß kein Mensch ohne weiteres hinübergelangen konnte. Desto besser ließ sich allerdings der ganze obere Raum von hier aus frei überblicken, besonders da die hinteren Zacken und Spitzen bedeutend höher lagen als der vordere glatte Felskegel. Mongo und Robert sahen eine Art flachen, etwa einenMeter hohen natürlichen Sockel aus Granit, den jedoch Menschenhände geformt und abgeschliffen haben mußten, vielleicht vor tausend Jahren schon, da die Runensprüche in ihren Einzelheiten nur noch schwer erkennbar waren. – In der Mitte des flachen Steines war alles schwarz überkohlt. »Siehst du«, flüsterte Mongo, »darum die beschwerliche Reise in den höchsten Norden hinauf, wo nicht einmal Brennmaterial zu finden ist, wo die Rentiere halb verhungern und alte Leute und Kinder vor Kälte umkommen. Wenn der Vollmond hoch am Himmel steht, wird hier das Opferfest gefeiert.« »Und dazu, meinst du, dient der Hahn, der in dem verschlossenen Zelt krähte?« »Ein Pferd, ein Hahn und ein Habicht«, erwiderte Mongo. »Das Pferd wird hier der äußeren Verhältnisse wegen durch ein Ren ersetzt, höchstwahrscheinlich ein ganz weißes, was man sehr selten findet. Früher nahm man statt dieser Tiere Menschen, so zum Beispiel forderte das große jährliche Sühneopfer neunundzwanzig, und ebenso viele starke Tiere.« »Aber das muß doch in der vorchristlichen Zeit gewesen sein, Mongo?« »Natürlich. Die letzten Überreste dieser entsetzlichen Opfer aber haben sich hier in dieser weltabgelegenen Gegend zum Teil noch erhalten, wenn sie auch nur noch an Tieren vollzogen werden.« »Mongo, hast du selbst jemals ein solches Opfer mit angesehen?« Der Neger schüttelte den Kopf. »Außerhalb meiner Heimat nicht, Bob. Aber ich will dir Gelegenheit geben, deine Neugier zu befriedigen, indem ich das Zelt behüte und niemand hineinlasse, angeblich weil du krank seiest, – während du hier von diesem Felsen aus die Geheimnisse Jubinals und seiner Anhänger erforschen kannst. Nur laß dich nicht abfassen, Junge, sonst könnten deine Gebeine allzuschnell denen des Hahns und des Habichts nachwandern müssen.« Robert lachte lustig. »Ich ein lappländisches Opfertier«, rief er. »O du lieber Gott, wenn das mein Vater gehört hätte, der grundsätzlich alles, was außerhalb Europas liegt, für heidnisches Unwesen erklärt.« Mongo lachte mit. »Jetzt komm nur«, sagte er, »wir müssen uns doch wieder bei unseren Gastfreunden sehen lassen und versuchen, ihnen bei ihrer Arbeit zu helfen. Auch könnte es uns keineswegs schaden, wenn wir ein Stück Rentierfleisch zwischen die Zähne bekämen.« Sie gingen zu den Zelten zurück, und hier sah Robert, wie mehrere Frauen beschäftigt waren, aus ihren groben, selbstgewebten Stoffen die verschiedensten Kleidungsstücke zuzuschneiden. Er lachte so lustig, daß die Lappländerinnen erstaunt aufsahen. »Du, Mongo«, rief er, »habe ich dir nicht die Fischgräte gezeigt, mit der ich mir auf meiner kubanischen Insel einen Anzug nähte? – Das war ein Lehrlingsjahr des fahrenden Schneiders, und jetzt kommt das zweite. – Hochverehrte, in Schmutz getauchte, mit Tran gesalbte, mit Zwiebeln parfümierte und ohne Kenntnis der Seife oder des Handtuches herangewachsene Beherrscherin der Rentierzone«, wandte er sich an eine der rauchenden und aus kleinen, rötlichen Schlitzaugen verwundert dreinschauenden Frauen, »wollen Sie mir huldreichst gestatten, die Schere aus Ihren braunen Pfoten zu entwenden und Ihrer eingefrorenen Phantasie durch die Kenntnisse des deutschen Kleiderkünstlers zu Hilfe zu kommen?« Er nahm mit zierlichem Griff und der ernsthaftesten Miene von der Welt die Schere und begann zu Mongos großem Ergötzen den unförmigen, sackartigen Rock der Lappländerin in ein hübsches, glattsitzendes Kleidungsstück zu verwandeln. Als er es mit großen Stichen zusammengeheftet hatte, überreichte er es der Eigentümerin, die ihm neugierig auf die Finger sah und offenbar nicht erwarten konnte, den neuen Schmuck ihren Stammesgenossinnen zu zeigen. Sobald sie den Rock in der Hand hielt, eilte sie fort, und das Durcheinander von Frauenstimmen zeigte nur zu bald, welches Aufsehen Roberts Kunst erregt hatte. Von allen Seiten kamen die Weiber mit großen Stoffballen herbei. »Da hast du's!« rief laut lachend der Neger. »Jetzt ist dein Urteil gesprochen, vorwitziger Bursche! Du bist nun – –« »Leibschneider der Zwerge!« ergänzte Robert. »Hurra, das deutsche Märchen ist Wirklichkeit geworden.« Mongo sah mit stillem Vergnügen das hübsche, lebensfrohe Gesicht und die schlanke Gestalt Roberts. »Ist ein prächtiger Kerl«, dachte er, »hat ein Herz wie ein Kind und Mut wie ein Löwe. Jetzt sitzt er doch bei der Nähnadel, als sei er ein eingefleischter Schneider, und gestern abend hat er mit derselben Faust einen Wolf erlegt.« Robert blinzelte ihm zu. »Weißt du, was ich im Grunde erreichen will?« fragte er. »Eine Mütze für dich und mich, Mongo. Die Taschentücher sind doch auf die Dauer unbequem. Aus diesen Abfällen aber stelle ich uns beiden ein paar tadellose Kopfbedeckungen her.« Mongo nickte. »Soll mir sehr angenehm sein, du junger Spitzbube. Kannst mich vielleicht als Altgesellen verwenden?« »Tut mir leid, Tranbrater. Die Nähnadel ist kein Rührlöffel. Aber geh und stibitze mir irgendwo eine Pfeife, wenn du kannst. Diese braunen Heiden rauchen zwar Moos statt Tabak, glaube ich, aber in der Not frißt der Teufel Fliegen, wie du weißt. Ich möchte nicht gern mit erfrorener Nase wieder nach Pinneberg zurückkehren.« Mongo lachte. »Wie kommt es nur, daß wir so guter Laune sind?« fragte er. »Hm, ich denke, weil wir nur wie durch ein Wunder davongekommen sind, Alter. Im Anblick des Todes lernt man den Wert des Lebens erst kennen. – Schau her, das wird deine Mütze. Sollen auch Ohrenklappen darankommen?« »Wenn du soviel Stoff auf die Seite bringen kannst, ja. Ich will inzwischen Pfeifen besorgen.« Mongo humpelte davon und verständigte sich aber mals durch Gebärden mit der Alten, die ihm zu ein paar Pfeifen verhalf, von denen er eine dem nähenden Robert zwischen die Lippen schob. »Jetzt werde ich mich nach etwas Feuchtem, Gebranntem umsehen«, fügte er hinzu. »Es ist außerordentlich frisch hier oben.« »Du solltest unter deine Felle kriechen«, riet Robert. »Das Klima sagt dir offenbar nicht zu.« »Nun, nun – dir vielleicht, Monsieur Naseweis?« »Naserot, willst du sagen, Bester. Ich fühle mich übrigens wirklich gut.« »Schlingel!« lachte der Alte und ging, während Robert zurückblieb, von den Frauen wie von einer Garde aufgescheuchter Gänse umschnattert. Er hatte sehr bald eine tüchtige Anzahl Röcke zugeschnitten und nähte dann drauflos, um für seinen alten Freund noch vor Anbruch der Nacht die warme Mütze fertig zu machen. Bei dieser Arbeit behielt er das Zelt des Häuptlings immer im Auge, aber ohne das Mindeste zu entdecken. Als die braune Alte das Fleischgericht für gar hielt, trug sie eine Schüssel voll davon bis vor die Tür aus Fellen und entfernte sich wieder, ohne hineingesehen oder gesprochen zu haben. Robert beobachtete verstohlen diesen kleinen Vorgang. Was würde jetzt geschehen? Da kam hinter den Fellen eine braune Hand zum Vorschein. Leise wurde der Holznapf nach innen gezogen. »Sich, du Schlingel«, dachte der Junge belustigt. »Da sitzest du im Trocknen und pflegst deine faule Haut, während deine betörten Brüder arbeiten. Kann mir schon denken, wie die Gaukelei eingefädelt wird, – du betest und rufst Jubinals Gnade auf deinen Stamm herab, als würdige Vorbereitung für das Opferfest, nicht wahr? In Wirklichkeit aber läßt du dich von deinen Stammesgenossen versorgen und hast keineswegs vergessen, eine tüchtige Flasche Branntwein in die geweihteEinsamkeit mit hineinzunehmen. – Will mir aber die Geschichte um jeden Preis ansehen.« Er stand auf und ging zu der Alten am Feuer. Obgleich sich die Wunde, die ihm der Wolf gerissen hatte, auf dem Rücken seiner Hand befand, so schmerzte sie ihn doch bei der Näharbeit sehr stark, und daher hoffte er auf ein wenig Salbe, die ihm das Mütterchen auch bereitwillig gab. Ein Gericht Fleisch mit Zwiebeln erhielt er obendrein. »Wozu diese Leute eigentlich ihre Wohnungen haben«, dachte er. »Alles geschieht in Freien: essen, arbeiten, plaudern, kochen. Die Hütte dient nur zum Schlafen.« Er aß das Fleisch nicht ohne einiges Widerstreben und half dann gutmütig der Alten, die Menge hölzerner Löffel und Schüsseln wieder abzuwaschen. Handtücher gab es nicht, sondern jeder Napf wurde umgestülpt, und damit war alles getan, was die Reinlichkeitsbedürfnisse des Stammes erforderten. Bis Robert die Mütze für den Alten fertig hatte, war es bereits dunkel geworden, und mehrere von den Männern gingen in die Ebene hinab, um die Rentiere herbeizutreiben. Fast alle kamen auf den bekannten schrillen Pfiff ihrer Hüter freiwillig heran und ließen sich melken, diejenigen aber, die das Zeichen des Hirten unbeachtet ließen, wurden mit einem langen ledernen Lasso eingefangen. Robert zählte über hundert Köpfe, darunter mindestens dreißig milchgebende Kühe, natürlich aber zu dieser Jahreszeit keine Kälber. Die ganze Herde wurde, nachdem sie gezählt worden war, ohne weiteres für die Nacht sich selber überlassen. Diese Tiere sind ebenso anhänglich wie klug, sie folgen wie Hunde ihrem Herrn und brauchen deshalb nicht eingesperrt werden. Nur das Reittier blieb gefesselt. Jedenfalls gehörte es dem Zauberer, der hinter seinen Zeltwänden eben noch einen so gesunden Appetit entwickelt hatte. Robert lachte, sooft er sich der Hand erinnerte, die den gefüllten Napf sorgfältig in Sicherheit brachte, während jedenfalls der ganze Stamm gläubig annahm, daß mit dem Inhalt des Geschirres den Göttern ein Opfer bereitet werde. Er freute sich auf das bevorstehende Schauspiel dermaßen, daß ihm die nächste Nacht nur von Feuer und krähenden Hälmen träumte. So merkwürdig hatte er sich die Reise an den Nordpol auch in seinen kühnsten Erwartungen nicht gedacht. Am nächsten Morgen war seine erste Frage: »Mongo, worauf warten die braunen Gesellen, ehe sie ihre Zauberkünste beginnen?« Der Neger kroch behaglich tiefer in die warmen Felle hinein. »Auf den Vollmond, du ungeduldiger Mensch«, sagte er. »Für heute geschieht noch nichts.« Und so wurde es tatsächlich. Der zweite Tag verging wie der erste, Robert entwickelte seine Schneiderkünste, beobachtete das verschlossene Zelt und rauchte das geheimnisvolle Kraut, das er heute mißmutig Mongo gegenüber für getrocknete Reste von Kohl oder Rüben erklärte. Die neue Mütze saß ihm frech auf einem Ohr, die großen Seestiefel hatten frischen Tranglanz erhalten, und die zerrissene Jacke war mit Rentierzwirn ausgebessert worden. Beide Hände in den Taschen stand er vor dem Alten. »Mongo, du bist jetzt mein Spiegel!« sagte er. »Wie sehe ich aus?« »Hm! – Wie einer, an dem noch einiges zurecht gerückt werden muß, ehe aus ihm ein vernünftiger Mensch wird.« Robert lachte. »Achte auf den Mond, Schwarzer«, antwortete er. »Ich hätte große Lust, mir von einem dieser braunen Kerle ein Gewehr zu leihen und ein wenig auf die Jagd zu gehen. Länger als zwei Tage halte ich es bei der Nähnadel nicht aus.« Mongo schüttelte den Kopf. »Und wenn du dich verirrst, Bob?« »Keine Angst. Ich bin vor Anbruch der Nacht zurück. Aber Mongo, gib gut acht auf den Stand des Mondes, hörst du! Und noch eins, besorge mir durch deine braune Freundin ein Gewehr, Alter. Du und sie, ihr seid ja doch Vertraute, nicht wahr?« »Sehr vertraut!« nickte der Neger. »Sie schenkt mir die größte Zwiebel aus dem Topf, und ich zerhacke ihr dafür das Brennholz. Dann zeigen wir uns gegenseitig, wie an den Handgelenken und in den Schultern die Gicht reißt, oder wir frösteln gemeinsam, wenn der Ostwind über die Berggipfel pfeift. Ja, – es ist ein entzückendes Dasein, das Leben unter dem fünfundsiebzigsten Grad nördlicher Breite.« Robert streckte sich lang aus und warf die Arme hoch empor. »Dieser herrliche Norden«, rief er lachend, »geh, Alter, hole mir eine Schußwaffe, Gewehr oder Bogen, wenn es nur etwas ist.« Und Mongo ging. Robert lehnte sich an den nächsten Felsen und mußte lachen, als er sah, wie der Neger das Küchenbeil nahm und es auf die Alte anlegte, um seinen Wunsch begreiflich zu machen. Sie verstand ihn sofort, hinkte zu einem der jungen Männer und redete mit ihm lange hin und her. Der Lappe schien zuerst das Gesuch rund abschlagen zu wollen, später aber erhob er sich und brachte widerstrebend eine alte Jagdflinte herbei. Die notwendige Munition hing in einem kleinen Lederbeutel daran. So ausgerüstet wanderte Robert los. Die Luft war klar und ruhig, der Himmel blau und die Sonne heute wärmer als an den Tagen vorher. An den Strand konnte er nicht vordringen, da der Weg dahin viel zu weit war. Er mußte sich also mit einem Ausflug in die höchsten Gebirgsgegenden begnügen. Vielleicht sah er ja von dort aus in weiter Ferne das Meer, vielleicht konnte er einen Gruß hinübersenden zu weißen Segeln, die langsam im Sonnenglanz dahinglitten – – Das Gewehr auf der Schulter ging er pfeifend weiter. Längst hatte er sich in einem Berggipfel von sonderbarer, tierähnlicher Gestalt eine Art von Wegweiser gesucht, der ihn nicht irreleiten konnte. Sobald er das Bild in gerader Richtung vor sich sah oder ihm genau den Rücken kehrte, befand er sich dem Lappenlager gegenüber. Robert lief, bis die Lungen den Dienst versagten, er kletterte über die unwegsamsten Pässe und sprang wie ein Seiltänzer von Klippe zu Klippe, nur um seinem Übermut die Zügel schießen zu lassen. Immer höher und höher hinauf trugen ihn seine flinken Füße, immer weiter entfernte er sich von den Zelten der Lappen. Es war aber auch zu verlockend schön hier oben – wie in einem Tempel fast. Überall hohe Säulen, regelmäßig und großartig zu einem natürlichen, gewaltigen Bau vereint. Hohe Bogen schwangen sich von Kuppe zu Kuppe, gedämpft fiel das Sonnenlicht in den mittleren, freien Raum, und brausend wie ein Orgelton sang der Ostwind seine Melodie dazu. »Warum steht die Saita Jubinals nicht hier oben?« dachte er. »Kann es denn eine noch schönere Stelle geben?« Er sah sich um. Kein Baum, kein Strauch, keine Spur des Lebens, und doch war es ein großartiger, erhebender Eindruck. Langsam wanderte er durch das Schiff dieser natürlichen Kirche, an deren entgegengesetzter Seite ein Wasserfall mit donnerähnlichem Tosen zwischen die zerklüfteten Felsen hinabstürzte. Schäumend, Silbertropfen spritzend und ringsumher alles mit feinem Gischt bestäubend, stürzte das Wasser auf das Gestein herab. Spitze Zacken ragten daraus hervor, aber kein Zeichen verriet, wo sich ein Abzugskanal aus diesem Felsental befand. Robert blickte staunend hinab. Wo blieben diese schäumenden Wassermassen? – – Da sah er eine kleine weiße Möwe mit grauem, perlartigem Federmantel, wie sie kreischend von oben herab in den Felsspalt mehr taumelte als flog. Die ausgebreiteten Flügel glänzten von schimmernden, unzähligen Wassertropfen, die roten Füßchen suchten auf dem feuchten Gestein vergeblich Halt, und das Köpfchen duckte sich, wie vor einer drohenden Gefahr. Im gleichen Augenblick erkannte Robert auch den Räuber, der das kleine, scheue Tierchen verfolgte. Ein riesiger Seeadler schoß herab, an der Möwe vorüber und fast in das Wasser hinein. Er hielt sich mit den scharfen Fängen auf einer vorspringenden Klippe und schien eine Weile außer Fassung, weil er sein Opfer in blinder Eile verfehlt hatte. Die Möwe schwebte hoch in der Luft, ehe sie ihr Verfolger erreichen konnte. Alle Jagdlust erwachte in Robert, als er den Adler so nahe bei seinem eigenen Versteck auf den Klippen sitzen sah. Es war ein besonders großes, sehr schönes Tier, dessen stolze Haltung und feuriges Auge ihm ein wahrhaft vornehmes, königliches Aussehen gaben. Es saß auf der vorspringenden Klippe und bog den schlanken Hals der entfliehenden Möwe nach, dann breitete es die Flügel aus, um sich wieder in die Luft zu erheben. Robert hielt den Atem an. Über zwei Meter mochtes das Tier messen, wenn man die äußerste Flügelspannweite rechnete, – wie ein Riesenbildwerk, unbeweglich wie die Klippen ringsumher, saß es auf der schmalen Felszacke. Die Wassertropfen schleuderten spielend einen Perlenregen über das braune Gefieder herab, zornig blickte das Auge der entkommenen Möwe nach. Robert hob das Gewehr. Sollte er abdrücken? Fast war es Mord. Das Fleisch des Adlers konnte nicht gegessen werden, – sein Leben in der endlosen Steinwüste schadete niemand. Mit welchem Recht durfte er das Tier töten? Da erhob sich der Adler, um den Flug durch die Lüfte fortzusetzen. Robert besann sich nicht länger, – es lockte ihn zu unwiderstehlich. Der Schuß krachte mit zehnfachem Echo, der Pulverdampf schwebte über der Kluft, und neugierig sah der junge Schütze hinab. Die Klippe war leer. Er trat bis an den äußersten Rand und beugte sich vor, um besser in den sprudelnden Gischt hinabschauen zu können. An den unteren Zacken und Klippen mußte ja das getroffene Tier hängen geblieben sein, da es auf der kreisenden, schaumbedeckten Oberfläche nicht zu erkennen war. Wenigstens einige Federn, einige Blutspuren mußte er finden. Aber so sehr er seine Augen auch anstrengte, zwischen jede Klippe blickte und zehnmal die ganze Umgebung musternd überflog, – es zeigte sich nichts. Dort wo das Wasser blieb, war auch der Vogel verschwunden, auf geheimnisvolle, unerklärliche Weise, ohne eine Spur in der zerklüfteten, verwitterten Umgebung zurückzulassen. Robert sah kopfschüttelnd an der andern Seite des Berges hinab. Er stand in einer Höhe von beinahe hundert Metern über dem Talkessel, der in den Sumpf ausmündete. Vielleicht ließ sich also auf halbem Wege, in der Mitte oder am Fuße des Berges, diesem seltsamen, wie ein mitternächtlicher Spuk verschwindenden Wasserfall noch weiter nachforschen. Gedacht, getan; vorsichtig kletternd suchte er einen Pfad an der ziemlich steil abfallenden Gebirgswand, deren vielfache Vorsprünge, Ecken nnd Plattformen seinen Füßen als Stützpunkte dienten. Schritt für Schritt hinabsteigend, sah er immer nach unten, nie aber zur Seite seines Weges, und auf diese Weise verlor er die eingeschlagene Richtung vollständig aus den Augen. Hinter ihm, vor ihm, rechts und links türmte sich das Gebirge, überall führten stufenartige Abhänge in die Tiefe, mehr und mehr verloren die Sonnenstrahlen an Licht und Wärme, und die Kälte wurde immer durchdringender. Robert merkte nichts davon. Seine Tollkühnheit riß ihn weiter. Er wollte den erlegten Adler wiederfinden, wollte wissen, wohin das unterirdische Wasser gelangte und wie tief hinab ihn dieser Weg führen werde, daher kletterte er rüstig weiter, immer im Glauben, daß es leicht sein müsse, wieder hinaufzusteigen, wenn er Lust habe. Das ging ja von Stufe zu Stufe, bequem wie eine Treppe und bestimmt tausendmal besser, als in den schaukelnden Wanten eines Schiffes. Tiefer, immer tiefer kletterte er hinab. Dämmerung umgab ihn, der Wind schwieg ganz, die Luft war kalt wie Eis. Und jetzt stand er auf festem Boden. Vor ihm wölbte sich eine enge, finstere Halle, von steinernen Bogen überdacht, unter denen ein schmaler Weg hindurchführte. Während das Innere dieser Felsenhöhle fast nächtlich dunkel erschien, zeigte an ihrem äußersten Ende ein Lichtschimmer, daß dort die Sonne ungehindert von oben eindringen konnte. Robert hielt das wieder geladene Gewehr schußbereit in der Hand und drang mutig vor. Die Grotte besaß nur geringe Ausdehnung. Schon nach zehn bis zwölf Schritten erweiterte sie sich bedeutend, das Tageslicht fiel voll herein, und eine Art scharfkantiger Brüstung erhob sich unmittelbar vor Roberts Füßen. Der Weg war hier plötzlich zu Ende. Das Schauspiel aber, das sich jetzt seinen Augen bot, war schöner und eindrucksvoller als alles bisher Gesehene. In einer Tiefe von vielleicht zehn Metern lag zwischen den Felsen ein blauer See mit regungsloser, spiegelglatter Oberfläche. Anscheinend unergründlich tief lag das Wasser wie ein blauer Teppich da, von allen Seiten stiegen die Felsen steil empor, hier in schlanken, anmutigen Formen, dort verworren und wild zerklüftet, als hätten die alten Götter der Sagenzeit im Kampfe Trümmer auf Trümmer geschleudert, als hätte die Erde unter ihren Fußtritten gebebt und wäre in tausend Scherben zerfallen, die nun hier über- und nebeneinander liegen geblieben waren. Vorspringende Altane streckten sich plötzlich aus der Mauer heraus und spiegelten ihre gefälligen Formen im Wasser des Sees, stumpfe Kegel hoben die wenig schönen Häupter zu Hunderten aus dem zackigen Gestein empor und umgaben eine Säule, die schlank und schmucklos wie ein Kirchturm zum Himmel ragte. Das war eine Welt für sich, das schien nicht mehr der Erde anzugehören, – das überwältigte fast das Herz des Menschen. Bis an den oberen Rand war dieser tiefe, mit Wasser gefüllte Talkessel vollständig ungangbar. Robert befand sich ganz im Schoß der uralten Steinriesen, in geheimnisvoller, tiefverborgener Mitte, aus der kein Ton empordrang zur Oberwelt. Was jeden anderen erschreckt haben würde, das erfüllte ihn mit stolzer Freude. Er hob den Lauf des Gewehres langsam empor und zielte auf die schlanke Turmspitze. Wie hier im eingeschlossenen Raum der Schuß krachen mußte! – – Und dann wälzte sich der donnerähnliche Schall an den Wänden entlang. Wie betäubender Lärm aus zehn, – zwanzig Geschützen, kaum zu ertragen, so krachte es und rollte und hallte wider. Die höchste Spitze, ein Stückchen wie ein kleiner Stein, war herabgeschossen und fiel plötzlich in das stille, blaue Wasser. An den Wänden spielten kleine, weiße Schaumwellen, während in der Mitte des Sees die zitternden, unregelmäßigen Kreise immer größer und größer wurden. Nach wenigen Minuten war alles so still wie zuvor. Robert lud das Gewehr und hing es an dem Lederriemen wieder über seine Schulter, dann, nach einem letzten, bewundernden Blick auf die Felswand, suchte er durch die Grotte den Rückweg. Erst jetzt fiel ihm ein, daß er weder den Adler, noch den Ausfluß des Wasserfalles gesehen hatte. Es mußte also mitten in dem Gewirr von Klippen, entweder zur Rechten oder zur Linken, etwa auf halber Höhe noch eine Stelle geben, die das Wasser langsam fließend passierte, bevor es in den See einmündete, und wo auch der Adler hängen geblieben war. Diese Stelle wollte er finden. Vor dem ziemlich dunkeln Ausgang der Höhle erhoben sich so viele Stufen und Zacken, daß es auch einem Ortskundigen auf den ersten Blick unmöglich gewesen wäre, hier diejenigen herauszufinden, die ihm vorhin als Treppe gedient hatten. Robert sah hinauf. Von allen Seiten Schluchten und Kuppen, Spalten und Engpässe, – hoch oben in weiter Ferne hier oder da ein Streifen blauen Himmels, aber nirgendwo ein Zeichen des Weges, der ihn hierher gefuhrt hatte. Noch schlug sein Herz so ruhig und gleichmäßig wie immer, er versuchte die einzelnen Stufen des Gesteins der Reihe nach mit den Augen in Verbindung zu bringen und zu berechnen, wie er am besten nach oben kommen könnte. Vergebens! Dieser mündete nach rechts, jener nach links, der dritte lief in eine steile, ganz glatte Wand, und der vierte zeigte Unterbrechungen, über die kein menschlicher Fuß hätte hinwegspringen können. Robert fragte sich umsonst, wie er durch dieses Gewirr überhaupt bis auf den Boden der Schlucht hinabgefunden habe. Aber was half es. Die Sache mußte auf gut Glück hin versucht werden. Er kletterte mit der Hast der Aufregung in den nächsten Spalten empor und fühlte bald den Wind wieder um seine Stirn wehen. Jedenfalls hatte er an Höhe gewonnen, das gab ihm neuen Mut. Von Zeit zu Zeit prüfte er die Entfernung des Himmels von seinem augenblicklichen Standort. Sonderbar, – sie blieb immer die gleiche. Wo er sich jetzt befand, war er auch vorhin nicht gewesen, daran erinnerte er sich deutlich. Die Zacken hörten auf, und eine Art Rinne oder Durchgang führte tiefer in den Fels hinein. Zugleich hörte Robert ein starkes Rauschen wie von Wasser. Ganz in seiner Nähe plätscherte es, aber sehen konnte er nichts. Vorsichtig weitergehend suchte er überall die Spuren des verlorenen Weges, stellte jedoch dabei fest, daß sich die Rinne, der er folgte, allmählich senkte. Er kehrte um bis zu der Stelle, wo er das starke Rauschen bemerkt hatte. Es war ununterbrochen hinter der Felswand zu hören, doch ließ sich kein Tropfen Wasser erkennen, das Gestein war überall vollkommen trocken und fest. Er kehrte noch einmal um, bis nach einer Wanderung von fünf Minuten der Paß sich dermaßen verengte, daß kaum noch ein Durchschlüpfen möglich war. Robert kroch vorwärts, – er maß besorgt die Entfernung zum Tageslicht. Aber jetzt erschrak er doch so sehr, daß es kalt über seinen Rücken herablief. Was er hoch über sich sah, war die zierliche, schlanke Spitze des turmartigen Felsens, – er befand sich demnach bedeutend unter dem Spiegel des Sees. Einen Augenblick lang stockte das Blut in seinen Adern. Schweiß stand auf seiner Stirn, und seine Knie zitterten. Das geheimnisvolle, unterirdische Wasser hatte ihn verlockt, den Zauberberg zu betreten und aus seinen verschlungenen Irrgängen den Rückweg zur Sonne, zu den Menschen vergeblich zu suchen – – Kindheitsmärchen stiegen in seiner Erinnerung auf, er dachte an Rübezahl, an den Leibschneider der Zwerge, an »Schneewittchen über den Bergen, bei den sieben Zwergen«, an den Kobold Rumpelstilzchen und all die anderen Gestalten, deren Abenteuer er so gern gelesen und an deren Stelle er sich tausendmal gewünscht hatte. Jetzt war er so ein verzauberter, gefangener Märchenheld, der dem Bann des Hexenmeisters nicht früh genug aus dem Wege ging, und hinter dessen Schritten sich die Felsen, gehorsam ihrem Herrn, leise aneinander schoben, so daß er niemals wieder an die Oberfläche gelangte, – niemals zurück zu den Seinen. Ein Schauder überlief ihn. Der stille, bergestiefe See hoch über seinem Kopf, – das war merkwürdig beklemmend und seltsam. – – Sollte er rückwärts gehen oder weiter vordringen? Er entschied sich für das Letztere. Vielleicht, machte er sich Hoffnung, liegt der Ausgang ganz nahe, – vielleicht sind es nur noch wenige Meter bis dahin. Und fast schien es, als sei diese Vermutung richtig gewesen. Der schmale Schacht lief aus in ein freies, weites Tal. Robert sah sich plötzlich von dem Druck der ihn umgebenden engen Felsmassen erlöst und atmete befreit auf. Aber als er näher herankam, – was war das? Kleine Wasserlachen, glitzernd im Schein der untergehenden Sonne, hatten sich hier und da gebildet, kleine Vertiefungen waren mit bläulichem Schlamm überzogen, – ein unangenehmer Modergeruch erfüllte die Luft. Robert wollte nicht glauben, was sich seinen Augen gebieterisch aufdrängte. Er setzte den Fuß auf die schwarze, glatte Fläche, – aber er tat es zögernd, vorsichtig. Eine kleine Lache bildete sich sofort um seinen Fuß. Robert taumelte zurück vor Schreck – es war ein Sumpf, an dessen Rand die Felsspalte ausmündete. Er war wie betäubt. Jetzt mußte er den ganzen beschwerlichen Weg nach oben noch einmal suchen. Aber sollte ihn denn der Sumpf wirklich nicht tragen? – Er versuchte es noch einmal. Aber umsonst, ganz umsonst. Wenn er fester auftrat, spritzte ihm der Schlamm entgegen. Halb verzweifelt entschloß er sich umzukehren. Ihm graute vor dem Rauschen des unsichtbaren Wassers. Er lief so schnell wie möglich an dieser Stelle vorüber und atmete auf, als er sie hinter sich hatte. Weiter, immer weiter hinein in das Felsenlabyrinth. Roberts Hände bluteten, aber er ließ nicht ab, einen Weg zu suchen. Oben am Himmel wurde es allmählich dunkel, – er mußte sich beeilen, wenn ihn nicht die Nacht überraschen sollte. Wieder hatte er einen Gipfel erklettert und hielt Umschau. Keine Verbindung mit den höhergelegenen Spitzen, kein Pfad, der von einer Kuppe zur andern geführt hätte. Robert preßte die Lippen zusammen. Er dachte nicht mehr, rechnete oder beobachtete nicht mehr. Seine Pulse hämmerten, zehnmal machte er denselben Weg, zehnmal kam er im Kreislauf an den eben verlassenen Platz zurück. – – Alle Schüsse bis auf einen, den er für den Fall eines Angriffs zurückhielt, gab er in die Luft ab, um möglicherweise den Lappen ein Zeichen zu geben, niemand antwortete, niemand hatte ihn gehört. Von Zeit zu Zeit machte er kurze Rast. Seine Schläfen hämmerten, Hände und Füße schmerzten, er atmete schwer. Wie lange noch würde er diesen ebenso fruchtlosen wie gewaltigen Anstrengungen standhalten können. Aber solche Augenblicke der Erholung waren kurz. Getrieben von innerer Unruhe sprang er schon nach wenigen Minuten wieder auf und begann noch einmal den Kampf. Und dann kam ein Augenblick, wo er sich für verloren hielt. Ein Felsblock, der nur lose gelegen haben mußte, – vielleicht vom Blitz einmal aus größerer Höhe herabgestürzt, – ein schwerer, platter Felsblock rollte unter seinen Füßen in eine tiefe Kluft hinein und riß ihn unwiderstehlich mit sich fort. Robert schloß die Augen; er konnte nichts tun, um sich zu retten, und erwartete widerstandslos den letzten, vernichtenden Schlag. Auf dem Rücken liegend, das Gewehr in beiden Händen, glitt er auf dem großen Stein in die Tiefe. Aber er hatte Glück. Als der Block auf Klippen und Spitzen einen Halt gefunden hatte, konnte Robert unversehrt wieder aufstehen; er war tüchtig durchgerüttelt und hatte die Knie blutig gestoßen, im übrigen jedoch schien der plötzliche Sturz keine schlimmen Folgen gehabt zu haben. Robert überblickte wieder die Gegend. Es war kaum noch hell und keine Zeit mehr zu verlieren, wenn er noch einen Versuch machen wollte, das Lager der Lappen vor Einbruch der Dunkelheit zu erreichen. Vorsichtig stieg er den nächsten Felsgrat wieder hinauf. Und da – welch ein Glück! Da rauschte der Wasserfall in unmittelbarer Nähe, da stand er wieder in dem tempelartigen Raum, von dem aus er vor drei langen, fürchterlichen Stunden die Wanderung in das Innere des Berges unternommen hatte. Jetzt erst gönnte er sich eine längere Rast, um aufzuatmen. Der Rückweg war gesichert, die Zeit, zu der ihn Mongo erwarten mußte, war noch nicht überschritten und die Richtung des Lappenlagers leicht gefunden. Zwischen den Bergen, wo die Zelte standen, brannte ein Feuer, das durch die Dämmerung heriiberschimmerte. Robert trocknete den Schweiß von der Stirn. Wie wunderbar hatte ihn der fallende Stein gerade in dem Augenblick gerettet, als er sich verloren glaubte! »Ich will vorsichtiger werden«, dachte er, »und ich will Mongo von der ganzen Geschichte kein Wort erzählen. Wenn ich zu unüberlegt handelte; so habe ich auch genug Angst dafür ausstehen müssen, deshalb geht es niemanden etwas an, als nur den lieben Herrgott und mich selbst.« Als Robert mit langsamen Schritten die äußere Umgebung des Lagers betrat, kam ihm Mongo entgegen. »Pst, Bob, sprich mit niemand«, flüsterte er, »laß mich nur das Gewehr abgeben und geh du gleich in unser Zelt. Wenn mich nicht alles täuscht, so wird in dieser Nacht das Opferfest gefeiert werden. Ich habe so meine Beobachtungen gemacht.« »Heute, Mongo?« antwortete Robert. »Das kommt früher, als du erwartet hattest.« Der Neger rieb sich fröstelnd die Hände. »Schadet ja nichts, Bob«, sagte er. »Um so eher geht es zurück nach dem Süden, – nach Bergen, wo sich für uns beide schon eine Heuer finden wird.« Roberts Gesicht hellte sich auf. »Eine Heuer!« wiederholte er, »ach, Mongo, wenn wir erst wieder Schiffsplanken unter den Füßen haben!« »Will mich auch von Herzen freuen, wenn es erst ›Anker auf heißt‹!« sagte der Alte. »Aber jetzt geh du nur in unser Zelt, mein Junge.« Robert verschwand, und der Neger brachte das Gewehr zurück, wofür er einige Mehlkuchen und einen Napf mit Milch von der alten Frau eintauschte. Robert fühlte jedoch keinen Appetit, sondern stand noch ganz unter dem Eindruck des eben Erlebten, so daß Mongo endlich die veränderte Stimmung seines jungen Freundes bemerken mußte. »Hast du eigentlich nichts geschossen, Junge?« fragte er. »Das Gewehr war doch mehr als einmal zu hören.« Robert errötete. »Ich habe einen Adler getroffen, Mongo, ein prachtvolles Tier, aber – der Körper fiel zwischen die Klippen, ich konnte ihn nicht erreichen.« »Dann wollen wir morgen, wenn dazu noch Zeit bleibt, zusammen hingehen, Bob. Es wäre doch hübsch, als Andenken an diese Eiswüste, einen Adlerflügel mitzunehmen.« Robert schüttelte den Kopf. »Ich habe es versucht, Mongo, – dahin, wo das tote Tier liegt, führt kein Weg. Überall steile Felswände, Jahrtausende altes Gestein, und doch rauscht in nächster Nähe ein unsichtbarer Wasserfall. Weißt du, ich glaube, daß viele dieser Felsen hohl oder doch von Einschnitten durchzogen sind.« Der Alte nickte. »Natürlich, Bob, woher kämen sonst die Sagen und Märchen von den Bewohnern unterirdischer Felshöhlen? – Hierzulande hausen die Trollen in jedem Gebirge.« In Robert flammte bei diesen Worten des Negers sein alter trotziger Übermut auf. »Mit zwölf oder zwanzig tüchtigen Männern, mit Seilen und Mauerhaken ausgerüstet, möchte ich die Geheimnisse dieser Felsen erforschen«, rief er, »und überall auf den Grund sehen!« Mongo lächelte rücksichtsvoll. »Überall, Bob?« wiederholte er, »glaubst du das wirklich? Denkst du, daß du erreichen wirst, was Hunderte vergeblich mit allen Mitteln versuchten?« Roberts Herz klopfte heftig. »Und warum nicht, Mongo? Einer kann nur der erste sein, das mußt du doch zugeben. Wenn vielleicht tausend Jahre vor mir schon ein Mensch das Rauschen dieses unsichtbaren Wasserfalles hörte, und rechts und links, oben und unten, in allen Spalten, allen Klüften vergeblich nach ihm suchte, – ist es darum gesagt, daß niemand nach ihm mehr Glück haben soll als er?« Mongo beugte sich in der Dunkelheit des Zeltes weit vor und beleuchtete mit der kurzen Pfeife das blasse Gesicht des Jungen. »Und glaubst du«, fragte er langsam, »daß es ein so großer Gewinn sein würde, das Innere dieses einen Felsens kennenzulernen? – Tausende bleiben unerforscht, Rätsel reiht sich an Rätsel, während du alt wirst, Bob, während andere das erreichen, was du anstrebtest.« Denk an die Nordpolfahrer, an ihre ungeheuren Anstrengungen bis in unsere Tage. Keiner hat das Ziel erreicht, keiner wird es erreichen, aber viele hundert brave Männer wurden ein Opfer ihres Wissensdranges. Roberts Augen glühten. »Willst du damit sagen, daß das Leben zu viel wert wäre, um es für die Erforschung des Unbekannten in der Natur zu wagen, Mongo? Sollten tüchtige Männer, solange noch ein Fleck Erde unbekannt und unerforscht daliegt, die Hände falten und denken: vielleicht könnte ich mir bei der Sache schaden?« Der Neger schüttelte den Kopf. »Nein«, antwortete er, »nein, gewiß nicht, Bob. Aber es gibt einen Unterschied zwischen besonnener Forschung und dem Ungestüm, der Gott versucht, indem er alle Schranken niederreißt und übermütig sagt: Ich will!« Robert schob den hölzernen Napf zur Seite und warf sich der Länge nach auf die Rentierfelle. »Mongo«, rief er, »und doch gibt es nichts Schöneres, als im Bewußtsein seiner Kraft sagen zu können: Ich will !« Es entstand eine Pause, dann fragte plötzlich der Alte: »Kennst du die Geschichte vom König Belsazar, mein Junge?« »Nein. Was war mit ihm, Mongo?« »Nun, Belsazar lebte herrlich und in Freuden, er herrschte, ohne sich um göttliche oder menschliche Gesetze zu kümmern, und eines Tages sogar, als er erhitzt vom Wein seines Übermutes kein Ende mehr kannte, da schrieb er an die Wand des Saales die frevelhaften Worte: ›Jehova, dir künd' ich auf ewig Hohn, ich bin der König von Babylon‹. – Aber was geschah plötzlich, während seine Schranzen und Speichellecker Beifall klatschten? Eine Hand erschien an der Mauer und verwischte die Schrift, nicht einmal, sondern immer wieder, sooft der König die Worte erneuerte. Noch in derselben Nacht ermordeten ihn bestochene Diener.« »Sieh, Bob«, fuhr der Alte fort, »das paßt für dich und paßt auch wieder nicht. Du bist ein braver Kerl, aber ein Tollkopf, der das Eisen biegen und mit dem Leben spielen möchte. Die unheimliche Hand, die dem Belsazar Halt geböte täte auch dir manchmal gut.« Robert antwortete nicht. Hatte der kluge alte Mann doch tiefer gesehen, als er ihm erlauben wollte? Fast schien es so, denn Mongo kam auf das Gespräch nicht wieder zurück. Er sah durch die Spalten der Felle und prüfte ringsum die stille Umgebung. »Es ist Zeit, Junge«, flüsterte er dann. »Mach, daß du hinkommst, schleiche dich vorsichtig auf dem Nebenweg zum Felsen und laß mich sorgen, daß niemand hier eindringt. Die Kerle sind alle verschwunden.« Robert erhob sich hastig vom Lager. »Auf Wiedersehen!« gab er zurück. »Das Opfer möchte ich um keinen Preis versäumen.« Mongo legte die Hand auf seinen Arm. »Aber wenn sie dich entdecken sollten, Bob – du kennst mich! Sobald ich dich rufen höre, antwortet dir das Kriegsgeschrei von Dahomey, und dein Freund kommt mit dem Holzbeil seiner liebenswürdigen Vertrauten, das er zu diesem Zweck schon in Sicherheit gebracht hat. Dort unter den Fellen liegt es.« Robert lachte. »Du bist ein Querkopf, Alter«, sagte er, »ein richtiger Moralprediger, aber das Herz hast du auf dem rechten Fleck, und ich glaube, die Faust auch. Ich möchte mich mit dir, trotz deiner sechzig Jahre, nicht erzürnen.« Der Neger schmunzelte zufrieden. »Ich glaube, daß du recht hast, Junge. Aber ich wäre längst ein toter Mann, wenn mich nicht dein Blut am Leben erhalten hätte!« Robert knöpfte die Jacke von oben bis unten zu. »Das stimmt, Mongo, aber wo wäre ich, wenn du mich nicht aus dem Wasser gezogen hättest?« »Im Haifischmagen, junger Spitzbube. Mach, daß du fortkommst.« Sie trennten sich lachend, und Robert schlich davon; er wollte auf Umwegen den Felsen erreichen, von wo aus man die Opferstätte bequem überblicken konnte. Als er näher herankam, zeigte es sich, daß der ganze Stamm mit Ausnahme seiner weiblichen Angehörigen bereits versammelt war, und daß auf dem Felsen, der zur Feier dieses seltsamen Gottesdienstes ausersehen war, schon ein helles Feuer brannte. Die Beleuchtung war an diesem Abend nur gerade hell genug, um die benachbarten Zinnen und Kuppen in dunklen Umrissen von dem Dämmergrau des nächtlichen Himmels abzuzeichnen. Wie Riesenwächter, Ungeheuer aus der Fabelzeit, erhoben ringsum die alten Berge ihre Häupter, von Wolken verschleiert stand der Mond am Himmel, und zu Füßen des Opfersteines, neben den Runensprüchen früher Jahrhunderte, scharten sich die dunklen, pelzbekleideten Gestalten, um mit entblößten Häuptern ehrfurchtsvoll schweigend ihre Andacht zu verrichten. Wahrscheinlich hatte der größere Teil von ihnen daheim im Winterquartier in der kleinen, hölzernen Kirche aus der Hand des wandernden Missionars die Christentaufe und später den Segen der Konfirmation empfangen, aber dennoch beteten sie zu Jubinal, wie es die Voreltern getan hatten, und wie es ihnen von Kind auf durch Vater und Mutter schon heimlich eingeprägt worden war. Robert konnte sich bis an die äußerste Brüstung vorwagen und alles überblicken, ohne selbst gesehen zu werden. Das erste, was er bemerkte, waren die für das Opfer bestimmten Tiere, ein weißes Rentierkalb, ein Habicht und ein Hahn. Auch der Zauberer war zugegen, doch konnte ihm Robert nicht ins Gesicht sehen. Er hatte weißes, spärliches Haar und trug ein langes Gewand, das aus dem Fell eines Eisbären gefertigt schien und mit schwarzen Pelzstreifen besetzt war. Den Kopf bedeckte eine übergroße spitze Mütze, aus Federn und Bast kunstvoll geflochten und mit Muscheln geschmückt. In der Hand trug dieser Mann ein großes, blitzendes Messer. Vor ihm loderte jetzt das von mächtigen Holzblöcken unterhaltene Feuer hoch empor, während er selbst in unbeweglichem Stillschweigen verharrte. Nachdem er offenbar ein stummes Gebet beendet hatte, legte er plötzlich das Messer auf den nächsten Felsen und näherte sich mit erhobenen Händen einer bestimmten Stelle in der Steinwand. Ein kräftiger Griff schob zwei der kleineren Blöcke langsam zur Seite, – und ließ eine dunkle Höhlung dahinter erkennen. Sobald die Steine wichen, waren sämtliche Lappen auf ihre Knie gesunken und hatten das Gesicht in den Händen verborgen, als fürchteten sie die körperliche Nähe eines höheren, allmächtigen Wesens, das viel leicht imstande war, sie durch einen einzigen Blick zu töten oder ihre verborgensten Sünden auf der Stirn zu lesen. Der Zauberer nahm aus dem dunklen Raum eine seltsam geformte, steinerne Puppe von der Größe eines sechsjährigen Kindes, die jedoch nur den Rumpf darstellte, ohne Arme und Beine. Sie sah uralt, verwittert und grau aus und war plump behauen, mit einem Kopf, der ohne Hals in gleicher Breite der Schultern aus dem Körper herauswuchs. Das Gesicht war abschreckend häßlich, während in der Gegend der rechten Achselhöhle aus dem armlosen Rumpf ein kleiner, stumpfer Hammer hervorragte. Diesen Götzen setzte der Zauberer mit allen Zeichen der höchsten Ehrfurcht und Vorsicht auf die Mitte der Tischplatte. Dann, nachdem er lange stumm in das häßliche Antlitz gesehen hatte, hob er den Blick und sprach laut zu den Versammelten einige Worte, die Robert natürlich nicht verstand, die aber offenbar andeuten sollten, daß sich Jubinal in gnädiger Stimmung befinde und daß es seine Verehrer wagen dürften, ihr Antlitz zu erheben. Robert bemerkte auch sehr bald, wie einer nach dem anderen schüchtern emporsah, wie sich diese, in ständiger Todesgefahr aufgewachsenen und sonst so mutigen Männer scheu aneinander drängten, wie sie kaum zu atmen und kaum die Köpfe zu erheben wagten, weil eine unförmige Steinpuppe vor ihnen auf dem Felsentisch stand. Dann griff der Zauberer zu dem blanken Messer. Ein Wink brachte die Opfertiere in seine Nähe. Zuerst schnitt er dem weißen Kälbchen die Stirnhaare ab, ebenso dem Hahn und dem Habicht die kleinen Federn über den Augen, und warf sie in das Feuer, das sie knisternd verzehrte. Hierauf zog er aus den Taschen seines weiten Gewandes eine Handvoll Gerstenkörner, bestreute damit alle drei Tiere und begann dann das Schlachtopfer. Eine Kufe von Holz stand bereit, das Blut aufzufangen, mehrere Männer hielten die zuckenden Glieder der Tiere und nach wenigen Minuten war dieser vorbereitende Teil des Festes lautlos vorübergegangen. Robert fühlte sich ziemlich enttäuscht. Er hatte bis jetzt nichts gesehen, was ihm irgendwie feierlich vorgekommen wäre; auch die nun folgende Handlung fand er eher widerwärtig als erhebend. Der Zauberer nahm das Holzgefäß mit dem angesammelten Blut und begann ringsumher sowohl den Opferstein als auch den Fußboden und die greuliche Figur zu bespritzen. Durch die sofort gerinnenden schwärzlichen Tropfen sah die Gestalt nun erst recht abschreckend aus. Robert begriff nicht, wie es möglich sei, ein so unschönes Bild anzubeten. Von diesem Augenblick an wurde jedoch die Sache etwas erträglicher. Der Zauberer nahm aus dem Fleisch der getöteten Tiere die Lebern, Herzen und Lungen heraus, dann warf er alles übrige in die Flammen, während er dazu mit lauter Stimme ein Gebet sprach. Dichter, schwarzer Rauch wälzte sich in die Nachtluft empor, Massen von Funken wirbelten auf, und ein nahes Echo warf den Schall zurück. – Noch während die Knochen langsam verkohlten, während der Zauberer immerfort betete, steckte er die herausgenommenen Teile der Opfertiere an einen Spieß, den er über dem verglimmenden Feuer langsam drehte. Von Zeit zu Zeit übergoß er das Fleisch mit einigen stark duftenden Tropfen aus einer kleinen Flasche. Der Geruch, der sich entwickelte, war angenehm, aber fast betäubend. Robert konnte sich nicht erinnern, ihn schön früher irgendwo kennengelernt zu haben. Und dann begann eine Feierlichkeit, die durchaus dem christlichen Abendmahl glich. Die gebratenen Herzen, Lungen und Lebern wurden in ebenso viele Stückchen zerschnitten, wie Andächtige versammelt waren, und darauf eine mit Stroh umflochtene Flasche hervorgeholt, die dem Geruch nach einen starken, alten Wein enthalten mußte. Der Zauberer nahm seinen Platz neben dem Götzenbild ein und hielt in einer Hand eine Schüssel mit den Fleischstücken, in der anderen die große Flasche. Auf ein gegebenes Zeichen bewegte sich der erste, dem Altar am nächsten stehende Lappe mit scheuem, langsamem Schritt bis vor den Opferstein, wo er demütig und mit auf der Brust gekreuzten Armen das Steinbild begrüßte, um dann von der Platte des Zauberers einen Bissen und aus der Flasche einen Schluck zu erhalten. Ihm nach folgte der zweite und darauf in ununterbrochener Reihe alle Anwesenden. Während dieser Handlung wurde kein Wort gesprochen, keine einzige unnötige Bewegung gemacht. Schweigend, wie er gekommen war, trat jeder Lappe wieder an seinen Platz zurück, und eben in diesem Ernst, in dieser strengen Feierlichkeit lag etwas Erhebendes. Das Feuer war fast erloschen, nur manchmal knisterten und flammten rote Brände noch plötzlich empor, sonst aber versank nach und nach der Holzstoß in graue, stäubende Asche, der Rauch lichtete sich, die Umrisse der dunklen Gestalten verschwammen allmählich, und nur der feine, durchdringende Duft blieb in der Luft zurück. Robert fühlte sich tiefer ergriffen, als er selbst für möglich gehalten hätte. Unwillkürlich erinnerte er sich des Tages, als er in der Dorf kirche zu Rellingen das Abendmahl empfing. Wenn auch jenes christliche Sakrament und dieses heidnische Opfer der armen Lappen ganz verschiedenen Anschauungen entsprangen, beide waren der Ausdruck einer Religion, des allen Menschen gemeinsamen Bedürfnisses, sich einer höheren, unbeirrbaren Macht schutzsuchend anzuvertrauen. Was aber der jugendlichen Unbefangenheit Roberts bisher ganz entgangen war, das lernte er hier in der Wildnis kennen: die geistige und nicht bloß äußerliche Bedeutung eines Gottesdienstes. Jeden Sonntag war er früher mit Vater und Mutter zur Kirche gegangen, ohne Widerrede zwar und ohne leichtfertige Gedanken, aber doch auch nur gewohnheitsmäßig, während ihm durchaus nichts gefehlt haben würde, wenn der sonntägliche Kirchenbesuch unterblieben wäre. Die armen, ungebildeten Hirten dagegen brauchten für die bevorstehenden Käufe und Verkäufe, für den Fischfang und die Reise nach dem Süden vor allen Dingen den Segen und den Beistand Jubinals, sie pilgerten meilenweit nach Norden, um auf den alten, geweihten Steinen ihrer Vorväter das Opfer darzubringen und ihre Gebete mit denen des Zauberers zu vereinen. Der Gottesdienst war jetzt beendet. Die Steinpuppe wurde hinter den beiden bewegliehen Felsblöcken verborgen, die Asche in alle vier Winde verstreut und das hölzerne Gefäß sowie Schüssel, Messer und Flasche einem der Männer überantwortet. Stillschweigend, wie sie gekommen waren, entfernten sich die Lappen. Robert hatte im Augenblick ganz vergessen, daß ihm der Tod drohte, wenn er entdeckt werden würde. Sorglos sprang er, nachdem der letzte der Andächtigen verschwunden war, bis an den Fuß des geweihten Felsens, um jetzt den Opferplatz genauer zu besichtigen und besonders das merkwürdige Götzenbild aus nächster Nähe zu betrachten. Er legte die Hand an die verschiebbaren Blöcke, hielt sie jedoch plötzlich zurück. Durfte er das verschlossene Behältnis erbrechen und durch bloße Neugierde entweihen, was andere für heilig hielten? – Durfte er da eindringen, wo man ihm den Zutritt unbedingt verweigert haben würde? Robert schwankte nur kurze Zeit, dann hatte er sich überwunden, er wandte sich um und suchte das Zelt, in dem Mongo rauchend saß. »Du«, sagte er nach einer Pause, »das war kein Hokuspokus, wie ich erwartet hatte.« »Sicherlich nicht, Bob. Ich möchte überhaupt keines Volkes Religion mit dieser Bezeichnung herabsetzen. Eins ist in allen Irrtümern immer wahr, nämlich der Glaube an ein höheres Wesen, – und in dem Einen ist alles enthalten.« Robert antwortete nicht, nur nach einer Pause sagte er leise »Gute Nacht!« – – Am nächsten Morgen begannen mit Tagesanbruch die Vorbereitungen zum Auf bruch. Als Robert und Mongo aus dem Zelt hervorkrochen, herrschte unten im Tal schon rege Tätigkeit. Die Lasttiere standen gekoppelt, die übrigen hatte man mit Glocken versehen, und mehrere Treiber, mit Stöcken und Lassos in den Händen, waren so aufgestellt, daß sie die zusammengetriebenen Tiere erfolgreich an jeder Flucht hindern konnten. Wo das Zelt des Zauberers gestanden hatte, wehte jetzt der Wind über die kahle Fläche. Es war abgebrochen und jede Spur beseitigt, ebenso fand sich unter den Lappen kein einziger, den Robert als den eisgrauen Oberpriester der letzten Nacht hätte wiedererkennen können. Alle Männer beschäftigten sich mit dem Abbruch des Lagers, sie bepackten die Rentiere und schnürten zusammen, was sie selbst auf ihren eigenen Rücken tragen mußten. Auch ein Wagen mit einem ledernen Schutzdach, halb Schlitten halb Karre, wurde hervorgezogen und mit zwei tüchtigen Rentieren bespannt. Dahinein setzte man die kleinen Kinder und die alten Frauen, während alle übrigen den langen Weg von sechzig bis achtzig Meilen auf ihren eigenen Füßen zurücklegen mußten. Robert und Mongo halfen überall, so daß gegen neun Uhr morgens, nachdem das Frühstück eingenommen war, die kleine Karawane ihren Zug beginnen konnte. Vierzig bepackte Rentiere, alle am Leitseil eines Führers oder einer Führerin, wanderten zu zwei und zwei gekoppelt mit der Sicherheit kletternder Ziegen über unwegsame Pfade, obgleich ihre Last keineswegs leicht war. Zelte, Decken, Brennmaterial, Kochgerät und die zum Verkauf angefertigten Waren, vor allem aber die gesammelten wertvollen Pelze lagen auf ihren breiten, geduldigen Rücken, und doch mußten sie sich an den Rastplätzen die spärliche Kost aus Rentierflechten selbst zusammensuchen, mußten sogar stellenweise den Schnee aufscharren, ehe sie Nahrung finden konnten. Die braune Alte verteilte dann warme Milch, Mehlkuchen und etwas Fleisch, das zu diesem Zweck schon vorher gekocht worden war; der ganze Stamm lagerte sich um den Wagen, und mitten in der Wildnis wurde ein fröhliches Mahl gehalten. Bei solchen Gelegenheiten sah Robert auch den Zauberer, der auf seinem großen gezähmten Ren den Zug eröffnete und dem alle eine gewisse Ehrfurcht bezeugten. Roberts Wanderlust kannte keine Grenzen. Die ganze Sache erschien ihm wie der Zug der Israeliten durch die Wüste, dem gelobten Lande entgegen. Jetzt gab es keine Gefahren mehr, sondern nur die Beschwerden des Marsches, und die machten ihm trotz Mongos Seufzen und Brummen nur Spaß. »Siehst du das Gebirge dort?« konnte er sagen. »Da möchte ich hinüberklettern!« »So lauf, daß dir die Knochen knacken, du unkluger Junge. Als ob es noch nicht schlimm genug wäre, durch Sümpfe und über steinige Hügel zu pilgern!« Robert lachte. »Sei doch nicht so unwirsch, Mongo. Es ist ja schon bedeutend wärmer, und an geschützten Stellen wächst ab und zu ein Bäumchen. Noch vierzehn Tage, dann haben wir die Weideplätze der reichen Lappenfürsten vor uns, dann folgt noch ein kurzer Aufenthalt in den Lofoten, und mit erster Gelegenheit geht es nach Bergen oder Trondjhem, wo um diese Zeit immer viele Schiffe liegen. Wir werden schon hinkommen, Alter.« »Aber wie! Die Sohlen bluten und der Rücken schmerzt. O nein, ein Seemann, der meilenweit zu Fuß gehen muß, das ist ja schrecklich!« Robert unterdrückte einen Seufzer. »Freilich, Mongo«, antwortete er, »wenn wir ein Boot hätten und Wasser, um darauf zu schwimmen, das wäre angenehmer.« Der Neger schüttelte den Kopf. »Ein Schiff, Bob, ein Schiff!« rief er lebhaft. »Wie schrecklich es werden kann, nur Wasser und ein Boot zu haben, das läßt du dir nicht träumen. Nein, nein, da lobe ich mir noch das feste Land, wenn es auch ein bißchen steinig ist und die Füße zerreißt.« Robert horchte auf. »Du«, sagte er, »hast du solch eine Bootfahrt schon erlebt? – Bitte, Mongo, erzähle, das hilft dir über die Fußschmerzen hinweg.« »Meinst du, Schlingel? Ich finde, es ist dazu auch noch früh genug, wenn wir uns abends zur Erholung auf den harten Steinboden strecken.« Und dabei blieb es. Als die beiden, vom tüchtigen Marsch ermüdet, sich unter ihren Fellen zur Ruhe legten und sich rauchend und plaudernd die Zeit bis zum Einschlafen vertrieben, da erzählte Mongo von seiner unglücklichen Bootfahrt. »Es war auf einem Passagierschiff«, sagte er, »einer Bremer Bark, die Auswanderer nach Australien bringen sollte. Es befand sich darunter auch die Familie eines wohlhabenden Kaufmanns, der nach Sidney übersiedeln wollte, bei dem aber unterwegs eine schwere Lungenkrankheit zum Ausbruch kam. – Wir hatten eine ausgezeichnete Fahrt und befanden uns bereits im Indischen Ozean. Noch heute weiß ich nicht, wie es dazu kam, aber plötzlich in der Nacht ertönte aus dem Zwischendeck der Ruf: ›Feuer! – Feuer!‹ Du kannst dir die Verwirrung denken, Bob, beschreiben läßt sich das gar nicht. Die Frauen kreischten oder wurden mitten auf Deck ohnmächtig, so daß man die armen, hilf losen Geschöpfe wie kleine Kinder forttragen mußte, die Männer kamen fassungslos die Treppe heraufgestürzt und jammerten, die Kinder schluchzten, weil sie alle Erwachsenen in Tränen und Aufregung sahen, und die Mannschaft arbeitete mit der Hast der Todesangst an den Booten, um sie aufs Wasser hinabzulassen und mit den nötigen Lebensmitteln zu versehen. Wir hatten in Anbetracht der vielen Menschen eine große Gig und noch drei weitere Boote zur Verfügung, aber was machte das aus, da mehr als achtzig Personen innerhalb kürzester Zeit darin Platz finden, oder mit dem brennenden Schiff untergehen mußten? Und diese Erkenntnis verbreitete sich an Bord mit unheimlicher Schnelligkeit. In Todesangst drängte sich jeder an die Schanzkleidung, um in das nächste Boot hinabzuspringen. Solche Stunden bringen ja auch den Besonnensten außer Fassung und lassen alle menschlichen Überlegungen zurücktreten. Da kennt keiner mehr seinen Freund oder Bruder, da stößt er jeden mitleidslos zurück, um selbst der erste zu sein. Aber unser Kapitän war ein richtiger Mann, ein Kerl, der den Kopf auch im wildesten Sturm oben behielt, und dessen eiserner Wille sich immer durchsetzte. Er trat mit dem geladenen Revolver unter die erregte Menge. ›Ruhig, Leute‹, rief er gebieterisch aus, ›noch bin ich Kapitän auf diesem Schiff und verlange Gehorsam. Obersteuermann, nehmen Sie einen der drei Schiffsjungen, vier Matrosen und sechs von den Passagieren in die Gig. Hier, diesen Herrn mit den beiden Damen und drei Kindern. Gott befohlen, Roland, – kommen Sie glücklich an die nächste Insel.‹ Er drückte die Hand des Offiziers, der ihm einige leise Worte zuflüsterte, worauf unser braver Kapitän mit einem Kopfschütteln antwortete. Dann wurden vier Mann ausgewählt – darunter ich, der heulende Junge mit Rippenstößen ermuntert und die Passagiere in das Boot hinunter befördert. Ach, Bob, das war ein schrecklicher Auftritt. Der Kapitän hatte sich in der Eile verzählt und nur drei Kinder gerechnet, es klammerten sich aber vier laut jammernd an die Kleider der Mutter, die natürlich kein einziges Kind zurücklassen wollte. Da half nichts, der Kapitän mußte nachgeben, obgleich schon die Anzahl von zwölf Personen für unsere Gig viel zu groß war. Wir stießen so schnell wie möglich von dem brennenden Schiff ab, während der Kapitän mit gespanntem Revolver die nachdrängenden Menschen abwehrte. Ohne seine kaltblütige Entschlossenheit hätten sich zwanzig auf einmal in das kleine Fahrzeug gestürzt und es rettungslos untergehen lassen. So sahen wir denn aus einiger Entfernung zu dem unglücklichen, brennenden Schiff hinüber und konnten beobachten, wie der Kapitän auch die drei kleineren Boote bemannte. In jedes kamen ein Steuerkundiger, ein Matrose, ein Junge und fünf Passagiere, immer Frauen und Kinder zuerst. Als das letzte Boot im Begriff war abzustoßen, wurde der mutige Mann, der an sich selbst keinen Augenblick gedacht hatte, von der Überzahl der Verzweifelten zurückgeworfen, und mindestens zehn Männer sprangen über die Schanzkleidung in das Boot. Natürlich entstand ein furchtbares Durcheinander, ein Rufen und Drohen, zuletzt ein vielstimmiger Schrei des Entsetzens, und dann sank das Fahrzeug vor unseren Augen pfeilschnell in die Tiefe. Bald darauf kam es kieloben wieder an die Oberfläche. Einzelne der Ertrinkenden tauchten noch ein paarmal aus dem Wasser auf und griffen mit den Armen hilflos um sich, – dann wurde es still um das Schiff, nur einige Matrosen schwammen zu dem gekenterten Boot, richteten es auf und nahmen die Plätze ihrer verunglückten, dem blinden Wahnsinn der Passagiere geopferten Kameraden ein. Der Wind wurde immer stärker, er blies mit kurzen Stößen in die schon zum Teil brennenden Segel und trieb das steuerlose Schiff vor sich her, während die rote, höllische Glut alles in ihren weiten Feuermantel hüllte. Der Kapitän stand mit verschränkten Armen am Heck und grüßte noch einmal zu uns herüber, dann entzog sich das Schiff unseren Blicken. Wir sahen noch die brennenden Masten stürzen, einen Augenblick lang verbreitete sich Tageshelle, und dann erlosch plötzlich alles. Die See war über ihre Beute dahingegangen. Wir durften uns dem Mitgefühl für die unglücklichen Kameraden nicht lange ungestört hingeben, denn unsere eigene Lage war bedenklich genug. Die Gig war etwa sieben Meter lang und anderthalb Meter breit, stellt man sich also darin dreizehn Menschen vor, darunter Frauen und Kinder, dann wird einem der Ernst der Lage vollständig klar. Überdies waren auch die Matrosen von Anfang an mutlos, weil sie die Unglückszahl Dreizehn fürchteten. Dreizehn Personen! Wie konnte das gut gehen? Ärgerliche Blicke verfolgten das kleinste Kind der Frau. Ein Murren durchlief den Kreis der Seeleute. ›Eins ist an Bord zuviel!‹ sagten sie ziemlich ohne Scheu. Roland, unser Steuermann, ließ aber nichts dergleichen aufkommen, er stellte sofort einen Mann an das Ruder, einen anderen an den Ausguck und ließ den Jungen Wasser schaufeln, so daß die beginnende Meuterei im Keim erstickt wurde. Aber die arme Mutter hatte doch verstanden, daß man ihr Kind verwünschte, und schluchzte krampf haft. Sie hielt jetzt durch diese Herzlosigkeit der Matrosen das kleine Geschöpf für gefährdet und fiel von einer Ohnmacht in die andere. Nun stell dir die Lage vor, Bob, ein hustender, kranker Vater, eine alte Großmutter, die vor Angst und Schrecken kaum noch ihr Bewußtsein behält, die ohnmächtige junge Frau, das schreiende Baby und drei andere, unruhig krabbelnde Kinder, – dazu ein Seegang, daß die Wellen nur immer so in die Gig hineinstürzten und der Junge gar nicht so viel ausschaufeln konnte, wie in derselben Zeit wieder zurückflutete. Die Lage der armen Frau war schrecklich, ich habe sie von Herzen bedauert. Dabei war kein trockener Faden an uns allen, die armen Kinder standen bis an die Knie im Wasser, und jede neue See überschüttete sie mit einem Sprühregen. Die Schiffsordnung wurde genau eingehalten, die Lebensmittel regelmäßig verteilt und das Wasser so sparsam wie möglich verbraucht, aber dennoch war die Stunde, wo wir alle vor Hunger und Durst umkommen mußten, mit ziemlicher Gewißheit vorauszusehen. Vierzehn lange Tage hatten wir schon in dem gebrechlichen, kleinen Fahrzeug auf hoher See verbracht, die Frauen und Kinder lagen im Fieber, der Schwindsüchtige hustete sich fast zu Tode, aber noch war kein Schiff, keine Küste in Sicht gekommen, und das Wasser in den Fässern begann abzunehmen. Die Matrosen versuchten wieder zu meutern: ›Dreizehn an Bord! So können wir ja kein Land erreichen.‹ Roland verbot solche Worte, aber heimlich wurden sie doch geflüstert, nur daß die arme Mutter sie nicht mehr hörte. Sie lag im heftigsten Delirium und mußte offenbar immer mit den Schrekkensszenen der Feuersnacht beschäftigt sein, denn alle ihre verworrenen Reden deuteten auf die Angst hin, die sie im Fieberwahn immer wieder durchlebte. Am fünfzehnten Tage besaßen wir nur noch einige wenige Stücke Brot und keinen Tropfen Wasser mehr, aber – es gab auch einen Menschen in dem verlassenen, verschlagenen Boot weniger. Die kranke Frau war ihren Leiden erlegen, ohne das verlorene Bewußtsein wiedererlangt zu haben. Auch der Säugling lag wie tot in den Armen seiner Großmutter, die immer noch bei jeder stärkeren Bewegung des Bootes ein ›Ach du allerhöchster Gott!‹ nicht unterdrücken konnte. Nie werde ich die Leidensgestalt dieser alten Frau vergessen, wie sie so wochenlang vor mir dasaß, unveränderlich mit dem weißseidenen Hut und dem grauen Kleid, auf dessen Schleppe die Matrosen bei jeder Bewegung traten. Die arme Alte war wie ein Steinbild, sie schien an ihren Platz festgewachsen, und selbst als wir die Leiche ihrer Schwiegertochter so schonend wie möglich über Bord gehen ließen, – selbst in diesem Augenblick liefen nur die großen Tränen über das runzelige, ganz weiße Gesicht herab, aber sie schluchzte nicht und rührte kein Glied. Am nächsten Tage starb auch das Kleine. Wir waren jetzt an Bord nur noch elf. Unsere Zungen klebten am Gaumen, unsere Lippen wurden schwärzlich und sprangen auf, unsere Kräfte, schon erschöpft durch den Mangel an Nahrung, drohten uns zu verlassen. Wir erwarteten in einer Art dumpfer Verzweiflung den Tod, die kleinen Kinder schliefen fast immer. Da, eines Morgens früh – ich werde den Augenblick nie im Leben wieder vergessen – erhob sich der Matrose am Ausguck plötzlich auf die Fußspitzen. ›Land!‹ rief er mit schwacher, aber vor Freude schluchzender Stimme, ›Land!‹ Alles taumelte auf. Unser Steuermann versuchte ein Hurra, das ihm in der Kehle stecken blieb, der Junge fuhr mit beiden Knöcheln seiner Daumen in die Augen, und der hustende Schwindsüchtige fragte in heiserem Ton: ›Ist es das Festland von Australien?‹ Er dachte nur an sich, und trotz seiner schrecklichen Krankheit war Rettung aus der augenblicklichen Gefahr der einzige Gedanke, den er fassen konnte, alles andere war ihm gleichgültig. Die alte Großmutter rührte sich nicht. Sie hatte wahrscheinlich den Ausruf des Matrosen nicht einmal verstanden. Und doch wiederholten alle von Zeit zu Zeit das erlösende, glückbringende Wort: ›Land! – Land!‹ – Alle Blicke hingen an dem grünen, bewaldeten Ufer, an den immer näher und näher aus dem Wasser hervortretenden Umrissen der Küste. Es grünte und blühte in allen Farben, hohe Wipfel rauschten im Morgenwind, Kletterpflanzen schlangen sich von Zweig zu Zweig, bunte Vögel, besonders Papageien, wiegten sich in den Laubkronen, und hier oder da lugte ein Affe aus dem Gebüsch. Dazu die goldenen Sonnenstrahlen und die heitere, würzige Luft, die Aussicht auf Wasser, vielleicht auch auf frische Früchte, – kurz, wir waren in einer Art von Taumel. ›Ist es Australien?‹ krächzte wieder der unglückliche Kranke. Roland war der einzige, der vollkommen ruhig blieb und auch jetzt noch die Ordnung aufrecht erhielt. ›Es ist eine Insel, mein Herr‹, antwortete er, ›auf der unser Aufenthalt nicht von Dauer sein kann, weil dort wahrscheinlich Wilde hausen, und zwar ein bösartiger, grausamer Stamm, dessen vergiftete Pfeile auch bei dem geringsten Streifschuß töten.‹ Der Kaufmann erschrak sehr. ›Mein Gott, ich gehe gar nicht an Land‹, stammelte er. ›Das ist auch keineswegs erforderlich‹, sagte Roland lächelnd. Die Küste war inzwischen erreicht, und wir sahen Kokospalmen mit reifen Früchten, Bananen und Feigen. Unsere Freude kannte keine Grenzen. Ich sage dir, Bob, das ging wie auf Flügeln, bis die reifen Nüsse angebohrt waren und jeder von uns diesen natürlichen Becher an die Lippen setzte. Der alten Frau und den armen kranken Kindern flößte ich selbst etwas Kokosmilch ein, obgleich es bei den Kleinen nicht viel mehr nützte, als sie vor dem Ende noch einmal zu erquikken, aber ich mußte immer an meine eigenen Kinder denken, die auch einst so schutzlos, fremder Gnade überlassen, in die Welt hinausgestoßen worden waren, und darum nahm ich mich der Verlassenen an. Ihrem Vater konnten wir trotz allen Zuredens keine Kokosmilch aufdrängen. ›Das reizt den Husten‹, antwortete er, ›Nüsse sind sehr schädlich.‹ Und dann, nachdem der erste Heißhunger gestillt war, schafften wir Vorräte in das Boot. Zwei Mann gingen mit geladenen Gewehren tiefer in die Wildnis hinein und suchten eine Quelle, während zwei andere die nächststehende Palme in aller Eile fällten und die Früchte an Bord brachten. Auch Bananen und Feigen rafften wir zusammen, soviel sich tragen ließ, dann nahm unser Steuermann mit dem Oktanten genau die Sonnenhöhe, zeigte uns auf der Karte, wo wir waren, und nachdem die beiden vorhandenen Fässer mit wundervollem, frischem Wasser gefüllt waren, stießen wir vom Lande ab. In diesem Augenblick tönte uns aus den nächsten Büschen das Kriegsgeschrei der Malaien entgegen, und ein Hagel von Pfeilen schlug rechts und links ins Wasser. Die halbnackten gelben Gestalten, die häßlichen Gesichter und das wütende Geschrei übten im ersten Augenblick eine solche Wirkung, daß wir nicht schnell genug vom Lande fortkamen, um einem zweiten Hagel hölzerner Pfeile zu entgehen, obwohl wieder keiner traf. Nur ein einziger bohrte sich in den weißen Hut der alten Dame, die ihn ärgerlich ergriff und über Bord warf. Zugleich aber stürzten sich sechs oder zehn Wilde in das Wasser und schwammen aus allen Kräften dem Boot nach, offenbar um es zu entern. Der schwindsüchtige Herr stieß einen lauten Schrei aus. ›Leute, Leute, um des Himmels willen, erschlagt die Räuber‹, rief er. Unsere Matrosen machten auch wirklich Miene, die Lenkung des Bootes gänzlich fallen zu lassen und den Kampf mit den Malaien aufzunehmen, aber Roland verhinderte rechtzeitig dies tolle Wagnis, das unfehlbar unseren Untergang hätte herbeifuhren müssen. Seine Befehle, in festem Ton gegeben, brachten das kleine Fahrzeug in noch schnellere Fahrt, und bald hatten wir die schwimmenden Wilden weit hinter uns gelassen. Nur das teuflische Kriegsgeschrei gellte uns über den Ozean nach. Wir hatten aber doch wieder für mindestens acht Tage Proviant und Wasser, daher verspotteten wir aus sicherer Entfernung die wütenden Gelben und sangen ihnen Spottlieder zu oder warfen Kokosschalen nach den auf- und abtauchenden Köpfen. Der Kranke hustete, daß es in jedem Augenblick schien, als müsse seine eingefallene Brust springen. Und so fuhren wir auf gut Glück weiter. Tag um Tag verging, eine Kokosnuß nach der anderen wurde zersägt, wir alle waren krank von der unverdaulichen Nahrung, und ehe eine Woche seit der Landung auf der Insel vergangen war, starben die unglücklichen kleinen Kinder aus Mangel an richtiger Pflege vor unseren Augen, ohne daß wir Mittel besaßen, sie zu retten. Am neunten Tage hatten wir wieder keinen Tropfen Wasser mehr und lagen bei fast völliger Windstille fast verzweifelt auf dem Boden des Fahrzeuges. Nur Roland behielt seinen festen, unerschütterlichen Mut. Er zeigte uns auf der Karte, wo sich das Boot befand, und daß wir dem kleinen Hafen von Plangei auf Sumatra ganz nahe sein müßten, ja, daß das Land jeden Augenblick in Sicht kommen könne, aber – seine Worte machten keinen Eindruck. Wir hörten kaum auf ihn, sondern ergaben uns ohne Gegenwehr der tiefsten Mutlosigkeit. Es wurde Nacht, die See ging höher und höher, ein Sturm brach los und noch einmal hatten wir Glück, – Ströme von Regen fielen herab auf unsere brennenden Stirnen, wir konnten trinken, trinken! Du ahnst nicht, Bob, was es heißt, langsam zu verdursten. Die schwerste Krankheit, der heftigste Schmerz sind dagegen Kinderspiel. Roland nickte zufrieden. ›Jetzt gebt acht, Leute‹, rief er. ›Es zieht ein Gewitter herauf, und wo die Blitze herabfahren, da ist Land!‹ Neu erfrischt und belebt hoben sich alle Köpfe. Wir waren bis auf die Haut durchnäßt, unsere Füße standen bis über die Knöchel im blanken Wasser, aber das ließ sich doch immer noch weit besser ertragen als vorher der quälende Durst. Neugierig sahen wir unserem Steuermann über die Schulter, als er in der Dunkelheit einen noch dunkleren Punkt bezeichnete. ›Ich möchte wetten, daß dort das Ufer liegt!‹ rief er. Wir strengten unsere Augen an und rieten hin und her, bis plötzlich der erste gelbe Blitz über den Horizont dahinlief und gedankenschnell herabzuckte, dann jubelte der Steuermann ein lautes Hurra. ›Seht ihr's, Kinder, seht ihr's. Dort ist Land!‹ ›Wissen Sie das genau, Herr?‹ fragte einer der Matrosen. ›So genau, wie man überhaupt derartige Regeln aufstellen kann‹, antwortete Roland. ›Nur ausnahmsweise schlägt der Blitz in der Nähe des Landes ins Wasser. Aber für diesen Fall befurchte ich nichts, da der elektrische Funke immer die gleiche Richtung verfolgt. Vor uns ist Land!‹ Diese sichere Überzeugung verfehlte ihre Wirkung nicht, obwohl jetzt eine neue schwere Sorge unsere Kräfte in Anspruch nahm. Wir hatten auf dem schwankenden Boot mit einem einzigen Segel und ohne eine Notspiere dem orkanartigen Gewittersturm standzuhalten. Blitz und Donner rasten immer stärker, der Wind heulte, und der Regen schoß in Strömen herab, aber doch waren wir voll Hoffnung, da das Land immer näher kam. Wir sahen es beim Schein der roten, zuckenden Blitze ganz deutlich. Nun mußt du wissen, daß Plangei zu dem von den Holländern beherrschten Teil der Insel Sumatra gehört und dort also durchaus schon europäische Einrichtungen bestehen. Der Strandvogt, ein wetterbrauner, tüchtiger Kapitän von der holländischen Marine, ließ ein großes, mit zehn Malaien bemanntes Boot auslaufen, um uns Hilfe zu bringen und uns zugleich als Lotsen zu dienen. Es gab noch einen harten Kampf mit den empörten Wellen, der Junge wurde über Bord gespült und konnte erst nach lange Anstrengung wieder aufgefischt werden, aber dennoch brachten uns die braven Seeleute schließlich wohlbehalten ans Ufer. – Ich sage dir, es war wie im Paradies, Bob, als wir endlich festen Boden unter unseren Füßen fühlten, als wir warme Speise bekamen und uns zum Schlaf so bequem wie möglich ausstrecken durften. Die schlechten hölzernen Häuser, die halbwilden Malaien, die harten Schlafstellen aus Seegras und Wolldecken, alles erschien uns wunderbar, berauschte uns förmlich. Wir tanzten und jubelten wie Kinder am Weihnachtsabend. Der Strandvogt behielt uns acht Tage lang in seinem gastfreundlichen Hause, dann ließ er unser Boot ausrüsten und mit Lebensmitteln versorgen, und nach einem herzlichen, dankerfüllten Abschied ging es wieder auf die Reise, um längs der Küste über mehrere kleine Fischerdörfer nach dem bedeutenderen Hafen von Padang zu kommen. Vorher jedoch hatten wir noch eine Szene zu bestehen, die uns allen ins Herz schnitt. Die alte Dame war durch das erlebte schreckliche Unglück vollkommen stumpfsinnig geworden, sie ließ sich aus dem Boot und in das Haus des Strandvogtes tragen, ohne von ihrer Umgebung irgendwelche Notiz zu nehmen, doch als wir an Bord gingen und ich sie sorgfältig an ihren gewohnten Platz setzen wollte, da schien eine Erinnerung des Überstandenen in dem gestörten Gehirn wieder aufzuleben. Sie sträubte sich wie in Todesangst, klammerte sich mit beiden Händen an die Türpfosten und zitterte wie ein erschrecktes Kind. Wir konnten es kaum mit ansehen, mußten aber doch freundliche Gewalt brauchen, denn in Plangei gab es weder zu Wasser noch zu Lande ein Beförderungsmittel nach anderen Hafenplätzen, während Roland trotzdem verpflichtet war, die beiden geretteten Passagiere des verbrannten Schiffes an das Bremer Konsulat abzuliefern und zu Protokoll zu geben, was im Boot geschehen war, seit es das untergehende Schiff verlassen hatte. Von den drei kleinen Booten, die mit uns zugleich abstießen, hatten wir, wie ich zu erzählen vergaß, nie etwas wiedergesehen.« Robert hatte der Schilderung des Alten gespannt zugehört. »Und ihr erfuhrt auch später nichts, Mongo?« fragte er teilnehmend bei den letzten Worten. »Doch!« nickte der Neger. »Ein aus der Sundastraße kommendes Schiff hat die vier treibenden, gekenterten Boote aufgefischt und eingeliefert. Sie trugen alle den Namen ›Susanna‹, erwiesen sich also dadurch als die zu der verbrannten Bark gehörigen kleinen Rettungsboote, – aber von den Insassen war keiner am Leben geblieben. Gottes Wege sind unerforschlich, Bob. So viele junge Menschen gingen mit dem Schiff in wenigen Stunden unter, und zwei Menschen, die dem Tode schon verfallen waren, kamen mit dem Leben davon. Wir brachten die geistesgestörte alte Frau und den kranken Mann wohlbehalten nach Padang, wo sie der Konsul in Empfang nahm und mit dem nächsten Dampfer nach Hause schickte. Wir Seeleute erhielten die Heuer ausbezahlt, man, sammelte für uns und tat alles Mögliche, um uns die Leiden dieser schrecklichen Reise vergessen zu lassen, dennoch aber wird mir jede Einzelheit der Fahrt ewig im Gedächtnis bleiben. Was wir während dieser Wochen ertrugen, das spottet aller Schilderung und läßt sich furchtbarer nicht denken.« Robert zog seine Decke über die Schultern herauf. »Ich glaube es dir, Mongo«, nickte er. »Die Tatlosigkeit, die enge Gefangenschaft auf so kleinem Raum muß ganz entsetzlich gewesen sein. Ich wäre gewiß – –« »Nun?« fragte nach einer Pause der Alte. »Nichts, Mongo. Gute Nacht!« »Gute Nacht, mein Junge.« Die beiden schliefen Seite an Seite unter den warmen Rentierfellen, bis am nächsten Morgen das gewohnte Zeichen, eine Art Kuhhorn, mit seinen melancholischen Brummtönen zur Weiterreise mahnte. Und wieder ging es über Berge und Täler, mit jedem neuen Sonnentag entfaltete sich alles ringsumher zum Erwachen, zum Leben. Der Boden verlor die Felsbildung, der Wind hörte auf, Kälte und Regen mit sich zu führen, überall begann es zu grünen und zu blühen, und der Baumbestand nahm immer mehr zu. Es gab jetzt schon Kiefern, Birken und schlanke Tannen, sogar einige kleine Eichen, es wurde wärmer, und dann kam endlich der Tag, an dem man bei dem großen Lappenlager am Fuße des Kilpis angelangt war. Der Maalself stürzte von einem hohen, stumpfen Kegel mit donnerndem Rauschen in sein steinernes Bett herab, die Abhänge des himmelhohen Felsens erhoben sich kantig und zackig fast bis zu den Wolken empor, und hohe Bäume ragten im Schmuck des jungen Grün aus dem tiefen Tal herauf. Hier war jeder Meter Boden fruchtbarstes Ackerland, hier gab es weite Rasenflächen, und überall weideten Rentiere, deren ausgedehnten Futterplatz man sorgfältig eingefriedet hatte. In der Nähe des Wasserfalles, an einer besonders geschützten Stelle, lagen die Wohngebäude, die Stall-und Arbeitsräume der Lappen, alles nur riesige Zelte, mit vier Stämmen in der Erde befestigt und durch Pflöcke gehalten, aber mit geteertem oder geöltem Segeltuch bespannt und gut eingerichtet. Während bei dem wandernden Stamm überall die bitterste, trostlose Armut zutage trat, herrschte hier bei den reicheren Verwandten offensichtlicher Wohlstand, der sich besonders in der Kleidung ausprägte. Statt der rohen, ungeschlachten Säcke aus Fellen trugen diese Hirten und Hirtinnen die Tracht der weißen Kolonisten, nämlich die Männer das blusenartige Jagdhemd mit Tuchhosen, großen Lederstiefeln und schwarzem, spitzem Hut, den eine Adlerfeder schmückte, – und die Frauen das braune oder helle Kleid mit langen Flechten und einer breiten, schneeweißen Schürze. Die geöffneten Türen des großen vorderen Zeltes zeigten im Innern eine vollständig eingerichtete Meierei. Es wurde Butter und Käse bereitet, man scheuerte die blanken Geräte und kochte an einem riesigen Feuer für die ganze große Schar das Essen. Es sah hier alles anders aus als bei den armen Nomaden, die im Winter Handschuhe strickten und Zwirn und Holzgeräte arbeiteten, um sie im Frühling gegen die unentbehrlichsten Lebensmittel und Hausgeräte bei dem Krämerkolonisten einzutauschen und doch trotz aller Mühe ewig in dessen Schuld zu bleiben. Dieser Stamm dagegen trieb ausgedehnten Handel und bedeutenden Fischfang in den Lofoten. Der Zauberer verließ, als man den Lagerplatz erreicht hatte, sein Reittier und näherte sich, allen andern voran, dem Wohnzelt, das höchstwahrscheinlich einem Anführer oder besonders reichen Manne gehörte. Schon sehr bald kam er zurück, begleitet von einem Lappen, der ihm Zeltplätze anwies und dann die Herde einer Musterung unterwarf. Jedem Tier, das in die Umfriedung getrieben wurde, schnitt er ein Zeichen in das Haar, die älteren aber wurden zum Schlachten bestimmt und in einen gesonderten Raum gesperrt. Alles, was Robert sah, deutete auf Ordnung und Wohlstand hin. Von ihm selbst und seinem schwarzen Gefährten mußte der Zauberer auch gesprochen haben, da sich der junge Lappe, nachdem er die Tiere ausgesondert hatte, den beiden näherte und ihnen seine derben, braunen Fäuste darbot. »Ihr seid willkommen«, sagte er in einer Sprache, die so sehr an die Dänische erinnerte, daß ihn Robert sofort verstand. »Bleibt unsere Gäste, solange es euch beliebt, und seid zufrieden mit dem, was wir bieten können. Hier ist niemand reicher als der andere, hier sind keine Herren und keine Diener, sondern jeder findet sein bescheidenes Teil an den Gaben Gottes. Kommt in das Zelt meines Vaters und eßt und trinkt.« Robert schlug sofort ein. Zwar klangen die Worte des jungen Burschen etwas blumenreich und außergewöhnlich, aber doch vertrauenerweckend. Er übersetzte sie dem Neger, und die beiden traten in das Zelt, wo ihnen Rentiermilch, Bärenschinken und eine kalte, gebratene Rentierkeule sowie die bekannten Mehlkuchen vorgesetzt wurden. Nach wenigen Stunden schon waren sie mit ihren neuen Gastgebern gut befreundet, und Helge, der Sohn des alten Stammesführers, versprach ihnen, sie schon morgen nach dem Westfjord mitzunehmen, wo jetzt die getrockneten Fische von den Stangen gehoben, verpackt und verladen wurden, die man seit dem März der Sonne und dem Wind ausgesetzt hatte. Für diese Arbeit trafen die Wanderlappen hier ein, während die Männer von der ersten Reise, dem Märzfischzug, bereits wieder nach Norden gegangen waren, um dort während der Sommermonate zu ernten, was der kurze Sonnenschein dem Boden abgerungen hatte, um zu jagen und die Stammtiere der zahllosen Rentierherden zu weiden. Ewig unterwegs, lebt und stirbt der Lappe auf der Wanderschaft über die Gebirge und Hochflächen seiner öden Heimat. Robert sprang vor Freude, während Mongo den ganzen Tag ausruhte und sich von den Strapazen der Wanderung wieder zu erholen suchte. »Hier sind Lebensmittel im Überfluß«, sagte er, »ich brauche also kein Brennholz zu spalten oder Wasser herbeizuschleppen, wie damals in dem verwünschten Gebirge, wo eine Zwiebel schon ein Leckerbissen war und ein Stück gekochtes Leder ein Feiertagsschmaus. Meine alte Freundin sitzt, wie ich sehe, auch den lieben langen Tag im Sonnenschein ohne zu arbeiten, – ich mache es wie sie.« Robert lachte und bestieg mit Helge die großen geduldigen Rentiere, die sie nach dem Westfjord bringen sollten. Seine Reitkunst war zwar seit Pinneberg nicht mehr geübt worden, so daß er wie ein richtiger Seemann auf dem Rücken des Tieres hing, oder besser, wie ein Feuerzange auf dem Rost. Helge lachte laut, aber schon nach kurzer Zeit hatte Robert die erste Angst überwunden, die Hörner des gutmütigen Tieres losgelassen und sich straffer aufgerichtet. »Habe ich doch nie im Leben gehört, daß die Rentiere zum Reiten benutzt werden«, sagte er. »Ich hielt sie nur für milchgebende Kühe, deren Fell und Fleisch man wie das der Rinder verwendet.« Helge nickte. »Ist auch ganz so wie du sagst, Herr«, antwortete er. »Die gewöhnlichen Rentiere aus den Finnmarken setzen ihren Reiter sofort wieder ab oder lassen überhaupt einen solchen Versuch gar nicht erst zu, aber die von der Halbinsel Kola, eine größere, zahmere Rasse, die jedoch selten eingefangen wird, eignet sich zum Reiten ganz besonders. Du kannst so ruhig sein, als säßest du auf dem Schoß deiner Mutter, der ›Tiermer‹ wird dich nicht abwerfen.« Robert sah auf. »Tiermer?« wiederholte er, »das Wort habe ich schon häufig gehört. Was bedeutet es?« Der Lappe sah ihn mißtrauisch an. »Weiß nicht, Herr«, antwortete er kurz. »Ist eben ein Name wie deiner und meiner auch.« »Du sollst mich nicht Herr nennen, Helge«, rief der Junge. »Ich heiße Robert, gewöhnlich abgekürzt in Bob!« Der Lappe neigte lächelnd den Kopf. »Aber du bist ein Weißer«, sagte er, »und du verachtest, wie alle deine Brüder, die armen, schmutzigen Bewohner der Finnmarken.« Robert lachte hell auf. »Ich und jemand verachten!« rief er. »Das gibt es bei uns zu Hause nicht. Wir schätzen den Mann nach seinem Verdienst, aber nicht nach seiner Hautfarbe.« Der junge Lappe seufzte tief. »Dann möchte ich, daß unser Gebiet an deine Heimat stieße, Bob. Hier sind wir nur geduldet wie die Tiere der Wüste, da man sie nicht töten darf.« Robert schwieg. Er dachte an das heidnische Opfer hoch oben auf den Felsenbergen der äußersten Eismeerregion, an das steinerne Götzenbild und die Blutstropfen auf seinem abschreckenden Antlitz, er glaubte plötzlich den feinen Wohlgeruch wieder zu atmen und sah die braunen Gestalten, wie sie sich vor dem Bilde Jubinals tief verneigten und dann das sonderbare Abendmahl aus den Herzen der Opfertiere empfingen – – Dabei hatte er das »Tiermer« gehört, er wußte es jetzt genau. Schweigend ritt er mit seinem Begleiter weiter. Der breite Westfjord schimmerte schon von weitem herüber, als er zu dem jungen Lappen begann: »Bist du ein Christ, Helge?« Derselbe mißtrauische Blick von vorhin streifte ihn wieder. »Wir sind alle Christen, Herr«, antwortete der Bursche. »Auch der Stamm, mit dem ich hierher kam?« »Auch der. Wo trafst du übrigens meine Brüder?« »Am Eismeer«, antwortete Robert. »Hoch oben im Gebirge.« »So, so. Rastete der Stamm an dieser Stelle?« »Einige Tage lang. Ich konnte mit niemand sprechen und weiß also nicht, warum. – Aber sage mir doch«, fügte er hinzu, um den Gegenstand des Gesprächs zu wechseln, »sage mir doch, wie dein Rentier heißt, Helge.« Der junge Lappe schien einen Augenblick zu zögern, dann aber heftete er den Blick auf Roberts Gesicht und antwortete ruhig: »Das Tier heißt ›Jubinal‹.« »Jubi –« Robert ließ den Namen unvollendet. Er besann sich zur rechten Zeit, daß es gefährlich und undankbar sein würde, die Geheimnisse der armen Nomaden auszuplaudern. »Es kam mir wieder so vor, als hätte ich auch dies Wort schon einmal gehört«, sagte er nur. »Vielleicht heißen viele Tiere so.« »Sehr viele«, war die einsilbige Antwort. Wieder stockte das Gespräch, und Robert wandte seine ganze Aufmerksamkeit dem Westfjord zu. Da sah er an langen Stangen am Ufer die Millionen getrockneter Fische in der Luft hängen und überall die arbeitenden Männer, welche die reichliche Beute in Sicherheit brachten. In den Buchten lagen zu Hunderten die Fischerboote und weiter draußen die Jachten, die den Ertrag des Fanges nach Tromsö bringen sollten. Robert sah sehnsüchtig nach den schlanken Fahrzeugen mit dem weißen Bug und den weißen, glänzenden Segeln. »Helge«, sagte er, »kennst du keinen von den Kapitänen?« Der Lappe nickte. »Kenne sie alle, Herr. Sind die Krämer von den Ansiedlungen in den Schluchten und an den Fjords, jeder fuhrt sein eigenes Schiff.« Robert machte ein erstauntes Gesicht. »Krämer?« wiederholte er. »Und diese Männer sind gleichzeitig auch Seeleute?« »Ja. Seefahrer, Großhändler, Gaardbesitzer, Krämer und Viehzüchter, alles zugleich. Hier ist nur der etwas wert, der die rauhe Gegend und das rauhe Wetter in jeder Weise auszunutzen versteht. Sonst könnte er sich nicht ernähren.« Robert fühlte sich ziemlich enttäuscht. »So hat also wohl jeder dieser Krämer-Kapitäne seine Schiffsbesatzung fix und fertig in Knechten und Lehrjungen dastehen?« rief er verächtlich. »Du sagst es, Herr!« antwortete der Lappe. »Und fremde, wirkliche Matrosen werden nicht geheuert?« »Auf diesen Jachten, nein. Du mußt dich in Bergen nach einem Kapitän umsehen. Dort gibt es welche aus aller Herren Länder.« Robert atmete auf. »Helge, wüßtest du eine Gelegenheit, bald dahin zu kommen?« fragte er den jungen Lappen. Der zuckte die Achseln. »Müssen sehen, Herr«, antwortete er. Robert begriff nicht, weshalb der junge Mensch plötzlich so verändert und schweigsam erschien. Helge hatte offenbar anfangs großes Gefallen an ihm gefunden, und jetzt war er fast abweisend geworden. Als sie das Ziel erreicht hatten und die Rentiere an einen Baum gebunden waren, näherte er sich Robert. »Du bleibst an meiner Seite, Herr!« sagte er leise, aber im Ton eines Befehls. »Begleite mich, ich habe mit den Männern dort zu sprechen.« Dabei deutete er mit der Rechten auf eine Gruppe von Lappen, die auf langen Holzbänken die gedörrten Fische zu einzelnen Haufen schichteten und bei dieser Arbeit laut sangen oder sprachen, während sich der salzige, unangenehme Geruch weithin bemerkbar machte. »Wir reiten in einer Viertelstunde zurück«, fügte er hinzu. Robert schüttelte den Kopf. Etwas in ihm sträubte sich gegen diesen Ton. »Ich bleibe am Strand«, sagte er, »und zwar um womöglich mit einem der Schiffer zu sprechen.« »Das verbiete ich!« beharrte der Lappe. »Du? – Mit welchem Recht?« »Ich zwinge dich dazu! – Du bist ein Gast im Zelt meines Vaters, du bist ein Bettler, den das Meer an unseren Strand geworfen hat, das vergiß nicht.« Roberts Blut schoß heiß in seine Wangen. Das Wort »Bettler« nahm ihm wieder einmal seine ganze Besonnenheit. Ehe sich der Lappe versah, brannte auf seinem Gesicht ein Schlag, der ihn fast zu Boden geworfen hätte. »Nimm das von dem Bettler!« rief der junge Matrose zornig. Er stand mit blitzenden Augen und geballten Fäusten vor seinem Gegner, der zwar wütend wie ein gereiztes Raubtier aussah, aber keinen Versuch machte, die Ohrfeige zurückzuzahlen. »Bist du auch noch ein Feigling dazu?« rief er. In diesem Augenblick berührte die Hornspitze einer langen Pfeife von hinten seine Schulter, und als er sich umsah, bemerkte er einen älteren Mann in Schiffertracht, der mit spöttischer Miene den ganzen Auftritt beobachtet hatte. »Schlagen sich zwei junge Narren auf offener Heerstraße!« sagte er spöttisch lachend. »Der Lappe hat mich beleidigt!« rief Robert errötend, »Er hat mich einen Bettler genannt, weil ich schiffbrüchig an diese Küste geworfen wurde und auf der Wanderung vom Eismeer hierher notgedrungen das Brot seines Stammes essen mußte. Ist das gut und gerecht, Herr?« Der Mann antwortete nicht. Seine blauen, klugen Augen forschten in dem Gesicht des Lappen. »Warum hast du das getan, Helge?« fragte er. Der junge Rentierhirt schwieg. Der Norweger lächelte schlau. »Du bist also am Nordkap gestrandet?« wandte er sich zu Robert. »Als Walfischfänger natürlich? Und da oben trafst du die Lappen?« »Ja, Herr.« »Wir kennen hier keine Herren, Junge. Ich bin der Patron Gulbrandson, das genügt. – Und du, Schlingel«, redete er den anderen an, während sich sein breiter Mund zum Grinsen verzog, »du fürchtest, daß dieser schlagfertige junge Seebär wohl ausplaudern könnte, was höchstwahrscheinlich da oben in der Eiswüste passiert ist, nicht wahr? Oder denkst du, daß deine schmutzigen Gesellen am Nordkap, wo kein Baum wächst und kein Leben gedeiht, – zu Jesus Christus gebetet haben, he?« Helge sah mit mißtrauischem Blick auf. »Wir sind alle Christen, Patron Gulbrandson«, antwortete er verbissen. »Aha! Dachte wohl, daß ich den Nagel auf den Kopf getroffen hätte«, lachte der Norweger. »Ist nicht angenehm, für Götzendienerei und Heidenkram vor Gericht gerufen zu werden und in das Gefängnis zu wandern, wie? Kann mir das lebhaft denken, und kein Jubinal und kein Tiermer schützt davor, wenn's herauskommt. Aber würdest du denn hingehen und wie ein altes Weib ausschwatzen, was du gesehen hast, Bursche, wie?« wandte er sich an den erstaunten Robert, der jetzt erst den Zusammenhang der Dinge vollständig begriff. Eine Handbewegung antwortete ihm. »Nein, niemals!« rief der junge Matrose, »ich würde niemals den Verräter spielen.« Patron Gulbrandson lachte. »Du gefällst mir«, nickte er. »Willst sicherlich eine Heuer annehmen, nicht wahr? Möchtest nach Bergen fahren, denke ich.« »Ja, ach ja! In das Lager der Lappen gehe ich nicht wieder zurück, und sollte ich hier verhungern müssen. Nehmen Sie mich mit nach Tromsö, Patron.« Der Norweger rauchte in großen Wolken. »Kennen hierzulande gar kein ›Sie‹,« brummte er. »Ist vielleicht dänische und deutsche Sitte, wir mögen es nicht. Nennt einer den andern ›du‹, und wenn's der Amtmann von Tromsö selber ist. Aber du gefällst mir, Junge, habe dir's ja schon gesagt, ist Mut in dir und eine frische Art, mag dich leiden, mit einem Wort. – Meine Jacht geht morgen nach Tromsö unter Segel, und wenn du mitwillst, so komm an Bord, ich erlaube es. Aber vorher noch Frieden mit diesem Burschen hier. Der Mensch soll nicht im Zorn scheiden, und wäre es auch von einem gelben, schmutzigen Lappen.« Da wandte sich Helge plötzlich ab und rannte wie ein Hase in Sprüngen zu den Rentieren, deren Halfter er durchschnitt und sich auf den Rücken des einen schwang. Mit einem wilden, gellenden Schrei jagte er in das Gebirge zurück. Wie der Blitz schoß ihm Tiermer, das ledige Ren, auf den Fersen nach. »Fort ist er!« sagte Olaf Gulbrandson. »Kenne sich einer aus bei den Lappen. Sie sind von ihren Tieren so wenig zu trennen, wie von ihren alten Heidengöttern, und wenn bis zum jüngsten Tage von unserem Herrn und Heiland gepredigt werden würde.« Er hatte das mehr für sich als zu seinem jungen Begleiter gesprochen. Jetzt erst sah er, daß Robert kreidebleich dem dahinjagenden Hirten nachblickte. »Nanu?« rief er, »was ist denn los, Junge? Siehst ja aus wie ein altes Weib, das im Gebirge einem Höhlengeist begegnet ist!« Robert gab ganz verstört den erstaunten Blick des Patrons zurück. »Leb wohl«, sagte er, »ich muß fort, ich darf mich nicht länger auf halten, Patron. Da oben bei den Lappen ist noch ein Gefährte von mir, ein alter Neger, den ich nicht verlassen darf!« Er wollte sich rasch abwenden, aber Olaf Gulbrandson hielt ihn am Arm zurück. »Du bist nicht gescheit, Junge«, rief er, »glaubst du etwa, daß es dir möglich wäre, zu Fuß über die Fjellen zu laufen?« »Ich muß, und wenn es noch so schwer sein sollte. Sie könnten den Alten ermorden.« »Pah! Das fällt ihnen nicht ein. Sie bewachen ihn, bis er auf einem Schiff sitzt und der Stamm ins Innere des Landes zurückgeht. Wie konntest du Helge aber auch von dem Baalsdienst seiner Genossen erzählen?« »Das habe ich nicht getan!« rief Robert lebhaft. »Du darfst mir nicht solche Gedankenlosigkeit zutrauen, Patron! Ich wußte noch nicht einmal, was der Lappe dachte, als er schon aus einigen Andeutungen zusammengesetzt hatte, daß ich – nun, meine Schuld ist es nicht. Aber dem Neger darf nichts geschehen, Patron Gulbrandson. Bitte, laß mich fort, hörst du!« »Das tue ich nicht, Junge, du läufst in dein Verderben hinein, blind und toll wie ein Verrückter. Du kennst ja den Weg gar nicht, fünf Stunden müßtest du marschieren, auch wenn es dir gelänge, dich zurechtzufinden, also gib den Plan auf. Der Neger wird nicht ermordet, ich, Olaf Gulbrandson, stehe dir dafür.« Robert schüttelte den Kopf. »Willst du mir wirklich raten, meinen Gefährten im Stich zu lassen und selbst hier in Sicherheit zu bleiben, während sein Schicksal von der Großmut einiger Lappen abhängt, – Patron Gulbrandson, willst du das wirklich?« Der Schiffer runzelte die Stirn. »Sind alle Grünschnäbel in Deutschland so vorlaut, alten Leuten derartige Fragen zu stellen, Bursche?« Robert wandte sich ab. »Leb wohl, Patron, ich danke dir nochmals für dein freundliches Anerbieten, aber ich darf nicht. Wenn ich mit Mongo wieder hierher zurückkomme, wird deine Jacht längst die Anker gelichtet haben. Glück auf die Fahrt.« Er grüßte und lief ohne weiteres fort, den Spuren der beiden galoppierenden Rentiere nach. Olaf Gulbrandson schob die Pelzmütze in den Nacken, rauchte wie ein Fabrikschornstein und sah ihm sprachlos nach. Erst als Robert seinen Blicken zu entschwinden drohte, faßte er sich. »Hallo, Junge«, rief er mit gewaltiger Stimme, »hast du denn den Teufel im Leib? Ich will dir helfen, dir Leute mitgeben, hörst du? Komm zurück, Schlingel!« Robert stand unschlüssig still, als er aber den Norweger mit langen Schritten nachkommen sah, kehrte er um und ging ihm entgegen. »Sprichst du im Ernst, Patron Gulbrandson?« fragte er. »Sonst halte mich nicht auf; es würde nichts nützen.« Der Norweger war ganz außer Atem. »Ich scherze nie, Junge«, antwortete er, »aber am allerwenigsten in ernsthaften Dingen. Du sollst ein paar Kerle haben, die den Weg kennen, und Brot und Fleisch auf die Wanderung, sonst könntest du nicht lebend in das Lappenlager kommen. Wart einen Augenblick!« Sein gellender, langgezogener Pfiff rief aus einem der Boote zwei Männer herbei, die in ledernen Kleidern, mit schweren Stiefeln und Pelzmützen an Land kamen, begleitet von mehreren ganz kleinen, schlanken Hunden, wie sie zum Vogelfang zwischen den Klippen verwendet wurden. Es waren »Quäner«, Mischlinge von Lappen und Weißen. Olaf Gulbrandson schien diese Leute in seinem Lohn zu haben, denn er befahl ihnen mit kurzen Worten, den nötigen Proviant aufzupacken und den jungen Matrosen in das Lappenlager zu führen. Heimlich flüsterte er dabei noch einige Worte, die Robert nicht verstand. Die Vogelfänger gingen zu einer Bretterhütte am Strand und kamen dann sehr bald zurück, auf den Schultern trugen sie eine Art Lederranzen und in den Händen lange, eisenbeschlagene Stöcke. So ausgerüstet machten sie sich mit Robert auf den Weg, und alle drei marschierten in die Steinwüste hinein. Patron Gulbrandson sah ihnen mit zufriedenem Lächeln nach. »Ist ein frischer Junge«, murmelte er, »könnte ein Norweger sein, einen so festen Willen hat er. Wird sich durchsetzen, wird den Schwarzen befreien, und sollte es blutige Köpfe kosten.« Er kehrte zu den arbeitenden Lappen zurück, während die drei anderen ohne viele Worte ihres Weges zogen. Auch die Quäner waren überzeugt, daß dem Neger kein Leid geschehen werde, und diese dreifache Versicherung beruhigte Robert einigermaßen. – Es war Nacht, als er mit seinen beiden Begleitern das Lager der Lappen erreichte. Die Rentiere grunzten in ihrer eigentümlichen Weise, die Zelte lagen in dunklen Umrissen da, und alles war totenstill. Robert teilte geräuschlos die Vorhänge der luftigen Behausung, in der Mongo und er während der letzten Nacht geschlafen hatten, er tastete am Boden und untersuchte mit Händen und Füßen den ganzen kleinen Raum. Vergebens, – es war niemand darin. Ein eisiges Grauen überlief seine Glieder. Wo sollte er jetzt den Alten suchen? Leise flüsternd teilte er seine Entdeckung den beiden Quänern mit. »Wollen wir Lärm machen, das ganze Lager in Aufruhr bringen, mit Gericht und Geistlichkeit drohen?« fragte er. Ein Zischen wie ein halblautes, verächtliches Lachen traf sein Ohr. »Schau her«, flüsterte einer der Vogelfänger, »hier ist das Mittel, den Verlorenen wiederzufinden, allerdings nur, wenn du irgendeinen Gegenstand hast, der mit ihm in Berührung gekommen ist, den er getragen hat oder worauf er lag. Gibt es dergleichen?« Er zog bei diesen Worten die beiden kleinen, wieselähnlichen Hunde aus den Taschen seiner weiten Lederjacke hervor und setzte sie sorgfältig auf den Boden. »Sind keine Felle im Zelt?« fragte er. »Das wäre das beste.« Robert unterdrückte einen Freudenruf. »Hier! Hier!« antwortete er, »aber werden die kleinen Dinger imstande sein, eine Spur zu verfolgen?« Die Quäner antworteten nicht. Sie rieben nur mit den Rentierfellen die Schnauzen der beiden kleinen Tiere, dann folgte der leise bestimmte Befehl: »Such, Freia! Such, Thor!« Die Hunde gehorchten sofort. Sie schnupperten eine Zeitlang am Boden und wandten sich dann wie auf Verabredung dem eingezäunten Platz zu, wo die Rentiere gefangen gehalten wurden. Dort gingen sie spürend und suchend im Kreise herum. »Sven«, flüsterte einer der Vogeljäger, »gib mir die Flasche. Wir werden noch meilenweit wandern müssen.« Der andere reichte ihm das Verlangte. »Weshalb, Steen Norrick?« fragte er. »Das wirst du sehen, Sven. Aha, es geht schon weiter.« Die Hunde hatten sich während seiner letzten Worte in Bewegung gesetzt und liefen statt einem der Zelte vielmehr dem Ausgang des Tales zu. Über eine Viertelstunde lang gingen die drei Männer schweigend den Tieren nach, bis endlich Robert seine Unruhe nicht länger zügeln konnte. »Ich bitte euch«, sagte er, »wohin gehen wir? Die Hunde laufen ja direkt ins Gebirge hinein.« Steen Norrick pfiff leise. »Du kannst vielleicht ein Schiff steuern oder ein Segel am obersten Top festmachen, Freund«, sagte er, »aber von der Jagd verstehst du nichts. Überlasse es nur uns, zu beurteilen, was Thor und Freia leisten können. Diese Hunde laufen nie zu ihrem Vergnügen in der Welt herum, wie es eure tun, sondern sie arbeiten und spüren ihr Leben lang, ganz wie wir selbst. – Nun, was gibt's denn, Freia?« Die letzten Worte galten der kleinen Hündin, die offenbar die Spur verloren hatte, und nun winselnd zurücklief, um sie noch einmal zu suchen. Aber sooft auch der Faden wieder gefunden wurde, – an einer bestimmten Stelle zerriß er immer aufs neue. Hier konnten die Füße des Negers den Boden nicht mehr berührt haben. Die Vogeljäger trennten sich. Bei dem schwachen Schein des Mondes nahm der eine das Hündchen Thor unter den Arm und ging mit ihm etwa zwölf bis zwanzig Schritte weiter in den Wald hinein, während Sven, der andere, bei Freia blieb und das Tier in der nächsten Umgebung der Stelle, an der die Spur aufhörte, weitersuchen ließ. Robert sah stumm dem Treiben der beiden riesigen, schweigsamen Männer zu, die mit ihren derben Gliedern und ihren Hünengestalten einen äußerst zuverlässigen Eindruck machten. Er dachte beschämt an den Patron Gulbrandson. Was wäre wohl aus ihm geworden, wenn sich der erfahrene alte Mann nicht so väterlich seiner angenommen hätte? »Ruhe«, ermahnte er sich selbst, »Ruhe! Es muß ja der richtige Weg sein. Die beiden Jäger sehen nicht aus, als könnten sie etwas Unüberlegtes tun.« Er beobachtete abwechselnd die Versuche der Quäner. Während Steen Norrick von Zeit zu Zeit das Hündchen einige Schritte weit vorwärts trug, brachte Sven das seinige an jede Felsspalte, jeden Engpaß und jede Klippe, aber immer noch ohne den geringsten Erfolg, bis endlich Steen Norrick einen halblauten Ruf hören ließ. Der andere Quäner ergriff sofort seinen Spürhund, folgte mit langen Schritten dem Vorangegangenen und machte es Robert schwer zu folgen. Der Jagdeifer hatte offenbar die beiden Vogeljäger ergriffen, daß sie darüber alles andere vergaßen. »Hast du die Spur gefunden, Steen Norrick?« Der andere deutete auf das Zwerghündchen. »Von nun an wirds besser gehen«, sagte er. »Behalte Freia nur im Arm, ich bin meiner Sache sicher.« Schweigend setzte der kleine Zug seine Wanderung fort, bis sich nach etwa fünfzig Schritten die gleiche Szene wiederholte. Jetzt aber war und blieb die Spur verloren. Die Jäger sahen sich an. »Rentiere!« sagte Sven. »Der Neger sollte reiten und weigerte sich, er fiel herab, wurde weiter geschleift, wieder auf das Rentier gehoben und festgebunden.« Steen Norrick nickte. »Ja, du hast recht, Sven Böge!« antwortete er. »Gut, so haben wir's leichter.« Sie pflückten sorgfaltig das spärliche Moos, das auf dem Felsboden wuchs, und rieben wieder die Schnauzen der beiden Hunde. »Such! Such!« Thor und Freia folgten jetzt den Spuren der Rentiere. Es ging ohne Unterbrechung talauf, talab, immer weiter, und als gegen Morgen der Boden etwas sumpfig wurde, erkannte man deutlich im Dämmergrau des jungen Tages die Spuren der Hufe, die sich auf der feuchten, moorigen Erde scharf abgedrückt hatten. »Wirklich!« rief Robert, »eure Hunde behalten recht. Wie habt ihr ihnen nur das Spüren beigebracht und wozu braucht ihr es, wenn ihr nur Vögel jagt?« Steen Norrick lächelte. »Du fragst viel auf einmal«, antwortete er. »Die Fähigkeit des Spürens ist diesen Tieren von Natur eigen. Wir richten sie nur besonders ab auf den Vogelfang, weil sie dazu die geeignete Größe haben.« »Wieso denn das?« fragte Robert neugierig. »Nun, da die Alken und Möwen in Felsritzen ihre Nester bauen, so braucht man diese winzigen Hündchen, um sie aufzuspüren. Wohin kein Menschenfuß gelangen und kein Blick dringen kann, da finden Thor und Freia die brütenden Vögel, denen man dann meistens leicht die Eier wegnehmen kann. In vielen Fällen sind auch die alten Tiere zu erreichen, die man ohne solche Hunde nur selten auftreibt.« Robert staunte. Weiter ging es, immer weiter, obwohl seine Kräfte anfingen nachzulassen. Man war jetzt zehn Stunden ohne Aufenthalt marschiert, und die kleinen Hunde liefen immer noch nebeneinander mit der Nase am Boden vorwärts. Es schien, als sei bis jetzt an kein Ende dieser aufregenden Wanderung zu denken. Da hob plötzlich Steen Norrick die Hand. Alle drei Männer standen still. »Ein Ren!« flüsterte der Vogeljäger, »ich höre deutlich das Grunzen.« Die beiden andern horchten atemlos. Deutlich klang jetzt der leise Ton durch die stille Morgenluft zum zweitenmal herüber. Es konnte keine Täuschung sein. Hinter einem Gebüsch lagerten die Gesuchten. Steen Norrick legte den Finger auf den Mund. Dann lockte er durch eine Bewegung seiner Hand die beiden Hündchen zu sich heran, gab jedem aus dem Ranzen ein Stück Fleisch und versenkte sie wieder in seine weiten Jackentaschen. Dann kamen aus den Brusttaschen der beiden Jäger plötzlich zwei doppelläufige Pistolen zum Vorschein. Mit gespanntem Hahn, den schweren Bergstock in der linken, schlichen die riesigen Nordländer vorwärts, und Robert folgte ihnen. Helges Stimme tönte sehr bald der kleinen Schar entgegen. Was er aber sprach, das blieb dem jungen Matrosen unverständlich, da es die Mundart der Gebirgslappen war, in der er offenbar mit einem Kameraden sprach. So eifrig auch Robert horchte, den Sinn der Worte verstand er nicht. Desto besser begriffen jedoch die Vogeljäger. Sie sahen sich lächelnd an, und dann neigte sich Steen Norrick zu Robert herüber: »Der gelbe Schurke hat deinen Freund geknebelt und ihm seit seiner eigenen Rückkehr vom Westfjord nichts mehr zu essen gegeben«, raunte er. »Es ist seine Absicht, den Neger noch eine ganze Tagereise weit in die Wüste zu führen und ihn dort halbverhungert auszusetzen, damit er nie wieder zu den Weißen zurückkehren könne. Jetzt laß mich weiter horchen, aber sei ganz still!« Robert bezwang mit Mühe seine Erregung. Er wagte jedoch nicht, sich den Anordnungen der beiden Vogeljäger zu widersetzen. Die Lappen sprachen fortwährend miteinander, und Steen Norrick horchte angestrengt. »Dachte es wohl«, flüsterte er in Roberts Ohr, »dir war das gleiche Schicksal bestimmt. Sobald du dich im Lager wieder blicken ließest, wollte man auch dich in die Wüste führen. Kannst deinem Herrgott danken, daß du die Geschichte von den heidnischen Opfern nicht am Feuer der Lappen erzähltest, sonst wärest auch du jetzt auf dem Rücken eines dieser Tiere von der Insel Kola rettungslos in die Steinwüste gebracht worden, und kein Mensch hätte dein Verschwinden bemerkt, niemand von den Deinen hätte jemals wieder etwas von dir gehört. Werde vorsichtiger, Junge, bevor du wieder die Sitten und Gefahren fremder Länder gegen dich herausforderst!« Robert antwortete nicht. Das war eine ernste und zugleich milde Lehre, aber sie drang ihm in ihrer Einfachheit tief ins Herz. Steen Norrick nahm jetzt die Pistole schußbereit und winkte seinem Begleiter, dasselbe zu tun. Wie ein Gespenst aus dem mitternächtlichen Grabe emporsteigt, lautlos und plötzlich, so standen im nächsten Augenblick die Riesengestalten der beiden Vogelfänger vor den entsetzten Lappen, die, ihrer Sache vollständig sicher, sich ganz bequem in das Moos gelagert hatten und bei Branntwein, Brot und Fleisch eine längere Rast hielten, während der unglückliche Mongo auf dem Rücken des Rentiers so von Seilen umschnürt war, daß er kaum atmen konnte und in halber Betäubung dalag. Seinen Bitten um einen Schluck Wasser war mit Hohnlachen geantwortet worden. Sobald Robert sah, daß die Vogelfänger den Kampf aufnahmen, sprang er mit einem freudigen »Hurra, Mongo, die Hilfe ist da!« – aus dem Gebüsch und drang bis zu dem gefesselten Freund vor. »Sven Böge!« rief er, »Sven Böge, gib mir dein Messer!« Der Riese trat, ohne die beiden wie versteinert dasitzenden Lappen aus den Augen zu lassen, näher und überreichte dem jungen Matrosen ein Messer, das bestimmt sein mochte, im Notfall einem Bären den Genickfang zu geben. Robert zerschnitt, so schnell es ging, die Seile und half dem Alten herab. Helge und sein verbrecherischer Gefährte hatten sich inzwischen einigermaßen gesammelt und waren von ihren Sitzen aufgesprungen. »Was wollt ihr, Steen Norrick und Sven Böge?« fragte mit drohendem Blick der Sohn des Lappenhäuptlings, »weshalb bedroht ihr friedliche Jäger? Setzt euch zu uns und nehmt, was wir euch bieten können.« Diese Dreistigkeit empörte selbst die ruhigen Nordländer. »Schurken!« rief Sven Böge, während sein Gefährte vor Abscheu auf den Boden spuckte, »elende, gelbe Diebe und Heiden, die ihr seid. Wollt ihr etwa leugnen, diesen Neger hier als Gefangenen in die Wüste geschleppt zu haben, – wollt ihr leugnen, daß oben am Nordkap ein greuliches Zauberwesen getrieben worden ist, ihr Spitzbuben und Heiligtumsschänder?« »Auf!« befahl Steen Norrick. »Wir bringen euch an Händen und Füßen gefesselt nach der Stadt, angeklagt der Götzendienerei und des Menschenraubes. Da könnt ihr im Gefängnis eure Schandtaten bereuen. Wir beide, mein Vetter und Genosse Sven Böge und ich selbst, werden bezeugen, daß ihr alles dieses eingestanden habt, denn wir haben vorhin eure ganze Unterhaltung Wort für Wort mit angehört.« Diese Worte änderten plötzlich die ganze Lage, Während sich der zweite Lappe auf die Knie warf und heulend um Gnade flehte, kreuzte Helge die Arme und sah unverwandt in das Gesicht des Vogeljägers. »Geh, Steen Norrick, geh und bringe uns in das Gefängnis, Sohn eines weißen Vaters, dessen Frau – deine Mutter, Steen Norrick! – auch aus dem Stamme der Samelads hervorgegangen ist. Schände den Herd, an dem deine Mutter aufwuchs, schände dein eigenes Mischblut, indem du uns dem Richter preisgibst.« Die Adern auf der Stirn des Nordländers schwollen, seine Augen glühten, seine Fäuste ballten sich, und schon im nächsten Augenblick krachte ein Schuß, den jedoch Sven Böges plötzlicher, geschickt angebrachter Schlag gegen den Lauf der Pistole unschädlich verhallen ließ. Der Vogeljäger war an seiner verwundbarsten Stelle getroffen, man hatte ihm seine Abstammung vorgeworfen und dadurch seinen Zorn auf das heftigste gereizt. »Laß mich!« knirschte er, mit Sven Böges kräftigen Armen ringend. »Laß mich, der gelbe Hund soll sterben.« »Steen Norrick«, sagte mit warnender Stimme der andere, »besinne dich! Hast du vergessen, was der Patron Gulbrandson befahl?« Der Jäger schien zu erschrecken, wenigstens zögerte er. »Willst du dich von diesen schmutzigen Schuften ohne weiteres kränken lassen?« schrie er. »Ein Lappe kann mich weder beleidigen noch kränken, Steen Norrick.« »Das sagt der Sohn einer Frau aus dem Blut der Samelads!« murmelte Helge. »Die Pest über dich!« – – Und mit diesen Worten stürzte sich der Nordländer auf den Lappen, den er ohne weiteres zerdrückt haben würde, wenn nicht von anderer Seite plötzlich etwas dazwischen gekommen wäre. Die beiden kleinen Hündchen in den Taschen, durch die ungestümen Bewegungen Steen Norricks in Gefahr gebracht, begannen jämmerlich zu heulen, so daß der Vogeljäger erschrak, als habe ihn eine Schlange gebissen. Den Lappen von sich stoßend, beruhigte er seine Lieblinge, während Sven Böge mit energischem Griff den zweiten Gelben vom Boden emporzog und ihm befahl, die Tiere aufzuzäumen. Nachdem das geschehen war, erhielten Mongo und Robert die Anweisung, sich abmarschbereit zu halten, und das dritte Ren wurde mit Vorräten beladen, bevor es der Nordländer am Zügel ergriff. »Komm hierher, Helge!« rief er. Der Lappe gehorchte zögernd. Sein Gesicht war vor Zorn und Furcht aschgrau. Sven Böge packte ihn wie einen Warenballen und untersuchte mit seinen großen Händen jede Falte, jede Tasche, ehe er ihn wieder freigab. Nachdem er auch den zweiten Lappen auf Schußwaffen abgetastet hatte, trieb der Jäger die Rentiere zum Auf bruch. »Vorwärts!« befahl er. Und dann wandte er sich zu den Lappen: »Daß ihr euch in angemessener Entfernung haltet, ihr Spitzbuben! Wer sein gelbes Gesicht sehen läßt, dem geht es schlecht!« Ein Zungenschlag brachte die Tiere in Bewegung. Robert und Mongo ritten, während die Vogeljäger zu beiden Seiten gingen. Steen Norrick schien sich seines Zornausbruchs zu schämen, denn er biß die Lippen aufeinander und sprach keine Silbe. Robert klopfte ihm auf die Schulter. »Wie können wir euch danken?« fragte er. »Ihr habt uns beiden das Leben gerettet.« Der Nordländer lächelte. »Mach nicht so viele Worte, Fremder«, antwortete er, »oder würdest du in unserer Lage anders gehandelt haben?« »Nein!« rief mit überzeugender Sicherheit der junge Matrose, »nein, bestimmt nicht!« Die Vogeljäger sahen ihn wohlwollend an. »Na also!« meinte Steen Norrick. Und dann ging es im ersten Sonnenlicht des Morgens durch das Gebirge. Die beiden Nordländer schienen keine Müdigkeit zu kennen. Ebenso straff und sicher, wie sie vor gut zehn Stunden aufgebrochen waren, marschierten sie auch jetzt eisern dahin, bis gegen Mittag Rast gehalten wurde. Robert erhob sich neu gestärkt, nahm die leeren Ranzen und Körbe auf den Rücken und überredete die Nordländer, jetzt zu reiten. Er selbst ging an Mongos Seite und erzählte ihm, was er während der Zeit ihrer Trennung erlebt hatte. Der Neger konnte immer noch kein Wort sprechen, aber er drohte gutmütig mit erhobenem Zeigefinger, als ihm der junge Sausewind erzählte, daß er dem Lappen gegenüber ganz ahnungslos die Namen »Jubinal« und »Tiermer« genannt habe. Robert errötete wieder. »Ich will vorsichtiger werden, Mongo.« sagte er auf englisch, »diese Lehre soll mir nicht verloren gehen.« »Du junger Spitzbube!« wollte Mongo mit seinem Lieblingsausdruck antworten, aber er brachte nur ein unverständliches Krächzen heraus, so daß alle laut lachten. In bester Stimmung erreichte der kleine Zug gegen Abend das Ufer des Westfjords. Das Lappenlager hatten die Jäger umgangen, so daß es zu keinem Streit oder Kampf gekommen war. Roberts erster Blick ging zum Wasser. Er suchte die Wimpel der Jacht, und – – was er im stillen gehofft hatte, das bestätigte sich. Das schlanke Schiff lag noch vor Anker, während Patron Gulbrandson breitspurig und mit der langen Pfeife im Munde auf dem Strandweg stand. Sein wetterbraunes Gesicht lachte, als er die Ankömmlinge sah. »Hallo!« rief er, »das nenne ich Glück! Habt drei Rentiere erbeutet und einen Neger. Brr, wird der aber in der Stadt Aufsehen erregen!« Robert streckte voller Dankbarkeit dem Alten seine beiden Hände entgegen. »Du hattest recht, Patron Gulbrandson«, sagte er, »und ich bitte dich wegen meiner unüberlegten Worte um Verzeihung!« Der Norweger schmunzelte. »Konnte mir denken, was inzwischen geschehen ist«, antwortete er, »kenne die gelben Spitzbuben seit vierzig Jahren aus täglichem Umgang und weiß, was sie wert sind. Haben wohl Ach und Weh geschrien, als die Quäner plötzlich auftauchten, dachten nicht, daß hinterm Berge auch noch Leute wohnen?« Die beiden Vogeljäger erzählten nun alles, was sich ereignet hatte, und der Patron nickte äußerst zufrieden. »Wolltet gern mit nächster Gelegenheit nach Tromsö, ihr beiden?« fragte er, mit der Pfeifenspitze zugleich auf Robert und den Neger deutend. Mongo verstand ihn nicht, aber Robert antwortete an seiner Stelle und sah unwillkürlich dabei voll Sehnsucht hinaus auf den Fjord, wo die hübsche Jacht vor ihren Ankerketten schaukelte. »Würdest du uns wohl an Bord des ›Heimdal‹ mitnehmen, Patron Gulbrandson?« fragte er. »Der amerikanische Konsul in Bergen – –« »Soll sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern«, schloß brummend der Alte. »Denke wohl, daß Olaf Gulbrandson der Mann ist, ein paar schiffbrüchigen Seeleuten zu helfen, ohne daß es ihm gleich jemand bezahlen müßte. Könnt an Bord gehen, der Schwarze und du, euch vom Steuermann etwas Vernünftiges zu essen geben lassen und euch in den Hängematten aufs Ohr legen. So, ihr wißt nun Bescheid!« Er wehrte alle Dankesäußerungen ab und schritt langsam zu den Arbeitern an der Holzbank hinüber, wo er einem Lappen befahl, die drei Rentiere wieder in das Lager seiner Brüder zurückzuführen. Dann trat er in die Hütte der beiden Quäner, in der offenbar verschiedene Abschlüsse und Rechnungen ins reine gebracht wurden, denn die Jacht hatte ihre volle Ladung an getrockneten Fischen und Federn schon übernommen, das sahen die beiden Freunde, als sie an Bord kamen, auf den ersten Blick. Man wartete also nur auf den Patron, um die Anker zu lichten. Robert und Mongo aßen mit bestem Appetit die seltsame Suppe, die ihnen der Steuermann vorsetzte, nämlich Hafergrütze mit getrockneten Pflaumen und kleinen Heringen, das norwegische Nationalgericht. Sie lachten dabei heimlich, und der Neger schüttelte sich sogar ein wenig, aber später glich ein tüchtiges Stück Pökelfleisch mit Klößen alles wieder aus, obwohl jegliches Gemüse, das hier in der Polarzone den Wert einer seltenen ausländischen Frucht gehabt hätte, an Bord des »Heimdal« vollständig fehlte. Man kennt in diesen Breiten nicht einmal den Anbau der Kartoffel, die während des zu kurzen, heißen Sommers lang ins Kraut schießt, aber keine Knollen ansetzt. Nach dem Essen taten Robert und Mongo wie ihnen gesagt worden war: sie suchten die langentbehrte Ruhe und schliefen bald wie die Bären, ohne zu bemerken, daß an Deck die Anker gelichtet wurden und der »Heimdal« flink wie ein Delphin durch die Wogen dahinschoß. Erst gegen Morgen erwachte Robert und glaubte zu träumen, als er den Seegang fühlte und die Wellen klatschend an das Schiff schlagen hörte. Er schloß nochmals die Augen, um sich der schmeichelnden Empfindung wieder hinzugeben, doch als ihm dann die Erinnerung an die Bilder der letztvergangenen Tage langsam zurückkehrte, sprang er aus seiner Hängematte heraus, um womöglich an Deck ein wenig zu helfen und die Gastfreundschaft des »Heimdal« nach Kräften zu vergelten. Er konnte sich auch nicht länger enthalten, einmal wieder in die Masten zu klettern und sich da oben in freier Luft vom Wind schaukeln zu lassen. An Bord des Schiffes waren außer dem Patron und dem Steuermann nur noch drei Matrosen, lauter Hünengestalten, schweigsam wie die Vogeljäger und offenbar ebensowenig wirkliche Seeleute wie ihr Kapitän selbst. Robert konnte überall unaufgefordert zugreifen, er fand Arbeit genug für mehr als einen Mann. Olaf Gulbrandson sah mit zufriedenem Lächeln, daß sich sein junger Gast nützlich zu machen suchte. »Hör zu, Junge!« sagte er, »was du verzehrst, das schenke ich dir, und was du verdienst, das bezahle ich. – Den Schwarzen laß nur in seiner Hängematte bleiben, damit er wieder zu Kräften kommt, ehe er eine neue Heuer annimmt.« Und so geschah es dann. Robert half an Deck, während der ›Heimdal‹ vier Tage lang durch die Sunde und Fjorde und endlich durch die Straße von Tromsö segelte, um am Morgen des fünften Tages an der hölzernen Landungsbrücke festzumachen. Während die geladenen Fische und Federn auf ein größeres, nach Bergen bestimmtes Schiff des Patrons übernommen wurden, sollte die Jacht zurückfahren und den Arbeitern auf den Lofoten eine neue Partie Salz und Lebensmittel bringen. Olaf Gulbrandson überwachte in Tromsö selbst die Verladearbeiten, aber er wollte nicht wieder an die Fischplätze zurück kehren, sondern persönlich seine Waren in Bergen verkaufen und Robert und den Neger dorthin mitnehmen. Mongo half jetzt tüchtig, die Federsäcke und Ballen trockener Fische aus dem Raum heraufzubefordern, er hatte sich gut erholt und konnte sogar nach einer einförmigen Negermelodie ein englisches Lied singen, in das die Norweger mit einfielen, ohne zu wissen, welchen Sinn die Worte hatten. Robert lachte lustig, sooft er das wunderliche Quartett des Schwarzen und der drei norwegischen Matrosen mit anhörte. Gewandt, wie er war, übersetzte er endlich die Strophen ins Dänische, so daß nun in zwei verschiedenen Sprachen gesungen wurde, was auf Deutsch etwa folgendermaßen lautet: »Neger auf dem Land – Sehen, das Schiff kommt in, Der Kap'tän kommt an Land – Mit der Hand am Kinn. Kaufmanhsschiff ahoi, Kaufmannsschiff ahoi, – Gib die Taler mir.« Dabei fiel Ballen auf Ballen und Sack auf Sack in den Raum der ›Ellen Gulbrandson‹, wie das Schiff zu Ehren der verstorbenen Frau des Patrons genannt worden war. Schon nach wenigen Tagen konnte die Reise weitergehen, und zwar nicht, wie Robert geglaubt hatte, auf dem offenen Meer, sondern durch ein verschlungenes Labyrinth von Wasserstraßen, kleinen und großen Buchten, Engpässen und Stromschnellen zwischen den Felsen, immer in Sicht der Küste und in einer Umgebung, wie man sie sich großartiger kaum vorstellen konnte. Als das weite Wasserbecken des Hafens, rings umschlossen von glatten, steilen Felsen, sich vor ihnen öffnete, als Robert endlich wieder die Masten vieler Schiffe aus aller Herren Länder zum Himmel ragen sah, da hüpfte ihm das Herz vor Freude. Hier war das Leben wieder wie sonst. Überall sah man Menschen auf der Straße, man erkannte Lastfuhrwerke und Equipagen, kurz, man war von den letzten Ausläufern der Kultur wieder ganz zu ihr zurückgekehrt, wie denn auch die Berechnung des Patrons eine zurückgelegte Strecke von zweihundert Meilen nachwies. Diesen weiten Weg hatte die »Ellen Gulbrandson« in zwölf Tagen gemacht. Alles, was der Patron unternommen hatte, war vom Glück begünstigt worden und daher seine Stimmung sehr gut. Er schlug mit der flachen Hand auf Roberts Schulter und sah ihn freundlich an. »Junge«, sagte er, »bleib bei mir, du bist gerade so einer, wie ich es gern habe, einer der seine Kräfte fühlt und sie gebrauchen will. Schlag ein, Bob! Im Sommer auf der Küstenfahrt zwischen Bergen und den Lofoten, im Winter zu Hause am Baalsfjord, wo meine Speicher stehen und wo die erhandelten Waren an die Fischer verkauft werden. Kannst hineinwachsen in mein Geschäft, Junge, kannst mit der Zeit ein Gaardbesitzer sein, ja, und kannst sogar später einmal meine Enkelin heiraten, wenn du ein gemachter Mann bist, der seine Schiffe auf dem Wasser und seine Pachthäuser an Land besitzt. Freilich zählt das Püppchen jetzt erst fünf Jahre, aber es ist auch noch ein weiter Weg vom Leichtmatrosen bis zum selbständigen Patron und Kaufmann.« Robert hatte anfänglich ernsthaft zugehört, dann aber lachte er laut. Der Gedanke, von seiner späteren Frau zu sprechen, war doch wirklich urkomisch. Wie konnte der vernünftige Mann solche Scherze machen? »Nimm es um Gottes willen nicht übel, Patron Gulbrandson«, antwortete er endlich, »aber das, was du sagtest, ist zu lustig, ich kann mir nicht helfen.« Der Alte verzog freundlich den breiten Mund. »So lache doch ruhig«, sagte er. »Wer lacht, der sündigt nicht. Aber unser Handel ist gemacht, was?« Robert schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht, Patron«, antwortete er, »ich kann nicht, und wenn du mir goldene Berge versprichst. Ich bin dir großen Dank schuldig, ich werde niemals vergessen, was du mir und dem alten Neger getan hast. aber mich in ein Haussperren lassen, das kann ich nicht.« »Dummes Zeug das! Alle Menschen leben in Häusern, du auch!« »Nein, Patron, ich nicht. Ich bin der einzige Sohn meiner Eltern, ich hätte zu Hause in Deutschland ein sicheres, ruhiges Leben haben können, lief aber lieber heimlich in dunkler Nacht davon, um frei zu sein, um ein Seemann zu werden. Nun weißt du, warum ich nicht bei dir bleiben kann!« Der Alte schien nicht so recht mit sich im reinen, ob er hier tadeln oder loben sollte. Er wiederholte nur: »Davongelaufen?« »Ja, Patron Gulbrandson.« »Dann willst du also jetzt auf einem Hamburger Schiff heuern, um deine Eltern aufzusuchen und sie um Verzeihung zu bitten?« Robert errötete. »Das kann ich noch nicht, Patron«, antwortete er. »Ich kann nicht mit leeren Händen zurückkommen, und da bisher alles immer wieder verloren ging, was ich zusammengebracht hatte, so muß ich erst einmal eine gute Reise hinter mir und einige hundert Taler in der Tasche haben, bevor ich heimkehre. Wirklich, ich hatte überall Unglück!« Olaf Gulbrandson hob mahnend den Finger. »So ganz unverdient, Junge?« fragte er. »Du sollst Vater und Mutter ehren, auf daß dir's wohl ergehe und du lange lebest auf Erden. Hast diesen Satz ganz vergessen, he?« »Bestimmt nicht, Patron, aber – von der See lassen kann ich nicht.« Der Alte wandte sich ab. »Nun, nun«, brummte er, »habe dir nichts zu befehlen, mußt deine eigene Haut zu Markte tragen. Segen wird's niemals bringen, darauf darfst du dich immerhin fest verlassen. Unrecht Gut gedeiht nicht.« Als er aber später im Boot an einen der großen amerikanischen Dreimaster heranfuhr, da dachte er doch im stillen: »Schade, daß der Bengel so hartnäckig ist. Ich hätte ihn gern mit mir nach Hause genommen. Wirklich schade!« Mit dem Kapitän des Amerikaners verabredete er dann eine Heuer für Robert und für den Neger, schenkte jedem noch einen neuen Anzug und brachte sie in seiner Jolle an Bord. »Vorher aber schreibst du an deine Eltern«, ermahnte er den Jungen, »ich selbst will den Brief auf die Post geben.« Robert gehorchte und schilderte nun alles, was ihm inzwischen begegnet war, ebenso bat er sie, ihm nach San Franzisko, seinem nächsten Bestimmungsort, eine Antwort vorauszuschicken. Zuletzt versprach er, bald zurückzukehren und schloß mit der Bitte, ihm seinen unüberlegten Jugendstreich zu verzeihen. Patron Gulbrandson versenkte den Brief in die Tasche seiner weiten Lederjacke, dann zahlte er beiden Seeleuten auf Heller und Pfennig, was sie während der Herreise verdient hatten, und schüttelte ihnen zum letztenmal die Hand. »Lebt wohl! Lebt wohl!« – Mongo dankte ihm immer wieder für die Rettung von einem schrecklichen Tode, bat ihn, die beiden Vogeljäger zu grüßen und es den Sohn des Lappenhäuptlings nicht entgelten zu lassen, daß er ihn so heimtückisch überfallen und in die Wüste geschleppt habe, – – Robert hielt immer noch die Rechte des Nordländers. Der Abschied wurde allen schwer. »Könntest ja bei mir bleiben, Junge!« sagte Olaf Gulbrandson noch einmal. Aber Robert schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht, Patron!« »Nun, so behüt dich Gott, Wildfang!« Die Jolle stieß ab, und einige Minuten später war sie im Gewirr der vielen Fahrzeuge verschwunden. Zwei Tage darauf lichtete der ›Stern von San Franzisko‹ die Anker, und mit lustigem Matrosengesang begann die neue Fahrt, einer ungewissen Zukunft entgegen. Was sie bringen würde, das wußte nur Gott. Nach dem Goldland Nach dem Goldland Der schwere Bergenfahrer, riesig in seinen Ausmaßen, ein neues, tüchtiges Schiff mit guter Besatzung und moderner Ausrüstung, hatte einen beträchtlichen Teil seiner Reise bereits zurückgelegt und war ohne Zwischenfall bis in die Grenzgewässer des Stillen Ozeans gelangt. Kap Hörn kam in Sicht. Robert stand am Großmast und bewunderte das Schauspiel, das sich im Licht der sinkenden Sonne seinen Augen bot. Während er Ähnliches und noch Großartigeres in Norwegen häufig gesehen hatte, waren ihm doch diese Klippenbildungen ganz neu. Steil und senkrecht, schwarz und vollkommen nackt, ohne eine einzige lebende Pflanze, erhob sich der über fünfhundert Meter hohe Berg aus dem Meer und ragte mit seinem dunklen Gipfel fast bis in die blau und violett umsäumten Wolken hinein. Als letzter Ausläufer der Kordilleren bildete das Vorgebirge gewissermaßen einen Wall gegen den dauernden Anprall der Meeresbrandung. In weitem Bogen glitt das Schiff daran vorüber und vermied den rasenden Strudel, wo weiße Wellenköpfe mit Kronen von Schaum, urweltlichen Fabelgeschöpfen gleich, den Felsen stürmten, daran zerstäubten und wieder zurücksanken in die blaue Unendlichkeit, aus der sie entstanden. Bei jedem Windstoß aufspringend, eine die andere überrollend, furchtbare, bergestiefe Täler bildend und wie hohe, unübersteigbare Mauern sich türmend, so glichen die Wogen einem Heer gewappneter Krieger, die sich immer neu ergänzen, der eine aus dem Blut des anderen, unbesiegbar und unerschöpflich. Über dem Gipfel des Berges lag es blaugrau, die Luft war verhältnismäßig kalt und neblig, alles Zeichen, daß noch vor Einbruch der Nacht ein Sturm zu erwarten sei und daß die notwendigsten Maßnahmen dafür getroffen werden mußten. Robert war jetzt schon erfahrener Seemann genug, um dies selbständig überblicken zu können, er arbeitete eifrig an der Sicherung der Boote, der Ersatzspieren und der Kanone auf dem Vorderdeck, er kletterte wie ein Seiltänzer hin und her, um die Taue zu spannen, zwischen denen es den Matrosen allein möglich ist, während eines heftigen Sturmes auf den Füßen zu bleiben. Die Segel wurden gerefft, die leichten ganz weggenommen, und an allen Bändseln Musterung gehalten, mit einem Wort, überall nachgesehen, ob das Schiff für den bevorstehenden Sturm gerüstet sei. Der Obersteuermann ging prüfend von einer Seite zur anderen. »Jetzt kommt's bald«, sagte er halb zu sich. Robert, dessen liebenswürdige Dreistigkeit ihm überall solche kleinen Freiheiten sicherte, die sich im Leben nur der ungestraft erlauben darf, der das Vertrauen seiner Vorgesetzten im hohen Maße besitzt und von dem man weiß, daß er eine bestimmte Grenze nie überschreiten würde, – Robert sah sich um. »Woran erkennen Sie das, Steuermann?« fragte er lebhaft. Der Amerikaner spuckte seinen Tabak ins Meer und schob ein frisches Priemchen zwischen die Zähne. Dann deutete er mit der Rechten über das Wasser. »Siehst du diesen schillernden, bald grünlichen, bald weißen Streifen, der wie ein flatterndes Band auf der Oberfläche des Meeres liegt? – Nun, das ist ein Vorbote.« »Aber die Luft scheint doch noch ganz ruhig zu sein, Steuermann?« Der Alte nickte. »Scheint nur, Bob! Wirst bald das Konzert beginnen hören.« Und so kam es wirklich. Die Nacht war hereingebrochen, tiefe Dunkelheit lag um das Schiff, am Himmel glänzte kein Stern und durch die Takelage fuhr ein unheimliches Ächzen. Immer furchtbarer heulte und tobte die Brandung am Felsen, immer stärker wurden die Windstöße und höher die Wogenkämme. Der Schaumstreif hatte sich mit unheimlicher Geschwindigkeit in ganze Berge von Schaum verwandelt. Der Kapitän, in Ölrock und Südwester, erschien an Deck. Bei den Marsfallen und Brassen standen die vom Obersteuermann dorthin beorderten Leute, auch das Großsegel war eingezogen worden und auf dem ganzen Schiff alles fertig, um den schlimmen Gast zu empfangen. Wildes Heulen durchbebte die Luft. Der Kapitän rückte den Hut tiefer in den Nacken. »Laufen Marssegel!« kommandierte er mit starker Stimme, und dann weiter: »Holt auf Luvbrassen, aus Refftaljen!« Der Befehl wurde sofort ausgeführt, das Schiff legte sich fast flach auf die Seite und flog wie ein Blitz durch die kochende See. Da ertönte vom Steuerrad her durch die Nacht ein lauter Schrekkensruf. Der Kopf des Ruders war abgesprungen. Einen Augenblick lang schien es, als könne das Schiff dem Druck des Windes nicht widerstehen, die Brassen spannten sich, zerplatzten mit lautem, donnerähnlichem Knall und wurden im nächsten Augenblick vom Sturm entführt. Das Schiff konnte in jeder Sekunde von der Brandung erfaßt werden. Der Kapitän war ohne Zweifel kein besonnener Mensch. Er ließ es erst zum Äußersten kommen, ehe er das letzte, gefährliche Manöver versuchte, – dann endlich entschloß er sich. Keine Stimme hätte das Brausen des Sturms durchdringen können. Nur Zeichen waren möglich, und auf diese hin versammelten sich alle Matrosen um den Kreuzmast. Dort mußten die noch vorhandenen Segel geborgen werden, oder das Schiff war rettungslos verloren. Im Logis war niemand mehr. Jeder hatte ungerufen seine Koje verlassen, um da zu sein, wenn Not an den Mann kam. Die Leute wurden gut behandelt, erhielten reichliche Rationen und täglich Branntwein, daher waren sie zur Stelle, wo es darauf ankam, Tüchtigkeit zu zeigen. Das Kreuzsegel konnte zwar nicht gerettet werden, sondern flog wie ein Fetzen Papier im Sturm den vorangegangenen nach, aber der Zweck des Unternehmens war doch erreicht. Der »Stern von San Franzisko« richtete sich langsam aus seiner gefährlichen Lage auf, die Zimmerleute konnten das Ruder ausbessern, und das Schiff kam allmählich vor den Wind. Die größte, hauptsächlich durch die Unschlüssigkeit des Kapitäns entstandene Gefahr schien beseitigt, obwohl der Sturm noch immer weitertobte und jeder Mann an Deck bleiben mußte, um für alle Fälle zur Hand zu sein. »Hast du nun gesehen, wie schnell die Geschichte geht?« fragte der Obersteuermann, nachdem er mit dem Taschentuch das Gesicht abgetrocknet und ein neues Stück Kautabak in den Mund gesteckt hatte. »Ich sagte dir's ja.« Robert lachte. »Das war zur Feier meines Geburtstages, Steuermann. Hätte mir wirklich nichts Schöneres denken können, als so einen tüchtigen Sturm, der das Blut in Bewegung bringt.« »Mit achtzehn Jahren!« brummte der Alte, halb verdrossen, halb angenehm berührt, wie alle, die mit Roberts frischer und gesunder Natürlichkeit in Berührung kamen. »Na, wenn dein Geburtstag ist, so sollst du auch später eine Extraration haben.« Robert wandte sich zu dem hinter ihm stehenden Neger. »Und du sollst sie trinken, Mongo!« sagte er. »Das war wieder einmal ein kleines Abenteuer, was?« In diesem Augenblick tönte durch die Nacht ein Kanonenschuß aus ziemlicher Nähe herüber. Alle horchten auf, wie von einem elektrischen Schlag getroffen, alle blickten unwillkürlich in die Richtung des Schalles, obgleich die herrschende Finsternis jedes Sehen unmöglich machte. Ein Schiff in Seenot! – – Jetzt folgte deutlich ein zweiter Schuß. Der Obersteuermann war der erste, der die Sachlage erfaßt hatte. »Das Schiff treibt uns steuerlos mit dem Wind entgegen«, sagte er. »Der zweite Schuß klang bedeutend näher, und – Achtung! – dieser noch viel mehr.« »Steuermann!« rief unruhig der Kapitän, »ist es nicht, als wäre das fremde Schiff genau in unserem Fahrwasser? – Wir laufen Gefahr, zusammenzustoßen.« »Das verhüte Gott, Sir!« – Und dann brachten seine ruhigen Kommandoworte den »Stern von San Franzisko« weiter ins Meer hinaus, so daß er gegen den Wind aufkreuzte. Die Kanonenschüsse kamen jetzt immer schneller hintereinander, und endlich, nachdem sich der Sturm bedeutend gelegt hatte, wurde auch auf dem Bergenfahrer ein Schuß abgefeuert, um eine Antwort zu geben. Ein hundertstimmiger Freudenschrei hallte, alle Herzen erschütternd, über das Meer. Robert ergriff in heftiger Bewegung den Arm des Obersteuermanns. »Wir müssen helfen, Sir, wir müssen die Boote aussetzen!« rief er. »Alles zu seiner Zeit, du Grünschnabel. Wolltest du etwa mir nichts, dir nichts, in diese Dunkelheit hinausstürmen, vielleicht an dem bedrohten Schiff vorbei, vielleicht direkt unter seinen Bug, so daß du übersegelt wärest, ehe sich der Teufel die Schuhe putzt? – Laß nur erst einmal die Leuchtkugeln ihre Schuldigkeit tun.« Robert schämte sich seiner Übereilung. Immer mußten ihn besonnenere Menschen wie ein kleines Kind zurückhalten. Er schwieg deshalb und wartete ab, was folgen werde. Der Steuermann sollte wieder recht behalten. Nach wenigen Minuten schon entfaltete sich ein wundervolles, großartiges Schauspiel. Aus der dunklen Umgebung des Meeres stiegen farbige, meist pupurrote Leuchtkugeln auf, die in ununterbrochener Reihenfolge einen Schauplatz furchtbarer Verheerung mit ihrem Schein überfluteten. Ohne Masten und ohne Quarterdeck lag ein Schiff fast bis zur Höhe seiner Schanzkleidung unter Wasser, in nächster Nähe des Bergenfahrers. Es trieb kaum noch, weil der Wind keinen Widerstand mehr fand, aber es wurde auch nur noch durch die verzweifelten Anstrengungen der Besatzung etwa einem Meter über Wasser gehalten. Rastlos arbeiteten die Matrosen an den Pumpen, rastlos folgten die Leuchtkugeln aufeinander und überschütteten mit einem Feuerregen das nächtliche dunkle Meer. Es war ein zauberhaft schöner Anblick, die Brandung am Fuße des Vorgebirges, von farbigen Lichtern angestrahlt, hier purpurn, dort azurblau und dann tiefviolett, – aber niemand fand Zeit oder Ruhe, um sich diesem Schauspiel hinzugeben. Das bedrängte Schiff nahm die Aufmerksamkeit aller viel zu sehr in Anspruch. Der unschlüssige Kapitän näherte sich mit fragendem Gesicht seinem Offizier. »Ein Auswandererschiff«, sagte er, »wo sollen wir alle diese Menschen unterbringen?« Die Antwort war kurz und bezeichnend. »Wir werden sie nicht alle lebend an Bord bekommen, Sir!« »Meinen Sie, Steuermann? Aber lassen Sie die Boote herunter, in jedes vier Mann. Ich glaube, das Wasser ist ruhig genug.« Er verschwand in der Kajüte, und der Steuermann ließ sich zunächst von einem der Matrosen das Sprachrohr bringen. Dann fragte er an, ob man auf dem sinkenden Schiff noch Feuerwerkskörper genug habe, um den Rettungsmannschaften die nötige Beleuchtung zu leisten. Erst als diese Frage bejaht war, wurden die Boote zu Wasser gelassen. Robert sprang allen voran gleich in das vorderste. Er wollte der erste bei der gefährlichen Rettungsarbeit sein und das schwerste dabei selbst tun. Der ›Stern von San Franzisko‹ lag jetzt back, und das fremde Schiff trieb kaum merklich in einiger Entfernung an seiner Seite. Der Steuermann beobachtete beim Schein der Leuchtkugeln, daß es tiefer und tiefer sank, daß die pumpenden Matrosen mit der Hast der Verzweiflung arbeiteten. Ein stummes, leichtes Kopfschütteln, ein Seufzer deuteten darauf hin, daß es kaum möglich sein werden, alle Schiff brüchigen zu retten. Die Boote wurden von den Wellen wie Nußschalen hin und her geworfen. Es verging eine volle Viertelstunde, bis es dem ersten gelang, an das sinkende Schiff heranzukommen. Jetzt ergab sich ein stummes, grauenhaftes Ringen. Während zwei Matrosen unter Auf bietung aller ihrer Kräfte bemüht waren, das Boot an der niederen Bordwand des Schiffes festzuhalten, wehrte der dritte die Unglücklichen ab, die sich, von Verzweiflung getrieben, fast kopfüber in das zur Rettung bereite Fahrzeug hineinstürzen wollten, und der vierte endlich nahm die zum Übersetzen bestimmten Schiffbrüchigen in Empfang. Ängstliche Rufe begleiteten das abstoßende Boot. Und so wiederholte sich die gleiche Szene noch achtmal. Alle Männer arbeiteten, daß ihnen der Schweiß in Strömen vom Gesicht lief, sie kämpften mit heldenmütiger Ausdauer gegen Wind und Wellen, bezwangen die Erschöpfung ihrer Kräfte und widerstanden den Versuchen der Auswanderer, sich gewaltsam der Boote zu bemächtigen. Sie wurden alle von ihren Kameraden abgelöst, nur Robert nicht, – er ließ keine Müdigkeit an sich herankommen und gab nicht nach, bis die Rettungsversuche abgebrochen werden mußten. Nur zu richtig sollte der Obersteuermann prophezeit haben. Etwa fünfzig Passagiere von dem sinkenden Schiff waren unter Gefahr und Anstrengung an Bord des ›Stern von San Franzisko‹ gebracht worden, während immer noch über zweihundert Menschen ungeduldig auf ihre Übernahme warteten. Im tiefsten Dunkel der Nacht, unter Klagen, Geschrei, flehentlichen Bitten und Verwünschungen vollzog sich das Rettungswerk. Und dann kam das furchtbare Ende. Die Matrosen an den Pumpen erkannten die Unmöglichkeit, das Wrack noch länger über Wasser zu halten. Sie berieten einen Augenblick lang untereinander, und dann versuchten sie schwimmend den kurzen Weg bis zu dem Bergenfahrer zurückzulegen. Mehr als einer ertrank, mehr als einer kam in der furchtbaren Brandung um, aber was bedeutete das Schicksal dieser einzelnen gegen alle die Unglücklichen, die noch an Bord waren. Zwanzig auf einmal stürzten sich die Männer an die Pumpen, obgleich keine irdische Macht imstande war, das Unglück aufzuhalten. Mit furchtbarer Schnelligkeit sank das Wrack, – nur noch eine Handbreit lag es über dem Wasser. Ganz zuletzt noch drängte sich ein junger Mann an Roberts Boot heran. Bisher hatte er tapfer geholfen, die Frauen und Kinder voranzuschicken, hatte mit vernünftigen Worten die Andrängenden abgewehrt und allen Mut zugesprochen – jetzt dachte er an die eigene Rettung. »Laßt mich hinter eurem Boot schwimmen, Landsleute«, bat er, »ich will niemand einen Platz streitig machen, nur gebt mir ein Tau, daß ich in der Dunkelheit den Weg finde.« Robert wurde aufmerksam. Schon vorher hatte er geglaubt, diese Stimme zu kennen, jetzt aber nur um so mehr. Er konnte in dem vollbesetzten, kaum seiner augenblicklichen Last gewachsenen Boot keinen einzigen Platz mehr vergeben, und doch ergriff ihn die bescheidene, im holsteinischen, heimatlichen Deutsch vorgebrachte Bitte des anderen. »Wirst du dich halten können?« fragte er mitleidig. »Die See geht hoch, und dann – es sind Haifische hier!« Der Fremde seufzte. »Fängt mich einer, so ist die Sache zu Ende«, sagte er. »Aber um meiner alten Eltern willen muß ich versuchen, durchzukommen. Nimm mich mit, Landsmann, ich bitte dich.« Robert löste von seinem Körper den Ledergürtel, dessen eines Ende er am Bootsrand in einem Eisenring befestigte und den er kaum noch früh genug dem Fremden zuwerfen konnte, um ihn vor dem plötzlichen Sturz ins Meer zu bewahren. Ein »ich danke dir, Landsmann!« verhallte in den Schreckensäußerungen der nun folgenden Szene. Die Leuchtkugeln versagten in den feuchten Händen, Dunkelheit umgab das sinkende Schiff, und beinahe zweihundert Menschen gingen mit ihm jammernd und schreiend in die Tiefe. Auf dem »Stern von San Franzisko« begannen jetzt von neuem die Raketen und Leuchtkugeln ihren Dienst. Erst nachdem von seiten des untergegangenen Schiffes in dieser Beziehung nichts mehr getan wer den konnte, gab der vorsichtige Steuermann den Befehl, die Feuerwerkskörper an Deck zu holen und abzubrennen. Man besaß also wieder Licht, konnte hier und da noch Schwimmende auf den Wellen erkennen und ins Boot ziehen, um sie auf das überfüllte Schiff zu bringen. Robert taumelte fast, als er seine letzte lebende Fracht abgesetzt hatte und andere Hände das Boot emporzogen. Er sah wie durch eine Art Schleier das Segelmanöver, durch das der »Stern von San Franzisko« wieder vor den Wind gebracht wurde. Das Schiff verfolgte seinen Kurs, nachdem alles getan war, um dem Tod möglichst viele Opfer zu entreißen; es entfernte sich von der Unglücksstätte, Trümmer und Leichen in seinem Kielwasser zurücklassend. Jetzt ging es selbst einem unsicheren Schicksal entgegen, denn woher sollte man auf der noch bevorstehenden langen Reise Lebensmittel und Trinkwasser für die neuen Passagiere nehmen. Als den Frauen und Kindern die Kajüte eingeräumt und die Männer im Logis und auf dem Vorderdeck so gut wie möglich untergebracht waren, als endlich jeder ohne Ausnahme eine Ration Grog erhalten hatte, suchte Robert im Schein der erwachenden Morgendämmerung unter allen diesen hingestreckten, teils schlafenden, teils dumpf vor sich hinbrütenden Gestalten den jungen Mann, den er zuletzt gerettet hatte. So ohne jede Hoffnung, ohne irgendwelches Eigentum, dem Mitleid anderer überlassen, hatte ihn selbst das Schicksal zweimal an einen fremden Strand geworfen – er empfand jetzt wahres Mitgefühl für die armen Menschen, er freute sich der Möglichkeit, hier vielleicht wieder abtragen zu können, was ihm selbst in der Stunde der Not andere getan hatten, vor allem aber wollte er jetzt wissen, wer der junge Mann war und wo ihm seine Stimme schon einmal begegnet sei. Die meisten Geretteten saßen aufrecht oder lagen mit gestütztem Kopf da, ihren traurigen Grübeleien hingegeben, teils leise weinend, teils zusammen flüsternd oder in starrer, trotziger Verzweiflung. Niemand hatte sein bißchen Eigentum gerettet, vielen dagegen waren ihre Angehörigen entrissen worden, viele hatten den liebsten Menschen, den sie auf Erden besaßen, vor sich sterben sehen müssen, ohne selbst irgend etwas zu seiner Rettung unternehmen zu können, und alle ohne Ausnahme sahen sich ihrer Barschaft, ihrer Papiere, ihrer letzten Aussicht auf weiteres Fortkommen im Goldland beraubt. Wenn sie jetzt im Hafen von San Franzisko landeten, so waren sie Bettler, anstatt einer erträumten besseren Zukunft entgegen zu gehen. Kein Wunder also, daß nur wenige schlafen konnten, daß fast alle diese armen Leute mit starren Augen vor sich hinsahen, trostlos und erschüttert bis ins tiefste Herz. Robert suchte, bis er endlich ganz hinten im Logis einen jungen Menschen bemerkte, der auf einer Seekiste saß und das Gesicht in der hohlen Hand verbarg. Der mußte es sein, Robert erkannte ihn an dem Anzug, den er schon in der Nacht gesehen hatte. »Landsmann«, sagte er, die Rechte auf die Schulter des Fremden legend, »sei nicht so mutlos, Freund, mir ist es schon schlimmer ergangen als dir.« Der Angeredete hob den Kopf und sah auf. Ein plötzliches Erstaunen, freudige Überraschung spiegelte sich in den Zügen der beiden jungen Leute. »Gottlieb!« stammelte Robert, »Gottlieb, du bist es!« »Robert Kroll!« rief der andere. »Ist es möglich? – Robert, der in ganz Pinneberg für tot gilt! Mein Gott, ich glaube zu träumen.« Robert erschrak. »Gottlieb«, fragte er zögernd, als habe er vor etwas Angst, »Gottlieb, du kommst also aus unserer Heimat? Sprich, ich bitte dich, leben meine Eltern?« Der junge Holsteiner nickte. »Sie leben beide, Robert, obwohl dein Vater seit deiner Flucht kränkelt. Er ist in sich gebrochen, der alte Mann.« Robert wechselte die Farbe. Es war ihm, als schnüre ihm jemand die Kehle zusammen. »Kamen denn meine Briefe nicht in Pinneberg an?« stammelte er endlich. »Einer, Robert. Von New York aus, wie deine Mutter erzählte. Die Leute aber glaubten es nicht, weil so viel Abenteuerliches darin stand, und auch dein Vater wollte von dem Brief nichts wissen. ›Es muß erst ganz anders kommen‹, hat er gesagt, ›Robert muß als reuiger Mensch nach Hause zurückkehren und seine Mutter und mich auf den Knien um Verzeihung bitten, so gehört es sich nach Gottes Willen. Er ist von mir zum Schneider bestimmt, und wenn er nicht gehorchen will, so habe ich keinen Sohn. Der Brief bleibt unbeantwortet.‹« Robert schüttelte unwillkürlich den Kopf. »Immer noch der alte Starrsinn«, dachte er. »Oh, wie recht hatte ich, nicht ohne Mittel, die meine Selbständigkeit sichern, nach Pinneberg zurückkehren zu wollen. Um Verzeihung bitten werde ich den Vater, ja, aber Schneider werde ich nicht.« Er dachte sich voll Trotz in diesen Entschluß hinein, aber dennoch tat es ihm weh, dennoch sah er immer im Geiste das Bild des alten Mannes, wie er krank und traurig dasaß. Gerade an seinem Geburtstag kam ihm auf so wunderbare Weise die ernste Mahnung an das, was er seinen Eltern getan hatte. Die beiden jungen Leute schwiegen lange. Auch der Auswanderer, dem das Meer alles genommen hatte, stand ja an einem Wendepunkt seiner Zukunft, die jetzt aussichtsloser als je vor ihm lag. »Wie kommt es, daß du Europa verlassen hast, Gottlieb?« fragte endlich Robert, »und wohin willst du?« Der junge Holsteiner seufzte tief. »Ich wollte nach Kalifornien, um Gold zu suchen, Robert«, antwortete er tonlos. »Du? Und ich glaubte immer, daß dir dein Geschäft alles bedeute, daß du in deines Vaters Kundschaft hineinwachsen und für immer in Pinneberg bleiben wolltest. Du weißt doch noch, bei unseren Kriegs- und Räuberspielen im Gehölz machtest du meistens den Zuschauer, aber wenn wir einmal einen Laden errichteten oder bei den kleinen Mädchen in der Puppenwirtschaft zu Gast waren, so fühltest du dich in deinem Fahrwasser.« Gottlieb nickte. »Du hast ganz richtig gesehen, Robert. Ich wäre glücklich gewesen, den kleinen Krämerladen meiner Eltern eines Tages auf eigene Rechnung übernehmen zu können, aber das Schicksal wollte es nicht. Wir brannten ab, als das Haus bis unter Dach mit unversicherten Waren voll war; mein alter Vater wurde schwer krank und erblindete gänzlich. Was sollte ich nun beginnen? Mit dem Gehalt als Gehilfe in anderer Stellung könnte ich die Eltern nicht ernähren, also mußte ich mein Glück anderwo suchen. Schon so viele vor mir hatten in den Goldminen Schätze gesammelt – ich wollte es auch. Aber jetzt – –« Die innere Bewegung erstickte seine Stimme. Er fuhr mit der Hand über die Stirn, ehe er weitersprach. »Jetzt muß ich in San Franzisko eine Stelle als Hausknecht oder Kellner suchen«, fügte er endlich seufzend hinzu. »Es soll eben nicht sein, daß aus mir ein Goldgräber wird, – ich sehe es ja.« »Du paßt sicherlich nicht dazu«, warf Robert ein. »Das fühle ich selbst, aber ich muß eben, und ich werde es.« Robert klopfte seinem Freund auf die Schulter. Er hatte schon längst beschlossen, ihm zu helfen. »Mach dir keine Sorgen, Gottlieb«, sagte er, »ich habe genug Geld, um dir helfen zu können. Fünfzig Dollar gibt es doch, wenn ich abmustere, und damit kommst du bequem ins Goldland.« Gottlieb streckte gerührt die Hände aus. »Bist immer noch der alte Robert Kroll!« rief er, »der sein Butterbrot teilte und für den schuldigen Kameraden die Tracht Prügel hinnahm, ohne ihn zu verraten. Gott segne dich!« »Ach was, wollen wir nicht lieber gleich Tränen vergießen, du?« Aber er umarmte doch in seiner ungestümen Art den so unerwartet gefundenen Freund, und unter seinen Wimpern schimmerte es feucht. Dann zwang er ihn, sich schlafen zu legen, und trat selbst die Morgenwache an, frisch und kräftig wie immer. So hoch da oben in den Tauen, fast unterm Flaggenknopf, wo es heute viel zu tun gab, kamen ihm viele Gedanken, ernste und heitere. Er fühlte das Gewicht seiner Schuld tiefer und nahm sich vor, noch einmal, noch dringender und herzlicher den Vater um Verzeihung zu bitten. »Mag er im Unrecht sein«, dachte Robert, »ich muß ihm alles vergeben, weil er mein Vater ist, und muß ihm das Unrecht, das ich begangen habe, wieder abbitten. Bei der nächsten Reise werde ich Vollmatrose, dann gibt es bessere Heuer und dann kann ich umso leichter eine kleine Summe sparen, damit mir die Eltern nichts zu schenken brauchen. Mag der Vater unerbittlich bleiben, wenn ich zu ihm komme, – ich will es doch tun, denn ich würde es mir sonst ewig vorwerfen müssen.« In der Kajüte des Kapitäns stand zur selben Zeit der Obersteuermann und sah mit ernster Miene seinem Vorgesetzten ins Auge. »Wir müssen , Herr Kapitän«, sagte er mit großer Entschiedenheit. Mr. Barrow strich sich das Haar aus der Stirn, kratzte sich hinter den Ohren, wiegte den Kopf und war offenbar unschlüssiger als je. »Bis zur Insel Juan Fernandez könnten wir doch vielleicht kommen, Steuermann«, antwortete er endlich. Der schüttelte den Kopf. »Ganz unmöglich, Sir.« »Auch nicht, wenn die Rationen halbiert werden?« »Auch dann nicht.« »Verfluchte Geschichte! Wie soll ich das vor der Reederei verantworten?« »Daß wir schiffbrüchige Menschen retteten, Sir? Kein Gericht der Welt kann Ihnen Strafe dafür zuerkennen.« »Aber wenn dem Schiff in der Magelhaensstraße etwas zustößt? Niemand wählt den Weg durch diese Klippen.« Der Obersteuermann zuckte die Achseln. »Entweder – Oder!« antwortete er. »Wir haben eine Überzahl von sechzig Köpfen an Bord und müssen also folgerichtig in etwa acht Tagen ohne Wasser sein. Befehlen Sie, daß wir weitersegeln, so –« »Nein, niemals, das wäre ja noch viel schlimmer. Aber daß mir das passieren mußte! Die erste Reise als Kapitän und gleich ein. Wagnis auf Leben und Tod.« Der Steuermann schwieg. Was sein Vorgesetzter sagte, war vollkommen richtig, aber die vielen Klagen hätte er sich ersparen können. »In Gottes Namen denn«, seufzte Mr. Barrow endlich. »Geben Sie die nötigen Befehle, daß wir in die westliche Durchfahrt der Magelhaensstraße einlaufen. Es wird ja gerade noch früh genug; sein.« »Bis auf eine Stunde, Sir!« Und der Steuermann betrat mit erleichtertem Herzen das Deck. Er mußte den jugendlichen Kapitän überall da, wo schnelle Entschlossenheit und geschulter Blick nötig waren, vollständig ins Schlepptau nehmen, das wußte er schon, aber es war ihm immer wieder gleich unangenehm. »Der wird sich noch wundern«, dachte er, »wenn jeden Tag die Kinder schreien, sooft er arbeiten will, und wenn diese zwanzig Frauen in der Kajüte ans Waschen kommen oder sich untereinander zanken. Na, auch die längste Fahrt hat ein Ende, und das Bewußtsein, sechzig Menschen vom Tode errettet zu haben, ist schon einige Unannehmlichkeiten wert.« Er gab der Mannschaft die nötigen Befehle für den veränderten Kurs, und nachdem die Einfahrt in die Magelhaensstraße passiert war, ging es mit doppelter Kraft daran, alle die hundert kleinen Schäden der letzten Nacht wieder auszubessern. Das Deck war schmutzig und naß, die schöne weiße Ölfarbe mit den Spuren von hundert Füßen übersäet, die Wanten und Pardunen zum Teil zerrissen, die Türen ausgehängt, die Segel unordentlich verstreut, und die Kombüse, in der fortwährend gekocht worden war, in einer heillosen Verwirrung. Während die jüngere Mannschaft, in den Pferden stehend, oben alle Hände voll zu tun hatte, mußten die älteren Leute an Deck arbeiten, so daß, als später Frauen und Kinder dazukamen, ein buntes Jahrmarktsbild daraus wurde. Es gehörte alle Geduld, alle Ruhe des erfahrenen Seemanns dazu, um hier eine erträgliche Ordnung wiederherzustellen. Wer den beschränkten Raum auf Handelsschiffen kennt, der wird sich die Schwierigkeiten bei der Unterbringung von sechzig Menschen leicht vorstellen können. Kajüte, Vorraum, Wandschränke, ja selbst der Gang hinter der Kajüte, jeder Zentimeter Boden war mit altem Segeltuch und Decken belegt, um über vierzig Menschen, Frauen und Kindern, als Schlafstelle zu dienen. Das kleine Völkchen ergoß sich jetzt wie ein Bienenschwarm auf das Deck, und angstvolle Mütter liefen schreiend hinterher, mit einem Wort, es war eine heillose Verwirrung. Zudem sprach die Mannschaft englisch, und die Schiffbrüchigen bestanden sämtlich aus Deutschen, so daß an eine wirkliche Verständigung gar nicht gedacht werden konnte und daß Robert fast nichts anderes mehr tat, als Übersetzen und Befehle vermitteln. Der Kapitän saß in seiner kleinen Schiffskajüte wie ein gefangener Löwe im Käfig, und sooft eins der Kinder neugierig die Tür öffnete, fuhr es erschreckt vor dem finsteren Gesicht zurück, das ihm entgegenblickte. Es war aber auch wirklich zum Haarausreißen, wie Mr. Barrow meinte, man konnte keinen Fuß mehr vor den andern setzen, konnte sein eigenes Wort nicht verstehen und nirgends zu seinem Recht gelangen. Zum Glück blieb das Wetter freundlich, so daß über das Quarterdeck ein Sonnensegel gespannt und den Frauen befohlen wurde, sich während des Tages dort aufzuhalten. Die Schiffsjungen mußten dauernd putzen und scheuern, die Kinder blieben auf bestimmte Grenzen angewiesen, und alles ging, nachdem es zur Gewohnheit geworden war, leidlich, nur des Steuermanns Stirn umwölkte sich mehr und mehr, je schneller er den Fleischfässern und den Brotkisten auf den Grund sah. Was half aber alles Sträuben? Die Decksluken mußten geöffnet und ein Teil der aus getrocknetem Kabeljau bestehenden Ladung angegriffen werden. Alle diese Hungrigen wollten ja leben. Robert diente als Vermittler, als Adjutant und Dolmetscher. Er schloß während dieser Zeit eine neue und tiefere Freundschaft mit dem jungen Auswanderer, den er schon von Kind auf kannte und der so ganz anders als er selbst war. Gottlieb schauderte, sooft er an die Zukunft dachte. »Das sollen da in den Goldminen lauter Räuber und Totschläger sein«, sagte er einmal. »Ich glaube, sie tragen alle Waffen.« »Das tut man in ganz Amerika, selbst in der größten Stadt.« Gottlieb war entsetzt. »Wie soll das nur werden«, seufzte er. »Ich mag gar nicht daran denken. Ja, wenn du bei mir wärst, Robert!« Aber der lachte. »Ich sollte täglich zwölf Stunden lang in der Erde herumwühlen und Goldstaub waschen? Das wäre mir denn doch zu langweilig!« »Oh!« seufzte Gottlieb, »langweilig? Das ginge schon, wenn man nur arbeitet und etwas vorankommt. Aber diese schlechten Menschen, das Trinken und Raufen, – brr, mir graut davor! Weißt du, ich kann nicht so mit den Leuten fertig werden, wie du. Im Laden ist man höflich und zurückhaltend, man spricht über dieses oder jenes und kann sich sauber halten, – aber da in den Minen soll es ja hergehen wie bei einem Jahrmarkt, wenn die Messer aus den Taschen gezogen werden und einer über den andern stolpert. Glaubst du, daß ich mein Glück auf diesem Weg machen werde, Robert?« Der junge Matrose sah die kleine, schwächliche Gestalt seines ehemaligen Schulkameraden und half sich mit einem: »Nun, warum denn nicht?« über die unangenehme Antwort hinweg. »Sicherlich wäre es besser, du hättest einen Menschen neben dir, Gottlieb«, fügte er dann hinzu, »aber ich selbst spüre gar keine Lust, der See den Rücken zu kehren. Will in San Franzisko auf einem Hamburger Schiff für Hin-und Herreise heuern, so daß vielleicht vier oder acht Tage zum Urlaub nach Pinneberg übrigbleiben. Es ist besser, daß ich bereits gebunden bin, bevor ich nach Hause komme, und daß ich mich auch nicht lange aufhalten kann, sonst könnte vielleicht der Krieg mit meinem Vater wieder beginnen. Genug Geld, um – wenn es nötig sein sollte – in Pinneberg acht Tage im Wirtshaus leben zu können, verdiene ich ja während der Heimreise.« Er seufzte heimlich bei diesem Gedanken. Der Boden brannte ihm unter den Füßen, seit er wußte, daß sein alter Vater krank war und vielleicht sterben würde, ohne ihm vorher vergeben zu haben. Gottlieb wiegte den Kopf. »Wäre es da für dich nicht besser, in den Minen ein kleines Kapital zu sammeln und damit zu den Eltern zurückzukehren«, antwortete er. »Das geht doch schneller, als durch die magere Monatsheuer.« Robert lachte. »Du willst mich von meinem Plan abbringen«, sagte er, »aber das gelingt dir nicht so leicht. Vor der Hand werde ich mich erst einmal mit an Land schicken lassen, um Wasser einzunehmen. Ich freue mich schon ordentlich auf einen kleinen Spaß mit den Patagoniern.« »Aber das sind doch Wilde!« »Natürlich, gerade darum. Möchtest du denn nicht gern so ein Dorf aus Indianerzelten im Naturzustand sehen, Gottlieb?« »O du lieber Himmel, um keinen Preis! Aber du liefst ja schon als Kind solchen Abenteuern nach, Robert. Erinnerst du dich noch, als einmal in Pinneberg die Zigeunerbande lagerte?« »Und ich drei Tage lang die Schule versäumte!« lachte Robert. »An die Tracht Prügel werde ich denken, solange ich lebe. Du warst nicht mit hinauszulocken, weder durch Bitten noch irgendein anderes Mittel.« »Nein, bestimmt nicht. Was sieht man denn auch an schmutzigen, zerlumpten Menschen?« Robert schüttelte den Kopf. »Du bist eine rechte Landratte«, lachte er. »Willst dann also höchstwahrscheinlich nicht mit uns auf die Wasserjagd gehen?« Gottlieb sah schaudernd zu dem fernen, dunklen Uferstreifen hinüber. »Wenn's nicht sein muß, Robert, dann laß mich an Bord bleiben«, antwortete er. »Die Patagonier sind Räuber, haben Pferde und eiserne Waffen.« »Nun«, rief Robert, »du Hasenfuß, sind wir etwa schlechter dran?« »Pferde haben wir doch nicht!« »Um Reißaus zu nehmen, meinst du! – Na, laß es nur gut sein, du kannst in der sicheren Kajüte bleiben. Ich begreife nur nicht, woher du bei dem Untergang des Schiffes den Mut nahmst, bis zuletzt an Bord zu bleiben und den kopflosen Auswanderern einen ruhigen, vernünftigen Widerstand entgegenzusetzen!« Gottlieb errötete. »Du«, sagte er, »was unbedingt getan werden muß, das kann ich auch und tue es ohne mich zu weigern, aber – nicht gern. Lieber gehe ich meinen Weg in Frieden, so wie früher, als das kleine alte Haus noch stand und ich von sechs Uhr früh bis zehn Uhr abends hinter dem Ladentisch stand. Meine Waagschalen waren immer so sauber und Tüten im voraus geklebt auf ein Vierteljahr, – ach, wie gut hatte ich es damals!« Robert schüttelte den Kopf. »Mein Gott«, dachte er, »mein Gott, warum ist dieser stille, harmlose Mensch nicht als Sohn meines Vaters geboren worden, und ich dagegen als der, welcher hinausmußte in die Welt, eben um eine höhere Pflicht zu erfüllen? Wie glücklich wären wir dann beide.« Er brach die Unterhaltung plötzlich ab. Ihm fiel wieder ein, was Mongo einmal gesagt hatte, da oben in der nordischen Eiswüste unter den Zeltdecken der Lappen. »Der Mensch soll lernen, sich selbst zu überwinden.« Und er mußte sich eingestehen, daß eigentlich das, wonach man wirklich verlangt und was man begehrt, – doch zu leicht ausgeführt wäre, als daß es eine ernste Aufgabe genannt werden könnte. »Gottlieb und ich, wir werden uns ergänzen«, dachte er. »Ich glaube, es würde gar nicht schaden, wenn ich ihn auf ein paar Monate in die Minen begleitete. Glückt es mir, mit einem hübschen Vorrat an Goldstaub nach Pinneberg zurückzukehren, so kann ich dem Vater zeigen, daß ich auch ohne die Nähnadel immer noch würdig bin, seinen Namen zu tragen und von ihm Sohn genannt zu werden. Ich will – –« Ein plötzlicher Befehl unterbrach seinen Gedankengang. Die grünen Ufer der Küste waren schneller, als es Robert für möglich gehalten hatte, zu ganzen Wäldern und Höhenketten herangewachsen; sie lagen jetzt so nahe, daß für ein Anlaufen schon Vorbereitungen getroffen werden mußten. Wie schlug sein Herz, als er das Ufer sah. Weißer Sand, im Sonnenschein glänzend, und dichte Buchenwälder, alles erinnerte ihn mehr als jeder andere Strand, den er bis jetzt betreten hatte, an die deutsche Heimat. Und überall blühten Fuchsien in allen Farben, allen Größen und Schattierungen. Nicht wie bei uns in Deutschland als Sträucher und Zwergpflanzen, sondern als schlanke Bäume, die mit Tausenden und Abertausenden der glockenförmigen Blüten übersäet waren. Vom reinsten Weiß bis zum tiefsten Rot fanden sich alle verschiedenen Arten, während der Moosboden am Ufer mit breitblätterigen Schlingpflanzen bedeckt war. Auf den Abhängen des ersten Höhenzuges weidete eine Herde Guanakos, während mehrere kleine Pekaris die sandigen Stellen der Uferbank aufgewühlt hatten und im Sonnenschein ahnungslos schliefen. In allem bot die Insel das Bild einer Landschaft von überwiegend nordischem Charakter. Keiner von der ganzen Besatzung des Schiffes war jemals auf dieser Insel gewesen, keiner wußte, ob und wo hier Quellen zu finden waren, aber man durfte nicht länger warten, da sich der Wassermangel bereits in den letzten Tagen sehr empfindlich bemerkbar gemacht hatte. Der junge Kapitän gönnte sich weder am Tage noch in der Nacht eine längere Ruhe, sondern suchte ständig bald auf der Karte, bald auf dem Wasser nach Klippen, an denen sein Schiff scheitern konnte, er fürchtete seit dem Abenteuer mit dem sinkenden Fahrzeug jedes nur mögliche Unglück und dachte jetzt sogleich an einen Überfall der Patagonier. »Diese Stämme führen dauernd untereinander Krieg«, sagte er seufzend, »sie leben allein vom Raub, also muß mit der größten Vorsicht verfahren werden. Zwanzig Mann sollen sich bis an die Zähne bewaffnen und auf der Suche unter allen Umständen zusammenbleiben. Bei der ersten Quelle wird Halt gemacht, und die ganze Expedition so schnell wie möglich beendet. Die Schiffsjungen bleiben an Bord.« Als alle diese Weisungen erteilt worden waren, trat er noch einmal an das Fallreep. »Leute, wagt nichts«, rief er. »Findet sich hier kein Wasser, so suchen wir auf einer andern Insel. Es gibt ja leider nur allzuviele davon.« Der Untersteuermann als Führer der kleinen Truppe antwortete mit einem »All right, Sir«, und dann stießen die Boote ab. Robert sah zu seinem größten Erstaunen, daß Gottlieb mit hineingesprungen war. »Nanu«, rief er, »wozu das? Bleib doch auf dem Schiff, wenn du an solchen Dingen keinen Gefallen findest.« Der junge Auswanderer schüttelte den Kopf. »Sprich nicht so laut, Robert«, flüsterte er errötend. »Alle Leute sehen mich an. Ich will mit dir gehen, weil du mich sonst für feige halten würdest, und das bin ich doch nicht. Ich werde schon meinen Mann stehen.« Robert handhabte kräftig das Ruder. Aus seinen blauen Augen und dem ganzen Ausdruck des sonnenbraunen Gesichtes lachte die frohe Zuversicht der Jugend. »Du bist ein guter Kamerad, Gottlieb«, rief er, »ich will dir deine Treue vergelten, darauf darfst du bauen. Schaumal, sieht das nicht ganz so aus, wie die Inselgruppe und die Gehölze hinter unserem Pinneberger Mühlenteich?« »Wahrhaftig«, antwortete Gottlieb, »ich dachte in diesem Augenblick das gleiche.« Robert hatte sich von seinem Sitz erhoben und zeigte jetzt mit dem Ruder auf die Waldung vor dem Boot. »Weißt du noch«, rief er, »wie wir bei unsern Kriegsfahrten die größte Insel immer Patagonien nannten und die Kühe des Müllers Patagonier – den schwarzen Stier aber den Kaziken? – Brombeeren, Himbeeren, hauptsächlich Nüsse, das alles war die Beute, und der Rastplatz unter den Buchen, wo wir regelmäßig ein Feuer anzündeten, unser Biwak. Die Gefangenen wurden auf einer ganz kleinen, kahlen Insel ausgesetzt, und oft trotz ihrer Bitten am Abend nicht wieder, an Bord genommen, wodurch – –« »Dann die ganze Geschichte an den Tag kam!« ergänzte Gottlieb. »Das unerlaubte Betreten des fremden Grund und Bodens, das Feuer, die kleine Rache an einem Kameraden, alles wurde dem Rektor hinterbracht und trug seine sauren Früchte.« »Ja, das war hart!« lachte Robert. »Hätte ich so viele Taler, Gottlieb, wie ich Hiebe bekommen habe, – du könntest dein Haus wieder aufbauen und deine Tüten in Frieden weiterkleben. Aber macht nichts, die wildesten Jungen werden die tüchtigsten Männer.« Während dieser Erinnerungen der beiden Schulkameraden hatte das Boot den Strand erreicht, und Robert sprang allen voran auf die Kiesel. Er warf die Mütze in die Luft und fing sie wieder auf, unbekümmert um alle Gefahren der Welt. »Schnell!« rief er. »Der Steuermann ist unser General und wir sind die Landungstruppen. Komm heraus, Kazike von Patagonien, wenn du den Mut hast!« Das hatte er aber lieber in deutscher Sprache gerufen, und niemand verstand es außer Gottlieb. »So sei doch ruhig«, mahnte der, »das hier sind ja andere Gegner als die harmlosen Kühe, die du damals in die Flucht schlugst.« »Oho, der gehörnte Kazike war auch nicht zu verachten. Er hat mich einmal mit noch drei andern über sein ganzes Gebiet gehetzt, bis wir mehr tot als lebendig in unser Boot plumpsten, und selbst dahin wollte er uns noch nachlaufen. Ich sage dir, der Anblick war urkomisch. Bis an die Brust im Wasser stehend, halb erschreckt, pustend und zornig, das dumme Gesicht uns entgegengestreckt, so brüllte er aus Leibeskräften, während wir ihn reizten, mit dem Ruder stießen und immer nahe vor ihm umherfuhren, bis er endlich Reißaus nahm. Ich muß heute noch lachen, wenn ich daran denke.« Gottlieb schüttelte den Kopf. »Wie kann man aber auch einen Stier necken!« sagte er. »Du versuchst aber auch die unglaublichsten Dinge.« »Ich versuche alles und fürchte nichts. So, jetzt nimm diesen Säbel, da du doch mit dem Gewehr nicht umgehen könntest.« Der ganze Zug setzte sich in Bewegung. Jeder Mann trug Waffen und außerdem einen Eimer, den der Seemann »Pütz« nennt, mit, der Inschrift »Stern von San Franzisko«. Ohne ein lautes Wort, ein überflüssiges Geräusch und in dichtgeschlossener Reihe drangen die Seeleute vor, während ihnen vom Bord des Schiffes der Kapitän durchs Fernrohr nachblickte und unruhig wie ein Tiger im Käfig an der Schanzkleidung auf und ab ging. »Wenn keiner zurückkommt, Steuermann, was fangen wir an?« »Noch ist es ja nicht so schlimm, Sir.« Dann verstummte auch an Bord das Gespräch, und ebenso still wie an Land die Matrosen verhielten sich dort die Zurückgebliebenen. Alle fünf Minuten sah der Kapitän auf die Uhr. Robert und Gottlieb marschierten Seite an Seite, beide entzückt von dem Schatten der Buchen und dem weichen Rasen, auf den sie traten. Seit Jahr und Tag hatte der junge Matrose keine grüne Landschaft mehr gesehen, keine Blume, keinen Singvogel in den Zweigen. Das alles war ja in Norwegen nur höchst selten und vereinzelt vorgekommen, dort wirkte sich noch die Nähe des ewigen Eises aus. Hier aber wuchs und blühte es überall, hier war es wie in einem deutschen Sommer. Nur von einer Quelle oder einem Fluß zeigte sich nichts. »Ob wir uns doch in mehrere Abteilungen teilen?« meinte der Steuermann. »Möglicherweise zieht sich dieser Wald Gott weiß wie weit fort, ohne in ein Tal auszumünden. So zwischen den Stämmen werden wir niemals eine Quelle finden.« »Aber der Alte hat es verboten!« meinte einer. »Der Alte ist ein Hasenfuß, sage ich euch. Haben wir irgendein Lärminstrument, eine Pfeife oder etwas Ähnliches bei uns?« Es meldeten sich mehrere, die schon aus Vorsicht eine kleine Zinkflöte mit schrillem, durchdringendem Ton zu sich gesteckt hatten, und dann ließ der Steuermann regelrecht abstimmen, wer für Teilung sei, und wer nicht. »Bedenkt, was ihr tut, Leute«, sagte er, »die Folgen müssen wir selbst tragen. Der Kapitän hat uns, da wir in diesem Augenblick nicht auf seinem Schiff stehen, auch keine Gesetze zu geben; wir sind es, die ihre Haut zu Markt tragen, und wir selbst müssen über unser Handeln entscheiden. Also wie ist es, teilen oder zusammenbleiben?« »Teilen!« klang fast wie aus einem Mund die Antwort der Matrosen. »Was sollte uns denn auch weiter begegnen? Die Kerle hierherum sind keine Menschenfresser.« Und dann erhielten je fünf Mann eine Alarmflöte, man verabredete, daß auf das erste Zeichen hin alle dem bedrohten Punkt zueilen sollten und daß man sich an dieser Stelle wiedertreffen wollte. Wer Wasser entdeckt hatte, mußte sofort ein Zeichen geben. Die vier kleinen Trupps verteilten sich nach allen Himmelsrichtungen, und ringsumher wurde es wieder still. In Roberts Zug befand sich Gottlieb als Freiwilliger, daher waren hier im ganzen sechs Männer zusammen. Der Weg, den sie verfolgten, führte offenbar in eine Niederung, da er wenig Baumwuchs zeigte und zuweilen plötzlich tief abfiel, aber dennoch hörte oder sah man keinerlei Gewässer. Über eine halbe Stunde lang mochten die Matrosen vorwärts gegangen sein, als durch die stille Morgenluft ein ganz unerwarteter Ton an ihre Ohren drang. In nächster Nähe wieherte ein Pferd. – Im Nu hemmten alle ihre Schritte. »Es wäre doch hübsch, wenn hier hinter den Bäumen ein Dorf läge!« raunte einer der Seeleute. »Dann sehen wir unser Schiff nicht wieder.« Robert winkte den andern. »Wir müssen uns der Pferde bemächtigen!« flüsterte er. »Haben wir sie und unsere Schußwaffen, so werden wir immer die Oberhand über die Wilden behalten.« »Du hast recht«, meinte der Steuermann, »das ist ein guter Gedanke. Aber wir kommen nur nicht ungesehen so weit heran, um die Tiere einfangen zu können.« »Laßt mich den Weg auskundschaften!« drängte Robert. »Gebt mir die Pfeife, damit ich euch im Notfall benachrichtigen kann und bleibt in der Nähe. Aber das müßt ihr auch so, denn da wo Pferde sind, wohnen bestimmt Menschen, und ebenso sicher ist bei ihren Hütten auch Wasser zu finden.« Die fünf Männer waren damit einverstanden, nur Gottlieb berührte Roberts Arm und flüsterte halblaut: »Laß mich mit dir gehen, ich bitte dich.« »Nein, auf keinen Fall. Du bleibst bei den andern, hörst du, Gottlieb. Mir macht die Geschichte großen Spaß, – für dich wäre es ein Opfer.« Gottlieb schüttelte den Kopf. »Laß mich doch, Robert. Du hast mir das Leben gerettet, also will ich für dich nicht weniger tun.« Auch Mongo drängte sich an Roberts Seite. »Vier Augen sehen mehr als zwei, du junger Spitzbube, nimm mich mit dir.« »Kommt nicht in Frage!« entschied Robert. »Setzt euch ins Moos und eßt euer Frühstück, damit ihr bei Kräften bleibt. Lebt wohl!« Er verschwand zwischen den Bäumen, und den Zurückgebliebenen blieb in der Tat nichts anderes übrig, als Rast zu halten. Nur essen konnte niemand, und als die fünf eine Flasche mit Rum von Hand zu Hand gehen ließen, da entdeckten sie, daß Gottlieb fehlte. Der junge Auswanderer war heimlich davongeschlichen, ohne daß ihn die anderen beobachtet hätten. Mongo schmunzelte wohlgefällig. »Er wird sich schon durchschlagen«, sagte er und meinte Robert, »mir ist um ihn nicht bange. Habe ihn lieb, als wäre er mein eigener Sohn, das könnt ihr glauben, Leute, aber doch laufe ich ihm nicht nach. Er ist unvorsichtig, hört auf keinen vernünftigen Rat und hält nur seine eigene Meinung für die richtige, – das muß er sich noch abgewöhnen. Laßt ihn nur tüchtig in die Klemme geraten.« Während dieser Worte horchte der alte Mann angestrengt und konnte keinen Tropfen Rum hinunterbringen. Immer war es ihm, als höre er in der Ferne Roberts Stimme. Der kroch inzwischen wie eine Schlange weiter. Noch sah er nichts als das Unterholz und hier oder da eine freie Fläche, dann jedoch wurden die Lichtungen häufiger, bis endlich ein tiefes Tal sich offen ausbreitete und mehr als zehn weidende Pferde in der Ebene sichtbar wurden. Seitwärts lagen aber auch etwa zwölf bis zwanzig Zelte aus Fellen, und zahlreiche Kinder jeden Alters spielten an den Ufern eines Flüßchens, das auf der Talsohle über Kiesel und weißen Sand bis zum Meeresufer hinablief. Robert sah die blaue Fläche der See zwischen den Baumstämmen schimmern; das Dorf lag also unmittelbar am Strand, und das Wasser wäre von der entgegengesetzten Seite her mit leichter Mühe zu erreichen gewesen, während es kaum möglich schien, von seinem Standort bis an den Fluß vorzudringen. Ob er wagen durfte, auf die Weidefläche hinauszutreten und die Pferde vor den Augen der Wilden zu entführen? Zaum und Lederzeug schien hier ein unbekannter Luxus zu sein, die Tiere liefen vollkommen fessellos umher, aber sie schienen sehr zahm, da sie den Lockrufen der kleinen, rotbraunen Kinder wie Hunde gehorchten. Robert versuchte ein ähnliches Mittel, aber ohne Erfolg. »Hätte ich doch einen Lasso!« dachte er ärgerlich. Und wieder rief er leise, ohne jedoch einen günstigeren Erfolg zu erzielen; die Tiere weideten in ungestörter Ruhe, die Sonne schien hell vom Himmel herab, und die kleinen Kinder spielten ganz wie ihre weißen Altersgenossen mit Kieseln und Sand. Aber etwas mußte geschehen. Die Zeit verging, die Kameraden warteten, der Kapitän war gewiß schon ganz außer sich, also alles drängte zur Eile. Robert hielt noch einmal scharfe Umschau. Aus den spitzzulaufenden Hütten drang oben stellenweise leichter, bläulicher Rauch hervor, auch einige Haustiere, wie Schweine und Hunde, liefen umher, aber kein erwachsener Mensch ließ sich blicken. Vielleicht war der Stamm auf einem Kriegszug, und nur ein paar alte Frauen beaufsichtigten die Kinder, – vielleicht glückte es, mit einem geschickten Griff die Pferde zu entführen, und dann hatten die Seeleute das Spiel gewonnen. Gedacht, getan. Robert trat hinaus auf das freie Feld und näherte sich dem ersten Tier, das ihn ruhig herankommen ließ. Sein Herz schlug schneller, als er eine mitgebrachte Leine aus der Tasche hervorzog und sie um den Hals des Pferdes legte. Da tönte aus ziemlicher Entfernung durch die Waldesstille das verabredete Zeichen. Robert horchte. Es waren drei kurze, gellende Pfiffe, also Wasser gefunden und der Zweck der ganzen Expedition erreicht. Höchstwahrscheinlich hatten die Kameraden denselben Fluß, nur etwas weiter hinauf, entdeckt. Von zwei Seiten kam Antwort, aber Robert gab keinen Laut von sich. Der Pfiff hätte bestimmt die Wilden aus ihren Schlupfwinkeln hervorgelockt. Er schwang sich auf eins der Pferde und wollte eben davonsprengen, als ihn ein lauter, mehrstimmiger Ausruf erreichte. Er wandte sich um und erkannte unten zwischen den Hütten etwa zehn bis zwölf Patagonier. Zugleich wurde das Pferd bei seinem Namen gerufen, machte eine plötzliche Schwenkung und galoppierte mit dem erschrockenen jungen Menschen geradewegs in das Dorf hinab. Robert wäre schon nach wenigen Minuten mitten unter den Wilden angelangt und von ihnen zweifellos gefangen worden, wenn er nicht noch rechtzeitig abgesprungen wäre. Mit langen Sätzen lief er in das Gebüsch hinein. Die Wilden folgten ihm. Ihr lautes Kriegsgeschrei mischte sich mit den Tönen der Pfeife und den antwortenden Stimmen der Matrosen. Die ganze stille und friedliche Umgebung war in Aufruhr geraten. Von weitem hörte man die Pfeifen, Mongo rief laut und angstvoll Roberts Namen, die Pferde galoppierten stampfend und schnaubend auf der Weidefläche, die Hunde bellten und die Wilden heulten. Eine Art Wurfspieß oder Lanze, plump aus Eisen hergestellt, flog haarscharf an Roberts Kopf vorüber, – wenigstens dreißig Wilde waren jetzt auf seiner Spur und liefen heulend und schreiend wie ein Schwarm höllischer Geister dem fliehenden jungen Matrosen nach. Mit Mänteln aus Pferdeleder und Schuhen aus der abgestreiften Haut des Pferdefußes, an der noch die Hufe unverändert saßen, mit greller Malerei im Gesicht und sonderbar heraufgebundenem, mit Federn durchflochtenem Schopf, sahen sie aus wie die leibhaftigen Teufel, während ihr Kriegsgeschrei auch dem Tapfersten Furcht einflößen konnte. Roberts Pfeife gab ihre schrillen Töne von sich, die vier Matrosen schossen aufs Geratewohl in die Luft, um womöglich den Feind zu erschrecken, und von weitem gaben die Kameraden das Antwortzeichen, kurz, es war ein Lärm, als sollte die alte Erde aus den Fugen gehen. Allen voran stürmte Mongo. Im Laufen zielte er und traf einen der Wilden tödlich. Die übrigen stutzten doch unwillkürlich. Vielleicht schreckten sie vor der noch fast unbekannten Feuerwaffe zurück, vielleicht hatten sie gehofft, nur mit einem einzigen Gegner kämpfen zu müssen und wurden irre, als jetzt die Matrosen von allen Seiten dem Kampfplatz zueilten. Schuß auf Schuß krachte. Mehrere Wilde fielen, aber auch einige Weiße wurden getroffen, und immer hartnäckiger kämpften die erbitterten Gegner. Die Patagonier hatten den ersten lähmenden Schreck überwunden, sie schlossen sich fester zusammen, drangen in geschlossener Front gegen ihre Widersacher vor und schienen durch den vereinten starken Anprall fast das Übergewicht zu erlangen. Ihre stumpfen, schweren Waffen schlugen empfindliche Wunden, ihre auf etwa fünfzig Mann angewachsene Zahl brachte die Matrosen zum Weichen. »Wir müssen uns absetzen«, rief mit lauter Stimme der Steuermann. »Zieht euch mit vorgehaltenem Gewehr bis an den Strand zurück, Leute, diese Wilden haben keine Boote.« Aber der Befehl verhallte ungehört, und schon in der nächsten Viertelstunde wären die Patagonier Herren der Lage gewesen, wenn nicht ein unvorhergesehener Zwischenfall die ganze Sachlage urplötzlich verändert hätte. Seitwärts vom Kampfplatz hörte man ein gellendes Pfeifen und zugleich das Stampfen von Pferdehufen. Die Wilden horchten auf und hielten im Angriff inne, denn wirklich erschien auch schon in der nächsten Minute das galoppierende, jagende Rudel ihrer aneinandergekoppelten Pferde. Das erste hielt ein Reiter am Zaum, der selbst ein lediges Tier ritt. Brausend und stampfend verschwand der Zug ebenso schnell, wie er gekommen war, aber schon der bloße flüchtige Anblick hatte die Wilden von dem Kampf mit den Weißen vollständig abgelenkt. Ihr einziger Reichtum, ihre Pferde waren in Gefahr, und dafür ließen sie alles im Stich. Mit gellendem Geschrei setzten sie dem einzelnen Reiter und seiner Beute in das Unterholz nach, so daß sich die Matrosen plötzlich allein sahen. Nur ein Schwerverwundeter lag ächzend im Gras, und mehrere andere hinkten mit zerschlagenen oder zerschossenen Gliedern schwerfällig davon. »Schnell«, rief der Steuermann. »Um Gottes willen, schnell. In fünf Minuten können die Wilden zurück sein.« »Wer war denn der Reiter?« fragte einer, während die Schar so schnell wie möglich zum Strand zurücklief. »Er hat uns das Leben gerettet, aber höchstwahrscheinlich wird er dafür jetzt verloren sein. Wir dürfen ihn nicht im Stich lassen!« Robert überflog die Gesichter. Was er schon vorher zu sehen geglaubt hatte, das bestätigte sich ihm jetzt. Es war Gottlieb, der zu der plötzlichen List gegriffen hatte und der nun den Patagoniern ausgeliefert war. Robert wollte umkehren und ihn suchen. »Mongo!« rief er, »geh mit mir. Ich kann den armen Gottlieb nicht in den Händen der Wilden lassen, ohne alles für ihn versucht zu haben.« Der Neger schüttelte den Kopf. »Wenn er nicht durch seine Schlauheit davonkommt, ist für ihn keine Rettung möglich«, sagte er. »Wir alle hätten ins Gras beißen müssen – aha, der Kapitän hat schon Angst, wie man hört!« Ein Kanonenschuß donnerte vom Wasser herüber, und die Mannschaft antwortete durch lautes »Schiff ahoi!« – nur Robert folgte äußerst widerstrebend. Den Freund so zu verlassen, fand er feige, und doch mußte er die Unmöglichkeit, ihm zu helfen, selbst einsehen. Seufzend schüttelte er den Kopf. Jetzt war der Strand erreicht, und die bei den Booten zurückgebliebenen Leute waren froh, als sie ihre verloren geglaubten Kameraden wiedersahen. An Bord ging noch immer der Kapitän wie ein Verzweifelter auf und ab. Dieselbe Stille von vorhin lag wieder über der ganzen Insel. Man konnte meinen, daß alles ein Traum gewesen sei, eine plötzliche, schreckliche Erscheinung, so schnell war es gekommen und so schnell vorübergegangen. Die Matrosen fragten und erkundigten sich erst jetzt untereinander nach dem eigentlichen Verlauf des ganzen Unternehmens. Bei Roberts Hilferuf hatten alle das gefundene Wasser sofort im Stich gelassen und waren zu seiner Unterstützung so schnell wie möglich dem Schall gefolgt. Daraus ergab sich allerdings, daß alle Mühe umsonst und die ganze Fahrt vergeblich gewesen war. Niemand brachte auch nur einen Tropfen Wasser mit. Robert beruhigte die andern. »Laßt nur«, sagte er traurig. »Ich habe die Stelle entdeckt, wo wir ganz bequem mit dem Boot soviel Wasser einnehmen können, wie wir brauchen, aber – das bringt uns nur den armen Gottlieb nicht zurück! – Wo er jetzt sein mag? Vielleicht wird er von den Rothäuten gemartert!« Rechts von ihm teilte sich in diesem Augenblick das dichte Gebüsch. Ein Kopf kam zum Vorschein, ein verlegen errötendes Gesicht sah durch die Zweige, und der ganze, schüchterne Gottlieb schlüpfte heraus, völlig unversehrt, aber mit zerrissener Jacke und ohne Mütze. »Ach«, sagte er, »ihr seid alle da. Das ist wirklich ein Glück.« Robert glaubte kaum seinen Augen trauen zu dürfen. »Gottlieb!« rief er, »Gottlieb, wie war das möglich? Wie bist du den Wilden entkommen?« Der bescheidene junge Mensch flüchtete sich, um nicht so angestarrt zu werden, zu seinem ehemaligen Schulkameraden und drängte ihn, schnellstens aufzubrechen. »Laß uns schnell machen, Robert«, sagte er, »das sind ja wahre Menschenfresser, diese Kupfergesichter.« »Aber Gottlieb, wie bist du ihnen entkommen?« Der junge Pinneberger winkte mit der Hand. »Mach doch nicht solchen Lärm darum, Robert«, sagte er. »Als der ganze Schwarm vom Kampfplatz eine tüchtige Strecke weit fortgelockt war, ließ ich mich einfach zu Boden gleiten und versteckte mich im dichten Gebüsch, das ist ja gar nicht der Rede wert – jeder andere hätte es auch getan.« Robert drückte gerührt die Hand seines bescheidenen Freundes. Dann übersetzte er das, was Gottlieb berichtet hatte, den Matrosen, die darauf hin ihrer Anerkennung durch kräftige Schläge auf die Schulter ihres Retters Ausdruck gaben. »Frage ihn doch, wie er eigentlich auf den guten Gedanken kam, Bob!« drängte der Steuermann. Robert tat es, und Gottlieb lächelte verlegen. »Ja, siehst du«, antwortete er, »etwas mußte ich doch auch leisten. So ein Draufgänger bin ich nicht, also wollte ich durch List versuchen, die Feinde von uns fernzuhalten. Ich koppelte die Pferde aneinander, nahm sie an die Leine und ritt im sausenden Galopp an euch vorüber, weil ich gleich dachte, daß die Wilden zunächst ihrem Eigentum nachjagen würden. Das übrige weißt du.« Robert übersetzte auch dies, und nach erneuten lebhaften Dankesäußerungen bestieg man endlich die Boote. Der Kapitän raufte sich fast die Haare, als er sah, daß mehrere Matrosen für längere Zeit arbeitsunfähig geworden waren. Einer hatte sogar den Arm gebrochen, ein anderer hinkte schwer, und der dritte hatte eine tiefe Wunde an der Schulter. Mr. Barrow war so außer sich, daß ihn der Obersteuermann zum zweitenmal vertreten mußte. Der ›Stern von San Franzisko‹ wurde gedreht und auf der andern Seite der Insel so nahe an den Strand herangebracht, daß seine Kanone leicht die schmale Flußmündung bestreichen konnte. Ein Boot mit sechs Mann fuhr soweit hinauf, wie nötig schien, um reines Süßwasser zu erhalten, dann füllte man die Tonnen, ohne einen Wilden zu Gesicht zu bekommen. Robert und Gottlieb sahen noch einmal das Dorf von der anderen Seite, ehe die Reise fortgesetzt wurde. »Du«, sagte der junge Matrose, »du wolltest mich doch in die Minen mitnehmen, nicht wahr? – Gut, hier hast du mein Versprechen. Wir wollen zusammengehen.« Gottliebs Freude war so groß, daß er sich kaum beherrschen konnte, obwohl er den Entschluß seines Freundes aus Bescheidenheit nicht annehmen wollte. Robert ließ ihn gar nicht erst zu Worte kommen. »Es bleibt dabei,« sagte er, »ich gehe mit dir nach Kalifornien.« Mehr wurde darüber nicht gesprochen, aber die Sache war abgemacht. Die Matrosen schafften soviel Wasser an Bord, als irgend untergebracht werden konnte, und dann ging die Reise weiter. Als das Schiff die vordere, vorspringende Spitze der Insel umsegelte, sahen die Matrosen hinter allen Bäumen die roten Gesichter der Wilden. Es waren mindestens hundert kriegerische Gestalten. »Paßt auf, Kinder«, rief der Steuermann, »jetzt sollen es die Halunken haben!« Er ließ das Ruder so drehen, daß die Kanone gegen das Ufer gerichtet war. Dann krachte der Schuß donnernd und widerhallend durch die stille Morgenluft, natürlich nur blind, aber doch den Wilden zur heilsamen Warnung. Der Erfolg war so komisch, daß die ganze Schiffsbesatzung, ja sogar der ängstliche Kapitän in ein schallendes Gelächter ausbrach. An Land lagen die Rothäute alle flach auf dem Erdboden, als habe der Pulverdampf tödliche Wirkung gehabt. Einige verbargen die Gesichter im Sand, so daß der Schopf mit Federn und Schnüren im Wind flatterte, andere lagen auf dem Rücken und wagten nicht, sich umzudrehen. »Noch eins!« rief belustigt der Steuermann, »noch eins!« Und wieder krachte der Schuß. Einige der Gestalten wollten aufspringen und fliehen, aber es kam nur zu einem leichten Ruck. Die Todesangst hielt alle am Boden fest. Der Kapitän hatte unterdessen die Verletzten in ärztliche Behandlung genommen, und das Schiff steuerte seinen früheren Kurs weiter. Solange die Matrosen das Ufer noch genauer erkennen konnten, sahen sie die entsetzten Wilden regungslos wie Leichen daliegen. »Ganz wie der Pinneberger Stier!« lachte Robert. »Nur daß der mit gesenktem Kopf reißaus nahm, während die Rothäute liegen bleiben. Wären nicht unsere Kameraden verwundet worden, so könnte man die ganze Geschichte einen guten Spaß nennen!« »Von dem wir aber doch keine Fortsetzung brauchen«, warf der Steuermann ein. »Durch die Magelhaensstraße zu segeln, ist immer bitterer Ernst.« »Sind Sie schon früher einmal hindurchgekommen, Mr. Thompson?« fragte Robert. »Einmal schon, und noch dazu mit Passagieren. Vor etwa zwölf Jahren zog ja alle Welt in die Goldminen, um dort das Glück zu suchen.« Robert winkte heimlich seinem Schulkameraden. »Und es wohl auch häufig zu finden, Sir, nicht wahr?« fragte er. »Häufig? – Das nun gerade nicht, mein Junge. Wem ein Gewinn in den Schoß fällt, der gibt ihn meist ebenso schnell wieder aus und macht noch obendrein auf gut Glück Schulden. Die ›Digger‹ sind ein leichtlebiges Völkchen.« Robert lächelte. Er wußte, daß er es verstand, mit seinem Eigentum sparsam und ordentlich umzugehen und daß er daher zu den wenigen gehören würde, die tatsächlich imstande waren, in den Minen ihr Glück zu machen. »Was gehört eigentlich zur Ausrüstung eines Goldsuchers?« fragte er den Steuermann, der offenbar gut aufgelegt war und mit sich reden ließ. »Ist die Geschichte sehr teuer?« Der Steuermann zuckte die Achseln. »Das kommt darauf an, Bob, wie man es anfängt. Je mehr man hineinsteckt, desto mehr kommt auch wieder heraus. Wer also Pferd und Karre besitzt, eine abgelegene Stelle aufsuchen will und die Sache im großen betreibt, der hat mehr Aussicht als ein anderer armer Teufel, der nur mit Spaten und Hacke losgeht. Es haben aber auch solche schon Glück gehabt und sind reich geworden.« Robert und Gottlieb sahen sich verstohlen an, dann aber fragte der junge Matrose weiter und lockte aus dem erfahrenen Steuermann so ziemlich alles heraus, was er wissen wollte. Die Hauptfrage war natürlich die: »Hat ein fleißiger, sparsamer Mann als Goldsucher Aussichten, weiterzukommen?« Der Steuermann nickte. »Das steht fest. In den Goldstädten wird mehr Staub von den Wäschern verloren, als ausreichen würde, einen vernünftigen Menschen zu ernähren. Wer täglich seine zehn bis zwölf Stunden arbeiten will, der kann sagen, daß er es bei einigem Glück zum wohlhabenden Mann bringen wird, obgleich vielleicht unter Tausenden nur einer wirklich das erträumte Vermögen findet. Es gibt nirgends im Leben so viele Wechselfälle, wie gerade in den Minenstädten.« Robert übersetzte das alles seinem Freund, der sich zwar während der kurzen Zeit an Bord schon soviel Englisch angeeignet hatte, daß er einigermaßen verstand, was gesprochen wurde, dem aber doch sehr viel daran lag, gerade hier alles aufs Wort genau zu erfahren. Er fand das, was der Steuermann gesagt hatte, recht befriedigend und hoffte, daß es ihm doch vielleicht schon bald möglich sein werde, monatlich sechzehn bis zwanzig Dollar nach Pinneberg zu schicken. »Davon können die Eltern schon leben«, sagte er. Robert sah ihn erstaunt an. »Aber dabei wirst du nie ein kleines Vermögen sammeln, Gottlieb«, sagte er. »Wenn ich nicht mehr erübrigen kann, als für meine alten Eltern erforderlich ist, – nein. Aber ich bin auch schon glücklich, wenn mir nur das gelingt.« »Und du wolltest aus diesem Grund ständig in den Minen bleiben?« »Solange es nicht anders geht, ja. Der Gedanke, Vater und Mutter im Armenhaus zu wissen, wäre mir viel schrecklicher als alle Entbehrungen und Strapazen.« Robert mußte an seine Eltern denken, sie waren wohlhabende Leute und brauchten nicht für den Frieden ihrer alten Tage fürchten. Gottlieb fühlte und handelte überlegter als er, aber ihn leiteten auch zwingendere Gründe. »Ich bleibe bei dir, bis du dich eingelebt hast«, versprach er ihm. »Wenn wir nur erst in San Franzisko wären. Vielleicht wartet dort ein Brief aus Pinneberg auf mich, – ach, ich wäre zu glücklich.« »Wie lange brauchen wir noch bis dahin?« fragte Gottlieb. »Dreißig Tage etwa. Ich wollte, daß sie vorüber wären.« »Bring mir doch etwas Englisch bei, Robert, dann vergeht uns die Zeit schneller.« Der junge Matrose seufzte. »Wenn ich doch mehr Geduld hätte!« antwortete er. – »Aber etwas besser ist es ja schon geworden, also darf man die Hoffnung nicht aufgeben. Sieh, dort tauchen wieder neue Inselgruppen auf.« Gottlieb stieß ihn heimlich mit dem Ellbogen an. »Du, was tut der Steuermann jetzt?« fragte er. Robert sah hin. »Ach, er lotet. Der Kapitän hat also wieder Angst, daß wir auflaufen.« Da Robert gerade Freiwache hatte, näherten sich die beiden dem Obersteuermann, der mit dem damals erst kürzlich erfundenen Patentlot die Meerestiefe maß. Auch der Kapitän war dabei und machte ein ernstes Gesicht. »Steuermann, haben Sie mit etwa 2000 Meter Tiefe gerechnet?« fragte er. »So viel müssen wir hier herum vermuten.« »All right, Sir. Die Leine läuft noch weiter aus.« Das eigenartig geformte Lot wurde jetzt über die Schanzkleidung des Schiffes herabgelassen, und beide hatten auf diese Weise Gelegenheit, es genau kennen zu lernen. Weder auf der ›Antje Marie‹ noch auf dem ›Vogel Greif‹ war jemals gelotet worden, Robert sah deshalb interessiert zu. Das Patentlot hat am äußersten Ende einen kleinen scharfen Spaten, dessen Fläche ein Deckelkästchen bildet. Solange die Leine abläuft, bleibt der Deckel offen, beim Heraufziehen schließt er sich und hält in dem Kästchen etwas Sand oder Schlamm vom Meeresgrund fest, der mit an die Wasseroberfläche befördert wird. Robert erwartete ungeduldig das Ergebnis der Lotung. Endlich stand die Leine, also war der Grund des Meeres erreicht. »Wieviel Meter Leine hatten wir?« fragte schnell der Kapitän. »2500 Meter, Sir.« Mr. Barrow seufzte erleichtert, dann wandte er sich an Robert: »Meßt einmal, Kroll, da Ihr Euch doch für die Sache interessiert.« Robert sprang sofort herbei, und während der Obersteuermann mit Hilfe eines Matrosen das Lot wieder heraufzog, maß er die trocken gebliebene Leine. »Dreihundert Meter, Sir«, meldete er bald danach. »Also eine Tiefe von 2200 Meter.« »Das hatte ich mir gedacht«, nickte der Kapitän. »Jetzt nur noch ein günstiges Ergebnis der Untersuchung des Grundes, und ich bin für heute zufrieden.« Inzwischen war das Kästchen heraufgezogen worden und zeigte an seinem Inhalt, daß der Grund des Meeres an dieser Stelle felsig war, denn auch nicht das kleinste Teilchen Schlamm oder Sand hatte sich festgesetzt, nur einige kleine scharfe und feste Körper waren darin, und der Kapitän nahm seufzend diese spitzen Zäckchen in die Hand. »Da haben wir's«, sagte er. »Es sind Koralleninseln in der Nähe.« »Man sieht sie über dem Wasser, Sir!« erlaubte sich der Steuermann zu bemerken. »Viele haben Baumwuchs und lassen sich aus einiger Entfernung deutlich erkennen.« Der Kapitän nickte. »Das weiß ich wohl, Steuermann«, antwortete er, »aber um zu sehen, braucht man bekanntlich Licht. Wenn unser Schiff in der Nacht auf eine Koralleninsel stößt, ist es verloren.« Der Steuermann antwortete nicht. Er war froh, als sich Mr. Barrow wieder in seine enge Schlafkajüte zurückgezogen hatte, um auf der Karte und in wenigstens zehn Hilfsbüchern zum hundertstenmal die Eigenarten dieser Meeresbreiten genau zu studieren. »Herr Obersteuermann«, fragte Robert, »was ist eigentlich eine Koralleninsel?« »Das werden wir früh genug sehen, mein Junge«, war die Antwort. »Noch vor Abend begegnen uns sicherlich mehrere.« »Gut aufgepaßt!« rief er dann dem Matrosen am Ausguck zu. »Ihr kennt hoffentlich die Bewegung des Wassers, wo Korallenriffe sind?« »Well, Sir!« scholl es zurück. »Noch nichts zu sehen.« Der ganze Tag verging wirklich ohne das geringste Zeichen von Gefahr, gegen Abend erschien an Deck wieder das sorgenvolle Gesicht des Kapitäns. »Hier herum sind drei Koralleninseln«, seufzte er, »ich habe unseren Standort bis auf eine halbe Meile herausgerechnet und bin meiner Sache vollständig sicher.« Der Steuermann nickte. »Ich wußte es aus Erfahrung, Sir«, antwortete er, »aber nur zwei von diesen Riffen liegen auf unserem Weg, das dritte berühren wir nicht.« Der Kapitän fuhr sich mit der Hand durchs Haar und wanderte ruhelos auf und ab. »Korallen in Sicht!« rief in diesem Augenblick vom Ausguck her der Matrose. »Eine langgestreckte Insel an Backbord!« Sofort war der Kapitän bei ihm. Zum Glück lag die gefährliche Stelle hundert Meter aus dem Fahrwasser des Schiffes. Es konnte ruhig daran vorübersegeln, ohne den Kurs ändern zu müssen. »Genau beobachten, ob der Lauf des Riffes etwa nach rechts ausbiegt!« schärfte er dem Matrosen ein. »Oder besser noch, laßt zwei Mann Wache halten. Kroll, Ihr stellt Euch dorthin und paßt auf! – Ich glaube, daß Ihr zuverlässig seid.« Robert errötete vor Freude und nahm den Platz am Ausguck als eine Art Ehrenposten ein. Den Blick auf das Riff gerichtet, sah er über die Schanzkleidung hinab ins Meer. Bei fast völliger Windstille glitt das Schiff langsam durch die leichten Wellen, während die Sonne ihre letzten Strahlen herabsandte und dadurch die klare Durchsichtigkeit des Wassers noch bedeutend erhöhte. Auf See kann man oft bis zu einer Tiefe von etwa fünf Metern sehen, hier aber reichten die Korallenbäume fast bis an die Meeresoberfläche. »Findest du nicht, daß das Riff allmählich nach rechts verläuft?« fragte Robert den Matrosen, der mit ihm Ausguck hielt. »Mir kommt es schon seit einigen Minuten so vor. Mach lieber Meldung, Bob!« Sofort erschien der Kapitän an Deck. »Ich hatte es mir doch gedacht!« winkte er dem Steuermann. »Wir müssen das Schiff backlegen und bis Tagesanbruch vor dem Wind treiben.« Mr. Thompson nickte. »Ist gut, Sir«, antwortete er, »hat aber auch seine Gefahren. Wir können an den Strand geworfen werden.« »Verdammt! Verdammt! – Steuermann, wozu raten Sie?« »Ich würde die Sache wagen, besonders da uns jeder Zeitverlust von größtem Nachteil ist.« »Der Ladung wegen? Wir können froh sein, wenn das Schiff nur noch Ballast genug behält, um überhaupt segelfähig zu bleiben.« Der Steuermann stand immer noch wartend da. Es war jetzt vollständig dunkel geworden und ein bestimmter Entschluß notwendig. »Lassen Sie das Schiff backlegen, Steuermann«, rief endlich halb verzweifelt der Kapitän. »Es gibt eine helle Sternennacht, und ich will lieber diese paar Stunden verlieren, als vielleicht mit voller Fahrt in das Riff hineinlaufen. Um vier Uhr früh ist es Tag.« »All right, Sir.« – Mr. Thompson gab die notwendigen Befehle und der ›Stern von San Franzisko‹ verlor rasch an Fahrt. Nach einer Stunde erschien am Himmel der Mond und beleuchtete mit seinem weißen Licht das Meer. Die Strömung trug das Schiff langsam aber stetig rückwärts. Das Nachtglas des Kapitäns kam keinen Augenblick zur Ruhe. Bald stand Mr. Barrow am Heck und bald hinter der Kombüse, so daß die Leute heimlich lachten. »Wenn ein anderer das Kommando führt, dann ist der Kapitän ein tüchtiger Seemann«, flüsterte einer der Matrosen. »Ich selbst bin mit ihm gefahren, als er noch Steuermann war, und damals merkte man von dieser Unruhe nichts. Seit er selbst ein Schiff befehligt und alle Verantwortung allein trägt, ist er wie umgewandelt.« »Nicht zum Kapitän geboren!« meinte ein anderer. »Der echte Seemann wird immer kaltblütiger, je größer die Gefahr wird.« Der erste zuckte die Achseln. »Das kann sich eben keiner selbst aneignen,« antwortete er. »Es liegt im Blut.« »Mag sein«, beharrte der zweite, »aber dann muß man eben Schneider werden, nur kein Seemann.« Robert fühlte, wie das Blut in seine Wangen trat. Er fühlte sich zum Kapitän geboren, und dennoch, – wie erschwerte ihm alles die eingeschlagene Laufbahn. »Es ist kein Segen dabei!« dachte er unwillkürlich. »Es war nicht der richtige Weg, auf dem ich mein Ziel zu erreichen suchte, und daher treffe ich überall auf Hindernisse. Ach, könnte ich nur für eine Stunde hinüberfliegen nach Pinneberg!« – – Ein Geräusch auf dem Achterdeck störte ihn aus seinen Träumen. Die Frauen in der Kajüte hatten bemerkt, daß irgend etwas Außergewöhnliches vorging, eine hatte durch ihre Vermutungen und Schlußfolgerungen die Einbildungskraft der anderen nur noch immer mehr erhitzt, außerdem sah man den Kapitän ständig an Deck und fühlte, daß das Schiff nur trieb, anstatt unter vollen Segeln zu stehen, – das alles brachte die Auswanderer in Unruhe. Der ganze Strom ergoß sich über das Deck, schreiende Kinder drängten sich den Müttern nach, und aus dem Logis wurden die erstaunten Männer herbeigerufen, um im Notfall ihren schluchzenden Frauen beizustehen. »Steuermann!« rief Mr. Barrow, »ich bitte Sie, was bedeutet das?« Robert verließ seine Koje, um als Dolmetscher zu dienen. Wo es galt, einem Menschen zu helfen, da war er immer der erste. »Was ist denn los«, fragte er, »warum schlaft ihr nicht?« Das Händeringen und Weinen kehrte sich jetzt gegen ihn. Er möge nur die Wahrheit sagen, hieß es, jeden Augenblick könne das Schiff versinken oder kentern, – man sei auf das letzte Stündlein vollkommen gefaßt. Robert mußte laut lachen, und vielleicht gerade dadurch beruhigte er die angstvollen Menschen am meisten. Seine erklärenden Worte brachten die Frauen ohne weiteres wieder zurück in die Kajüte, und zwar so schnell, daß der Kapitän erst nachträglich erfuhr, um was es sich gehandelt hatte. Fortan wurde der Zugang zum Achterdeck nach Einbruch der Dunkelheit abgesperrt. Am frühen Morgen machte der Kapitän seine Berechnung, und es ergab sich, daß das Schiff etwa vier bis fünf Wegstunden weit zurückgetrieben war. Man konnte also jetzt das gestern passierte Korallenriff und auch noch ein zweites, kleineres bei hellem Tageslicht umsegeln und sich auf allen Karten überzeugen, daß nun der Weg frei sei. Dennoch aber wachte der Kapitän noch die ganze folgende Nacht, obgleich mehrere Matrosen sahen, daß er manchmal beim ruhelosen Auf- und Abgehen mit geschlossenen Augen gegen die Pardunen stieß. Erst als das offene Meer wieder erreicht war, ging auf dem »Stern von San Franzisko« alles den gewohnten Gang, und nachdem man an einer kleinen, anscheinend unbewohnten Insel nochmals ohne weitere Zwischenfälle Wasser eingenommen hatte, erreichte das Schiff nach drei Wochen wohlbehalten den Hafen der kalifornischen Hauptstadt. Mr. Barrow fand zu seiner großen Erleichterung in den Reedern verständnisvolle Menschen, die vollkommen guthießen, was er getan hatte. Sie veröffentlichten sogar in den Zeitungen einen Artikel, in dem sie die Tat ihres Kapitäns würdigten und die allgemeine Aufmerksamkeit der vielen in San Franzisko ansässigen Deutschen auf die unglücklichen Auswanderer lenkten, so daß von allen Seiten Spenden eintrafen und sicherlich mancher von den Schiffbrüchigen doppelt soviel geschenkt bekam, als ihm bei Kap Horn verloren gegangen war. Auch das Abenteuer mit den Wilden ging von Mund zu Mund; die Matrosen des »Stern von San Franzisko« wurden die Helden des Tages, man kam an Bord, um sich die Einzelheiten dieses Falles erzählen zu lassen, und die Zeitungen brachten den Kampf mit den Patagoniern in solchen Übertreibungen, daß Robert darin fast keinen wahren Zug mehr wiederfand. Sein erster Weg an Land führte zur Post. Vielleicht hatte sich ja doch der Vater bewegen lassen, ihm zu verzeihen, ihm wenigstens einige gute, wohlgemeinte Worte zu schreiben, – wie sehr wünschte er es! Sein Herz klopfte zum Zerspringen, als er den Postbeamten murmeln hörte: »Kroll! – Kroll! – Es muß etwas da sein, das diesen Namen trägt!« »Aha«, fügte er dann hinzu, »hier ist es schon.« Und Robert hielt in seiner Hand einen kleinen, plump zusammengefalteten Brief aus grobem Schreibpapier, ohne Umschlag, mehrere Male gesiegelt und mit einer Adresse von unbekannten Schriftzügen. »An den Herrn Leichtmatrosen Robert Kroll aus Pinneberg, auf dem Schiff ›Stern von San Franzisko‹ in Franzisko, wenn das Schiff glücklich ankommt, sonst soll der Brief verbrannt werden.« Halb lächelte er, als er das seltsame Schriftstück in den Händen hielt, und halb packte ihn eine unbestimmte Furcht. Das hatte die Mutter von irgendeiner guten Freundin schreiben lassen, er wußte es vorher, – aber warum? – – Wenn nun der Vater gestorben war? Ohne sich umzusehen verließ er das Postgebäude und ging in ein nahegelegenes Wirtshaus, um den Brief zu lesen. Er brauchte mehr Mut, diese ungeschickten Siegel zu brechen, als in der nordischen Eiswüste vor dem zum Sprung ansetzenden Wolf. Erst nach mehreren Minuten vergeblicher Anstrengung gelang es ihm, die unförmigen Buchstaben zu folgendem Inhalt zusammenzustellen. Mein geliebter Sohn Robert! Liese Schmidt, die Tochter unserer alten Brotfrau, deine Schulkameradin, schreibt mir diesen Brief, worin ich dir zunächst unsere herzlichen Grüße sage, das heißt, der Liese und meinen, denn der Vater ist so bös, daß man in seiner Gegenwart nicht einmal deinen Namen aussprechen darf. Den letzten Brief, den du von Bergen hierhergeschickt hast, wollte er gar nicht annehmen, und fast wäre derselbe wieder zurückgesandt worden in die weite Welt hinein, wenn ich nicht den Herrn Postmeister mit vielen Tränen gebeten hätte, mir doch die Botschaft von meinem einzigen Kinde nicht zu entziehen. Erst schwankte er lange, und ich bot ihm schon in großer Herzensangst einen ganzen Taler über das geforderte Porto, aber dann ließ er sich doch erweichen, obgleich er das Geld nicht nahm. ›Ich will's tun, liebe Frau‹, sagte er, ›weil ich die unglückliche Geschichte mit Ihrem nichtsnutzigen Jungen‹ – du darfst es nicht übel aufnehmen, lieber Robert, aber er sagte wirklich so! –›von früher her kenne und weil ich Sie herzlich bedaure. Man ist ja auch Mensch, nicht bloß Beamter.‹ Siehst du, auf diese Weise erlangte ich deinen Brief, den mir Liese Schmidt vorlas und bei dem ich Gott vielmals inbrünstig gedankt habe, daß Er Seine treue Hand über dich gehalten in der Stunde der Gefahr. Ich bin auch am nächstfolgenden Tage zur Kirche gegangen und habe ein Achtschillingstück in den Klingelbeutel gesteckt aus großer Herzensfreude. Dein Vater weiß, daß ich den Brief heimlich an mich gebracht habe und ebenso alles, was darin stand. Ich erzähle's ihm immer nebenbei, so als hätte ich's in der verwichenen Nacht geträumt, und dann merke ich wohl, wie genau der alte, eigensinnige Mann zuhört, aber weiter darf ich nicht gehen, sonst schneidet er mir das Wort vor dem Munde ab. ›Träume, was du willst, Mutter‹, sagt er, ›und erzähle mir auch alles das, nur sprich nicht von dem Entlaufenen. Ich habe keinen Sohn, das weißt du.‹ So steht es bei uns, mein geliebter Junge, und Vater ist krank dazu. Er grämt sich sehr um dich, und wenn du wiederkommen und deine Lehrzeit nochmals anfangen wolltest, so würde das mir eine große Freude sein. Du könntest ja wahrlich jetzt genug haben von dem wilden Leben, wo es dir doch aller christlichen Zucht und Ehrbarkeit mangelt, als da sind: Sonntags zur Kirche gehen und ein reines Hemd sowie ein ordentliches Essen auf dem Tisch. Wenn ich gar bedenke, daß du einen schwarzen Mohrenmenschen deinen Freund nennst, so bitte ich unsern Herrn und Heiland, dir diese Greuel nicht anzurechnen. Ferner benachrichtige ich dich, daß Pikas, unser Hund, noch lebt, und daß wir von dem Seiler, der dich damals zum Bösen verlockt und hernach verlassen, niemals wieder ein Wort gehört haben. Sonst wüßte ich nichts Neues und schließe meinen Brief mit der Bitte, doch die nächste Post an mich und nicht an den Vater zu adressieren. Er nimmt von dir nichts an. Viel tausendmal lieber aber wäre mir's, du kämest selbst und söhntest dich aus mit dem Alten. Das Schneiderhandwerk nährt seinen Mann und ist auch gefahrlos und christlich dabei. Liese Schmidt meint dasselbe wie ich, womit wir beide dich herzlich grüßen und dich dem lieben und getreuen Gott vielmals empfehlen. Deine zärtliche Mutter, Anna Kroll. Nachschrift. Die Liese Schmidt will so gern auch einmal einen Brief von dir haben, damit sie den Leuten ein bißchen erzählen kann, hauptsächlich schreib uns bald, ob in San Franzisko die Menschen alle schwarz sind und ob sie zu Schimpf und Schande ohne Kleider herumlaufen. D.O. Lange starrte Robert auf die Schrift und eine ganze Welt verschiedener Empfindungen stand in ihm auf. Wie es die Mutter in ihrer rührenden Herzenseinfalt hier ausgedrückt hatte, so dachte und fühlte auch der starrsinnige Vater. Was ihnen vor einem halben Jahrhundert von ihren Eltern eingeprägt worden war, daran hielten sie beharrlich fest, was außerhalb ihres Gesichtskreises lag, das verstanden sie nicht mehr. Konnte man ihn zwingen, in dies Gefängnis freiwillig zurückzugehen und sich selbst zu verleugnen? Nein, niemals. Er fühlte sein Gewissen, nachdem er diesen Brief gelesen hatte, sogar bedeutend leichter. Trotz gegen Trotz! Wollte der Vater von dem einzigen Sohn keinen Brief annehmen, nun, so sollte er auch nicht wieder damit belästigt werden. Waren die alten Leute um den guten Lebenswandel ihres Sohnes so sehr besorgt und hielten sie den treuen Mongo für ihn als Gefährten zu schlecht, dann sollten sie bald genug ihren Irrtum erkennen. Robert biß die Zähne zusammen. Er brauchte nur ein wenig Glück in den Minen, nur zwei- oder dreihundert Taler Überschuß, und alles war gut. Der »nichtsnutzige« Junge, der verleugnete, beklagte Sohn konnte nach Hause zurückkehren und den Kleinstädtern zeigen, daß ihre bösen Vorahnungen ohne allen Grund gewesen waren. Aber hingehen und mit leeren Händen um Verzeihung bitten – das würde er niemals tun. Er hatte es lange genug geglaubt, eine Versöhnung, eine Rückkehr für möglich gehalten und sich eingebildet, daß der Vater mit offenen Armen den Sohn willkommen heißen werde, – jetzt war er enttäuscht worden. Finster vor sich auf das unberührte Bierglas starrend saß er da und grübelte, fast ohne zu wissen, was er dachte, ohne zu merken, daß sich mehrere Leute in seine Nähe setzten und ihn dauernd beobachteten. Erst als ihm jemand die Hand auf die Schulter legte, sah er auf. »Nun, Mr. Kroll, erst einen Tag an Land und schon Grillen fangen? Kommen Sie mit mir, ich will Ihnen ein Lokal zeigen, wo getanzt wird, das ist besser.« Robert erkannte einen Angestellten des Handelshauses, für das Kapitän Barrow fuhr, er erwiderte sehr höflich die Worte des jungen Mannes, dankte ihm auch für seine Freundlichkeit, aber er lehnte doch entschieden den Vorschlag ab. Sobald der »Stern von San Franzisko« den Rest der Fracht gelöscht und das ganze Schiff von oben bis unten gereinigt worden war, gab es Löhnung, und dann ging's hinauf in die Goldminen. Robert erinnerte sich nur zu gut daran, was ihm der Steuermann gesagt hatte, daß nämlich meistens in den Wirtshäusern sofort wieder ausgegeben werde, was mit Mühe und Anstrengung verdient worden sei, – außerdem war er auch durchaus nicht in der Stimmung zu tanzen, sondern hätte am liebsten gleich den andern Gästen den Rücken gekehrt und wäre hinausgegangen. Doch das war unmöglich. Seit dem gestrigen Tag hatte sich das Gerücht von dem Kampf mit den Wilden schon soweit verbreitet, daß man überall in der Stadt davon sprach, und als man jetzt einen unmittelbar daran Beteiligten erkannte, wurde er ohne eine ausführliche Schilderung des Abenteuers nicht wieder fortgelassen. Als er endlich an Bord kam, war Kapitän Barrow in bester Laune. Es hatte sich alles nach Wunsch abgewickelt, eine zweite Reise sollte sofort nach Räumung des Schiffes angetreten werden, und die Mannschaft konnte an Bord bleiben, ohne erst abzumustern. Der »Stern von San Franzisko« ging nach Hamburg, von wo er eine Ladung feiner Rheinweine abholen sollte. An Bord entfaltete sich eine rege Tätigkeit. Nach Hamburg! – Robert fühlte in der Tasche den Brief seiner Mutter wie Feuer brennen. Wenn er ihn nicht erhalten hätte, wäre er vielleicht schon in wenigen Wochen auf dem Wege nach Hause gewesen, vielleicht hätte er sogar sein Versprechen Gottlieb gegenüber rückgängig gemacht, hätte ihm nur das nötige Reisegeld geschenkt und selbst alles aufgegeben, um sich mit dem Vater zu versöhnen und seinen Segen zu erbitten. Aber jetzt! – – Sein Entschluß stand unwiderruflich fest. Er schlug es aus, für die neue Reise zu heuern, und ging gar nicht wieder an Land, um kein Geld unnötig auszugeben. Wie die übrigen schiffbrüchigen Auswanderer erhielt auch Gottlieb soviel geschenkt, daß die beiden nach Auszahlung der Heuer ihre Fahrt ins Goldland sofort antreten konnten. Sämtliche Ausrüstungsgegenstände wollten sie, um den teuren Transport zu sparen, an Ort und Stelle kaufen, nur den Anzug der Goldgräber, die ungeheuren Kanonenstiefel und den breiten Ledergurt schafften sie sich gleich an. Das bare Geld wurde sorgfältig versteckt, und dann nahm Robert von seinen bisherigen Kameraden einen herzlichen Abschied. Nur den Neger sah er nicht. Auf seine Frage hieß es, daß auch Mongo am Tage vorher abgemustert habe. Roberts Erstaunen stieg immer mehr. Sollte sich der Alte, nachdem er mit ihm so schwere Stunden geteilt hatte, jetzt ohne ein Wort des Abschieds von ihm trennen wollen? Unbegreiflich! Aber die Zeit drängte, und daher konnte Robert keine weiteren Nachforschungen halten. Seufzend kletterte er das Fallreep hinab. »Leb wohl, du blaues, geliebtes Meer, jetzt soll ich dich monatelang nicht einmal mehr sehen, soll Hunderte von Meilen landeinwärts fahren und mit Spaten und Axt die Erde durchwühlen.« »Leb wohl!« Er sah nicht zurück, sondern bezwang die aufsteigende Bitterkeit, um Gottlieb nicht zu verletzen. Es mußte sein, und Roberts fester Wille unterdrückte erfolgreich jede Mißstimmung. Er sprach dem schüchternen Freund Mut zu und führte ihn zum Bahnhof, wo für die ganze Reise nach den Minenstädten die Karten gelöst wurden. Wenn ihn erst einmal die fremde Welt, die er jetzt betreten sollte, umgab, wenn er eine neue, geregelte Tätigkeit besaß, so mußte auch seine frühere Zuversicht zurückkehren. Und ging es wirklich nicht, konnte er das Leben in den Minen unmöglich ertragen, nun, so stand ihm ja der Weg zur nächsten Hafenstadt immer offen. Für den Augenblick mußte er jedoch den Kopf oben behalten. Nur daß er Mongo nicht mehr gesehen hatte, tat ihm leid. Der Alte mußte irgendeinen ganz besonderen Grund haben, da er ja nicht einmal ein Abschiedswort gefunden hatte. Das Glockenzeichen ertönte, die Türen wurden geöffnet, und die beiden stiegen in den Wagen – da sahen sie draußen ein schwarzes, lächelndes Gesicht, da stand Mongo im ledernen »Digger«-Anzug und saß im nächsten Augenblick drinnen neben den beiden überraschten Freunden. »Du junger Spitzbube, wer soll dich aus der Patsche ziehen, wenn ich es nicht tue? Bist ja ein viel zu großer Sausewind und Wagehals, als daß man dich allein reisen lassen könnte.« »Aber Scherz beiseite«, fügte er hinzu, »wollt ihr mich überhaupt mitnehmen? Schaden kann's euch nicht, in den Minenstädten jemanden zu haben, der sich auskennt.« Robert war glücklich über die Nähe des Freundes. Er und auch Gottlieb schlugen bereitwillig ein, als ihnen Mongo die Hand entgegenstreckte. »Aber warum hast du uns nicht schon viel früher etwas davon gesagt, alter Geheimniskrämer?« fragte Robert. Der Neger wiegte den Kopf. »Ich wußte es ja vorher selbst nicht, du Schlingel!« antwortete er. »Die Minen sind es auch keineswegs, die mich locken, sondern nur deine Nähe. Es ist für einen alten Menschen wie mich doppelt schwer, so ganz allein dazustehen.« Robert drückte ihm seufzend die Hand. »Auch für einen jungen, Mongo«, erwiderte er. »Hast doch deiner Mutter geantwortet, Junge?« fragte der Neger. »Natürlich. Sie nimmt ja meine Briefe an.« »Nun, nun, du mußt das nicht mit so großer Bitterkeit betonen. Dein Vater hat wie die Schnecke in ihrem Gehäuse sein Leben lang auf demselben Tisch gesessen, den schon zwei Generationen der Krolls als häuslichen Thron behaupteten, – er kann sich eine andere Möglichkeit einfach nicht denken, daher ist er widerborstig wie ein Igel und quält sich und andere. Oder glaubst du etwa, daß er sich nicht im stillen bittere Sorgen um dich macht.« »Das glaube ich kaum, Mongo.« »Ach, was weißt du davon? Ein Vater kann nie aufhören, sein Kind zu lieben, aber er kann es auf verkehrte Weise zeigen, das ist wahr.« »Laß uns über die traurige Angelegenheit nicht wieder reden Mongo«, bat Robert. »Ich kann vor ihm nicht nachgeben, wie zur Zeit meiner Schuljahre oder auch später noch, als er mein halbfertiges Schiff mit dem Küchenbeil zerschlug und mich regelrecht durchprügelte.« Mongo antwortete nicht. Wozu gleich den Anfang der Fahrt mit trüben Erinnerungen oder noch trüberen Zukunftsaussichten vergällen? – Robert war aus der jungenhaften Sehnsucht nach Abenteuern längst aufgerüttelt, er fühlte den Zwiespalt mit dem eigenen Gewissen sehr deutlich, und das war für den Augenblick vollständig genug. »Mongo«, fragte Robert nach einer Pause, »bist du schon früher einmal in den Goldminen gewesen? Es schien mir vorhin so.« Der Schwarze nickte. »Wo wäre ich nicht gewesen, Bob?« fragte er wehmütig. »Überall ohne Heimat, ohne Familie, ohne Glück, da greift man bald nach rechts, bald nach links, und sucht nach einem Platz, wo man für immer bleiben möchte.« Robert blies den Rauch seiner Zigarre in die heitere Morgenluft hinaus. Er fühlte sich von der erfrischenden Fahrt durch die Herbstlandschaft, von dem hellen Sonnenschein und der schönen Umgebung mehr und mehr angeregt. Vielleicht ging es ja jetzt dem Glück entgegen, jedenfalls wollte er sich nicht länger quälen, es half ja doch nichts. »Mongo«, sagte er, »du kennst also das Leben in den Minen aus Erfahrung und kannst uns dort helfen?« »Natürlich, Bob. Eben deshalb begleite ich euch ja.« Robert übersetzte die Worte des Negers, und auch Gottlieb freute sich, in Mongo einen erfahrenen Menschen zur Seite zu haben. »Du gehst ja doch schon bald wieder zurück, Robert«, sagte er. Der errötete. »Weshalb, du? Ich will mit dir in den Minen das Glück suchen«, antwortete er. »Möchtest du es finden, Robert!« sagte Gottlieb einfach in seiner bescheidenen Art. »Möchten wir alle Glück haben!« Mongo zog aus der Tasche ein großes Paket Fleisch und Brot sowie eine Korbflasche, die er den beiden jungen Gefährten hinreichte. »Auf die Verwirklichung unserer Hoffnungen!« sagte er. Und alle drei tranken reihum. Der Eisenbahnzug hatte die Station Bandigo verlassen, und die Landschaft wurde immer schöner. Wälder von Eichen und Buchen, manchmal auch von Tannen, säumten die Strecke. Dann wieder ging es am Ufer eines blauen Sees entlang oder durch eine weite Ebene. Roberts für alles Schöne so empfängliche Herz gab sich den unbekannten Freuden der Fahrt vollständig hin. Während seine beiden Reisegefährten Mittagsruhe hielten, beobachtete er die Landschaft ringsumher und ließ sich nicht die kleinsten Einzelheiten entgehen. Es war alles anders als zu Hause in Deutschland, wo er zwar nur von Pinneberg nach Altona, also gerade zwanzig Minuten gefahren war, wo er aber doch die Bahnanlagen häufig gesehen hatte. Streckenwärterhäuschen gab es nicht, die Stationen waren manchmal nur hölzerne Schuppen mit hochklingenden Namen, aber höchst ärmlicher Einrichtung. »Waterloo-Hotel« oder »Vereinigte-Staaten-Hotel« las er mehr als einmal, beim Aussteigen jedoch sah Robert nur einige Farbige, ein paar spuckende, Tabak kauende und trinkende Yankees, und zu essen konnte man nur ein paar dürre Butterbrote haben, hier Sandwiches genannt, dafür aber überall Branntwein, den er nur ungern trank. Meistens bezahlte er das scharfe Getränk, um dann am Brunnen seine Reiseflasche mit frischem Wasser zu füllen und den Fusel stehen zu lassen. An einer kleinen, ganz am Ausgang eines Waldes liegenden Station sahen die drei eine Menge Menschen stehen. Man sprach und gestikulierte lebhaft, eine Gruppe von Frauen schien in großer Unruhe, und verschiedene Männer fluchten in allen möglichen Ausdrücken. Es mußte irgendein außergewöhnliches Ereignis vorgefallen sein. Robert lief voran, ehe ihm noch Mongo und Gottlieb folgen konnten. Im Augenblick interessierte ihn nur das, was dort passiert war. Aber seine Neugierde sollte wenig Befriedigung finden. Ein paar Kilometer weit oberhalb der Station war ein Zug entgleist, die Schienen aufgewühlt und zum Teil mit Trümmern bedeckt und der Verkehr für die nächsten Stunden unterbrochen. Es blieb jetzt den Reisenden nur die Wahl, entweder bis zum folgenden Morgen in einigen Holzschuppen und leeren Wagen ein Unterkommen zu suchen, oder aber mit der Postkutsche die Fahrt fortzusetzen. Die drei sahen sich an, und Mongo erkannte sofort, worauf Robert hinauswollte. »Hierbleiben!« neckte er, »hierbleiben, Bob. Nicht wahr, du hast jetzt keine Lust, mit zwanzig anderen Passagieren bei Nacht und Nebel in der engen Kutsche weiterzufahren? Brr, eine kalte Partie müßte das sein!« »Und gefährlich!« warf Gottlieb ein. »Es sollen hier sogar noch Büffelherden vorkommen.« »Und wilde Raubtiere«, fügte der Neger mit besorgtem Gesicht hinzu, »und blutdürstige Indianer!« Jetzt verstand Robert, was Mongo wollte, und die beiden lachten lustig. »Komm nur ruhig mit«, versicherte der Schwarze dem erstaunten Gottlieb, »es wird uns schon nichts kosten, höchstens etwas Zähneklappern. Aber in diesen luftigen Holzställen wird es kaum angenehmer sein als dort«, fügte er hinzu. »Und außerdem hätten wir eine ganze Nacht unnütz verloren«, warf Robert ein. Das half, den schüchternen jungen Menschen umzustimmen. Alle drei nahmen im Postwagen Platz – Robert auf dem Bock beim Kutscher – und fort ging es mit einem Gespann von sechs kräftigen Pferden in die mondhelle Nacht hinein. Am Wegesrand zeigten sich bald tief ausgetretene Spuren, die alle in einer Richtung dahinliefen und die der Kutscher dem fragenden Robert als Büffelspuren bezeichnete. »Wir werden sehr bald die Herden selbst sehen«, fügte er hinzu. »Ist es das erstemal, daß Ihr die Steppe passiert, Sir?« Robert bejahte, und nun erzählte ihm der Kutscher, dem offenbar diese Unterhaltung auf seinem einsamen Sitz sehr willkommen war, von den Tieren, die in dieser Gegend vorkommen. »Die Büffel erkennt Ihr von selbst, Sir«, lächelte er, »aber seht Euch auch einmal diese kleinen vierbeinigen Burschen an. Das sind Präriehunde.« Robert beugte sich vom Sitz herab und bemerkte mehrere kleine Tiere von dunkelbrauner Farbe mit weißem Bauchfell. Sie gehören zum Geschlecht der Hamster, wohnen in Erdlöchern und zeigen den Menschen gegenüber nicht die geringste Scheu. Robert wandte sich voll Erstaunen zu dem gesprächigen Kutscher. »Hunde nennt Ihr diese Tiere?« fragte er. Der Kutscher zuckte die Achseln. »›Wish-Ton-Wish‹, sagen die Indianer, Sir. Ich weiß nicht, wie der Vergleich mit Hunden entstanden ist.« Aber Robert hatte schon wieder eine neue Entdeckung gemacht. »Seht doch,« rief er, »vor jedem dieser Erdlöcher sitzt eine kleine Eule!« »Well, Sir, die Tiere wohnen beieinander, und außerdem auch noch Klapperschlangen, gehörnte Eidechsen und Landschildkröten. Der Wish-Ton-Wish baut die Höhle, und das andere Völkchen nimmt ungebeten Besitz davon; der Wish-Ton-Wish schleppt die Wintervorräte zusammen, und die übrigen teilen sich den Raub, – so geht es oftmals im Leben, Sir.« Robert seufzte heimlich. Aber hier war keine Gelegenheit, sich in Grübeleien zu versenken. Auf jedem Schritt, bei jeder Drehung der Räder begegneten ihm neue Wunder. Ein Tier mit schmutziggelbem, grauschillerndem und langhaarigem Fell, etwas kleiner als ein gewöhnlicher Wolf, mager und mit falschen, feigen Augen, umschlich die nächsten Büsche. Es blieb in scheuer Entfernung, obgleich es das vorüberrasselnde Gefährt ständig beobachtete. »Wie heißt dieser widerwärtige Bursche?« fragte Robert. Der Kutscher schlug in der Richtung des wolfsartigen Tieres kräftig mit der Peitsche durch die Luft, worauf der graue Schatten wie in den Boden hinein verschwand. »Nicht wahr«, rief er grimmig, »das ist ein widerwärtiger Hungerleider, ein falscher Patron! Sage Euch, Sir, es gibt mir immer einen Stich durchs Herz, wenn ich solchen Burschen sehe. Vor einiger Zeit stürzte mir mitten auf dem Wege das Handpferd und blieb mit gebrochenem Bein im Sande liegen. Na, da mußte ich es töten, Sir, um es zu erlösen, aber das Herz tat mir weh dabei, kann ich Euch sagen. Hatte mit dem braven Bill schon seit dem Jahre 1865 diesen Weg befahren, als noch der Indianerhäuptling Cut-Nose, die Schlitznase, mit seiner braunen Horde die Gegend unsicher machte und alle Passagiere den geladenen Revolver ständig in der Faust hielten. Aber gegen den Tod ist kein Kraut gewachsen, Sir, – mußte den alten Bill liegen lassen, hatte ja keine Zeit, ihn zu begraben, und – sah nun alle Tage, wenn mich mein Weg vorüberführte, auf seinem armen Körper die Coyotes sitzen und gierig das Fleisch von den Rippen zerren, seitdem hasse ich die Bestien. Ein lebendiges Tier greifen sie nicht an, aber Leichen sind selbst unter der Erde vor ihren Krallen nicht sicher. Sie gleichen an Raubgier und Feigheit ganz den Hyänen.« Die Postkutsche hatte während dieser langen Erzählung ihren Weg weiter verfolgt, der Coyote kam nicht wieder zum Vorschein, aber noch eine Menge anderer Tiere bevölkerte die Nacht. Beutelratten trippelten durch das Gras, Schwärme von Kibitzen und Raben segelten durch die Luft, hier und da zeigten sich wunderschöne braune Antilopen, schlanke, rehäugige Geschöpfe, die jedoch beim Herannahen der Kutsche sofort die Flucht ergriffen. Dazwischen lagen überall am Wege bleichende Tiergerippe, besonders von Büffeln, deren Spuren jetzt auch immer deutlicher aus dem weichen Boden hervortraten, bis zuletzt die riesigen schwarzbraunen Tiere erst vereinzelt und dann immer zahlreicher auftauchten. Roberts Herz schlug schneller. Wieviel Merkwürdiges, wieviel Schönes sah er in dieser Nacht! – »Wißt Ihr, Sir«, begann nach einer Pause der Amerikaner, »ich fahre nun seit sechs Jahren und länger täglich durch diese Gegend, aber jedesmal erscheint sie mir neu. Das macht das Großartige, glaube ich, das Wilde, Ursprüngliche. Wenn Meilensteine am Wege ständen und Straßengräben und Wirtshäuser da wären, dann käme auch gewiß bald die Langeweile, so aber ist alles das in jeder Stunde neu und doch wie ein lieber alter Bekannter, den man freudig begrüßt, wenn er zur Tür hereintritt. Und glaubt Ihr wohl, Sir, daß diese Gegend ihren Dichter hatte? – Ich habe ihn selbst gekannt, damals zu Schlitznases Zeiten. Er hat die Fahrt mit mir und dem alten Bill, den die Coyotes fraßen, oft gemacht; – wollt Ihr einmal hören, was er schrieb, da auf Euren Sitz und auf den Einband eines Buches, das er bei sich trug? Mir hat er's zuerst vorgelesen, nachher aber ist es gedruckt worden.« Und der Amerikaner, ganz erfüllt von seiner Sache, begann in wenig künstlerischer, aber begeisterter Weise ein einfaches Lied zu singen, das in treffenden Bildern das Leben in den Wäldern und Prärien des Landes schilderte. Mit einem lustigen Peitschenknall, der das Sechsgespann zu erhöhter Eile antrieb, schloß der brave Postillion die letzte Strophe des Gedichtes, das auf seinem Kutschbock geschrieben worden war und das er sicherlich schon vielen Reisenden vorgetragen hatte. »Seht nur,« rief er, »da sind auch die Büffelherden.« Und wirklich war die Postkutsche jetzt mitten auf dem Weideplatz. Von allen Seiten stürmten in brausendem Galopp die Tiere heran, ihre Hufe dröhnten auf dem Grasboden, ihre Nüstern stießen schnaubend den Atem aus, ihre kurzen Hörner wühlten die Erde auf. Dicht hinter dem plumpen, unförmigen Hals erhob sich ein buschiger Höcker, während der Vorderkörper mit der gewaltigen Brust und dem dicken Kopf zum Hinterteil in keinem richtigen Verhältnis zu stehen schien. Der gewaltige Rumpf und die schlanken, fast zierlichen Beine, die feurigen Augen und der große, häßliche Kopf paßten durchaus nicht zueinander. Robert bemerkte jedoch, daß die schwerfälligen Tiere schneller als ein Pferd laufen konnten, besonders aber, daß sie eine wahrhaft riesige Körperkraft besaßen. Der Kutscher sagte auch, daß die Büffel zur Landwirtschaft nicht verwendet werden könnten, weil ihre Wildheit und völlig unberechenbare Kraft nicht zu zügeln sei. Ihnen ist kein Zaun zu stark, kein Graben zu breit und kein Fuhrwerk zu schwer, sie überrennen alles. Jetzt befand sich die Kutsche mitten in der unübersehbaren Masse der auf ihrer großen Herbstwanderung begriffenen Tiere. Manchmal mußte im Schritt gefahren, manchmal gehalten werden, so dicht umdrängten die Büffel das Gespann und die Kutsche. Mit lang heraushängender Zunge, vorgestrecktem Hals und krummem Buckel rannten die braunen Riesen scheu an dem Postwagen vorüber, während die jüngeren Kälber neugierig herankamen, jedoch von ihren Müttern sofort wieder zur Herde zurückgedrängt wurden. Etwa zwei Stunden lang fuhr der Wagen durch die endlosen Massen der Tiere, dann erst war die Ebene wieder frei. Robert atmete auf, als die Kutsche wieder schneller vorwärtskam. So wenig er sich gefürchtet hatte, die Nähe der riesigen Büffelherde war doch fast erdrückend gewesen. Dann aber fiel es ihm ein, sich nach seinen Gefährten umzusehen. Das Innere des Wagens war von einer Hängelampe trübselig erleuchtet, so daß er in den Reihen der Sitzenden auch Mongo und Gottlieb leicht erkennen konnte. Der Neger schlief den Schlaf des Gerechten, wobei sich sein Kopf vertraulich gegen Gottliebs Schulter gelehnt hatte. Der dagegen wachte! Seine blauen, gutmütigen Augen sahen angstvoll aus dem gegenüberliegenden Fenster, während die rechte Hand den geladenen Revolver schußfertig hielt. Der schüchterne junge Mann wagte es offenbar nicht, sich auf seinem Platz zu bewegen, sondern saß steif wie eine hölzerne Puppe, während er ab und zu, wenn der Wagen besonders hart aufstieß, die Rechte mit dem Revolver vorsichtig hob, um Mongos herabgleitenden Kopf ein wenig wieder aufzurichten. Robert lachte in sich hinein. Das Bild war urkomisch, obwohl es etwas rührend wirkte. Gottlieb dachte ja nie an sich, sondern immer nur an andere, er ertrug das Unvermeidliche mit Haltung und war frei von aller Selbstsucht, das machte ihn so liebenswert. Robert wandte sich ab, als habe er sich auf etwas Unrechtem ertappt. Ob er jemals so gut, so anspruchslos werden würde wie Gottlieb? – Er knüpfte das Gespräch mit dem Kutscher wieder an, und beide unterhielten sich, bis es gegen Morgen etwas kälter wurde und an den Wolkenrändern die ersten lichten Streifen erschienen. Der Postillion reichte seinem jungen Begleiter eine Büffeldecke, in die er sich vollständig einhüllte. »Es gibt heute noch Regen«, sagte er. »Ihr hättet Euch besser mit Decken versorgen sollen, Sir.« Robert lächelte. »Ein Seemann fürchtet die Nässe nicht«, antwortete er. »Aber weshalb meint Ihr, daß wir bei diesem herrlichen Wetter Regen zu befürchten hätten?« Der Kutscher deutete mit dem Peitschenstiel auf einen rötlichen Schimmer am östlichen Horizont. »Wißt Ihr nicht, daß diese dunkle Färbung einen nassen Tag ankündigt?« fragte er. »Hat Euch Eure Mutter nie gesagt, daß das Morgenrot Wasser in den Brunnen trägt?« Robert nickte. »Doch«, antwortete er, »ich kenne das Sprichwort, aber ich habe nie so recht daran geglaubt.« »Seid Ihr aber ein Starrkopf!« lachte der Kutscher. – »Aber da hinten liegt auch schon die Station«, fügte er hinzu, »und wenn mich nicht alles trügt, so wird in einer kleinen halben Stunde der Zug von dort abgehen.« Er bog über eine Lichtung und lenkte in eine holprige Straße ein, an deren Seiten einige hölzerne Häuser die »Stadt« andeuteten. Vor dem Bahnhofsgebäude hielt er endlich. Die Fahrt hatte vierzehn Stunden gedauert. Robert kletterte vom Bock und öffnete die Tür des Wagens. »Hallo«, rief er, »habt ihr endlich ausgeschlafen, ihr beiden?« Gottlieb sah ihn an wie einen, der aus unmittelbarer Todesgefahr noch glücklich gerettet wurde. »Ich habe mich um dich so sehr geängstigt«, sagte er. »Wenn nun die entsetzlichen Tiere den Wagen angegriffen hätten?« Robert lachte. »Dann wärest du ja nicht besser geschützt gewesen als ich«, antwortete er. Gottlieb errötete. »Wenn auch, aber – ach, es ist doch schrecklich, dieses Leben in ständiger Gefahr.« Und seufzend kletterte er aus der Tür. »Laßt uns ins Haus gehen«, bat er, »Mongo erwacht schon.« Der Neger hatte die ganze Zeit geschlafen, hatte nichts gesehen und gehört, sondern von Afrika geträumt, und daß er den Königsthron von Dahomey wieder besteigen sollte. »Du«, sagte er, »Bob, ich könnte es doch nicht mehr!« »Was denn, Alter?« »Ach so, du hast es nicht miterlebt, obgleich ich dich immer an meiner Seite sah, das vergaß ich. Aber komm nur herein, mein Junge, damit wir einen tüchtigen Schluck Whisky bekommen. Mir träumte, ich sei im Königspalast von Dahomey, und man reichte mir Blut aus einem Menschenschädel, – brr! – das war gräßlich.« Alle drei verließen die offene Straße und betraten das Brettergebäude, wo wieder gegen teure Preise nur Branntwein und einige magere Sandwiches zu haben waren. Aber wer Hunger hat, nimmt mit allem vorlieb; der Wirt konnte kaum soviel herbeischaffen, wie von der durchfrorenen, zusammengerüttelten Reisegesellschaft verlangt wurde, und lange nicht alle Passagiere waren satt, als der schrille Pfiff der Lokomotive zum Einsteigen mahnte. »Vorwärts!« rief Robert, »noch zwei Tage und eine Nacht, dann ist unser Ziel erreicht.« »Dann suchen wir Gold!« fügte Gottlieb mit glänzenden Augen hinzu. »Robert, was würdest du tun, wenn dir ein tüchtiger Gewinn in den Schoß fiele?« »Dann baue ich dir in Pinneberg das abgebrannte Haus deiner Eltern wieder auf,« rief der junge Matrose. »Alles soll so schön werden wie früher, und du müßtest glauben, daß die ganze Zwischenzeit ein böser Traum gewesen sei.« Gottlieb drückte stumm die Hand seines Freundes. »Und du, Mongo?« fragte er nach einer längeren Pause, »was tätest du?« Der Neger schüttelte den Kopf. »Ich habe einen Sohn«, sagte er, »und wenn die Summe nur klein wäre, so müßte sie für ihn sein, – fände ich jedoch Schätze, dann sollten sie meinen armen Unglücksbrüdern zugute kommen, dann würde ich in Afrika Schulen errichten und das Volk frei machen. Dahomey müßte ein zweites Liberia werden.« Gottlieb legte die Hand über die Augen und blieb lange stumm. »Laßt's gut sein«, brachte er endlich hervor. »Wenn uns Gott nur so viel schenkt, daß wir unser täglich Brot haben und ein paar Taler zurücklegen können.« Und der Eisenbahnzug donnerte über Berg und Tal. Die Herbstluft wehte spielend gelbe Blätter in den Wagen, und die Herzen der Reisenden schlugen schneller mit jeder Station, die hinter ihnen zurückblieb. Nur ein Gedanke erfüllte alle: »Gold!« In den Minen In den Minen Eine Minenstadt in den Golddistrikten von Kalifornien ist etwas so ganz anderes, als sonst ein Ort oder überhaupt ein Wohnsitz zivilisierter Menschen, daß für das Verständnis des folgenden erst einige Erklärungen notwendig sind. Nicht um zu bleiben und für ihre Familien eine Heimat zu gründen, kommen die Menschen hierher, nicht um den Boden urbar zu machen und zu bebauen, arbeiten sie, sondern nur um der Erde ihre Schätze zu entreißen und auf der Suche nach neuem Gewinn immer weiterzuziehen. Man wagt und hofft, anstatt zu wissen, man wandert, anstatt zu wohnen, man setzt alles auf eine Karte und spart seine Kräfte nicht, um sein Glück zu finden. Nach diesem Grundsatz gestaltet sich hier das äußere Leben. Ein paar Bretter werden notdürftig zu einem Haus zusammengeschlagen, das unentbehrliche Gerät aus Blech und Eisen hineingebracht, ein Bett aus Wolldecken auf dem Fußboden hergerichtet und zum Selbstschutz gegen Diebe die erforderlichen Maßnahmen getroffen, – dann ist das Heim des Goldsuchers fertig. Seine Familie hat er meist in der nächstgelegenen Stadt zurückgelassen, seine Gesundheit darf er nicht schonen, sein Leben muß er stündlich aufs Spiel setzen, aber – wenn ihm das Glück günstig ist, so kann er nach kurzer Zeit in die zivilisierte Welt zurückkehren und als gemachter Mann künftig sein Leben genießen. Das Ziel lockt Tausende an; wo einer erliegt, da treten zehn andere an seine Stelle, wo einer einen reichen Fund gemacht hat, da folgen ihm Unzählige, um das gleiche Glück zu finden, aber dennoch gelingt es im allgemeinen nur wenigen, mit leichter Mühe zu einem beträchtlichen Vermögen zu kommen. Die Straßen einer solchen Goldstadt sind keineswegs planmäßig angelegt, gepflastert oder sogar beleuchtet, es gibt keine Bürgersteige und keinen Polizeischutz. Davon findet man keine Spur. Zwei tiefe Gräben von etwa anderthalb Meter Breite durchziehen in ihrer ganzen Länge die Straße, und die Erdwälle zu beiden Seiten dienen als Fußweg. An starkbelebten und daher plattgetretenen Stellen läuft der Verkehr so ziemlich, wo aber nach der Laune irgendeines Miners ein Quergang etwa bis vor die Tür des nächsten Hauses angelegt worden ist, wo der Regen sich zum Tümpel angesammelt oder die gehäufte Erde einen Hügel gebildet hat, da hört einfach die Verbindung auf, und wer hinüber will, der muß selbst sehen, wie er es am besten anstellt. Der Miner bezahlt für jeden Liter Wasser, den er für seine Arbeit braucht, zwischen zwanzig bis fünfzig Cent, er hat das Recht, überall nach Gold zu suchen, aber er läuft Gefahr, vielleicht umsonst zu graben und umsonst sein kleines Betriebskapital verschwendet zu haben – alle diese Dinge machen ihn rücksichtslos und hart; er verfolgt die gelben Körner, und wäre es bis unter das einstürzende Haus des nächsten Nachbarn, er kümmert sich um keinen, und keiner kümmert sich um ihn. Als Schutz gegen die zahllosen rohen und gesetzlosen Menschen, die sich in den Golddistrikten sammeln, hat jeder nur die Kraft seiner Fäuste, die Sicherheit seiner Augen. Der Amerikaner ist durchweg »self-made-man«, er hat sich durch eigene Kraft emporgearbeitet und braucht die Waffe ohne lange zu zögern. Das alles ist Grundbedingung, ist die alleinige Existenzmöglichkeit in den Minenstädten, wo sich der Auswurf aller Länder sammelt. Das Leben macht den einzelnen Menschen roh, es stumpft die edleren Eigenschaften seines Charakters ab und läßt von dem, was er vielleicht früher in besseren Verhältnissen gewesen war, wenig oder nichts mehr übrig. Wo der Revolver im Gürtel steckt und das Messer ebenso zum Brotschneiden wie zum Selbstschutz verwendet wird, da hört der Begriff »Gemütlichkeit« vollständig auf, da stockt sozusagen das innere geistige Leben, und nur das »Soll und Haben« scheint noch einer wirklichen Beachtung wert. Die Minenstädte und ihre Bewohner bilden eben Ausnahmen, bei denen kein Maßstab des gewöhnlichen, täglichen Lebens angelegt werden kann. Auch die drei Freunde hatten eine schwere Zeit, bis sie sich einigermaßen an den rauhen Ton von Lenchi, so hieß die Minenstadt, gewöhnen konnten. Der Ort lag fast völlig in der Wildnis, er war von der letzten Eisenbahnstation aus nur auf Maultieren oder Eseln in mehreren Tagen erreichbar und stellte kaum den ersten Anfang einer bewohnten Kolonie dar. In Idaho, dem ursprünglichen Ziel ihrer Reise, hatte man den Goldsuchern gesagt, daß in Lenchi bedeutend bessere Aussichten beständen, weshalb sie unter Aufopferung der letzten baren Mittel die lange Maultierreise unternahmen und erst nach weiteren sechs Tagen an ihrem Bestimmungsort anlangten. Robert war so ziemlich in seinem Element, aber der arme Gottlieb litt wie ein Märtyrer. Während der ersten Nacht wanderte er ruhelos wie ein irrendes Gespenst durch das hölzerne Haus, in dem sie Quartier genommen hatten, jeden Augenblick vor Schreck zusammenfahrend, jeden Augenblick darauf gefaßt, daß der Sturm, der über die Wälder dahinfegte und sogar durch die zahllosen Spalten der Bretterwände bis in das Haus hineinfuhr, den ganzen luftigen Bau mit sich forttragen und zerschellen werde. Fast wie der berüchtigte texanische »Norther« brauste dieser Sturm unter klagendem, langanhaltendem Heulen durch die Wälder, entwurzelte die uralten Baumriesen und peitschte die Wellen der kleinen Flüsse, daß sie rings ihre Ufer weit überfluteten. Am Himmel ballten sich schwarze Wolken, donnernd und ächzend zerrissen Windstöße die Luft, prasselnd fiel der eisige Regen auf das Schindeldach. Erst einzeln, dann immer häufiger und stärker drangen die Tropfen bis in das Innere des Holzverschlages, der den drei Freunden als Schlafraum diente. Gottlieb, den die Angst nicht zur Ruhe kommen ließ, flüchtete mit seinen Decken in einen anderen Winkel, aber auch hier kamen die plätschernden Fluten nach, und in stiller Verzweiflung setzte er sich endlich auf den Tisch – schlafen konnte er ja doch nicht. Robert und Mongo waren ganz anders als er. Sie hatten ihn ausgelacht, als er von seinen Befürchtungen sprach, und schliefen jetzt ungestört weiter, obgleich der rücksichtslose Regen an ihren Kleidern herabrieselte und von oben in ihre Stiefel eindrang. Gottlieb saß regungslos auf dem weißen, grobgezimmerten Tisch. Seine Gedanken wanderten zu dem abgebrannten kleinen Krämerhaus seiner Eltern; von Zeit zu Zeit wischte er die Tränen aus den Augen, obwohl kein Laut verriet, daß er sich zum Sterben unglücklich fühlte. Nur wenn im Wald ein Coyote sein wildes Geheul erschallen ließ, wenn ein Raubvogel kreischend über das Dach flog oder ein gehetztes Tier flüchtig an der dünnen Wand vorbeihuschte, fuhr er jählings auf, um zu horchen. Der Schweiß brach ihm aus, der Atem stockte, die Hände hoben sich abwehrend, bis wieder alles in die frühere Stille zurücksank und er den Faden seiner Gedanken fast unbewußt fortspinnen konnte. Die beiden andern schliefen, Robert nahm, wie wir wissen, die Dinge nie von der schweren Seite, und Mongo war zu sehr an die Wechselfälle des Lebens gewöhnt, als daß ihn irgend etwas hätte um seine Nachtruhe bringen können. Erst gegen Abend hatte man den Ort erreicht, mit genauer Not ein Unterkommen gefunden und im allgemeinen von den Goldgräbern nur Klagen gehört – man mußte sich also stärken, um morgen den Kampf mit einer fremden Welt festen Fußes aufnehmen zu können, und dazu gehört vor allen Dingen ein ruhiger Schlaf. Soviel Lärm und Toben die Hütte auch umgab, es störte niemand außer dem armen Gottlieb, der sich an diese halbwilden Verhältnisse durchaus nicht gewöhnen konnte und dessen Einbildungskraft dauernd damit beschäftigt war, neue Schreckensbilder heraufzubeschwören. Bald glaubte er draußen das Schnaufen eines Bären deutlich zu unterscheiden, bald dachte er an einen Büffelzug, der sich natürlich gerade über diese Hütte dahinwälzen würde, und ein anderes Mal glaubte er sogar zu fühlen, wie der Sturm die Wände bog. Es waren Höllenqualen, die er während dieser ersten Nacht im Goldlande ausstehen mußte. Und als der neue Tag anbrach, begannen die Schwierigkeiten. Es mußten Gummistiefel zu höchsten Preisen auf Kredit gekauft werden, ebenso Hacke und Schaufel. Der einzige Händler am Ort berechnete die unverschämtesten Preise, aber die drei Freunde konnten froh sein, daß er ihnen überhaupt die Bezahlung stundete; sie wären ohne ihn vollständig außerstande gewesen, irgendeine Arbeit zu beginnen. Das Wasser kostete hier in Lenchi kein Geld, aber dafür gab es auch nur einen wilden Gebirgsbach, dessen herabstürzende Arme die Goldwäscher ihren Gängen zuleiteten und so ihrer Arbeit dienstbar machten. Die Freunde konnten jetzt wählen, ob es ihnen vorteilhafter schien, selbst eine Mine anzulegen, vielleicht zufällig an ganz goldarmer Stelle, oder ob sie in dem schon als metallhaltig erkannten Gang eines früheren Besitzers die Erlaubnis zum Graben bezahlen wollten. Der Händler lieh auch Gelder gegen hundert Prozent Zinsen – er bot sogar Summen unaufgefordert an. »Wir nehmen es!« rief Robert. »Zu verlieren haben wir nichts, kann es uns also schaden? Daß wir mittellos sind, weiß der Mann ja, er handelt also freiwillig und darf sich später nicht beklagen.« »Wir nehmen das Geld«, meinte auch Mongo, »und legen dann unsere eigene Mine an. Wenn der Schelm nicht wüßte, daß hier das Geld nur aufgehoben zu werden braucht, so würde er uns keinen Cent borgen, darauf verlaßt euch.« Robert nickte. »Ganz meine Meinung«, fügte er hinzu. Gottlieb allein schüttelte den Kopf. »Die schweren Zinsen können wir nicht tragen«, erwiderte er. »Man sollte lieber den Betrüger anzeigen.« Mongo lachte lustig. »Wo denn?« fragte er. »Etwa bei den Tieren im Walde, oder bei den Goldwäschern, die er vermutlich alle in seinen Klauen hält?« Gottliebs kaufmännisches Gewissen empörte sich immer mehr. »Solche Blutsauger«, sagte er heftig, »solche Halsabschneider. Es ist eine Schande, mit ihnen zu verkehren. Wenn ich dem Händler hundert Prozent verspreche, so stehle ich dies Geld meinen Eltern.« Robert zuckte die Achseln. »Tust du es nicht, Gottlieb, so wirst du vielleicht nie imstande sein, ihnen einen einzigen Taler zu geben. Was ist nun schlimmer?« »Ihr seid also entschlossen?« fragte Gottlieb. »Wir müssen, Kind«, nickte der Neger. Und noch am selben Tage wurde der Handel abgeschlossen. Zähneknirschend unterschrieb Gottlieb den Wechsel, der ihn verpflichtete, nach drei Monaten die Summe von einhundert Dollar an Samuel Ekiwa zurückzuzahlen, wofür ihm die Hälfte dieses Geldes bar ausgezahlt wurde. Robert und Mongo schlossen denselben Vertrag. Dann pachteten sie von einem Minenbesitzer das Recht auf bestimmte Strecken der Rinne, und die Arbeit begann. Robert, als der Kräftigste und Entschlossenste, lockerte die Erde mit der Hacke, Mongo suchte die Steine heraus, und Gottlieb schüttelte die nasse Erde durch das Sieb, einem Holzrahmen mit darübergespanntem Wolltuch, in dem sich die Goldkörner festsetzten. Er jubelte laut, als Samuel Ekiwa den Ertrag des ersten Arbeitstages auf zwanzig Dollar abschätzte. Das ergab über sechs Dollar für jeden, während doch die täglichen Ausgaben für Lebensmittel nach seiner Meinung höchsten fünfzehn Groschen deutschen Geldes betrugen. »Ich jedenfalls kann damit gut auskommen«, versicherte er, »und wenn – –« Das spöttische Grinsen des Händlers unterbrach den angefangenen Satz. »Sie essen doch im Store (Gasthaus), nicht wahr, Sir?« fragte Ekiwa. Gottlieb bejahte. »Ein Glas Bier und Brot zum Frühstück«, erwiderte er, schon Schlimmes ahnend, »dann ein Mittagessen, Kaffee, und am Abend Tee mit Brot. Das kann höchstens fünfzehn Groschen kosten.« Der Händler zog seine Schultern bis an die Ohren empor. »Ich werde Ihnen die Preise in den Minenstädten nennen«, antwortete er mit halbgeschlossenen Augen, während er an den Fingern zählte. »Da ist das Glas Bier von heute morgen mit einem Vierteldollar, da ist –« »Um Gottes willen!« unterbrach ihn Gottlieb schreckensbleich, »was sagen Sie? Das kleine Glas Bier sollte –« »Einen Vierteldollar kosten, ja«, ergänzte Ekiwa. »Das Brot mit Butter einen halben Dollar, das Mittagessen drei Dollar, das –« »Um Gottes willen, ist man denn einer Räuberbande in die Hände gefallen?« »Das Bier und Brot wie am Morgen«, fuhr der Händler fort »der Kaffee außerdem einen halben Dollar. Was wollen Sie, Sir, man muß alle diese Dinge übermäßig teuer kaufen, man zahlt für die Fracht allein schon fünfzehn Cent Gold für das Pfund, und zwar auf eine Entfernung von vierhundert Meilen. Das berechtigt den Verkäufer, seinen Verdienst ebenso hoch anzusetzen.« Gottlieb rechnete im Stillen. Also vier Dollar Zeche für einen Tag, an dem er keine Zigarre geraucht, kein Stück Käse zum Brot gegessen, keinen Schluck Branntwein getrunken hatte. Vier Dollar! Was blieb ihm von seinen sechs, die er im Geiste schon als ungeheuren Reichtum angesehen hatte, wenn nun auch noch die Kosten für Wohnung, Wäsche und Schuhzeug hinzukamen? »Wie ist es denn mit der Miete?« fragte er ganz ratlos. »Was kostet hier ein Paar neue Stiefel?« Der Händler zuckte die Achseln. »Miete ist wenig«, erwiderte er, »damit läßt sich kein Geschäft machen, weil jeder vernünftige Mensch sein Haus selber baut. Stiefel kosten fünfundzwanzig Dollar, Strümpfe einen Dollar.« »Herr des Himmels, das ist unerhört«, ächzte Gottlieb. Hier mischte sich Robert in das Gespräch. »Ein Haus sollten wir uns bauen, Sir?«, fragte er. »Darf man denn das hinstellen, wo es einem gefällt?« Ekiwa nickte. »Hier in Lenchi, ja«, sagte er. »Das Land gehört der Regierung, das Holz liefert der Wald, und das Gerät borgt man. Nur die Nägel müssen Sie von mir kaufen.« Gottlieb sah auf. »Zu welchem Preis, Sir?« »Das Stück für einen Vierteldollar, mein junger Freund.« »Mein Gott. Der Nagel zu acht Pfennig ist in Deutschland der teuerste.« Der Händler zog ein verdrießliches Gesicht. »Warum sind Sie nicht dort geblieben, wo alles so viel besser und billiger ist als hier?« fragte er. »Lassen Sie uns die Rechnung abschließen, Sir«, drängte Robert. »Vier Dollar braucht man am Tag, um sich satt zu essen, einen fünften für Wohnung und sonstige Kleinigkeiten – also behalten Sie den Überschuß zur langsamen Tilgung unseres Wechsels. Aller Anfang ist schwer, das müssen wir bedenken, ehe wir uns über die ungünstigen Verhältnisse beklagen.« Ekiwa nickte lebhaften Beifall. »Very well!« rief er, »Very well, Sir! Seid gerade der Mann, wie ihn Amerika braucht. Habt Kopf und Fäuste auf der rechten Stelle. Müßt euch nächsten Sonntag, wenn nicht gegraben wird, ein Haus bauen, ein paar Decken kaufen und euch Stühle und einen Tisch zimmern. Umgebrochene Baumstämme findet ihr überall.« Die beiden andern wandten nichts ein, und so wurde der Handel zum Abschluß gebracht. Während der ganzen Woche arbeiteten die drei Freunde vom Morgen bis zum Abend, ohne jedoch mehr als zwischen achtzehn und vierundzwanzig Dollar zu verdienen. Sie konnten also noch nichts zurücklegen und mußten sogar die für den Hausbau erforderlichen Nägel auf Kredit kaufen. Robert aber behielt seinen unzerstörbaren Mut. Er freute sich wie ein Kind auf den Sonntag, wo der Hausbau beginnen sollte, und war glücklich, als er mit Mongo hinauszog in den Wald, um Pfähle und Balken zu schneiden. Gottlieb mußte unterdessen den Bauplatz von Gras und Buschwerk reinigen, das Gerät borgen und die Beschläge für Fenster und Türen kaufen. »Wir können ihn hier doch nicht brauchen«, hatte Mongo gesagt. »Jeden dürren Ast würde er für eine Klapperschlange halten und jeden Hund für einen heranschleichenden Wolf.« Und die beiden zogen los. Der Herbst färbte das Laub in gelben und roten Schattierungen, die meisten Blumen waren verblüht, das Moos am Boden zeigte das tiefdunkle Grün, das dem Verdorren vorangeht, und der Wind wehte schon empfindlich kühl von den Felsengipfeln herab. Aber diese Zeit ist eine der schönsten des ganzen Jahres. Die Sonne vergoldet eine Farbenpracht, wie sie der Frühling nicht aufzuweisen hat, ihre Strahlen erwärmen, ohne zu brennen, ihr Licht fällt gleichsam halbverschleiert aus weißem Gewölk herab, und die Luft ist erfüllt von würzigem Tannenduft. Mongo und Robert folgten dem Lauf eines der kleinen Flüsse, von denen das Goldland wie von einem vielarmigen Netz durchzogen ist. Alles war still wie in einem weiten Dom, nur ab und zu schoß irgendein Tier durch das Gebüsch oder schallte der Kriegsruf des Falken durch die Luft. Am Ufer blühte noch das Vergißmeinnicht; die Vogelbeere neigte ihre reifen Früchte an schwankenden Zweigen über das Wasser herab, und hohes Schilf füllte die Buchten. An einer Stelle war eine uralte, der Länge nach vom Blitz gespaltene Eiche quer über das Flüßchen gefallen und bildete eine Brücke, auf der Robert mit Vergnügen herüberbalancierte. »Erst ein Bad, Mongo«, sagte er, »ich kann nicht widerstehen.« »So spring hinein, junger Spitzbube, ich werde unterdessen ein paar Bäume aussuchen, die wir als Eckpfähle brauchen können.« Und Mongo begann einige besonders schlanke Tannen für seinen Zweck auszuwählen, dann nahm er die Axt von der Schulter und hieb tapfer hinein. »Du«, sagte er, »das Brettersägen bleibt uns erspart. Der Wirt aus dem Store will uns mehrere alte Packkisten billig überlassen, damit können wir die Wände beschlagen. Schindeln für das Dach sind uns zu teuer, wir nehmen Bretter und decken Erde darüber.« »Brr!« rief Robert. »Ich kenne das von meiner Robinsoninsel her. Beim nächsten Regen träufelt dir der Schlamm ins Gesicht.« »Gut, dann müssen wir eben auf die Jagd gehen, um uns Felle zu verschaffen. Das bloße geteerte Segeltuch, wie es die meisten Hütten haben, wird sehr bald zu kalt sein.« Robert sprang ans Ufer und ließ sich von den Sonnenstrahlen trocknen. »Ja, der Winter«, sagte er nachdenklich. »Wenn uns nun die Quelle, mit deren Wasser wir arbeiten, zufrieren sollte, Mongo, was dann?« »Dann schlagen wir dem Händler ein Schnippchen und werden Trapper.« Robert sah den Neger ratlos an. »Trapper, Mongo, was ist das?« »Ein wandernder Jäger, Bob. Diese Männer wohnen nirgends, aber sie haben überall Freunde, selbst unter den Indianern, sie kennen die Wildnis wie ihre eigene Tasche und besitzen in Höhlen oder sonstigen Verstecken Niederlagen, wo sie ihre erjagten Pelze und Felle aufbewahren, bis sie im Herbst und Frühling nach der nächsten Station geschafft und an reisende Händler verkauft werden. Für das Geld kauft sich der Trapper Waffen, Schießbedarf, lederne Kleider und Stiefel. Sein Dach ist der blaue Himmel, sein Bett das Moos des Waldes, seine Nahrung die erlegten Tiere.« Robert hatte sich während der Worte des Negers wieder angezogen und hieb jetzt mit wuchtigen Streichen gegen den zweiten Baum. »Hast du solche Trapper kennengelernt, Mongo?« fragte er. »Oh, mehr als einen, Bob, aber es ist schon länger her. Es sind meistens verwegene Kerle, die Gott und den Teufel nicht fürchten, häufig auch Verbrecher, die sich in die Wälder flüchteten, um dort unter angenommenem Namen ihrer Strafe zu entgehen. Natürlich gibt es auch ehrliche Leute darunter.« Robert seufzte. »Ich möchte es nicht«, antwortete er nach längerer Pause. »Mongo, wie ich mich nach dem Wasser sehne, davon machst du dir keinen Begriff!« »Jetzt schon? Das mußt du um Gottliebs willen bekämpfen, Bob. Was sollte denn ohne uns aus dem armen Jungen werden.« Robert lächelte. »Ja, ja, Mongo, ich weiß es und will auch geduldig aushalten. Nur darf ich kein Wasser sehen, das macht mich jedesmal ganz traurig.« Mongo hatte keine Zeit, den letzten Satz zu beantworten. Der Baum, an dem er arbeitete, neigte sich und mußte, bevor er fiel, gestützt werden, um nicht mit der Krone in den benachbarten Zweigen hängen zu bleiben. Beide Männer strengten ihre Kräfte bis zum äußersten an, und bald darauf lag der erste Pfeiler des künftigen Hauses zu ihren Füßen. Ehe eine Stunde verging, folgte der zweite, die Äste und Kronen wurden abgehauen, die Stämme zusammengebunden, und dann setzten sich Mongo und Robert auf die gestürzte Eiche, um erst einmal zu frühstücken. Das Brot ohne Butter und das dünne Bier schmeckten nach getaner Arbeit vortrefflich, die Unterhaltung drehte sich um ihre Hoffnungen und Aussichten, und für das Vergnügen sorgten die Vögel, die vertraulich näherkamen, um vor den Füßen der beiden Goldsucher die herabgefallenen Brotkrumen vom Boden aufzupicken. Aus den nächsten Zweigen lugte ein Eichkätzchen hervor, Frösche quakten im Uferschilf, und hier und da glitt eine Schlange durch das Moos. Robert beobachtete alles. »Ob hier wohl noch ein Überfall wilder Tiere möglich wäre?« fragte er. »Und ob es giftige Schlangen gibt?« Mongo schüttelte den Kopf. »Vielleicht während der Nacht«, erwiderte er, »oder einige fünfzig Meilen hinter den letzten Minen. An giftigen Schlangen gibt es nur – aber selten – die Klapperschlange. Wir haben, glaube ich, durchaus nichts zu befürchten und sind ja außerdem bis an die Zähne bewaffnet. Gewehr, Revolver, Dolchmesser – das sollte wirklich genügen, selbst wenn uns ein Wolf oder ein Bär die Ehre erweisen sollte. Du streckst ja übrigens diese Sorte mit der bloßen Faust nieder, junger Spitzbube.« Robert lachte. »Nicht übertreiben, Mongo«, erwiderte er. »Der ausgehungerte Wolf verlor auf dem haarscharfen Felsgrat durch meinen Faustschlag das Gleichgewicht und stürzte ab, das ist alles.« »Ja, ja«, nickte der Neger, »ich weiß schon – mich ließest du dein Blut trinken, du guter Kerl. Das bin ich dir immer noch schuldig.« »Unsinn! Hattest du mich nicht aus dem Wasser herausgefischt? Und übrigens, muß das unbedingt auf Gegenseitigkeit beruhen?« Mongo bot ihm den Rest aus der Bierflasche. »Auf gegenseitiger Freundschaft und Treue, ja!« erwiderte er freundlich. In diesem Augenblick tönte ganz aus weiter Ferne ein Hilferuf. Es klang, als wenn jemand in Todesnot seine letzten Kräfte zusammennahm und mit versagender Stimme einen einzigen Namen hervorstieß: »Robert! – Robert!« Die beiden Freunde sprangen wie elektrisiert von ihren Sitzen auf. Einer sah den andern an. »Was war das?« Und wieder hörte man: »Robert! – Mongo! –« »Du, man ruft uns.« »Das ist Gottlieb«, fügte Robert hinzu. »Was mag er haben?« »Jedenfalls müssen wir ihm aber doch antworten. Laß uns nur erst genau die Richtung seiner Stimme erkennen.« Beide horchten, aber schon in den nächsten Minuten wiederholte sich der verzweifelte Schrei, jetzt aber viel näher, so daß sich deutsich erkennen ließ, auf welchem Weg der Flüchtende in den Wald hinein und den vermißten Freunden entgegenlief. »Laß uns antworten«, rief Robert, und dann legten beide die Hände hohl vor den Mund. Ein zweistimmiges, langgedehntes »Hier!« schreckte alle Vögel in der Nähe auf. Selbst die Frösche ließen ihren Gesang einen Augenblick verstummen. Stille folgte dem schallenden Ausruf. »Das hat er gehört!« sagte endlich Mongo. »Aber was in aller Welt kann ihn denn so außer Fassung bringen, – ich begreife es nicht.« »Vielleicht doch ein wildes Tier!« meinte Robert etwas bedenklich. »Wir können uns ja auf alle Fälle vorbereiten.« Und beide nahmen die geladenen Gewehre in Anschlag. Alles blieb still, kein weiterer Hilferuf war zu hören, aber in einiger Entfernung knackten die Büsche, als ob ein Mensch oder ein Tier gewaltsam hindurchbrach. Mongo legte den Finger auf die Lippen. »Pst!« raunte er. »Wir können ja nicht wissen, ob es Gottlieb ist oder vielleicht ein Feind, der ihn verfolgt.« Das sollte sich jedoch sehr bald klären. Die Stimme des jungen Pinnebergers unterbrach mit lautem Angstschrei die Stille, und dann folgte erneut der klägliche Ruf: »Robert! – Mongo! – Wo seid ihr?« »Hier! Hier!« antworteten beide. »Gottlieb, was fehlt dir?« »Schießt nicht!« tönte es in größter Herzensangst zurück. »Schießt um Himmels willen nicht, ich bitte euch!« Wieder sahen sich Mongo und Robert voll Erstaunen an. Was bedeutete das alles? Jetzt aber hörte man in nächster Nähe die Schritte des jungen Menschen. Eine Minute später erschien Gottlieb auf der kleinen Lichtung am Fluß, überblickte atemlos die Umgebung und floh dann unter die Wurzeln des Eichenstammes, wo er sich wie ein Dachs zusammenkauerte. »Rettet euch!« schrie er, »rettet euch! – Ein greuliches Untier verfolgt mich und wird gleich hier sein. Auf die Bäume, um Gottes willen auf die Bäume!« Robert unterdrückte mit Mühe ein Lachen, das ihn überkam. Er und der Neger sahen nach allen Seiten, aber ohne von einem Ungeheuer das Allergeringste entdecken zu können. »Gottlieb«, rief der junge Matrose, »so sei doch vernünftig. War es ein Bär, den du gesehen hast?« »Ein Bär? Nein, das glaube ich nicht, oder vielmehr weiß ich genau, daß es keiner war. Aber um Gottes willen, rettet euch doch.« »Wie sah denn das Tier aus?« rief ungeduldig der Neger. »Gräßlich!« tönte es unter den Baumwurzeln hervor. »Es hat Augen wie Kohlen, ist grau, mit einem furchtbaren Horn und teuflischen, mörderischen Augen. Gesehen habe ich es nicht ganz, sondern nur teilweise, aber das greuliche Stampfen und Schnaufen klingt mir noch in den Ohren.« Robert und Mongo wußten nicht mehr, woran sie waren. Auf welches Tier hätte denn diese seltsame Beschreibung passen könen? »Es hat dich verfolgt, Gottlieb?« fragte Robert. »Ja. Ich ging in den Wald, um euch zu suchen und zu helfen, da brach es aus den nächsten Büschen hervor, und zwar so nahe, daß mich der glühende Atem streifte, daß ich sekundenlang das entsetzliche Horn an meiner Schulter spürte. Ihr könnt euch denken, wie schnell ich weglief, aber das Untier war mir immer auf den Fersen. Nur einmal sah ich mich um, – ein Gebüsch war zwischen ihm und mir – aber da erkannte ich eine Riesengestalt, greuliche Augen –« »Hilf Himmel!« unterbrach er seine Beschreibung, »dort kommt es! Rettet euch! – Rettet euch! –« Und schnell kroch er noch tiefer unter die Baumwurzeln. Robert und Mongo nahmen ihre Gewehre wieder in Anschlag. Ein Gebüsch in der Nähe des Flusses bewegte sich, als ob der Wind sehr stark wehte. Die Zweige zitterten und krachten, aber kein Tier kam zum Vorschein. »Mongo«, rief Robert, »leben hier herum Affen?« »Bist du nicht gescheit, Junge? Gehörnte Affen?« »Ja – wer weiß denn, was Gottlieb in seiner Angst gesehen hat.« Der Neger ging mit vorgehaltenem Gewehr auf den Busch zu. »Ich will doch sehen, was dahinter steckt«, sagte er kurz entschlossen. »Mongo!« schrie Gottlieb, »Mongo, um Gottes willen, nachher bin ich dein Mörder. Geh nicht hin, ich bitte dich um alles in der Welt, geh nicht hin!« Doch der Neger ließ sich nicht irre machen. Er brummte etwas, wobei man das Wort »Hasenfuß« ziemlich deutlich heraushörte, und dann drang er vor. Im selben Augenblick teilte sich das Gebüsch. Ein Tier von etwa anderthalb Meter Länge und fast einem Meter Größe sprang mit solcher Wucht dem Schwarzen entgegen, daß er kopfüber ins Gras kugelte, während Robert nur durch seine bewunderungswürdige Gelenkigkeit einem gleichen Schicksal entging. Der unvermutete Angreifer stand mit gesenkten Hörnern kampfbereit vor dem Platz, an dem eben noch sein zweites Opfer gestanden hatte. Gottlieb schrie vor Angst, der Neger sah sich halbsitzend voll Verwunderung um, und Robert lachte, was er konnte. Das alles geschah innerhalb weniger Sekunden. Mongo war der erste, der wieder sprach. »Nun«, sagte er ärgerlich und sich den Rücken mit der flachen Hand reibend, »was ist denn das für ein Unsinn?« Das Tier stieß ein kurzes Schnaufen oder Prusten aus. Es scharrte mit dem Vorderfuß im Grase. Robert lachte immer noch. »Ein Moufflon!« rief er, – »ein Schafbock! – Das ist ja zum Totlachen!« Aber die beiden andern teilten keineswegs seine Heiterkeit. Mongo stand auf und ballte gegen den Bock die Faust, so daß das Tier mit einem plötzlichen Niesen etwas zurückwich: »Warte« rief er, »du sollst das Vergnügen, mich in den Sand gestreckt zu haben, mit dem Leben büßen.« Gottlieb war zögernd bis an den Rand der Baumwurzeln vorgekrochen. Das Wort Schafbock hatte ihn beschämt, aber dennoch flößten ihm die beiden Hörner erhebliche Furcht ein. »Robert«, fragte er verwirrt, »hältst du das Tier für gutmütig?« Der wischte die Lachtränen aus den Augen. »Gottlieb«, rief er, »hat dich denn nie in Pinneberg ein Schafbock verfolgt? Weißt du nicht, daß diese Tiere ebenso mutig wie furchtsam sind? Dieser große Kerl hat spielen wollen, weiter nichts.« »Spielen? Unmöglich!« »Dann schau her.« Und Robert kraute mit der Rechten die Stirn des Bockes, der sogleich seine Kampfstellung aufgab und zum Zeichen größter Zutraulichkeit leise den Schweif bewegte. »Mongo«, sagte er, »schenke ihm das Leben, Alter!« Aber der Neger war böse. »Dummes Zeug«, brummte er. »Gib ihm eine Ohrfeige, Bob, damit er fortspringt. Ich mag kein Tier töten, wenn es wie an der Schlachtbank ahnunglos vor mir steht.« Robert, der wohl erkannte, wieviel das Fleisch und das Fell des Tieres wert seien, tat, was Mongo sagte, und der Bock sprang mit lustigen Sprüngen über die Lichtung. In weniger als zwei Minuten hatte ihn die Kugel des Negers zu Boden gestreckt. Durch den Kopf geschossen, war er sofort tot. »So«, sagte der glückliche Schütze mit etwas spöttischem Ton, »so, Gottlieb, nun komm hervor, mein Kleiner. Dieses Ungeheuer wäre unschädlich gemacht, und vielleicht findest du sogar demnächst Mut genug, das Fell nach Hause zu schleppen. Ich will den Burschen gleich ausweiden.« Gottlieb kroch ziemlich geknickt aus seinem Versteck hervor. »Ihr müßt es nur nicht allen Leuten erzählen«, bat er. »Wirklich, gegen mich war der Bock sehr bösartig.« Unter Roberts erneutem Lachen gingen dann alle drei an die Arbeit. Das Haus sollte vor Abend zum Einzug fertig sein, also hatte man keine Zeit zu verlieren, sondern mußte noch mehrere Stämme schlagen, bevor man in Lenchi mit dem Bau begann. Während Mongo kunstgerecht den Bock zerlegte, fällten die beiden anderen einige Tannen, und dann wurden die Stämme bis zu dem Lagerplatz geschleift. Schwer beladen trat man den Rückweg an. Der Boden war bereits von Pflanzen und Steinen gesäubert, die erforderlichen Löcher gegraben und die Packkisten herbeigeschleppt. Gottlieb hatte so fleißig gearbeitet, daß die beiden anderen ihr Lob nicht zurückhalten konnten. Inzwischen hatten sich mehrere deutsche Goldgräber um den Bauplatz herum versammelt und besonders den Bock bewundert. Endlich machte einer den Vorschlag, ein tüchtiges Stück des frischen Fleisches sogleich an Ort und Stelle zu braten. Für die Beschaffung von Kartoffeln, Mehl, Eiern, Butter, Früchten und Branntwein sowie Kaffee wollte man eine Sammlung veranstalten und nach gemeinschaftlich eingenommenem Mahl mit vereinten Kräften den Hausbau beginnen. »Ich liefere den Bratspieß!« schrie ein riesiger Sachse, »und drehen will ich ihn auch.« »Von mir könnt ihr Blechteller und Messer haben. Und Kuchen backen kann ich auch«, meinte ein anderer. Der Dritte trommelte mit den Fäusten so lange auf eine Packkiste, bis er sich Gehör verschafft hatte. »Silentium, meine Herrschaften, ich bin ein Zimmermann und führe daher in dieser ehrenwerten Versammlung den Vorsitz. Kochen oder backen ist nicht meine Sache, ebensowenig habe ich Geld oder Hausgerät, aber einen riesigen Appetit auf frischen Braten und einen unlöschbaren Durst. Später will ich den Bau mit diesen meinen Händen allein fertig machen. Was sagt ihr dazu?« »Angenommen!« rief Robert. »Meine Stimme habt Ihr. Hier sind fünfzig Cent für den Einkauf von Lebensmitteln.« Der Sachse nahm den formlosen Filzhut vom Kopf, warf den ersten Beitrag hinein und ging nun von einem zum andern, um überall zu sammeln. »Ein armer Handwerksbursche«, sagte er, »hat in sechs Wochen nichts Warmes im Leibe gehabt!« Und Gabe auf Gabe fiel in den Hut. Auch Goldstücke rollten hinein. Dann entzündete einer ein riesiges Feuer, der andere bereitete den Braten und der dritte schälte die Kartoffeln, während sich der Kuchenbäcker mit aufgestreiften Ärmeln, Messer und Revolver im Gürtel, daran machte, eine Torte anzurühren. Aus allen Häusern wurden Blechgeschirre herbeigebracht, die Packkisten mußten, ehe sie als Wände ihr Dasein beschlossen, vorher als Sitzgelegenheiten dienen, und das geteerte Segeltuch, das die Nässe von dem zukünftigen Dach fernhalten sollte, ließ sich einstweilen ausgezeichnet als Abschirmung gegen die Sonnenstrahlen verwenden. Jeder wollte dazu beitragen, das so schnell veranstaltete Fest zu einem gemütlichen Beieinander zu gestalten. Und als der Braten seine lockenden Düfte ausströmte, als der Kaffee dampfte und die Torte hellbraun und locker aus dem Blechnapf hervorgegangen war, da klopfte der Zimmermann, der bisher müßig im Gras gelegen hatte, wieder auf die nächste Packkiste. Sein tiefer Baß stimmte eine Weise an, die allen bekannt war. »Was ist des Deutschen Vaterland? – –« Und laut und freudig fielen über zwanzig Stimmen bei der nächsten Strophe in das alte Heimatlied ein. Dann hatte der Koch sein Werk vollendet. Kaum besaß er Kraft genug, den Riesenbraten auf die schnell errichtete Tafel zu heben. Da stand er als wackerer Feldherr, rings umgeben von Gurken, Kartoffeln, Sauerkraut und Backpflaumen, da schimmerte im Hintergrund die Torte und dampfte der Kaffeekessel. Alles war herrlich geraten, alles lockte zum Genuß und zur Freude. Gottlieb zupfte Robert am Ärmel. »Du«, flüsterte er, »erzähl es diesen Leuten nicht, wie wir zu dem Braten gekommen sind.« Robert winkte halb lachend, halb gerührt. »Aber nein, was fällt dir ein?« sagte er. »Und laß auch den Alten nichts ausplaudern, du.« »Ach, Unsinn. Dort ist dein Platz, und nun wollen wir essen.« Der Braten war zwar sehr schmackhaft, aber er stellte die Kauwerkzeuge der Festteilnehmer auf eine ziemlich harte Probe, was jedoch weiter kein Mißvergnügen, sondern nur einige derbe Scherze hervorrief. Die Goldgräber waren ja nicht verwöhnt, daher wurde auch ein zäher Bissen noch mit gutem Appetit verspeist. Alles übrige war tadellos gelungen, die Torte sogar ganz ausgezeichnet, nur das Tischgerät ließ manches zu wünschen übrig. Schwere, fünfzinkige Gabeln sah man am zahlreichsten, die Messer der Goldgräber mußten zum Zerlegen dienen und spitze Holzstäbe als Spieße, an denen Kartoffeln und Fleisch zum Mund geführt wurden. Als Nachtischteller für die Torte dienten große Blätter, während der duftende Kaffee aus Blechtöpfen getrunken wurde. Zum Schluß machte eine dickbauchige Flasche die Runde. Es war drei Uhr nachmittags, als endlich der Hausbau begann. Unter einem Kreuzfeuer von Scherzworten wurden die Kisten in Bretterhaufen verwandelt; man rammte die vier Eckpfähle ein, setzte die Türbalken und schlug das Eisen an, darauf nagelten einige ein Fenster zusammen, andere zimmerten die Tür, und ein besonders wohlhabender Hamburger, der schon länger in den Minengegenden lebte, brachte keuchend unter der schweren Last einen Ofen, den er feierlich den drei Freunden zum Geschenk machte. Die Wände wuchsen unter den vereinten Anstrengungen der Männer zauberhaft schnell empor, das Dachgerüst wurde errichtet, – es fehlte jetzt nur noch der Überzug aus Segeltuch, und das Haus war fertig. Diesen Augenblick benutzte der Zimmermann, um auf das Dach zu klettern und mit einigen Hammerschlägen das Publikum darauf aufmerksam zu machen, daß er eine Rede halten wollte. »Pst!« hieß es, »er will vom Gerüst fallen, stört ihn nicht.« »Aber in Versen!« ermahnte einer. »Die wachsen nicht wild, mein Junge«, tönte es vom Dach herab, »und Treibhäuser dafür fehlen hier leider. Also – Ladies und Gentlemen! –« »Ladies glänzen durch ihre Abwesenheit«, hieß es wieder. »Was uns nicht hindern soll, zuerst auf ihre Gesundheit zu trinken. Ich tue es für euch alle!« fügte er mit komischer Würde hinzu, und nahm einen Schluck aus der Flasche. »Unsere Mütter und Frauen, unsere Schwestern und Bräute daheim in Deutschland sollen leben! Eins, zwei, drei – Hurra!« »Und noch einmal – Hurra!« »Jetzt aber die Rede!« drängte das Publikum. Der Zimmermann räusperte sich. »Ein Schafbock war die erste Veranlassung zu diesem Fest«, begann er im Ton eines vortragenden Professors, »wir erheben ihn daher mit Recht zum Schutzpatron des neuerbauten Hauses. Alles, was hier künftig geschieht, stehe unter seinem Zeichen. Mögen die Eigentümer beständig in der Wolle sitzen und von ihren goldenen Errungenschaften gehörig ins Horn stoßen können. Mögen sie von allen Schafsköpfen gemieden und ihnen der Hammelbraten immer nahe sein, möge ihnen das Goldene Vlies zuteil werden und Lammesgeduld, wenn sich der Boden als ausgebeutet erweist. Mögen sie niemals Böcke schießen, aber vor Freuden Bocksprünge machen und baldigst ihr Schäfchen ins Trockene bringen, vor allen Dingen aber sich durch keinen Fehlschlag ins Bockshorn jagen lassen.« Er versuchte eine zierliche Verbeugung und erhob nochmals die Flasche. Ein Beifallssturm belohnte seine wohlgelungene Rede. »Weiter, weiter!« rief man von allen Seiten. Der Zimmermann schüttelte den Kopf. »Nur eins noch!« erwiderte er. »Ein Hoch auf unseren König Wilhelm, den Schirmherrn von Deutschland!« »Eins, zwei, drei, Hurra!« Die Flasche flog mit kräftigem Schwung nach alter deutscher Sitte über den Kopf des Redners ins Gebüsch und zersplitterte zu tausend Scherben. Mit Einbruch der Dämmerung war das Segeltuch befestigt, Erde darauf geworfen und der Ofen gesetzt. Die drei Freunde konnten ihren Einzug halten. Noch manches Stück Hausgerät wurde von den Goldsuchern zur Verfügung gestellt, drei übriggebliebene Kisten ersetzten die Stühle, und einen Tisch versprach der Zimmermann am nächsten Sonntag zusammenzuschlagen. Als sich die Gesellschaft zum Aufbruch rüstete, erschien Robert mit einer frischen Flasche unter dem Arm. »Jetzt noch die Taufe«, schlug er vor. »Straßen gibt es in Lenchi nicht, Nummern also noch viel weniger, daher scheint es das Beste, jedem Haus einen Namen zu geben. Mongo und Gottlieb, was meint ihr, wollen wir unsere Wohnung Neu-Pinneberg nennen?« Die beiden andern waren einverstanden, und der Zimmermann schrieb sofort mit einem ausgeglühten Feuerbrand den neuen Namen über die Tür, dann ging die Flasche reihum, und mit allgemeinem Händeschütteln trennte man sich. Die drei Freunde trugen aus ihrem bisherigen Quartier die Schlafdecken und was sie sonst besaßen herbei, holten frisches Wasser, um am folgenden Morgen den Kaffee selbst kochen zu können, und legten sich endlich schlafen, nachdem sie noch einmal alle Einzelheiten dieses arbeitsreichen Tages durchgesprochen hatten. Sie waren nun Hauseigentümer, waren gesund und konnten arbeiten, wenn auch der Wechsel noch unbezahlt war. Es mußte um jeden Preis ein größerer Verdienst erzielt werden, sonst rückte der eigentliche Zweck der ganzen Unternehmung in immer weitere Ferne. Viel leicht brachte der Winter sogar einen Stillstand der Arbeit, so daß neue Schulden zu den alten kamen. Robert konnte lange nicht einschlafen. Er fürchtete sich davor, Schulden zu haben. Zwar wußte Samuel Ekiwa, daß seine Kunden arme Abenteurer waren, außerdem hatte er selbst das Geschäft vorgeschlagen, aber dennoch drückte Robert der Gedanke, dem Händler verpflichtet, ja sogar von ihm abhängig zu sein. Er seufzte tief. Wenn nun vielleicht der Mann nur aus Eigennutz zum Hausbau geraten hatte, ja, wenn er sich beizeiten ein Pfandobjekt sichern wollte, um am Verfallstage die Hütte in Beschlag zu nehmen, wenn der Wechsel uneingelöst blieb? Robert fröstelte. »Du«, sagte er leise, »Gottlieb, wachst du noch?« Der junge Kaufmann fuhr auf. »Hast du etwas Verdächtiges bemerkt, Robert?« »Nein, nein! Aber gib doch endlich einmal auf, in allen Ecken Gefahren zu suchen. Ich meine nur, was du – hm, hm, was du so überhaupt von unserer gegenwärtigen Lage denkst, und ob sie sich nicht ein wenig verbessern ließe.« Gottlieb stützte sich auf den Ellbogen. »Ich hatte einen Plan«, flüsterte er, »aber die Sache geht nicht. Es gibt hier nur wenige Goldsucher, die sich aus Ekiwas Händen schon ganz freigemacht haben, die meisten hält er an so sicheren Fäden, daß es nur auf ihn ankommt, sie täglich und stündlich zu Bettlern zu machen. Diese Leute arbeiten, um ihre Zinsen zu bezahlen, vom Kapital wird kein Cent abgetragen. Mit Gewalt kann man also gegen den Händler nichts ausrichten.« »Das wäre wohl auch nicht der richtige Weg«, warf Robert ein. »Wir haben freiwillig die Wechsel unterschrieben und sind verpflichtet, sie ordnungsgemäß einzulösen.« Gottlieb schüttelte lebhaft den Kopf. »Jeden Spitzbuben muß man entlarven und womöglich unschädlich zu machen suchen«, rief er. »Aber dieser hier ist ein ganz gewiegter Schlauberger. Er zieht von Minenstadt zu Minenstadt mit den ersten Goldsuchern im Lande herum und beutet die armen Menschen, die sich noch nicht recht zu helfen wissen, rücksichtslos aus. Die Leute sagen, daß er an englischen und deutschen Banken schon Tausende hinterlegt habe.« Robert lachte. »Wie der Kaufmann in dir durchkommt«, sagte er. »Du fühlst ja gegen diesen Wucherer richtige Erbitterung.« Gottlieb ballte die Faust. »Dieser Schuft«, knirschte er. »Der ehrliche Kaufmann kann höchstens fünfzehn Prozent im Durchschnitt verdienen, dieser Mensch dagegen verdient mindestens hundert. Nein, wenn mein Vater wüßte, daß ich mit einem Halsabschneider Geschäfte mache!« Jetzt mußte auch Robert an seine Eltern denken. Ja, wenn sie ihn hier sehen könnten, sein Lager auf bloßer Erde, die undichten Wände und das ganze, nach deutschen Begriffen selbst für einen Pferdestall ungeeignete Gebäude – – Es wurde still in dem engen Raum. Die Gedanken wanderten und glitten unmerklich hinüber in das Land des Traumes. Die beiden jungen Menschen waren zu Hause in Pinneberg, sie erkannten die alte, vertraute Umgebung, sie sahen die Bilder früherer Tage und wußten nichts mehr von der harten Gegenwart. Woche auf Woche verging. Die emsigen Goldwäscher verdienten jetzt, nachdem sie sich in die ganze Art und Weise ihrer neuen Beschäftigung hineingelebt hatten, anstatt der früheren zwanzig Dollar vielleicht fünfundzwanzig und manchmal auch dreißig, sie lebten zurückgezogen wie die Mönche, berechneten jeden Groschen und nutzten jede Stunde, aber die Aussichten für die Zukunft wurden nicht besser. Der Wechsel war zwar bezahlt, die Stiefel aber mußten durch neue ersetzt werden, und die alten Kleider reichten für die kältere Jahreszeit nicht mehr aus. Nachdem das Unentbehrlichste angeschafft war, blieb kein Cent mehr übrig. Gottlieb konnte, obwohl er jetzt schon seit sechs Wochen in den Goldminen lebte, doch seinen Eltern nicht das Allergeringste schicken, und Robert hatte keinen Dollar im Kasten, wenn auch beide zwölf Stunden lang täglich arbeiteten. Der Händler sagte, daß ihnen das Glück außerordentlich günstig sei. Mancher müsse jahrelang Schulden über Schulden machen und könne endlich nur noch die Zinsen bezahlen. In den Goldstädten gebe es keine sichere Lebensgrundlage, sondern eben nur ein »Wer wagt, gewinnt!« Und so wurde unermüdlich fortgearbeitet, zuletzt, als die Tage kürzer wurden, beim Schein eines großen Feuers, das vom Rand der breiten Waschrinne bis in die Tiefe hinab seine roten, zuckenden Lichter warf. Wie Kobolde, wie die Heinzelmännchen aus dem Märchen erschienen dort unten die dunklen Gestalten mit den schweren, bis über die Knie reichenden Stiefeln und dem eng anliegenden Bergmannsanzug aus Leder. Unermüdlich schleuderte Mongo die Steine auf den oberen Rand, unermüdlich hackte Robert und sichtete Gottlieb, aber Woche auf Woche verging, das ersehnte Glück blieb aus, der große Klumpen Goldes, von dem jeder Wäscher träumt, den er hinter jeder Erdscholle vermutet – wurde nicht gefunden. Mongo trug nach Feierabend beim Mondschein sorgfältig die herausgeschaufelten Steine nach Neu-Pinneberg und errichtete dort um die hölzernen Wände herum eine Art Schutzwall, bei dem er zwar lediglich an die kommende Winterkälte dachte, den aber Gottlieb mit großer Freude wachsen sah, weil er nach seiner Meinung Schlangen und Kriechtiere von der Wohnung fernhielt und Raubtieren den Zugang sehr erschwerte. »Du solltest uns auch ein Drahtgitter flechten, Alter«, sagte er, »und eine Eisenstange wollen wir quer vor die Tür legen. Wenn hier nicht alles so teuer wäre, hätte ich fürs Leben gern einen Hund.« »Ach, du bist ein Angsthase, das nimm mir nicht übel. Solltest lieber, um etwas Mut zu bekommen, morgen mit uns auf die Jagd gehen.« Gottlieb erschrak. »Auf die Jagd?« wiederholte er. »Ich danke!« Und dabei blieb es. Er ließ sich kein Gewehr in die Hand drükken, sondern verschloß, wenn am Sonntag seine Gefährten zur Jagd gingen, sorgfältig die Tür und schrieb bogenlange Briefe, in denen er seinen Eltern genauestens schilderte, wie er lebte, und daß es bis jetzt ganz unmöglich gewesen sei, auch nur den kleinsten Überschuß zu erzielen. Diesen Briefen fügte Robert jedesmal eine Einlage bei, und wenn von Gottliebs Familie ein Brief ankam, so hatte er regelmäßig die Freude, auch von seiner alten Mutter ein paar Zeilen vorzufinden. Der Vater dächte immer noch wie früher, hieß es, er wolle von Versöhnung nichts wissen und verlange vor allem ein reumütiges Geständnis, Robert wisse schon, in welcher Beziehung. Das sei an der ganzen Sache das Schlimmste, und wenn einmal ihr Sohn als Bettler in die Heimat zurückkehre, so müsse man darin Gottes Fügung erkennen. Aber, fuhr die Mutter fort, Robert solle doch kommen, lieber heute als morgen, es lasse sich wohl alles ausgleichen, und außerdem habe sie auch von ihrem Bruder Klaus, der ohne Erben gestorben sei, kürzlich ein paar hundert Taler geerbt. Die würden schon reichen. Robert las kopfschüttelnd den Brief zum zweiten-und zum drittenmal. Alle diese Anspielungen, diese Hinweise auf etwas noch Schlimmeres als seine Flucht aus dem Elternhause, – er verstand sie nicht. Sprach vielleicht seine Mutter von den fünfzig oder sechzig Talern, die Georg für ihn aus dem Geldkasten des Vaters genommen hatte? Dachte der Alte an diese verlorene Summe zuerst und dann an den Sohn, der in jedem Brief inständig um Verzeihung bat. Aber er wußte es ja, einen mitfühlenden, freundlichen Vater hatte er nie gehabt, sondern nur einen strengen, unnachgiebigen Erzieher, dessen bürgerliche Ehre tadellos dastand, der aber nichts verzeihen und sich niemals in die Seele seines Kindes hineindenken konnte. Mutlos ließ er den Kopf in die Hand sinken. Überall unter seinen Füßen, da wo er nachts zur Ruhe ging, da wo er sein kärgliches Mahl verzehrte und wo er im Schweiße seines Angesichts arbeitete, – überall konnte das Gold liegen, aber er fand es nicht, fand es nicht, ob er auch grub und schaufelte, bis ihm das Blut aus den Fingern heraussprang. Manchmal, wenn ihn die innere Unruhe überwältigte, fuhr er mitten in der Nacht vom Lager auf, grub im Mondschein an irgendeiner beliebigen Stelle mit fast wahnwitziger Hast ein Loch in den Boden und bildete sich ein, daß er den roten Schatz finden müsse, daß es plötzlich wie Blut unter seiner Hacke hervorquellen werde, unaufhaltsam, ein Königreich, ein Paradies der kühnsten Hoffnungen. – Und wenn dann der graue, nüchterne Wintermorgen mit Hagelschauern und kalten Windstößen langsam aus der Nacht emporstieg, wenn Mongo erschrocken den erschöpften Freund hereinholte in das durchwärmte Haus und ihm vorstellte, daß sein Beginnen töricht sei, daß erst viel, viel tiefer unter der Oberfläche der Erde Gold gefunden werde, dann schüttelte er trübe den Kopf. »Laß mich, Alter, – ich kann nicht ertragen, daß du davon sprichst.« Der Neger überredete ihn jeden Sonntag, wenigstens die Büchse über die Schulter zu nehmen und mit hinauszugehen in den Wald, da gerade jetzt bei der Kälte das Wild viel leichter anzutreffen war als im Sommer. Manches Reh, mancher Hirsch wurde geschossen und an den einzigen Wirt von Lenchi verkauft, manches Moufflon mußte sein wolliges Fell für wärmere Winterkleidung hergeben, mancher Coyote verendete unter Mongos Kugel, aber dennoch gelang es dem gutmütigen Schwarzen nicht, Roberts trübe Stimmung zu verscheuchen. Er hatte seine Mutter dringend um Aufklärung gebeten, hatte sie angefleht, ihm im nächsten Brief mit klaren Worten zu sagen, weshalb der Vater so unversöhnlich sei. »Die erbärmlichen fünfzig Taler können doch unmöglich der Grund sein«, schloß er, »Vater kann doch nicht aus der kleinen Summe ein Ereignis machen, das ihn und mich für immer trennt. Ich habe ihm, der durch diesen Verlust in keiner Weise wirklich betroffen wurde, das Geld genommen, um erst einmal nach Hamburg zu kommen und um es von der nächsten Heuer zurückzuzahlen. Anstatt zu verdienen, konnte ich aber während zweier Reisen kaum das nackte Leben retten, woher sollten also Überschüsse kommen? Vater braucht mir nicht erst zu sagen, daß es niemandes Recht sei, einem anderen ohne Erlaubnis Geld zu nehmen, er sollte aber wissen, daß es die Pflicht eines Vaters ist, seinem Sohn zu helfen und ihn zu halten, wenn er nach seiner Meinung gestrauchelt sei. Doch kann er unbesorgt sein! Ich komme nach Pinneberg nicht eher zurück, bis ich ihm seine fünfzig Taler auf den Pfennig zurückzahlen kann, – nicht eher, und wenn wir uns nicht mehr wiedersehen.« – Als er den trotzigen, erbitterten Brief abgesandt hatte, bereute er sehr bald seine harten Worte. Es tat ihm leid, die alte Mutter so gekränkt zu haben, und heimlich fürchtete er, obwohl er es sich nicht eingestehen wollte, daß vielleicht der Vater inzwischen gestorben sei, ohne daß er sich mit ihm ausgesöhnt habe. So kam es zwar nicht, aber was nach langen, eintönigen Monaten die Mutter antwortete, das beruhigte ihn doch keineswegs. Er möge das alles nur ruhen lassen, schrieb die alte Frau, und kam wieder auf das unerwartet geerbte Geld zurück. »Sei nur erst einmal hier, mein Junge, dann schaffen wir schon Rat, obwohl du – ja, Robert, das muß ich dir sagen! – nicht so offen die Wahrheit verleugnen solltest. Aber laß das nur, laß das, wir haben genug zu essen, auch für dich mit, und wir wollen das Gewesene vergessen, wenn du den Vater nur um Verzeihung bittest. Die Hauptsache ist: komm!« Aber Robert schüttelte den Kopf. »Nie«, dachte er, »nie!« Und so verging der Winter, so kam der Frühling, ohne den drei unermüdlichen Goldwäschern besseren Erfolg zu bringen. Sie waren schuldenfrei, hatten wetterfeste Kleidung und tüchtiges Gerät, ab+er kein Kapital. Gottlieb wußte jetzt, daß seine alten Eltern ins Armenhaus gezogen waren; diese Nachricht hatte ihn schwer getroffen, er wurde krank, und die Freunde mußten ihn pflegen, anstatt zu arbeiten, dann verging längere Zeit, während der er zwar wiederhergestellt, aber doch noch für jede Anstrengung zu schwach war. Robert und Mongo konnten in diesen Wochen nur einen sehr geringen Verdienst erzielen, und es schien, als vereinige sich alles, um dem Glück in den Weg zu treten, um ihren Anstrengungen täglich ein neues, ungeahntes Hindernis entgegenzusetzen. Während die Natur ringsumher zu neuem Leben erwachte, gingen die drei Freunde mit blassen Gesichtern herum, und in Neu-Pinneberg hatte sich die Sorge als steter Gast eingebürgert. Es war an einem Aprilsonntag, als Robert und Mongo im Walde umherstreiften, ohne einen Hirsch aufspüren zu können. Der Ertrag der Jagd war doch immer ein sehr willkommener Zuschuß für die Hausstandskasse, daher unterließen es die beiden Freunde nie, am Sonntag hinauszuziehen und nach Beute Ausschau zu halten. Meistens schossen sie mehr, als sich ohne Hilfe fortbringen ließ, heute aber kehrte ihnen das Glück den Rücken, sie hatten noch kein Tier gesehen und waren doch schon einen tüchtigen Marsch weit von Lenchi entfernt. »Laß uns Vögel schießen«, schlug Mongo vor. »Besser etwas, als gar nichts.« Robert schüttelte den Kopf. »Wir gehen nach Hause«, sagte er unmutig. »Man legt sich ins Bett und schläft, – das ist die einzige Freude, die einem das Leben noch bietet.« »Zu schlafen? Aber Bob, ist es schon so weit gekommen?« Robert antwortete nicht, und die beiden schritten eine Zeitlang schweigend nebeneinander her, bis endlich der Neger in der Absicht, seinen jungen Gefährten etwas aufzuheitern, die Hand ausstreckte und auf mehrere Insekten deutete, die sich in den Blüten am Wege schaukelten. »Das sind Bienen«, sagte er, »wollen wir den Baum aufsuchen, in dem sich das Nest befindet?« Roberts Interesse erwachte plötzlich. »Ein Bienennest?« wiederholte er, »das möchte ich wirklich gern sehen.« »Wir brauchen nur der Flugspur folgen, Bob. Vielleicht sind ja auch ein paar Scheiben Honig zu erobern, obgleich jetzt im Frühling nicht viel vorhanden sein kann.« Die beiden gingen weiter in den Wald hinein, und immer zahlreicher wurden auf den Blumen am Wege die einzelnen Bienen. Je tiefer jedoch die beiden Jäger in das Dickicht vordrangen, desto unruhiger zeigten sich seltsamerweise die kleinen, fleißigen Tierchen. Sie ließen die schönsten Blütensträucher unbeachtet und schwärmten zu Hunderten summend und aufgeregt in der Luft herum. Mongo stand kopfschüttelnd still. Vorsichtig lud er sein Gewehr, ergänzte die Läufe des Revolvers und lockerte auch noch das große Jagdmesser in der Scheide. Robert lächelte. »Nun, Alter«, sagte er, »willst du Bienen schießen und das Wild gleich an Ort und Stelle ausweiden?« Mongo nickte. »Du junger Spitzbube«, sagte er, »tu nur dasselbe. Es kann in keinem Fall schaden!« Robert blieb stehen. »Alter«, rief er, »was hast du denn?« Mongo legte den Finger auf die Lippen. »Pst, Bob. Hier in der Nähe muß entweder ein Mensch oder ein größeres Tier sein«, sagte er. »Die Bienen sind offenbar erschreckt, ihr Eigentum ist bedroht und ihre Sicherheit gefährdet!« Jetzt folgte Robert dem Beispiel seines erfahrenen Kameraden und nahm sein Gewehr in Anschlag. »Vielleicht ein Bär, Mongo?« fragte er halblaut. »Das vermute ich, Bob. Laß uns der Spur nachschleichen, aber sprich nicht.« Die beiden glitten so geräuschlos wie möglich durch das dichte Unterholz vorwärts, bis eine kleine Waldlichtung plötzlich größere Vorsicht erforderte. Das Schwirren der Bienen schien hier seinen Mittelpunkt gefunden zu haben. Stellenweise hatten sich Tausende zu einem Schwarm geballt. Mongo hob warnend die Hand. »Vorsichtig, Bob, hier herum muß es sein.« Robert war wie umgewandelt. Aller Mut, alle Lebenslust waren plötzlich zurückgekehrt. Das Jagdfieber hatte ihn ergriffen. »Wir wollen hier einen Augenblick warten«, flüsterte Mongo. »Auf die Lichtung hinauszutreten wäre unvorsichtig, bis wir nicht genau wissen, woran wir sind. Aber dort ist eine kleine Lücke, wie mir scheint, – – ich gehe voran.« Er glitt durch das weiche, jeden Schall dämpfende Gras und spähte durch die Zweige, während Robert leise nachschlich. Ganz geräuschlos drangen sie vorwärts und erreichten sehr bald den Beobachtungspunkt. Mongo winkte mit der Rechten. »Schau her!« flüsterte er lächelnd. Robert lugte durch die Zweige und hätte beinahe einen Schrei der Überraschung ausgestoßen. Jenseits der Lichtung, am Saum des Unterholzes, stand ein uralter, vielleicht tausendjähriger Baum, dessen unterer Stamm halb verfault war und eine breite Höhle zeigte. Gelbe, schwammige Auswüchse bedeckten den Zugang des Bienennestes, das sich jeden falls im Inneren der alten Eiche befand, Tausende von summenden Insekten verdunkelten die Luft, und vor dem Baum stand der Störenfried, dessen Erscheinen die fleißigen kleinen Tierchen aufgescheucht hatte. Ein mittelgroßer Bär mit glänzend braunem Fell lehnte auf seinen Vorderpfoten gegen den Baumstamm und suchte mit seiner spitzen Schnauze in der unzugänglichen Höhlung nach der ersehnten Beute. Jetzt steckte er den ganzen Kopf in das Loch hinein, so daß er im Augenblick weder hören noch sehen konnte, was um ihn herum vorging. Mongo schob mit schneller Handbewegung seinen jungen Freund vor die Lücke, an der er selbst stand. Die eigene Waffe schußbereit haltend, keinen Blick von dem Raubtier lassend, flüsterte er gutmütig: »Schieß, Bob, schieß, aber ziele nach dem Hals, hörst du!« Robert legte an. Sein Auge glühte, sein Herz schlug schneller, die Jagdlust beherrschte ihn. Noch eine halbe Minute, dann krachte der Schuß. Und nun geschah etwas Unbegreifliches. Anstatt den Kopf des Bären zu treffen, schlug Roberts Geschoß auf halbem Wege mitten in der Luft gegen einen harten Körper, es gab einen plötzlichen, scharfen Laut, und völlig plattgedrückt schlug die Kugel dicht neben dem jungen Mann in das Gebüsch zurück. Der Schuß selbst verhallte wie der Donner eines schweren Gewitters. Im gleichen Augenblick wandte der Bär den Kopf, sah einen Augenblick zu den beiden Jägern herüber und ließ dann seine Vorderpfoten vom Baum herabgleiten. Er ging gerade auf seine Feinde los. »Mongo«, schrie Robert, »was war das? – Um Gottes willen, gib Feuer!« Die Mahnung war überflüssig. Ohne sich um den Grund des seltsamen Zwischenfalls weiter zu kümmern, hatte der Neger sein Ziel ins Auge gefaßt und den Kopf des Bären aufs Korn genommen. Der Schuß krachte, und das tödlich getroffene Raubtier wälzte sich im letzten Kampf am Boden. Jetzt erst sah Mongo nach allen Seiten. »Junge«, sagte er, »es ist nur eine Erklärung möglich. Noch ein zweiter Jäger muß mit dir zugleich geschossen haben, und beide Kugeln trafen sich auf ihrem Weg zum Ziel.« Noch ehe Robert antworten konnte, bestätigte sich die Richtigkeit dieser Vermutung. Über die Lichtung kam mit schnellen Schritten ein hochgewachsener, schlanker Mann von etwa fünfzig Jahren. Das braune, ganz bartlose Gesicht, die dunklen, ernstblickenden Augen, das kurzgeschnittene Haupthaar und die gerade Haltung machten einen vertrauenerweckenden Eindruck, während dagegen die eigentümliche, halb indianische Kleidung den Blick unwillkürlich fesselte. Auf dem Kopf trug dieser Mann eine Mütze aus Biberfell, mit mehreren Adlerfedern geschmückt. Seine eng anliegende Kleidung bestand aus Leder, unterhalb der Knie trug er Gamaschen aus gleichem Stoff. Sie waren ohne Zweifel eine indianische Arbeit und zeigten reiche Verzierungen aus Federn, kleinen Muscheln, den Borsten des Stachelschweines und einer Art geschnitzter Knöpfchen aus rotem Seifenstein. Tierköpfe, Sternenbilder und Schlangen, alles war über- und nebeneinander in künstlicher Stickerei dargestellt, ebenso hatte der breite Ledergürtel mit daranhängender Scheide eine geschmackvolle Verzierung aus Muscheln und kleinen flachen Steinen. An der linken Hüfte des Jägers hing eine Jagdtasche aus Otterfell mit darübergeknüpftem Bezug aus Bindgarn. »Da haben wir's!« rief Mongo. »Ein Trapper!« Robert sah mit fragenden Augen der fremden Erscheinung entgegen. »Haben Sie vorhin geschossen, Sir?« rief er. Der Pelzjäger neigte leicht zum Gruß das Haupt. »Gottes Frieden mit euch!« sagte eine wohlklingende, tiefe Stimme. »Der Bär ist eure Beute.« »Aber Sie haben doch auch geschossen?« wiederholte Robert. Der Trapper sah ihn lächelnd an. »Mein junger Freund hat eine bewegliche Zunge«, sagte er. »War es seine Kugel, die im Fluge die meinige traf?« Robert errötete leicht. »Mongo«, rief er, »du hattest also doch recht.« »Es war nicht anders möglich, Kind.« Der Trapper sah von einem zum andern. »Wessen Kugel traf gegen die meine?« fragte er wieder. »Ich schoß auf den Bären«, erwiderte Robert, »wahrscheinlich mit Ihnen zugleich, Sir! Daß sich die Kugeln begegneten, ist ein merkwürdiger Zufall.« Der Pelztierjäger neigte den Kopf. »Es gibt keinen Zufall, mein junger Freund«, sagte er in seiner halbindianischen Sprachweise. »Der Flug des Vogels wird geleitet von unsichtbarer Hand, der Zug der Wolken ist ein Verkünder des Menschenschicksals. In dem Zusammentreffen der beiden Kugeln sprach der große Geist, – zu mir und zu dir.« Robert fand die Erscheinung des seltsamen Mannes von Augenblick zu Augenblick anziehender. Obgleich seiner Gesichtsbildung nach ein Weißer, war er doch so braun wie die Indianer des hier heimischen Comanchenstammes. Robert mußte an Unkas, den letzten Mohikaner denken, an Lederstrumpf und viele andere Namen, die er aus Büchern kannte, als er den hochgewachsenen Mann vor sich stehen sah. »Wie meint Ihr das?« fragte er. »Sollte der kleine Vorfall seine tiefere Bedeutung haben können?« Der Pelzjäger streckte die Hand aus. »Wer kann in die Zukunft sehen?« erwiderte er ernst. »Der große Geist redet, und seine Kinder horchen. Vielleicht kommt die Stunde, in der du meiner bedarfst, – oder ich deiner, – je nachdem. Der ›Jaguar‹ wird kommen, sobald du ihn rufst, er wird an jedem Abend auf dein Zeichen achten und an jedem Morgen die Wolken nach ihrer Sendung fragen.« Roberts Spannung wuchs mehr und mehr. »Aber Ihr wißt nicht, wer ich bin, nicht wo ich wohne«, sagte er. Der Trapper deutete mit der Rechten in die Gegend des Minenlagers. »Du wohnst in dem Talgrunde, den die Weißen Lenchi nennen«, antwortete er, »und du suchst in den Eingeweiden der Erde die gelben Körner, für die ihr eure Seelen verkauft. Der Jaguar kennt deinen Namen nicht, aber er wird dich finden, wenn ihm der große Geist befiehlt, deinen Wigwam zu suchen.« Robert nannte seinen Namen und fragte dann, ob die Bezeichnung »Jaguar« nur Scherz sei, oder ob der Trapper wirklich so heiße. »Seid Ihr denn nicht ein Weißer wie ich?« fügte er hinzu. Eine Pause folgte dieser Frage. Man sah, daß der Pelzjäger nur ungern antwortete. »Der große Geist liebt seine weißen und roten Kinder mit gleicher Stärke und gleicher Treue«, erwiderte er dann. »Der Jaguar ist der Bruder der Comanchen.« Robert erkannte, daß er nicht weiter fragen dürfe. Mochte sich hinter dem seltsamen Namen des Fremdlings vielleicht ein anderer verbergen, den er einst als Kind in christlicher Taufe erhalten hatte – heute war der sonnenbraune Mann ein Gefährte und Freund der Indianer, heute sprach er vom großen Geist, anstatt von Gott, aber er fürchtete und verehrte die Gesetze dieses ewigen Vaters, und dadurch wurde der Unterschied ausgeglichen. »Meine Brüder wollen vor Nacht zurück in die Stadt der Weißen?« fuhr er fort. »Es sind fünf Stunden bis dahin, und der Bär ist eine schwere Last.« Robert dachte jetzt wieder an das erlegte Tier, das unter Mongos Händen inzwischen sein schönes, wolliges Fell hergegeben hatte. Der Neger schnitt die Keulen heraus, während das übrige als ungenießbar den Coyotes überlassen wurde. Er trocknete gerade an einigen breiten Blättern das Messer, als ihn Robert anredete. »Soll ich dir helfen, Alter?« Mongo lächelte gutmütig. »Jetzt nicht mehr, mein Guter«, sagte er mit freundlichem Spott. »Aber schleppen mußt du, daß dir der Buckel kracht.« Robert lachte. »Ein hübscher Trost für den weiten Marsch«, antwortete er. Der Jaguar legte die Fingerspitzen auf seine Schultern. »Kennt mein weißer Bruder den Weg über den Brown-Creek?« fragte er. Mongo und Robert verneinten. »Dann würden wir dem Minenlager um ein großes Stück näher sein«, erwiderte der Neger. »Aber von Lenchi aus ist kein Übergang zu entdecken.« Der Pelzjäger deutete mit der Rechten nach Norden. »Ich kenne die Stelle, wo der Brown-Creek so schmal ist, daß er durchwatet werden kann«, sagte er. »Wenn mir meine Brüder folgen wollen, so werde ich vorangehen.« »Das nehmen wir gern an!«, rief der Neger erfreut. »Einige Stunden weniger ist für alte Knochen ein äußerst angenehmes Geschenk.« Auch Robert erklärte sich einverstanden, und nachdem der Trapper schweigend einen Teil des fortzuschaffenden Fleisches auf seine Schultern geladen hatte, machten sich die drei Männer in der Abenddämmerung auf den Weg. Es war für die beiden Freunde ein eigentümliches Gefühl, sich so in der pfadlosen Wildnis dem völlig unbekannten Führer gewissermaßen mit gebundenen Händen wehrlos zu überliefern. Wenn er sie vielleicht in einen Hinterhalt locken oder den Comanchen als Gefangene zuführen wollte? Aber nein, dieser Mann konnte keinen Verrat begehen. Robert verwarf den Gedanken ebenso schnell, wie er gekommen war. Allerdings bewachte er fast unausgesetzt jede Bewegung des Pelzjägers, ohne jedoch wirklichen Argwohn zu spüren, da Mongo, der gründliche Menschenkenner, so vollkommen ruhig schien. Allmählich begann er wieder auf die Umgebung zu achten. Die wundervolle Ruhe der Frühlingsnacht, das leise Spiel der windbewegten Zweige auf den von hellem Mondlicht überfluteten Lichtungen, der schwere Flügelschlag vorüberhuschender Nachtvögel, das eilige Rascheln aufgescheuchter kleiner Tiere im Laub, alles das nahm ihn mehr und mehr gefangen. Auf freien Flächen, wo sich die Schatten in scharf begrenzten. Umrissen abzeichneten, schien der Pelzjäger mit seiner spitzen, reichverbrämten Kopfbedeckung, mit der hohen Gestalt und dem eng anliegenden Anzug ein vorweltlicher Riese zu sein, wie ihn uns die Märchendichter malen. Er ging mit leichten Schritten schweigsam und aufrecht durch die Wildnis voran, bis endlich nach mehrstündigem Marsch das Ufer des Brown-Creek erreicht war. Nach kurzer Wanderung am Fluß entlang traf man auf ein dichtes Gebüsch, das sich fast bis auf den Wasserspiegel herabneigte. Zugleich schienen Felsen den Wasserlauf zu hemmen; eine graue, steile Wand schob sich neben dem Gebüsch in den Fluß hinein, und das Plätschern der Wellen war verschwunden. Der Trapper stand still und suchte mit den Augen eine bestimmte Stelle der Felswand. »Hier ist es«, sagte er. »Meine Brüder mögen mir folgen.« Es war eine enge, gewundene Felsspalte, die sich bald darauf zu einem Gewölbe öffnete, durch die der Pelzjäger seine neuen Freunde führte. Nach wenigen Schritten in tiefer, grabesähnlicher Finsternis schien plötzlich von oben herab der Mond wieder auf den Weg. Von rechts her fiel das Wasser langsam sickernd durch einen engen Kanal in seinen für eine kurze Strecke unterbrochenen Lauf zurück, während sich auf der linken Seite ein ähnlicher Abfluß öffnete. Das Wasser war innerhalb dieser natürlichen Höhlung kaum anderthalb Meter tief, so daß es leicht und ohne alle Gefahr durchwatet werden konnte. Auf der entgegengesetzten Seite mußte ein ziemlich steiler Abhang erklettert werden, und dann war die bekannte Umgebung von Lenchi erreicht. Noch eine Stunde Marsch stand den beiden Goldsuchern bevor, bis sie sich in Neu-Pinneberg ausruhen konnten. Der Trapper ließ die Bärenkeule, die er bis jetzt getragen hatte, auf das Moos herabgleiten. »Meine Brüder können von hier aus ohne Führer ihren Wigwam erreichen«, sagte er freundlich. »Der Jaguar wünscht ihnen eine gesegnete Nachtruhe.« Mongo drückte dankbar seine Hand. »Möchten wir bald in der Lage sein, Euch Euren Freundschaftsdienst vergelten zu können, Jaguar«, erwiderte er, »und möchten wir Euch einmal bei uns als Gast willkommen heißen. Nehmt unseren herzlichsten Dank.« Der Pelzjäger behielt seine stolze, wenn auch liebenswürdige Haltung. Er richtete auch an Robert den gleichen Abschiedswunsch. »Du und ich, wir sehen uns heute nicht zum letztenmal«, sagte er. »Unser Lebensfaden läuft eine Zeitlang vereint.« Robert hielt die braune Hand des Trappers. »Wann kommst du uns besuchen?« fragte er. Der Jaguar deutete mit erhobenem Arm zum Himmel. »Sieh die Wolken«, sagte er, »sie sind die Propheten und Sendboten des großen Geistes. Von Lenchi nach den Jagdgründen der Comanchen ziehend, immer drei in einer Reihe – siehst du sie?« Robert hätte nicht lachen können. Er nickte stumm. »Nun«, fuhr der Pelzjäger fort, »ehe drei Nächte vergehen, wirst du meiner bedürfen. Der große Geist hat gesprochen.« Fast kalt überlief es den jungen Mann bei diesen Worten. Die Art und Weise des Fremdlings hatte etwas so Seltsames, Pakkendes. Es war unmöglich, das, was der Jaguar mit solcher Bestimmtheit behauptete, als Torheit zu verlachen. »Versteht es mein weißer Bruder, das Geschrei der Elster nachzuahmen?« fuhr der Jäger fort. Robert lächelte. Schon als zehnjähriger Junge konnte er die Stimmen vieler ihm bekannter Tiere nachahmen. Statt einer Antwort klang täuschend ähnlich das Krächzen und Kollern der Elster in die Nacht hinaus. Der Jaguar neigte das Haupt. »An jedem Abend, wenn die Sonne untergeht, findet mich bei dem Übergang des Brown-Creek dein Ruf«, fuhr er fort. »Dreimal in kurzen Pausen ahmst du die Elster nach, und ich verspreche dir, an deine Seite zu treten.« Robert drückte seine Hand. In mancher Beziehung verriet doch das Wesen des Trappers noch den Weißen. Er gab die Rechte, was kein Indianer tut, und berührte zum Abschied die spitze Mütze. Robert fühlte sich seltsam berührt. »Ist das, was mir bevorsteht, Gutes oder Böses, Jaguar?« fragte er beklommen. Der Pelzjäger blickte wieder zum Himmel empor. Er schien von dem Indianerglauben an die weissagende Kraft der Wolken vollkommen durchdrungen. »Sieh die drei weißen Inseln im blauen, unendlichen Meer«, erwiderte er, – »ein Stern leuchtet hindurch. Er beschützt dein Haupt, er bedeutet dir Segen. Gute Nacht!« – Die braune Hand zog sich zurück, der Pelzjäger stand mit kurzem Sprung auf dem natürlichen Wall und war im nächsten Augenblick verschwunden. Der Nachtwind fuhr über die Stelle, an der er gestanden hatte, im Osten dämmerte schon ein heller Streif, und bis nach Lenchi war es noch weit. Schweigend, beide unter dem Eindruck des eben Erlebten, gingen die beiden Freunde über die wohlbekannten Wege ins Tal hinab. Es wurde nichts mehr gesprochen, nur vor der Tür von Neu-Pinneberg legte Robert die Hand auf Mongos Schulter. »Laß die Sache vorderhand unter uns bleiben, Alter«, flüsterte er. »Gottlieb denkt sonst womöglich, daß der Jaguar in nächster Nacht mit einer Indianerhorde geritten kommt, um unsere Skalpe zu rauben.« Mongo lachte. »Du junger Spitzbube«, antwortete er nur, aber Robert wußte, daß er unbedingt auf seine Verschwiegenheit zählen konnte. Als die beiden das Innere der Hütte betraten, sahen sie den geängstigten Gottlieb, wie er in einer Ecke kauerte und sein Gewehr krampfhaft in beiden Händen hielt. »Mein Gott, wo seid ihr gewesen?« rief er. »Ich hatte schon Angst, euch hätten wilde Tiere gefressen.« Robert ließ das Fell und die Keule auf den Fußboden gleiten. »Beinahe hättest du recht gehabt«, lachte er. »Wir bringen aber den Bären mit, anstatt ihm zum Fraß zu dienen.« Gottlieb sprang auf, wie von einer Feder geschnellt. »Du hast einen Bären – –« Mehr konnte er nicht hervorbringen. Die Büchse schwankte in seiner Hand wie ein geknickter Halm. Robert breitete im Mondschein das Fell aus. »Beruhige dich«, sagte er. »Dieser Meister Petz ist nur noch ein Stück Vergangenheit!« – Lachend warf er sich auf sein Lager und schlief bald darauf ein. Am folgenden Morgen ging Gottlieb zum erstenmal wieder mit hinaus an die Arbeit. Obwohl er nur wenig helfen konnte, wurde doch im ganzen mehr geschafft, als während der letzten Wochen, während der er vollständig gefehlt hatte. Der Ertrag war überhaupt ein sehr guter, das Wolltuch blitzte von Gold, und die Stimmung nahm dementsprechend einen erneuten, festlichen Aufschwung. Man arbeitete tapfer, um womöglich das Versäumte wieder einzuholen. Die Jagdbeute wurde mit lebhaftem Beifall begrüßt und mit blanken Dollars bezahlt, alles schien nach Wunsch zu gehen, und Robert dachte bei sich, daß doch die Prophezeiung des Trappers nur ein Schattenbild, ein Hirngespinst gewesen sein könne. »Wie sollte ich zwischen heute und morgen in die Lage kommen, die Hilfe dieses fremden Mannes in Anspruch nehmen zu müssen?« fragte er sich. »Es ist fast undenkbar.« Dennoch aber kamen ihm die Worte des Jaguars nicht mehr aus dem Sinn. Am dritten Morgen herrschte fast tropische Hitze. Das seltsam unbeständige Klima Kaliforniens schwankt unvermittelt zwischen glühender Hitze und empfindlicher Kälte, und gerade an diesem Tage schien die Luft vollständig stillzustehen. Kein Hauch bewegte die Blätter auf den Bäumen, und kein Vogel sang. Die drei Freunde arbeiteten trotz der glühenden Hitze eifrig weiter, da die Ausbeute gut zu werden versprach. Bei jedem neuen Axtschlag erschienen mehr glitzernde Punkte in dem losgebröckelten Erdreich, immer näher rückte endlich der ersehnte Erfolg. Am Abend war der erzielte Gewinn größer als jemals zuvor. Robert und Gottlieb atmeten auf. Endlich schien sich das Glück ihnen zuzuwenden. Endlich fanden die langen, erfolglosen Mühen den schwerverdienten Lohn. »Noch zwei Monate so wie heute!« dachte Robert, »und ich habe das Geld, das mir fehlt, um es meinem Vater zurückzuzahlen, ich kann in San Franzisko eine Heuer suchen und in einigen Wochen in Pinneberg sein. O Gott, wenn es gelänge.« Er saß auf einer Kiste und träumte vom Wiedersehen in der Heimat, – er sah sich in Pinneberg bei seinen Eltern und war glücklich, endlich wieder zu Hause zu sein. Robert hörte nicht, daß sich draußen der Wind erhob und Wolken von Staub gegen die einzige Scheibe der Hütte warf, daß leise grollend der Donner heraufzog und fahler Schein den westlichen Horizont erleuchtete. Kein Regentropfen kühlte die unerträgliche Hitze, – nur immer stärker rollte es und knatterte und zischte, bis endlich ein furchtbarer Schlag die Luft zerriß. Robert fuhr auf. Den gelben Blitz hatte er gesehen, ohne daß er sich dessen wirklich bewußt wurde. Jetzt aber zerriß der Traum, – der furchtbare Wetterschlag hatte ihn zerstört. Robert wollte vor die Hütte treten und sich nach seinen beiden Gefährten umsehen, aber ein solcher Wirbel von Staub quoll ihm entgegen, daß er den Plan fallen lassen mußte. Mongo und Gottlieb würden sicherlich bei diesem Wetter im Wirtshaus Zuflucht gesucht und gefunden haben. Er setzte sich wieder an seinen früheren Platz, aber der Faden seines schönen Traumes war doch zerrissen. Im Gegenteil, er fürchtete jetzt nur, der Grund der Waschrinnen könnte morgen so durchweicht sein, daß sich nicht arbeiten ließ. Robert lächelte. »Ich gerate in Gottliebs Fahrwasser!« dachte er. Und während sein Blick die vorüberwirbelnden, völlig undurchsichtigen Staublawinen mit einiger Sorge beobachtete, erscholl plötzlich auf der Straße ein Ruf, der ihm das Blut in den Adern erstarren ließ. Er sprang auf, er horchte voll Angst, – vielleicht, vielleicht hatte ihn ja sein Ohr getäuscht, vielleicht war das Schreckliche nur ein Irrtum! Aber schon nach wenigen Augenblicken mußte er erkennen, daß er durchaus richtig gehört hatte. Noch einmal, noch zehnmal, hundertfach wiederholte sich der Schreckensruf in dem tosenden Unwetter. »Feuer! – Feuer! –« Die Stadt aus Holz und geteertem Segeltuch brannte. Der Wirbelwind trug die Funken wie einen glühenden Regen über die Dächer weiter. Es gab nur einen einzigen Wasserlauf in der Nähe, man hatte keine Feuerspritze, keine Leitern, keine Noteimer, man rannte in plötzlicher Angst kopflos hin und her, während der Himmel schwarz und bleigrau in tiefen Wolken herabhing, ohne daß auch nur ein einziger Regentropfen fiel, – während die gefräßigen Flammen mit tausend roten Zungen an den ausgedörrten Holzwänden emporleckten, und in rasender Schnelle wachsend bald zum Glutmeer wurden, in dessen Nähe sich nichts Lebendes mehr wagen durfte. Robert stürzte jetzt hinaus auf die Straße. Alles wirbelte ihm entgegen. Schreiende Frauen und Kinder, Männer, die ratlos dies und das vorschlugen, ohne aufeinander zu hören, ohne vielleicht selbst zu wissen, was sie sprachen. Daß es tatsächlich keine Rettung gab, sah im Grunde jeder. Und immer heißer wurde die Luft. Brennende Holzstücke und Stoffetzen schleuderte der Sturm auf entfernte Dächer, an zehn Stellen loderte es empor, blutrote Gluten färbten den Himmel. Mongo und Gottlieb stürzten durch den dichten Rauch herbei; wie ein Verzweifelter warf sich der junge Pinneberger auf die Kiste, die sein ganzes Hab und Gut enthielt. »Meine Eltern«, schluchzte er, »o meine unglücklichen Eltern! Ich werde sie nie wieder aus dem Armenhause erlösen können!« Und halb sinnlos vor Schmerz schlug er mit der Stirn gegen die harte Kiste. Sein Weinen klang herzzerreißend. »Mongo«, fragte Robert verstört, »ob wohl das Feuer bis hierher kommt?« Der Neger fuhr sich seufzend durch das weiße Haar. »Es ist ein Unglück, Bob«, erwiderte er, »aber wir müssen es eben wie Männer ertragen. In zehn Minuten brennt unser Haus, – in zehn Minuten sind wir Bettler, denn auch die Waschrinne wird dermaßen verschüttet werden, daß wochenlange Arbeit notwendig ist, um sie wieder gebrauchsfähig zu machen.« »Um Gottes willen! – Und das in einem Augenblick, als ich glaubte und hoffte, daß nun eine neue und bessere Zeit anbrechen werde.« Der Alte streichelte Roberts blasses Gesicht. »Du weißt ja nicht, wozu dieser neue schwere Schlag gut ist, mein Junge«, tröstete er. »Auch dies Unglück ist von Gott gesandt, obwohl es so aussieht, als hätte sich das Glück gegen uns verschworen. Komm, Bob, warst ja in schlimmeren Stunden ein ganzer Mann, sei es also auch heute. Hilf mir, unsere Decken und unser Arbeitsgerät zu bergen.« Robert fuhr auf. »Du hast recht, Alter«, sagte er. »Wir wollen nie verzweifeln. Laß uns tun, was irgend möglich ist.« Der Neger sah zu der brennenden Siedlung hinüber. Nur noch fünf Häuser standen zwischen Neu-Pinneberg und dem zischenden, knisternden Flammenmeer. »Schnell!« rief er. »Da fliegen schon die ganzen brennenden Wollhemden und Jacken aus Samuel Ekiwas Laden auf unser Dach. Arme Hütte, du hattest trotz des schönen Richtspruchs kein Glück.« Er ging rasch hinein, und Robert folgte ihm. Gottlieb lag noch regungslos mit dem Gesicht auf der Holzkiste. »Komm, Freund«, drängte Mongo, ihn an der Schulter rüttelnd. »Komm, es ist höchste Zeit, oder du läufst Gefahr zu ersticken.« Gottlieb antwortete nicht, erst als auch Robert ihm zuzureden versuchte, schüttelte er stöhnend den Kopf. »Laßt mich, – laßt mich, ich will nicht gerettet werden. Was nützt mir das Leben, wenn ich ein Bettler bin?« Aber Mongo verstand die Sache anders. Als der verzweifelte junge Mensch in seine vorige Lage zurücksinken wollte, ergriff er ihn und stellte ihn mehr kräftig als sanft auf die Füße. »Bitte deinen Herrgott um Verzeihung, Bursche«, sagte er streng, »und da, diese Decken trage hinaus! Beeile dich, das Feuer ist dir hart auf den Fersen.« Er selbst und Robert ergriffen inzwischen die wenigen Einrichtungsgegenstände, die in Neu-Pinneberg überhaupt vorhanden waren, Gottlieb wurde ohne weiteres gezwungen, mit anzupacken, und als bald darauf die Flammen das kleine Gebäude erfaßten, da war es wenigstens leer. Das Hab und Gut der unglücklichen Goldwäscher lag in einiger Entfernung von der Brandstätte auf einem Haufen, während die Menschen stumm zusahen, wie ihre Häuser krachend einstürzten und in einer jähen, plötzlich aufwirbelnden Lohe in sich zusammensanken. Nach zwei Stunden hatte das verheerende Feuer die ganze Stadt zerstört. Dumpfe Verzweiflung lastete auf den Menschen, unheimliche Stille lag über der ganzen Stätte der Vernichtung. Gegen Morgen fiel der Regen in Strömen herab. Was in Lenchi atmete, wurde bis auf die Haut durchnäßt, kein Feuer konnte entzündet werden, die Lebensmittel waren verbrannt und das schlimmste, die Waschrinnen, wie Mongo vorausgesagt hatte, vollständig verschüttet. Das Stampfen und Flüchten der Tiere, die eiligen Fußtritte der Menschen, hatten hier und da die Erde in den künstlichen Kanal zurückgeworfen, Trümmer aller Art waren hineingefallen, Asche und Stroh bildeten große Haufen. So mußte sich das Wasser, das die Goldwäscher künstlich abgeleitet hatten, jetzt, nachdem ihm der Weg versperrt war, eine andere Bahn suchen. Allmählich überflutete es alle Straßen der verbrannten Stadt, wohin die Menschen traten, da versanken ihre Füße im Schlamm, und als endlich hinter den dichten Regenwolken die Sonne erschien, beleuchtete sie ein Bild furchtbarer Verwüstung. Die drei Freunde saßen nebeneinander auf einem Baumstamm, den Mongo kürzlich von Ästen und Zweigen befreit hatte, um ihn als Heizungsmaterial zu verwenden. Der Regen fiel plätschernd auf ihre Köpfe herab, die Füße standen im Wasser, und die Hände lagen untätig im Schoß. Heute war auch Robert mutlos. »Man hat keine Wohnung, nichts zu essen, und was das Schlimmste ist, keine Arbeit.« »Um so mehr muß man sich bemühen, den Kopf oben zu behalten, Bob.« Robert hob beide Hände empor. An seinen vollständig durchnäßten Kleidern liefen die Tropfen überall herab. »Aber was sollen wir anfangen?« fragte er ganz hoffnungslos. »Es ist ja alles verloren.« Mongo sah ihm bedeutsam ins Auge. »Und das sagst du, Bob?« Robert errötete. Zwar hatte er sich während der langen, schrecklichen Nacht mehr als einmal unwillkürlich der sonderbaren Andeutungen des Pelzjägers erinnert, aber immer noch konnte er die Sache nicht ernst nehmen. »Und wenn ich hinginge«, dachte er, »wenn ich die Hilfe des Jaguars in Anspruch nähme, – was könnte es mir nützen?« »Laß uns erst einmal sehen, ob nicht an irgendeiner Stelle Kaffee gekocht wird«, schlug der Neger vor. »Einige von den Goldwäschern hatten ja Petroleumöfen.« Gottlieb drückte mit kläglicher Miene das Wasser aus seiner Mütze. »Es gibt hier ja kein Dach mehr!« ächzte er. Das klang doch so komisch, daß die beiden andern trotz der Schwere des Augenblicks laut lachen mußten. »Komm, Bob«, rief Mongo, »wo war es schlimmer, hier unter Menschen, wo die Luft warm ist, wo es Trinkwasser gibt, oder – am Eismeer, in der Felsenwüste ohne Baum und Strauch, ohne eine Quelle, ohne Wild, ganz allein und verlassen! – Sag, mein Junge, wo war es schlimmer?« Robert nickte. »Dort, Alter«, antwortete er, »sicherlich dort.« Wenn wir aber bei alledem nur erst einmal einen Zufluchtsort gefunden hätten, und wenn der entsetzliche Regen aufhören wollte. Das Geschirr rostet, die Gewehrmunition wird unbrauchbar und Lebensmittel werden auch kaum noch zu bekommen sein. Gottlieb deutete mit einer leichten Neigung des Kopfes zur Seite. »Dort stolpert Samuel Ekiwa heran!« sagte er. »Was mag der wollen?« Wirklich kam der kleine Händler über die Schutthaufen und Wassertümpel dahergehüpft wie eine Bachstelze. Auch er troff von oben bis unten, aber das listige Gesicht zeigte keineswegs Trübsal oder Verzweiflung. Schon von weitem begrüßte er die drei. »Nichts gerettet?« rief er, sich umsehend. »Alles verbrannt? – Mit Erlaubnis!« Und dann setzte er sich auf das Ende des Baumstammes, wollte in gewohnter Weise die Stirn mit dem Taschentuch trocknen, fand es aber noch bedeutend durchnäßter als sein Gesicht selbst, und steckte das Tuch, nachdem er es ausgerungen hatte, wieder ein. »Was werden die Herren jetzt zunächst beginnen?« fragte er. »Schon ein Plänchen fertig?« »Haben Sie etwa einen Vorschlag, Mr. Ekiwa?« erwiderte Robert. »Vielleicht!« schmunzelte der kleine Mann. »Vielleicht! Zwei machen ein Paar, wie Sie wissen, meine Herren!« »Gut, versuchen wir also, ob es uns gelingt, eine Einigung zu finden.« Der Händler blinzelte vertraulich. »Zunächst müssen Sie bauen!« sagte er. »Aber es ist in Lenchi kein einziges Brett aufzutreiben, es kann Ihnen niemand helfen, da jeder für sich selbst genug zu tun hat. Was denken Sie also anzufangen?« Robert zuckte die Achseln. »Es ist bald Sommer, wir können ja zunächst ein Zelt aufschlagen«, meinte er. »Well, Sir, well, sehr richtig. Dachte ganz das Gleiche. Habe einen hübschen Posten geteertes Segeltuch, ebenso Schießbedarf und Kleidungsstücke, alles was Sie wünschen, was zur neuen Einrichtung erforderlich ist. Wirklich, Sir, ich greife ihnen nach Kräften unter die Arme, meine es mit Ihnen und den beiden anderen Herren wie ein Bruder, können Sie glauben. So viele Abnehmer für die Ware! – Puh, so viele wie Sand am Meer, aber hierher komme ich zuerst, wahrhaftig. Sie müssen schon in der nächsten Nacht wieder unter Dach und Fach schlafen.« Er nickte bei jedem seiner Worte, und die Regentropfen rannen an seiner langen Nase regelmäßig wie exerzierende Soldaten nacheinander herab. »Schlagen Sie ein, Sir«, sagte er. »Außer mir besitzt niemand hier in Lenchi das, was Ihnen fehlt.« »Aber wie haben Sie das alles vor dem Feuer schützen können, Mr. Ekiwa?« Der Händler schmunzelte. »Eiserne Kisten, Sir, Sicherheitsschlösser, teure Ware, teure Fracht. Aber was tut man nicht, um andern gefällig zu sein, was muß man nicht wagen, um mit Ehren durch die Welt zu kommen!« Hier streckte Gottlieb die Hand aus. »Mr. Ekiwa«, sagte er, »welche Preise machen Sie in diesem Augenblick für Zeltleinen und Gewehrmunition?« Der Händler zuckte die Achseln. »Teurer als gewöhnlich wird es werden, Sir.« »Das ist begreiflich. Aber wieviel teurer, Mr. Ekiwa?« »Hm, ich gebe Ihnen das notwendigste Zelttuch und Bindgarn, für jeden einen neuen Anzug, ein paar Hemden und Strümpfe, Schießbedarf, Seife, kurz alles, was Sie im Augenblick brauchen, ich sorge für die Herren wie ein Bruder, bewillige sechs Monate Frist und verlange für diese Hilfe nur einen Wechsel über tausend Dollar, von jedem von Ihnen unterschrieben.« Gottlieb sprang wie außer sich auf seine Füße. »Das dachte ich mir!« rief er in höchster Entrüstung, »das wußte ich im voraus. Herr, Sie sind ein – –« Mongos Hand legte sich ermahnend auf seine Schulter. »Still, Gottlieb, nicht grob werden, mein Junge. Man sagt leicht ein Wort zuviel, wie du weißt.« Der Händler nickte wie eine chinesische Pagode. »Mag überhaupt mit diesem Herrn nichts zu tun haben«, rief er. »Halte ihn für einen ganz unerfahrenen Burschen, der besser zu Hause geblieben wäre, um sich hinter seiner Mutter zu verstecken und sich von ihr mit Zwiebackbrei füttern zu lassen! – Mr. Kroll, was sagen Sie zu meinem Plan?« Robert erhob sich etwas heftig von seinem Sitz. »Daß ich genau so denke, wie mein Freund!« erwiderte er. »Ich unterschreibe keinen Wechsel, der mir die Kehle zuschnürt. Zweihundert Dollar, mehr darf das neue Zelt nicht kosten.« »Keinen Cent mehr!« rief Gottlieb. »Schon das ist ein Sündengeld.« Der Händler zeigte durch allerhand Gesten seine unverhohlene Nichtachtung. »So schlafen Sie unter freiem Himmel«, rief er, »gehen Sie zu Grunde, wie und wann Sie wollen. Mich kümmert's nicht, von mir bekommen Sie keinen Fetzen Segeltuch.« Und ohne Gruß und Abschied davonstürzend, ließ er die drei Freunde in noch größerer Ratlosigkeit zurück. »Was nun?« fragte Robert. Gottlieb war vollständig in Zorn geraten. »Einerlei!« rief er. »Lieber sterben, als solche Bedingungen unterschreiben.« Mongo hob die Hand. »Kinder«, schaltete er ein, »so schlimm wird es ja nicht gleich werden. Pulver und Blei sind geborgen. Ich habe beides in eine Blechkapsel geschüttet und vor dem Regen mit einem großen Brett geschützt. Wir können also zu jeder Zeit einen Braten schießen, – das ist schon etwas, meine ich.« Robert nickte. »Wenn nur nicht unsere Waschrinne verschüttet wäre!« seufzte er. Mongo sah zu den grauen Wolken empor. »Der Regen scheint noch nicht aufhören zu wollen, Bob«, sagte er. »Wir müssen uns erkundigen, was die andern vorhaben, müssen uns hier nicht so absondern und uns die Sache immer schwerer vorstellen. Kommt nur, Kinder, kommt, wir sprechen erst einmal mit unseren Bekannten.« Er ging voran, und die beiden andern folgten ihm. Der Anblick all dieser zerstörten Wohnstätten, dieser Trümmer und verkohlten Balken, über die das Wasser von oben und unten dahinrauschte, war schrecklich. Jammernde, weinende Frauen saßen an der Stelle, auf der noch bis vor kurzem ihre Häuser gestanden hatten. Sie schienen sich von diesem Fleck Erde, obwohl er sich von der trostlosen Umgebung in nichts mehr unterschied, doch immer noch nicht trennen zu können, sondern hielten krampfhaft ihre kleinen, erschreckten Kinder in den Armen und schluchzten nur um so heftiger, je eindringlicher die Männer sie zu trösten versuchten. Aber auch andere Bilder boten sich unseren Freunden. Aus den verschiedenen Wirtschaften und Vergnügungslokalen hatte man beim Ausbruch des Feuers natürlich zuerst das Wertvollste, die Branntwein fässer gerettet, und jetzt wurde auf offener Straße das Geschäft fortgesetzt. Schon zu dieser frühen Stunde sah man Betrunkene dahertaumeln, sah man ganze Gruppen von Goldwäschern, wie sie sich auf den Trümmern ihrer Häuser gelagert hatten und rohe Gassenhauer absangen oder sich je nach Laune die Köpfe blutig schlugen. Was noch nüchtern war, das schien allen Mut verloren zu haben. Einzelne drückten Roberts Hand oder sprachen ein paar Worte des Bedauerns, der eigenen Ratlosigkeit, andere erklärten, daß sie den vorrätigen Goldstaub verkaufen und so schnell wie möglich nach einer neuen Minenstadt aufbrechen wollten. »Hier in Lenchi mußte man ohnehin schon auf alle Annehmlichkeiten des Lebens verzichten«, meinte der Zimmermann, »es gab kein Theater, keine Bücher, keine Zeitungen, ja, nicht einmal Straßenbeleuchtung, und trotzdem war alles brandteuer. Und wie wird es jetzt erst werden, wo Monate dazu gehören, bis Bretter herbeigeschafft sind, um nur wenigstens wieder feste Wände um sich herum zu fühlen? Ich bleibe nicht, Mr. Kroll! – Wollen Sie mit mir gehen?« »Noch weiter in die Wildnis hinein?« »Etwa hundert Meilen, ja.« Robert schüttelte den Kopf. »Das muß ich mir wirklich erst überlegen«, antwortete er. Und dann wanderten die drei weiter, um nach Lebensmitteln Ausschau zu halten. Der Lehmofen des einzigen Bäckers in der Stadt hatte natürlich von den Flammen nicht erfaßt werden können, daher dampfte hier ein tüchtiger Kaffeekessel, und das warme Gebäck lud zum Essen ein. Aber alle Preise waren über Nacht auf das doppelte gestiegen: die Tasse Kaffee kostete heute einen halben Dollar und ein Brötchen nicht viel weniger. Sich mit dem gesunden Appetit der Jugend sattessen, hieß sich arm machen. In einer Gruppe sprachen mehrere Männer von dem, was jetzt zuerst angefangen werden müsse. Die nötigen Arbeiten zur Wiederherstellung der Waschrinne konnten etwa acht Tage kosten, aber während dieser verdienstlosen Zeit mußte man leben und würde dadurch in drückende Schulden geraten. Was war zu machen, – es gab keinen anderen Ausweg. Dabei regnete es unaufhörlich, und viele der arbeitsfähigen Männer waren betrunken. Durchnäßt, von Ruß und Asche geschwärzt, vom Alkohol gerötet, mit verworrenem Haar, meistens ohne Kopfbedeckung, sahen sie aus wie böse Geister, die der Unterwelt entstiegen waren und auf Trümmern und Brandstätten ihr Wesen trieben. – Robert versuchte, sie zu ernüchtern, zu einem gemeinsamen tatkräftigen Vorgehen aufzurütteln, aber ganz vergeblich. Sie verstanden ihn entweder gar nicht, oder sie lachten ihm offen ins Gesicht. Entmutigt gab er die Sache auf. Wenn nicht ein paar hundert Hände Zugriffen, um die Waschrinne, die jetzt schon vollständig einem reißenden Gebirgsbach glich, wieder in ihren früheren Zustand zurückzuversetzen, so blieb alle Arbeit und Mühe des Einzelnen vollständig fruchtlos. Die umhertaumelnden Betrunkenen machten es den wenigen Besonnenen geradezu unmöglich, irgend etwas zur Verbesserung der gemeinsamen Lage zu unternehmen. Robert knirschte vor Zorn. »Mongo«, sagte er, »jetzt erst durchschaue ich den Spitzbubenplan des Händlers. Er wollte uns zur Annahme seines Vorschlages drängen, bevor wir wußten, wie schwer es sein würde, die Waschrinne wieder instandzusetzen. Ich glaube, es ist das beste, wir schließen uns denen an, die von hier fortziehen.« Der Neger wiegte den Kopf. »Willst du nicht erst einmal heute abend hinausgehen zum Brown-Creek?« fragte er. Robert war noch nicht entschlossen, ob er diesen Versuch machen sollte. »Mongo«, fragte er, »denkst du im Ernst daran?« Der Alte zuckte die Achseln. »Das wäre zuviel gesagt, Bob, aber – ich an deiner Stelle würde den Versuch machen.« Robert nickte. »Gut«, erwiderte er. »Du sollst deinen Willen haben, Alter. Bei Einbruch der Dämmerung bin ich am Übergang des Brown-Creek.« Gottlieb hatte das ganze Gespräch mit angehört, ohne es zu verstehen. Jetzt wurde er neugierig. »Wohin willst du gehen, Robert?« fragte er. Der lachte. »Mongo«, rief er, »jetzt muß der Fuchs zum Loch heraus. Erzähle du die sonderbare Geschichte, Alter.« Aber das war keineswegs eine leichte Aufgabe. Was Robert vorausgesehen hatte, trat sofort ein. Gottlieb bemühte sich mit allen Kräften, die Sache zu vereiteln. »Die bekannte Kriegslist der Indianer«, rief er, »du bist verloren, wenn du hingehst. Der Bösewicht skalpiert uns, um unter seinen Genossen mit dem Sieg über einen Weißen zu prahlen.« Mongo fuhr ihm etwas ärgerlich dazwischen. »Du brauchst ja nicht mitzugehen«, brummte er. »Aber das will ich doch unter allen Umständen«, rief lebhaft der sonst so schüchterne junge Mensch. »Robert ist hierher mitgegangen, um mich zu beschützen, es versteht sich also von selbst, daß ich mich jetzt an seine Seite stelle. Mich wird nichts zurückhalten, meiner Überzeugung zu folgen.« Robert drückte die Hand seines ehemaligen Schulkameraden. »Ich danke dir, Gottlieb«, sagte er herzlich. »Du kannst getrost mit hinausgehen an die verabredete Stelle; der Pelzjäger führt nichts Böses im Schilde, dessen bin ich vollkommen sicher.« Gottlieb schüttelte den Kopf. »Ich durchaus nicht«, seufzte er. »Die Comanchen wissen natürlich schon von dem Unglück, das Lenchi betroffen hat, sie kommen in hellen Haufen herangezogen und wollen plündern, morden und von allem, was gerettet wurde, Besitz nehmen. Der geheimnisvolle Pelzjäger ist ihr Kundschafter, weiter nichts.« »Und du bist bei all deiner Liebenswürdigkeit und Treue ein Angsthase, Gottlieb, das nimm mir nicht übel, du siehst Gespenster am hellen Tage. Was würdest du sagen, wenn der Jaguar auch dich mit größter Freundlichkeit begrüßte?« »Er soll mich möglichst gar nicht sehen«, gestand Gottlieb. »Ich verstecke mich, solange du mit ihm verhandelst, und bei der ersten verdächtigen Bewegung schieße ich ihn nieder, das ist alles.« »Alle Achtung, wie tapfer! Aber ich bitte dich um Himmels willen, den Feldzug nicht eher zu eröffnen, bis du von mir dazu aufgefordert wirst.« Mongo lachte. »Eben wollte ich dieselbe Bedingung stellen«, fügte er hinzu. »Denn daß auch ich mitgehen werde, hast du doch niemals bezweifelt, Bob!« »Niemals!« bestätigte Robert. Und so machten sie die drei, nachdem sie noch für den Rest ihres Goldstaubes ein schmales und schlechtes Mahl eingenommen hatten, frühzeitig auf den Weg, um mit Beginn der Dämmerung am Brown-Creek zu sein. Die Sonne war hinter den Regenwolken verschwunden, die nassen Zweige schlugen im Abendwind aneinander, und ringsumher war alles still. Nur eine Antilopenherde jagte über die Ebene, und ein paar aufgescheuchte Raben flatterten aus den nächsten Büschen. Mongo legte die Hand auf Roberts Arm. »Du, wir wollen uns in nächster Nähe ein Versteck suchen, Gottlieb und ich«, flüsterte er. »Wozu den Jäger durch Mißtrauen beleidigen?« Robert nickte. »Das finde ich auch, Alter. Ist es nicht seltsam – gerade heute, nach drei Tagen, muß ich den Trapper aufsuchen!« Der Neger sah sich um. »Schau her«, sagte er, »in diesem dichten Gebüsch wollen wir bleiben, so daß uns der Jaguar nicht entdecken kann, während wir jedoch imstande sind, alles zu überblicken. Nur mußt du dich nicht überreden lassen, auf die andere Seite des Flusses zu gehen. Ohne Führer finden wir uns niemals durch das Steingewirr.« Robert nickte. »All right, Mongo. Ich bin allerdings überzeugt, daß der Jaguar ein Freund ist.« »Ich auch, Bob. Aber Vorsicht kann niemals schaden. Und jetzt, Gott befohlen! Mach, daß du auf deinen Posten kommst.« Gottlieb drängte sich vor. »Robert – ich will bei dir bleiben«, bat er. »Ich kann dich nicht so allein lassen.« Robert schob ihn mit sanfter Gewalt zurück. »Ich rufe dich, wenn ich in Gefahr kommen sollte, Gottlieb, ich rechne fest auf deine Wachsamkeit«, sagte er, »aber jetzt muß ich allein gehen. Was sollte der Jaguar von mir denken, wenn ich es nicht gewagt hätte, ohne Begleitung zu kommen?« Der andere seufzte. »Du bist zu unvorsichtig«, antwortete er, zog sich dann aber doch an Mongos Seite in das Gebüsch zurück. »Wenn es nun dunkel wird, bevor der Wilde kommt«, raunte er, »und wenn wir den armen Robert nicht mehr sehen können, was dann?« »Und wenn nun der Jüngste Tag in diesem Augenblick hereinbricht, Gottlieb, wenn ein Erdbeben kommen sollte, was dann?« Der eingeschüchterte Gottlieb wagte kein weiteres Wort. Mongo war nicht besonders geduldig, das wußte er schon aus Erfahrung. Es gab sofort eine tüchtige Lehre, wenn er einmal allzuviel Angst zeigte. Im Gebüsch wurde also alles still, nur der Wind rauschte in den Zweigen. Robert ging mit leichten Schritten bis an die Steinwand, deren Umrisse im Dämmerlicht klar erkennbar dalagen. Er überflog forschend die ganze Umgebung – niemand war in der Nähe; nichts verriet die Gegenwart eines menschlichen Wesens. Eine Minute später hörten die beiden Versteckten den Ruf der wilden Elster laut hinaustönen in den dämmernden Abend. Nach kurzen Pausen folgte der zweite und der dritte Schrei. »Jetzt müssen wir genau achtgeben«, flüsterte Gottlieb. »Wenn sich mehrere Indianer zeigen, dann müssen wir – –« Er unterbrach seinen Satz durch ein leises »Ach, da ist er schon! – Mongo, sieh, ein wahrer Riese, aber doch nur einer!« Und wirklich war der Trapper schon im nächsten Augenblick erschienen. Er stand auf dem steinernen Vorsprung wie der Geist des Gebirges, wie ein überirdisches Wesen. Die spitze Mütze warf ihren Schatten, und die ganze hohe Gestalt glich einer Marmorstatue. »Der Jaguar grüßt dich!« sagte die tiefe, klangreine Stimme. »Er hat seinen Freund an dieser Stelle und zu dieser Stunde erwartet.« Robert drückte herzlich die Hand des Jägers, der inzwischen von der Steinwand herabgesprungen war. »Du weißt also schon, welches Unglück mich und ganz Lenchi betroffen hat, Jaguar?« fragte er. Der Jäger zeigte nach der Gegend des verbrannten Minenlagers hinüber. »Der Jaguar sah die roten Feuergarben, welche den drei weißen Wolken nachzogen«, erwiderte er. »Der Große Geist hat gesprochen, und seine Söhne werden gehorchen.« Roberts Hoffnung begann sich wieder zu beleben. Der Jäger sprach mit so überzeugender Sicherheit, daß es wirklich schien, als wisse er einen Ausweg aus dieser Notlage. Robert legte bittend die Hand auf seine Schulter. »Jaguar«, sagte er, »kannst du mir helfen und willst du es? – Ich würde dir ewig dankbar sein.« Der Trapper lächelte unmerklich. »Ist mein junger Freund in diesem Augenblick mehr geneigt, an die Macht des Großen Geistes zu glauben?« fragte er halblaut. Robert errötete etwas. »Das tat ich wohl immer, Jaguar«, antwortete er. »Aber ich sehe wirklich keinen Weg, wie du mir helfen, könntest. Bitte, sag mir, was hast du vor?« Der Jäger schüttelte leicht den Kopf. »Das ist nicht so schnell erklärt«, antwortete er, »das ist nicht in zwei Worten gesagt. Außerdem wird unter den Söhnen des roten Volkes niemals anders als am Feuer und nach der Mahlzeit Rat gehalten. Rufe deine Freunde, damit sie im Lager des Jaguars mit ihm Salz essen und die Friedenspfeife rauchen.« Dunkle Glut schoß über Roberts offenes Gesicht. »Meine Freunde?« wiederholte er. »Was willst du damit sagen, Jaguar?« Der Jäger sah ihm fest ins Auge. »Redest du mit gespaltener Zunge?« fragte er in leise mahnendem Ton. Robert fühlte sich beschämt. »Nein, wirklich nicht, Jaguar«, sagte er fest. »Du sollst mich nicht umsonst an das, was ich dir und mir schuldig bin, erinnert haben.« »Mongo!« rief er dann mit lauter Stimme, »Mongo! Gottlieb! Kommt hierher!« Der Neger kam sofort aus seinem Versteck hervor, und Gottlieb folgte ihm äußerst widerstrebend, hatte aber doch nicht den Mut, allein zurückzubleiben. »Du, Mongo«, raunte er, während er den langen Schritten des Schwarzen nachzukommen suchte, »das klang nicht wie ein Hilferuf.« »Weshalb denn auch, Junge? Wer denkt denn überhaupt daran?« »Ja aber,« verteidigte sich Gottlieb, »was man so im allgemeinen von den Indianern gelesen hat, das –« »Pst, spare deine Weisheit für ein anderes Mal. Der Jaguar könnte dich hören, und außerdem ist er ein Weißer, wie du selbst, das habe ich dir schon zwanzigmal gesagt.« »Ich weiß«, flüsterte Gottlieb, »ich weiß, aber der Name –« »Sei ruhig, hörst du!« Es blieb aber auch zu weiteren Reden keine Zeit mehr. Mongo begrüßte den Halbindianer mit kräftigem Händeschütteln. Der Trapper gab auch Gottlieb die Hand. »Ist dieser junge Mann euer Freund?« fragte er. »Wird er euch begleiten?« »Wenn wir von hier fortgehen, ja.« »Nun, so kommt denn. Das Feuer im Lager des Jaguars brennt, das Mahl ist bereit und die Pfeife gestopft. Der Jaguar wußte, daß seine weißen Brüder zu ihm kommen würden, daß er in der Wildnis ihr Führer sein soll und daß ihn der Große Geist gesandt hat, um sie zu beschützen, – er wird tun, wie ihm jener gebot.« Er stand mit einem Satz auf dem Vorsprung und war im nächsten Augenblick jenseits des Felsens verschwunden. Ohne auch nur rückwärts zu blicken, folgten erst Robert und dann Mongo. Nur Gottlieb zögerte einen Augenblick, doch dann überwand er sich und sprang verzweiflungsmutig den Vorangegangenen nach. Der Jaguar zog wie in der ersten Nacht seine Begleiter an der Hand durch das gewundene Felsentor und durch das Wasser, bei welcher Gelegenheit sich Gottlieb nicht enthalten konnte, laut aufzuschreien, »Robert! Robert! – Was ist das?« Der bemühte sich, ernst zu bleiben. »Wir überschreiten den Brown-Creek, Gottlieb«, antwortete er. »Ach so! – Gott, ich dachte – aber –« Ein freundschaftlicher Rippenstoß des Negers bewog ihn, seine weiteren Mutmaßungen lieber unter Verschluß zu halten. Der Übergang war auch jetzt vollzogen und die andere Seite des Flusses erreicht, ohne daß sich etwas Verdächtiges gezeigt hätte. Dieselbe Ruhe trat wieder ein, dasselbe Rauschen und Flüstern des Windes in den Zweigen, nur von fern sah man einen Schimmer, als ob dort Feuer zwischen den Bäumen hervorleuchtete. – – »Robert, Robert, siehst du den roten Schein dort hinten?« Die unruhige Stimme zitterte so, daß sie Roberts Mitleid erregte. Er preßte heimlich die Hand seines Freundes. »Ich bitte dich, Gottlieb, sei doch vernünftig. Meinst du denn wirklich, daß Mongo und ich mit aller Gemütsruhe ins Verderben hineinlaufen würden?« »Also du glaubst nicht an Verrat, Robert? Es lauern dort keine Comanchen hinter den Bäumen?« »Ach, dummes Zeug!« Der Jaguar schritt während dieser Unterhaltung voran, und schon sehr bald hatte man einen Felsvorsprung erreicht, wo an geschützter Stelle ein Feuer aus mächtigen Holzblöcken emporloderte. Moosbewachsene und von Büffelfellen überdeckte Sitze bildeten den Hintergrund einer Art Höhle, der nur der Tisch fehlte, um ganz behaglich und wohnlich auszusehen. In einer Ecke lag ein geräucherter Bärenschinken, eine am Spieß gebratene Hirschkeule und eine große Anzahl der flachen indianischen Maiskuchen, »Dampers« genannt, die zwischen zwei heißen Steinen gebacken und warm verzehrt werden. Eine Flasche und eine eigentümlich geschnitzte Pfeife aus rotem Seifenstein gehörten ebenfalls zur Einrichtung. Gottlieb sah das alles auf einen Blick. Besonders die Pfeife beruhigte ihn sehr. »Wenn solch ein brauner Heide mit jemandem geraucht hat, dann tut er ihm kein Leid mehr«, dachte er, »das habe ich oft gelesen. – Ach, was würde ich geben, um jetzt in Pinneberg zu sein! Schrecklich, dies Leben zwischen Wilden!« Er beobachtete mit pochendem Herzen jede Bewegung des Jägers. Nachdem sie Platz genommen und es sich nach Möglichkeit bequem gemacht hatten, entzündete der Jaguar die Pfeife, aus der er unter tiefstem Schweigen einige Züge tat und sie dann dem Neger als ältestem Gast weiterreichte. Von hier ging sie zu Robert und schließlich in Gottliebs Hände, der sie dem Trapper zurückgab. Nachdem auf diese Weise die allen indianischen Stämmen geheiligte Sitte befolgt worden war, forderte der Jaguar seine Gäste auf, zuzulangen. Auch während der Mahlzeit wurde vollständiges Schweigen bewahrt; erst als die vier Männer satt waren und zum Abschluß die Flasche rundumging, brach der Jäger die Stille, die den drei Goldsuchern schon längst beklemmend geworden war. »Haben meine Freunde die Absicht, wieder nach Lenchi zurückzukehren?« fragte er. Mongo stieß heimlich gegen Roberts Fuß, als wollte er ihm sagen: »Antworte du!« – und der gab bereitwillig Auskunft: »In Lenchi haben wir kaum noch Aussichten auf nennenswerten Gewinn«, sagte er, »aber wir haben kein Geld, anderswo hin zu ziehen. Von hier bis nach Idaho ist es weit, wie sollten wir die teure Reise bezahlen?« Der Trapper nickte langsam. »Ich habe für meine Brüder einen Vorschlag«, sagte er. »Du?« rief Robert mit gespannter Aufmerksamkeit. »Du, Jaguar, – und welchen?« Der Trapper beschrieb mit dem ausgestreckten rechten Arm in der Luft einen Halbkreis. »Der Jaguar kennt das Land zwischen Fels und Meer, den ganzen Strich zwischen Oregon und Mexiko, ganz Kalifornien wie seine eigene Tasche«, erwiderte er. »Der Jaguar hat seit dreißig Jahren diese Jagdgründe durchstreift, – er weiß von einer Stelle, wo das gelbe Metall in Körnern zu finden ist und wo es fast unmittelbar unter der Oberfläche liegt, mühelos zu erreichen für den, der einmal diese Spur gefunden hat. Soll euch der Jaguar dorthin führen?« Alle drei Männer hatten mit angehaltenem Atem die Worte des Pelzjägers verfolgt. Selbst Gottlieb vergaß, als er von Goldkörnern reden hörte, seine anfängliche Furcht und beugte sich lebhaft vor. »Wo ist das?« stammelte er freudig und unruhig zugleich. »Wo ist das?« Auch Robert konnte sich nicht zurückhalten. »Und wo liegt diese Stelle?« fragte er den Trapper. Der sah von einem zum anderen. »Weit in den Jagdgründen der Comanchen«, erwiderte er, »mehr als zwanzig Tagemärsche von hier.« »Bei den Wilden also?« rief der junge Auswanderer unbedachtsam. Der Trapper lächelte. »Bei den Wilden, ja.« Er winkte den anderen, als sie versuchen wollten, Gottliebs Taktlosigkeit wieder gut zu machen. In seinem Wesen offenbarte sich überhaupt eine eigentümliche Mischung zwischen Weißen und Indianern. Während er in Haltung und Sprache ganz den Rothäuten, seinen langjährigen Gefährten, glich, während er alle ihre Sitten und Gebräuche, vielleicht ohne es zu wissen, angenommen hatte, war er doch im Grunde ein Weißer geblieben. Er nahm das beleidigende Wort »die Wilden« keineswegs übel auf, sondern sagte freundlich: »Die Goldschlucht liegt am Fuße der Sierra Nevada, im Lande der roten Kinder des Großen Geistes!« Gottlieb senkte etwas beschämt den Kopf. »Ich wollte nichts Beleidigendes sagen«, stammelte er. »Weiter!« drängte Robert. »Ist dieser Ort schon als goldhaltig bekannt, Jaguar? Gibt es dort eine Niederlassung?« Der Trapper schüttelte den Kopf. »Kein Weißer kennt die Stelle, keine Ansiedlung ist weit und breit, – nur die Comanchen haben in diesen friedlichen Tälern ihre Dörfer.« Roberts Hand legte sich schwer auf die des Pelzjägers. Fest und fragend sah er ihn an. »Jaguar«, sagte er, »werden uns deine Brüder, die Comanchen, in ihren Wohnsitzen dulden? Können wir ungefährdet mit dir in die Wildnis ziehen?« Der Jäger hob zwei Finger gegen den sternklaren Nachthimmel. »Bei dem Namen des Großen Geistes über den Wolken, bei der Macht dessen, der zwei Kugeln im freien Raum sich begegnen ließ als Wahrzeichen eines Bundes zwischen seinen Kindern, – du kannst es tun, ohne das mindeste befürchten zu müssen!« Das war, wenn auch nicht ganz frei von den Riten indianischer Religion, beinahe ein christlicher Eid, und Robert wußte, daß er ihm glauben durfte. Langsam sagte er: »Gut, Jaguar, ich vertraue dir vollständig, und ich bin bereit, dich durch die Steppe zu begleiten.« Mongo nickte. »Und ebenso ich, Jaguar, wenn du es erlaubst.« Gottlieb wollte sprechen, aber er brachte kein Wort hervor. Er reichte nur, den andern folgend, dem Jäger die Hand. Der Jaguar ließ nochmals die Flasche herumgehen. »Wollen meine Brüder vorher noch nach Lenchi zurückkehren?« fragte er. Robert und Mongo wechselten einen schnellen Blick. Beide hatten keinen Grund, die Stadt noch einmal wiederzusehen. »Wir sind frei wie die Vögel unter dem Himmel«, antwortete der Neger, »uns hält dort nichts mehr zurück.« Gottlieb wischte sich die großen Schweißtropfen von der Stirn. »Und was wird aus unseren Decken und unserem Gerät?« seufzte er. Der Jaguar lächelte. »Mein weißer Bruder soll sanft schlummern«, erwiderte er freundlich, als spräche er zu einem schüchternen Kind. »Der Jaguar hat Pelze und Büffelfelle überall am Wege in Höhlen versteckt. Und die Comanchen werden ihm bereitwillig ihre Werkzeuge leihen, um damit das Gold aus dem Boden zu graben, – mein Bruder mag sich vollständig beruhigen.« Gottlieb sah zaghaft empor. »Soll es denn gleich weitergehen?« fragte er. »Nur für etwa zwei Stunden. Dort gibt es eine Hütte, in welcher der Jaguar zu übernachten pflegt. Meine Freunde werden von den Anstrengungen der letzten Nacht sehr ermüdet sein.« »Wirklich!« gestand Mongo, »ich spüre es.« »So laßt uns aufbrechen«, ermunterte Robert. »Frisch gewagt ist halb gewonnen!« Alle vier Männer ergriffen ihre Büchsen, und unter Führung des Trappers ging es in den schweigenden, nächtlichen Wald hinein. Ein zweistimmiges starkes Hundegebell war das erste, was den Wandernden nach einigen Stunden scharfen Marsches entgegenscholl und was sogleich Gottliebs Befürchtungen wieder aufkommen ließ. »Mein Gott, – Hunde! Sollten Sie sich in der Richtung geirrt haben, Herr Jaguar?« »Durchaus nicht!« erwiderte gutmütig der Trapper. »Meine Freunde werden sogleich erkennen, daß diese treuen Tiere unsere Bundesgenossen sind. Sie bewachen meine Hütte.« Der Jäger schob zwei Finger in den Mund und pfiff auf eigentümliche Weise, so daß es weit hinausschallte in den regennassen Wald. Das Hundegebell verstummte sofort. Gottlieb war jedoch noch nicht beruhigt. »Du«, raunte er, Roberts Arm berührend, »du, ob die Tiere an der Kette liegen?« Der lachte im stillen. »Das glaube ich nicht!« antwortete er, »aber sie gehorchen, wie du siehst, und werden uns bestimmt nicht auffressen. Du mußt dich übrigens etwas zusammennehmen, Gottlieb. Die Indianer verachten die Furcht, – sollen sie dich deiner Ängstlichkeit wegen über die Achsel ansehen?« Gottlieb seufzte. »Offen gestanden, – das wäre mir ziemlich gleichgültig«, gab er zurück. »Ach du lieber Gott, ich gehe ja nicht wie ihr anderen zum Vergnügen in diese schreckliche Wildnis.« Robert drückte ihm gerührt die Hand. »Du wirst immer an uns, und besonders an mir die eifrigsten Beschützer finden,« versprach er, »und dann überlege dir doch, daß wir vielleicht jetzt nur wenige Monate brauchen, um zu unserem Ziel zu kommen. Wenn du nun in Pinneberg das kleine alte Haus wieder aufbauen könntest, und wenn du gewissermaßen imstande wärest, deinem blinden Vater das Augenlicht zurückzugeben, indem er alles an der altgewohnten Stelle wiederfände, alles durch sein Tastgefühl erkennen könnte, was ihm jetzt in fremder Umgebung verloren gegangen ist! Dafür mußt du ein Opfer bringen, Gottlieb!« »Großer Gott, tue ich es denn etwa nicht in diesem Augenblick?« »Sicherlich, aber mit innerem Widerstreben. Versuch doch einmal das Gute an der Sache zu sehen. Wir lernen doch soviel Neues und Schönes kennen.« Aber Gottlieb schüttelte den Kopf. »Ich kann daran nichts Schönes finden.« »Nicht? – Das darfst du nicht sagen. Aber still jetzt, der Trapper schlägt Feuer, wir werden ›zu Hause‹ sein.« Gottlieb schob sich noch näher an die Seite seines Freundes. »Ein prächtiges Zuhause«, stöhnte er. »Das ist ein großer Maulwurfshaufen, weiter nichts. Und wo wohl die Hunde sind?« Die Frage wurde ihm im nächsten Augenblick beantwortet. Eine niedere Tür knarrte in ihren Angeln, ein Kienspan flammte auf, und zwei große Bluthunde umdrängten die Knie ihres Herrn, seine Hände leckend, schweifwedelnd und mit leisen Schmeichellauten. Der Trapper stellte gewissermaßen die Menschen und die Tiere einander vor. »Es ist gut, Antilope«, sagte er, »gut, Schlangentöter, – hier, begrüßt auch meine Freunde!« Und die beiden Tiere mit dem furchtbaren Gebiß legten sich gehorsam den Fremden zu Füßen. Antilope und Schlangentöter, mit dem Pelzjäger schon durch Jahre verbunden, seine Gefährten, seine Freunde fast, streckten sich auf den Boden, als wollten sie die Herrschaft des Menschen hierdurch anerkennen. »Und nun ruht euch aus,« bat der Trapper, indem er von einem Haufen im Winkel mehrere Büffeldecken nahm und ausbreitete. »Schlaft, wie ich es tun werde, und der Große Geist behüte eure Nachtruhe.« »An euren Posten, Antilope und Schlangentöter!« Die Hunde erhoben sich, um vor der Hütte Wache zu halten, die vier ermüdeten Männer streckten sich auf das schnell bereitete Lager und waren bald entschlummert. Selbst Gottlieb schlief, obwohl ihm dauernd von abgerissenen Skalpen und Marterpfählen träumte. – – Am folgenden Morgen begann nach einem kräftigen Frühstück die große Wanderung durch den grünen, taufrischen Wald. Bei den Comanchen Bei den Comanchen Es würde wenig lohnend sein, den Weg der vier Männer näher zu verfolgen. Sie durchzogen endlose Urwald- und Präriegebiete, manchmal fuhren sie ein Stück mit der Postkutsche, doch mußte der größte Teil des Weges zu Fuß zurückgelegt werden. Gottlieb konnte sich anfangs gar nicht an die tagelangen Märsche gewöhnen. Er verwünschte seine Nachgiebigkeit gegen Roberts verwegene Pläne, gab oft zehnmal in einer Stunde sein Leben verloren und hoffte auf nichts mehr; aber allmählich fügte er sich in das Unvermeidliche und fing an, ein besserer Kamerad zu werden. Robert war geradezu begeistert. Diese Sommernächte unter freiem Himmel, dies Wandern durch die taufrischen Wälder im ersten Morgenlicht, wenn die Vogelstimmen erwachten und die Sonne langsam höher stieg, – er konnte sich nichts Schöneres denken. Und wie glücklich war er, wenn er einen prächtigen Braten geschossen hatte, wie stolz befestigte er an seiner Mütze die erste Adlerfeder! Es war ja nicht das erste Mal, daß er einen Adler schoß, doch war ihm damals, wie wir wissen, der Körper des Vogels in den Spalten der Felsschlucht verloren gegangen. Und endlich kam der Tag, an dem der Jaguar er klärte, daß vor Sonnenuntergang das Dorf der Comanchen erreicht sein werde. Gottliebs alte Unruhe überfiel ihn ruckartig noch einmal wieder, aber diesmal konnte er sich beherrschen. Als der Rauch aus den Hütten der Rothäute zwischen den Büschen sichtbar wurde, fing er leise an zu singen, und Robert und Mongo wechselten verstohlen einen lächelnden Blick. Doch zur Furcht schien auch wirklich kein Anlaß zu sein. Friedlich lag das Indianerdorf in der Talmulde, die Männer machten im Gegensatz zu den Wilden auf der Insel der Magelhaensstraße einen ruhigen und besonnenen Eindruck, die Frauen erschienen so zart und klein, daß Robert unwillkürlich staunte. Ihre schwarzen, schlichten Haare waren mit Perlen und Muscheln durchflochten, sie trugen lange Gewänder aus einem selbstgewebten, leichten Stoff und waren damit beschäftigt, Netze, Jagdtaschen und Körbe zu flechten, Mokassins zu sticken, Maiskuchen zwischen zwei heißen Steinen zu backen oder in Steinkrügen Wasser aus der nahen Quelle herbeizuholen. Von den Männern waren nur wenige zu sehen, während einige Kinder im Sand spielten, und die ganz kleinen, die noch nicht allein gehen konnten, in Körben an den nächsten Bäumen aufgehängt waren. Überall liefen Haustiere frei umher, Pferde weideten in der Nähe der Hütten, und eine Ziegenherde erkletterte die Abhänge. Die beiden Hunde des Trappers, von ihren Kameraden unten im Dorf mit lautem Gebell herausgefordert, sprangen voran und machten so gewissermaßen Meldung von dem Eintreffen der kleinen Karawane, aber obgleich mehrere Indianerinnen die vier Männer herankommen sahen, zeigte doch niemand besonderes Erstaunen, schien niemand die Ankommenden überhaupt zu bemerken. Der Jaguar schien das nicht weiter merkwürdig zu finden. »Meine roten Brüder leben gegenwärtig mit allen ihren Nachbarn im Frieden«, sagte er, »sie haben die Streitaxt begraben und wissen daher, daß sie nicht auf ihrer Hut zu sein brauchen. Der rote Mann ist nicht neugierig.« Robert dagegen hatte schon wieder so viele Fragen auf der Zunge, daß er nicht damit zurückhalten konnte. »Jaguar«, fragte er, »hast du im Dorf eine Hütte? Und bist du eigentlich Familienvater? Erwarten dich zu Hause Frau und Kinder?« Der Trapper ging lange schweigend an seiner Seite. »Einen Wigwam hat der Jaguar auch in diesem Dorf«, erwiderte er endlich, »aber – Kinder erwarten ihn nicht darin. Das Weib des Jaguars liegt seit dreißig Jahren im Walde unter den höchsten Bäumen begraben.« Robert tat es leid, gefragt zu haben, und jetzt wechselte er sofort den Gegenstand des Gesprächs. Mit der Vergangenheit des Jaguars verknüpfte sich seiner Meinung nach überhaupt ein trauriges Geheimnis, deshalb wollte er lieber jede Frage in dieser Richtung vermeiden. »Auch nicht einmal die Kinder achten auf uns«, sagte er. »Diese Verschlossenheit muß doch tief im Blut liegen.« »Nur mich schienen die kleinen Wesen mit ihrer besonderen Aufmerksamkeit zu beehren!« lächelte Mongo. »Einige sind schon in die Hütten geflüchtet.« Gottlieb beobachtete alles mit aufmerksamen Augen. »Besser als bei den Patagoniern ist es ja«, meinte er, »aber doch alles nur sehr provisorisch angelegt. Die faulen Kerle sollten, anstatt so auf den Büffelhäuten herumzuliegen und zu rauchen, lieber ihren Zelten feste Wände bauen. Ich glaube, man arbeitet hier gar nicht.« Das alles hatte er aber auf deutsch gesagt, so daß nur Robert es verstand. Der lachte. »Nein, der Indianer arbeitet nicht«, erwiderte er. »Krieg und Jagd sind seine einzigen Beschäftigungen, während dagegen die Frauen die Hausarbeit besorgen. Ich bin sehr neugierig, das merkwürdige Volk kennenzulernen.« Gottlieb schüttelte sich. »Diese Malereien auf Brust und Armen sind abscheulich«, sagte er. »Und wer weiß, ob man sich hier überhaupt wäscht.« Robert sah zu den hohen Bergspitzen der Sierra Nevada empor. »Hoffentlich finden wir hier Gold«, seufzte er. »Es wäre geradezu furchtbar, wenn wir uns darin getäuscht hätten.« »Und das sagst du? Du, der diesem Wilden alles aufs Wort glaubte?« »Das tue ich auch jetzt noch, aber wer weiß, ob der Jaguar die Sache genau kennt, ob es wirklich Gold ist, was er meint?« Gottlieb senkte den Kopf. »Ich mache mich auf alles gefaßt«, erwiderte er. Jetzt wurde das Gespräch der beiden für einen Augenblick unterbrochen, denn der Wigwam des Jaguars war erreicht, und der Trapper ließ seine Gäste eintreten. Niemand von den Dorfbewohnern kümmerte sich um sie. In dem Zelt aus Büffelfellen befand sich eigentlich nichts, vielmehr zeigte das üppige Moos des Fußbodens, daß sich dort seit längerer Zeit kein menschliches Wesen mehr aufgehalten hatte. Die drei Freunde mußten verschiedene Käfer und Eidechsen aus ihrer Häuslichkeit aufschrecken, bevor es ihnen gelang, ein Plätzchen zum Ausruhen ihrer ermüdeten Glieder zu finden. Der Jaguar machte sich sofort auf den Weg, um erst einmal für etwas Bequemlichkeit und für etwas Eßbares zu sorgen. Die Goldgräber blieben einen Augenblick allein. »Ein schönes Mauseloch, das hier«, murrte Gottlieb. »Wenn man sicher ist, nicht skalpiert und gemartert zu werden, so stellt man schon höhere Ansprüche, als auf dem glatten Boden auszuruhen, nachdem man einen Spaziergang von zweihundert Meilen hinter sich hat. Das ist ja, als wären die Menschen hier taubstumm.« Robert lachte. »Vermißt du die Neugier, mit der sich in Deutschland sofort alles zusammendrängt, wenn irgend etwas Unerwartetes geschieht?« fragte er. Gottlieb errötete. »Man spricht doch gern ein Wort«, brummte er. »Die Leute könnten wohl ein paar Stühle herbringen, finde ich.« »Wenn sie nun aber selbst keine besitzen?« spöttelte Mongo. »Wenn sie nun entweder stehen oder auf Büffeldecken liegen?« »Ach du großer Gott! Und das sollen wir nun auch tun?« »Wir können uns ja später hölzerne Sitze zurechtzimmern, mein Bester. Auf mich macht das alles hier einen sehr guten Eindruck, muß ich offen sagen.« »Auf mich auch!« rief Robert. »Du bist nur noch zu verwöhnt, Gottlieb, daher kommt es. Wenn du, wie Mongo und ich, unter den schmutzigen Lappen gelebt hättest, so würde dir dies hübsche friedliche Dorf schon besser gefallen.« Der junge Pinneberger senkte seufzend den Kopf. »Ich sehe nur noch gar keine Vorbereitungen für den eigentlichen Zweck unserer langen Wanderung«, gestand er. »O Gott, wann werde ich endlich meinen armen Eltern das erste Geld schicken können? – Hier ist doch nichts als Urwald, wann werden wir jemals hier Gold finden?« Tränen standen ihm in den Augen. »Daß hier so gar keine Arbeitsfreude zu finden ist«, schluchzte er, »das lähmt mich förmlich. Und wenn wir wirklich heute Gold graben, so wird es uns in der nächsten Nacht wieder gestohlen.« Hinter ihm teilten sich die Zeltvorhänge. Der Jaguar erschien, beladen mit Büffelfellen und Lebensmitteln. An seinem Arm hing eine sogenannte Kalebasse, ein ausgehöhlter großer Kürbis, mit frischem Wasser. »Mein junger Freund mag sich beruhigen«, sagte er freundlich, »alle seine Wünsche sollen erfüllt werden. Das rote Gold im Erdenschoß wartet seiner, und was er findet, das gehört ihm allein. Der Indianer bestiehlt keinen Fremdling, der in seinen Dörfern weilt.« »Und nun, meine Freunde, eßt und trinkt!« fügte er hinzu. Robert und Gottlieb sahen sich etwas fassungslos an. Verstand der geheimnisvolle Mann die deutsche Sprache? – Offenbar hatte er Gottliebs letzte Worte gehört. Aber nachzufragen wäre unbescheiden gewesen. »Wir danken dir von ganzem Herzen, Jaguar«, rief Robert. »Wir hoffen ganz sicher, daß wir eine reiche Ausbeute haben werden.« Der Trapper neigte zustimmend den Kopf. »Der Jaguar wird morgen in aller Frühe die Häuptlinge der Comanchen zusammenrufen«, antwortete er, »und wird mit ihnen und seinen weißen Freunden die Friedenspfeife rauchen. Danach kann die Arbeit im Gebirge ihren Anfang nehmen. Das Gold liegt überall.« Gottlieb hob das heiße, noch von Tränen feuchte Gesicht zu dem Trapper empor. Der niederdrückende Eindruck, den das schweigsame Dorf auf ihn gemacht hatte, war zu stark gewesen, als daß er ihn in sich verschließen konnte. »Jaguar«, flüsterte er, »Jaguar, ist es wirklich so, wie Ihr sagt? Ist Gold – viel Gold hier zu finden?« Der Trapper lächelte. »Du kannst ein reicher Mann werden«, erwiderte er, »es hängt nur von dir ab.« Die Worte waren so einfach und freundlich gesagt, daß Gottlieb laut aufschluchzte. Ehe er vielleicht über das, was er tat, selbst nachgedacht hatte, ergriff und küßte er die Hand des Trappers. »Gott segne dich, Jaguar«, preßte er mühsam hervor. Robert lächelte gerührt. Er selbst war durch all das, was er in den letzten Jahren erlebt hatte, reifer geworden, er war in sich fester und ruhiger als Gottlieb, der in seinem Wesen immer noch sehr viel Kindliches, Hilfloses trug. Auch jetzt, so sehr ihn die Worte des Pelzjägers freuten, begnügte er sich mit einigen kurzen, dankenden Worten. Darauf begann das Mahl, dem alle gleich tapfer zusprachen, und anschließend wurden die Büffeldecken zum Schlafen ausgebreitet. Am folgenden Morgen bildete sich inmitten der kleinen Niederlassung ein Halbkreis ernster, schweigsamer Gestalten. Sie waren alle mit Büchse und Tomahawk bewaffnet, aber verschiedenartig tätowiert, und trugen langes, schwarzes Haar, das auf den nackten, von einem Pelzmantel lose umgebenen Oberkörper herabhing. Ohne ein einziges Wort der Unterhaltung nahmen die Rothäute am Boden Platz und warteten mit gekreuzten Armen und der Würde von Fürsten geduldig, was da kommen werde. Mitten im Kreis lag eine Pfeife. Endlich erschien der Jaguar und mit ihm die drei Freunde. Robert verschlang förmlich mit den Augen das seltsame Bild der zur Beratung versammelten Rothäute, Mongo war ein ruhiger Zuschauer, und Gottlieb murrte in sich hinein, da der Trapper deutsch verstand und er also seine Meinung nicht laut äußern durfte. Keiner der Indianer schien die Neuangekommenen zu bemerken. Und dann hielt der Jaguar eine lange Rede, von der natürlich die drei Freunde kein einziges Wort verstanden. Robert horchte nur aufmerksam auf die Laute dieser seltsamen Sprache, die ganz aus Vokalen zu bestehen schien und die bei der vorwiegenden Gleichartigkeit aller Silben gewiß außerordentlich schwer zu erlernen sein mußte. Der Trapper schilderte ohne Zweifel die merkwürdige Art und Weise, wie er die Goldgräber kennengelernt hatte, und fügte dann zum Schluß in fragendem Ton noch etwas hinzu, das sicherlich nur eins bedeuten konnte: ob nämlich die Rothäute wagen wollten, auf seine, des Jaguars Bürgschaft hin, den Weißen zu erlauben, in ihrem Gebiet nach Gold zu suchen. Als er schwieg, erhob sich der Älteste des kleinen Kreises und antwortete ihm; dann entspann sich ein längeres Hin- und Herreden, das schließlich in allgemeine Abstimmung überging. Das Ergebnis mußte sehr zufriedenstellend sein, denn der Jaguar wandte sich jetzt zum erstenmal an die stumm dasitzenden Goldgräber. »Meine roten Brüder sind bereit, mit euch die Friedenspfeife zu rauchen«, sagte er, »sie bieten euch die Gastfreundschaft ihres Wigwams, sie versprechen euch, daß ihre Squaws für euch kochen und den Damper backen, daß sie euch Jagdtaschen und Mokassins sticken und eure Kürbisflasche mit frischem Wasser füllen sollen, sie wollen mit euch Salz essen und auf die Jagd gehen, aber vorher müßt ihr geloben, keinem Weißen das Geheimnis dieser Goldschlucht zu entdecken. Die roten Männer werden seit langer Zeit von den Jagdgründen ihrer Väter vertrieben, werden Jahr um Jahr weiter zurückgedrängt in die Gebirge, – es ist daher verständlich, daß sie ihre Weideplätze so lange wie möglich zu schützen suchen. Erkennen meine Freunde diese Notwendigkeit an?« Mongo und die beiden Weißen erklärten sofort ihr Einverständnis und gaben das Versprechen, über ihre Kenntnis von Goldvorkommen innerhalb des Indianergebietes vollständiges Stillschweigen zu bewahren. Gleichzeitig baten sie den Trapper, ihren Gastgebern auf das herzlichste in ihrem Namen zu danken. Der Jaguar übersetzte alles, worauf die Pfeife in Brand gesteckt und von dem Ältesten der kleinen Versammlung nach den ersten Zügen dem Nebenmann übergeben wurde, und so reihum den ganzen Kreis durchlief. Als jeder einzelne die üblichen drei oder vier Züge getan hatte, war der Zweck dieser Feierlichkeit erfüllt, und nun konnten sich die drei Freunde als Angehörige des Indianerdorfes betrachten. Die einen boten ihnen Pferde und Hunde zur Jagd an, die anderen legten ihnen Geschenke in Gestalt von Waffen, Büffelfellen und selbstgefertigten Arbeiten zu Füßen, immer aber bewahrten die Rothäute vollständige Zurückhaltung, und ebenso sprachen sie nur, um das Allernotwendigste zu sagen, während ihnen eine eigentliche Unterhaltung ganz unbekannt schien. Durch alle Wigwams wurden die drei Freunde geführt, und alle Frauen setzten sich ihnen zum Zeichen ihrer Unterwürfigkeit zu Füßen oder küßten die Zipfel ihrer Kleider. Nur Mongo wurde mit weniger Respekt behandelt. Einmal drängten sich sogar mehrere Frauen neugierig an ihn heran, und eine von ihnen fuhr mit ausgestrecktem Zeigefinger über sein Gesicht, worauf dann alle sorgfältig die Fingerspitze prüften, offenbar um zu erkennen, ob die schwarze Farbe echt sei. Der Neger nahm mit gutmütiger Ruhe diesen kleinen Scherz als das, was er wirklich war, nämlich kindliche Unwissenheit, – die beiden jungen Leute dagegen wollten sich vor Lachen ausschütten, besonders als die Indianerin, die Mongos ehrliches Gesicht berührt hatte, sich heimlich die Hand an ihrem Kleid reinigte. Nachdem das ganze Dorf besichtigt worden war, ging es hinaus zu den Abhängen der Sierra Nevada. Der Jaguar und mehrere Indianer führten ihre Gäste bis in ein tief eingeschnittenes Tal, das vielleicht noch nie ein Weißer vor ihnen betreten hatte. Steil erhoben sich zu beiden Seiten die bewaldeten Gebirgszüge, unübersehbar erschien das grüne Meer der Baumwipfel. Der Trapper schien seinen Schützlingen eine Überraschung bereiten zu wollen. Er stieß das schwere Jagdmesser tief in die lockere Erdschicht des Felsens hinein und warf Moos und Flechten mit der Hand zurück. Nachdem er dann von der härteren Unterlage ein Stückchen gewaltsam losgebrochen hatte, hielt er es lächelnd ins Sonnenlicht. »Robert«, sagte er, »schau her, mein Freund!« Es blitzte und glänzte wie tausend Funken und blendete im ersten Augenblick förmlich die Augen. Was hier der Trapper zwischen den Fingern hielt, das war mehr Gold, als man in Lenchi während einer ganzen Stunde gewinnen konnte. Ein Schauer überrieselte. Roberts ganzen Körper. »Jaguar«, stammelte er, »Jaguar, – das ist Gold!« Der Trapper nickte. »Für dich«, fügte er hinzu. »Für euch alle!« »Gottlieb!« rief Robert, »Gottlieb, was sagst du dazu?« Statt aller Antwort warf der junge Mensch seine Jacke von sich und begann mit fast wahnwitzigem Eifer den Boden aufzulockern, bis die Quarzschicht bloßlag, – dann erst wurde er ruhiger. »Jaguar«, rief er, »sprich, sag es mir noch einmal, – soll dies alles wirklich uns gehören?« Und mit beiden Händen die losgebrochenen Stücke emporhaltend, wühlend im goldhaltigen Gestein, hatte er Mühe, seine überschwengliche Freude zu bezähmen. Am liebsten wäre er gleich angefangen zu graben. »Aber wie bringt man das Gold aus dem Quarz heraus?« fragte er endlich den Trapper. »Durch Klopfen«, erwiderte der. »Du schaffst die freigelegten Stücke in unseren Wigwam, und dort werden dir die Squaws helfen, das gelbe Metall von den Schlacken zu säubern.« Gottlieb blickte auf. Immer noch schien ihm alles unfaßbar. »Warum in aller Welt lebst du seit Jahren neben diesem unermeßlichen Schatz, ohne ihn zu heben?« fragte er. »Warum tun es alle deine roten Freunde?« Der Trapper lächelte. »Die farbigen Kinder des Großen Geistes sind keine Kaufleute«, antwortete er, »sie arbeiten nicht und gehorchen keinem Zwang. Sie sind freie Männer, die auf dem Grund und Boden ihrer Väter leben, und ehe sie den Weißen dienstbar werden, viel lieber sterben, um in die ewigen Jagdgefilde einzugehen.« Gottlieb schüttelte den Kopf. »Also sie arbeiten gar nicht?« fragte er. »Nein, gar nicht. Die Arbeit ist Sache der Squaws.« Gottlieb antwortete nicht mehr, aber was er bei sich dachte, das war für die armen Rothäute sehr wenig schmeichelhaft. Er konnte sich nun einmal nicht damit abfinden, daß die Indianer jede Arbeit für unter ihrer Würde ansahen. Und dann lief er ins Dorf zurück und erbat sich Hacke, Schaufel und Korb, um bis in die sinkende Nacht hinein zu arbeiten und ganze Berge von Quarz freizulegen. Er konnte das edle Metall unbekümmert draußen vor dem Zelt liegen lassen, niemand berührte es. Auch Robert und Mongo waren nicht faul. Während der Trapper jeden Tag auf die Jagd ging, wohl auch mehrere Nächte hintereinander fortblieb, und die Indianer entweder dasselbe taten oder in ihren Wigwams auf den Büffelhäuten lagen, türmte sich unter den rastlosen Anstrengungen der drei Freunde ein so großer Haufen von Quarz, daß jetzt endlich einmal an die Reinigung des Gesteins gedacht werden mußte. Der Jaguar hatte aus weichem Antilopenleder kunstvoll einen Beutel genäht, darin sollte das gewonnene reine Gold aufbewahrt werden. Sobald sich der Haufe von Quarz einigermaßen vergrößert hatte, mußte einer der drei mehrere Tage im Dorf bleiben und mit den schweigsamen Frauen der Rothäute das Gold durch leichte Schläge aus dem bröckelnden Gestein herauslösen. Robert sah es immer sehr gern, wenn ihm Gottlieb diesen Teil der Arbeit abnahm, und der wiederum blieb weit lieber im Wigwam bei den Squaws, als daß er draußen die Hacke schwang. Ein Büffelfell auf den Knien, den schon recht rundlichen Sack mit Gold neben sich, saß er wie ein Alleinherrscher im Kreise der stummen, schüchternen Geschöpfe, die seinem leisesten Wink gehorchten und die er nebenbei großmütig in den nützlichen Eigenschaften der Ordnung und Sauberkeit unterrichtete. Inzwischen hackte Mongo unermüdlich den leicht zerschlagenen Quarz aus dem Boden heraus und ließ Robert hin und wieder mit den Rothäuten zur Jagd gehen. Das waren für den jungen Matrosen die schönsten Tage. Sich so in Begleitung mehrerer Hunde auf dem Rücken eines Mustangs – wie die Indianer ihre halbwilden Pferde nennen – in Wald und Steppe herumzutreiben, Hirsche, Adler und häufig sogar Büffel oder Bären zu jagen – ach, das begeisterte ihn über alles. Mongo verriet nichts; er ließ Robert gewähren, und wenn sich Gottlieb wunderte, daß so wenig Quarz geschlagen sei, dann sagte er: »Du mußt dich einmal selbst daran machen, mein Junge. Laß mich an deine Stelle treten und nimm du dafür meine.« Das tat Gottlieb nicht gern. Er mochte sich von dem Goldsack keinen Augenblick mehr trennen und fing an, Vorschläge zu machen, wie man das schon gewonnene Metall einwechseln und nach Deutschland überweisen könne. Sechshundert Taler war der angesammelte Vorrat immerhin schon wert, erkonnte also zweihundert den Eltern schicken, sie aus dem Armenhaus erlösen und ihnen für die Zukunft goldene Berge versprechen. Das war zu verführerisch, als daß es ihm länger Ruhe gelassen hätte. »Du, wie fangen wir es an?« fragte er Robert. »Jetzt fehlt uns an unserm Glück nur noch die Postverbindung mit Deutschland! – Es wäre zu schön, Briefe schreiben und Briefe empfangen zu können!« Robert seufzte leise. Die Erinnerung an Pinneberg führte ihm alte trübe Bilder vor Augen, ließ ihn wieder so recht erkennen, daß nichts auf Erden vollkommen ist, und warf über das sorglose Leben bei den Indianern einen dunklen Schatten. So durfte es, so konnte es nicht immer bleiben, und doch war es so schön! – Ein breiter Fluß zog sich quer vor dem Dorf hin; die Rothäute besaßen Kanus und Ruder und ließen ihren Gast oft ganze Tage lang darin fahren, wohin er wollte. Zwischen bewaldeten Ufern treibend, die Büchse im Arm, so lag er auf dem Rücken und war glücklich wie ein Gott. Erlöst von der Sorge um das tägliche Brot, frei wie ein Vogel unter guten, harmlosen Menschen, – was blieb ihm noch zu wünschen übrig? Und doch lebte tief in seinem Innern eine Stimme, die nie schwieg und deren leise Vorwürfe er allen anderen, nur nicht sich selbst verbergen konnte. Oft arbeitete er rastlos tagelang im Schweiße seines Angesichts, er holte doppelt ein, was er versäumt hatte, aber die innere Unruhe blieb. Gerade jetzt, wo das Leben so schön war, drückte es ihn manchmal wie eine Zentnerlast. Mongo blieb das nicht verborgen, der Neger sah, wie Robert mit sich rang, und als Gottlieb von einer Geldsendung nach Deutschland zu sprechen begann, da sagte er wie zufällig, während er Robert leise zunickte: »Der Jaguar will hinunter nach Stockton und seine Felle verkaufen, – Bob, wie wäre es, wenn du ihn begleitetest?« Robert errötete. »Mongo«, erwiderte er nach einer Pause, »wenn ich von hier fortgehe, muß es – nach Hamburg sein. Ich würde mich selbst verachten müssen, wenn ich eine andere Heuer annehmen könnte. Jetzt, wo das Gold da ist –« Der Schwarze nickte freundlich. »Du kannst doch auch von Stockton mit den andern wieder zurückkommen, Bob!« sagte er. Robert schüttelte den Kopf. »Es ist so schön hier, Mongo«, seufzte er, »und ich möchte so gern bleiben, aber darf ich es? – Damals in Lenchi hatte ich das schmerzlichste Heimweh, da sehnte ich mich nach Pinneberg, während hier der Gedanke daran ganz in den Hintergrund gedrängt worden ist.« »So komm doch von Stockton wieder zurück!« wiederholte der Neger. »Aber auf wie lange? Damit ändere ich nichts.« Mongo schwieg, aber als nach kaum einer Woche der Jaguar erklärte, in wenigen Tagen aufbrechen zu wollen, da sah er, daß die Trennung bevorstand. Jetzt mußte sich Robert entscheiden, jetzt mußte es sich zeigen, ob er fähig war, einer Neigung zu widerstehen und der Kindespflicht zu gehorchen. Wer wußte, welchen Weg Robert jetzt gehen würde? Der Neger berührte die Sache nicht wieder, Robert dagegen schien so oft wie möglich darüber sprechen zu wollen. »Du«, sagte er, als beide am letzten Abend allein waren, »ich glaube einen Ausweg gefunden zu haben.« »Nun, Bob, laß hören.« Robert sah zur Seite, – ein sicheres Zeichen, daß er mit sich uneins war. »Mongo«, fuhr er fort, »ich denke mir die Sache so. Zugleich mit der Sendung Gottliebs an seine Eltern schicke ich meinem Vater etwa hundert Taler, also das, was ich ihm damals genommen habe, sage ihm noch einmal, daß ich mein Vergehen bereue, und bitte ihn, mir zum Zeichen der Versöhnung einen Brief zu schreiben.« Tut er das, so soll alles gut sein, – sonst aber – Eine Pause verging, dann sagte der Schwarze: »Nun, Bob, sonst aber?« »Sieht mich Pinneberg nie wieder«, vollendete Robert entschlossen. »Du bist mein Freund, Mongo, der Jaguar hat mich gern, und es fehlt mir hier nichts, – soll ich mich wirklich von euch trennen, nur um eines Eigensinns willen, den wohl kaum jemand gerechtfertigt finden würde?« Der Neger lächelte trotz des Ernstes, der auf seinem gutmütigen Gesicht stand. »Könntest du wirklich für immer hier bei den Wilden bleiben wollen, Bob?« fragte er. »Könntest du dein Ziel für erreicht halten, wenn du eine Hütte dieses Indianerdorfes bewohnst und von der Welt abgeschnitten wie eine Rothaut im Walde lebst? Könntest du denn dem Meer für immer den Rücken kehren wollen?« Jetzt fuhr Robert auf. »Nein!« rief er. »Nie! Aber im Augenblick bin ich hier glücklich, – ich möchte es bleiben, solange es möglich ist. Wächst die Sehnsucht nach neuen Ländern wieder in mir, so suche ich mir ein Schiff und lasse mich einfach weitertreiben.« Der Neger schüttelte sehr ernst den Kopf. »Lasse mich einfach weitertreiben!« wiederholte er. »Da hast du mehr gesagt, als vielleicht in deiner Absicht lag, Bob. Nimm es deinem alten Freunde nicht übel, aber dein Plan taugt nichts. So kann nie etwas aus dir werden, wenn du mit neunzehn Jahren noch lebst wie ein Kind, das nur die Stunde begreift und nur von dem weiß, was es sieht? Kannst du dich wirklich damit zufrieden geben, daß du dich irgendwie und irgendwohin treiben läßt ?« Robert wurde nachdenklich. »Mongo«, sagte er nach einer Weile, »es ist nicht das erste Mal, daß du so mit mir sprichst. – Darf denn ein Mensch nie ungestraft glücklich sein?« Der Schwarze legte die Hand beruhigend auf seine Schulter. »Im Gegenteil, Bob«, sagte er zuversichtlich, »im Gegenteil, der Mensch soll überall glücklich sein, und zwar durch die Überzeugung, das Richtige und Gute zu tun. Und nun laß uns davon nicht länger sprechen, – solche Dinge muß der Mensch mit seinem eigenen Gewissen ausmachen.« Er ging, und Robert blieb in Gedanken versunken allein zurück. Wie schön war es hier. Endlich konnte er einmal tun, was er wollte. Freiheit, Ungebundenheit, der weite, grüne Wald mit all seinen Tieren, der Fluß und das Gebirge, in dem er herumklettern und auf das Dorf herabschauen konnte – – Und das alles sollte er freiwillig aufgeben und von hier, wo er glücklich war, nach Pinneberg gehen, um seinen eigensinnigen Vater um Verzeihung zu bitten und sich von der ganzen Ein wohnerschaft des kleinen Städchens angaffen zu lassen. »Robert Kroll ist wieder da«, würden die Leute sagen, »Robert Kroll, der vor drei Jahren seinem Vater das Geld stahl und heimlich fortlief. Jetzt wird er wohl erkannt haben, was die Heimat wert ist. Er wird sich nach Hause zurücksehnen und seinen Streich bereuen.« Es war ihm, als höre er die spöttischen Worte und sähe all die bekannten Gesichter, wie sie sich neugierig herandrängten, um zu fragen, zu horchen und ihre Ermahnungen vom Stapel zu lassen. Ungeduldig wanderte er auf und ab. Alle diese Gedanken waren ihm nicht gekommen, als es ihm in Lenchi so schlecht ging, – da mals hätte er jeden Tag abreisen können, damals hätte er jedes Opfer gebracht, um das Geld, das er nicht besaß, seinem Vater auf den Tisch zu legen, aber jetzt war das alles anders. Hier fühlte er sich wohl, hier hatte er alles, was er sich wünschte, und das sollte er aufgeben, um den Kampf, dem er kaum entronnen war, erneut zu beginnen? – Er schüttelte den Kopf. Wenigstens jetzt noch nicht, nein, noch nicht. Das Leben unter den Rothäuten würde vielleicht bald seinen Reiz verlieren, dann war es immer noch früh genug, nach Deutschland zurückzukehren. Vorerst wollte er mit dem Trapper die Reise nach Stockton machen und sich den antwortenden Brief des Vaters für Ende September oder Anfang Oktober – zu welcher Zeit der Jaguar eine zweite Fahrt beabsichtigte – erbitten. Sein Entschluß stand fest, und nun wurde er ruhiger. – »Wenn ich zurückkomme, seid ihr schon reiche Leute«, sagte er, als sich spät abends alle drei im Zelt zur Ruhe legten. »Du, Gottlieb, denkst dann vielleicht schon an eine zweite Geldsendung nach Pinneberg.« Der junge Kaufmann war nicht gerade in guter Stimmung. Mit dem tatkräftigen, entschlossenen Freund ging ihm doch ein starker Halt verloren, und das beunruhigte ihn. »Wenn dir nur nichts passiert!« seufzte er. »Der Trapper fort und du fort, – das ist nicht schön.« »Innerhalb von fünf Wochen bin ich ja zurück, Gottlieb.« »Du? – Das glaube ich nicht.« »Aber du wirst es sehen. Ich will doch noch mehr Büffel und Hirsche schießen, – meinst du nicht auch, Mongo?« »Hm, du junger Spitzbube, ich weiß nicht recht.« Robert fuhr auf, offenbar gereizt. Er, der sonst so gutmütig war, nahm in letzter Zeit alles übel. »Ihr glaubt mir nicht?« rief er entrüstet. Der Neger legte beruhigend die Hand auf seinen Arm. »Bitte, Bob«, flüsterte er, »wir glauben dir ja!« Robert wagte nicht, dem väterlichen Freund zu widersprechen, aber er schwieg unwillig. »Sie glauben, daß ich heimlich fortgehe«, dachte er, und das verletzte ihn sehr. »Ich will den beiden zeigen, daß ich ein Mann bin!« Auch Gottlieb kroch leise an seine Seite. »Robert«, flüsterte er, mit beiden Händen seinen Arm umklammernd, »Robert, wenn du nach Pinneberg kommst – sei nicht gleich so bös, ich sage ja wenn – dann besuche meine Eltern, obwohl sie im Armenhause wohnen, und erzähle ihnen von mir, willst du das?« Robert lachte halb, und halb ärgerte er sich. »Natürlich würde ich das tun, Gottlieb«, antwortete er, »wenn ich wirklich die Absicht hätte, nach Hause zurückzukehren. Aber daran wird gar nicht gedacht.« Der schüchterne Gottlieb drückte seine Hand. »Laß uns einmal annehmen, du wärest wirklich dort«, erwiderte er, »gleichgültig, ob daraus etwas wird oder nicht, – aber würdest du in das Armenhaus gehen, um dort jemand zu besuchen?« »Hast du auch nur einen einzigen Augenblick daran zweifeln können, Gottlieb?« Der andere lehnte sich zufrieden auf seihe Felle zurück. »Nein, Robert«, antwortete er aufrichtig, »das habe ich nicht.« »Nun, Gott sei Dank, das ist wenigstens etwas.« »Du erzählst also meinen Eltern noch einmal alles, was ich ihnen schon geschrieben habe«, fuhr Gottlieb fort, »wie sehr uns das. Unglück verfolgt hat und wie teuer man hier lebt. Tröste den armen alten blinden Mann, Robert, und sag ihm, daß ich unermüdlich vom Morgen bis zum Abend arbeite, um ein paar tausend Taler zusammenzubringen, damit wir das Haus wieder aufbauen und das Geschäft neu einrichten können. Aber im übrigen sieh zu, daß sich die Geschichte nicht gleich so herumspricht. Es braucht ja nicht jeder zu wissen, daß ich hier ziemlich viel Geld verdiene.« Jetzt lachte Robert laut heraus. »Mensch«, rief er, »was faselst du da? In fünf Wochen bin ich wieder zurück, ohne von unserer Heimat mehr gesehen zu haben als du, der hier bleibt.« Gottlieb unterdrückte einen Seufzer. »Na ja, Robert«, antwortete er, »ich sagte doch alles unter der Voraussetzung, daß du nach Pinneberg kämst. Wird daraus nichts, so erledigen sich natürlich meine Bitten von selbst.« Damit endete das Gespräch, und am folgenden Morgen begannen die Vorbereitungen zur Abreise. Vier Indianer und sechs Pferde gehörten außer dem Trapper und Robert mit ihren Tieren zu der kleinen Karawane. Die beiden ledigen Pferde sollten mit den Fellen und Pelzen des Jaguars beladen werden; man führte sie am Zügel mit sich bis zu dem Stapelplatz, der als Hauptniederlage des Jägers in einiger Entfernung vom Dorf lag. Robert hatte sich von den Indianern und ihren Frauen verabschiedet; nur noch seine Freunde begleiteten ihn vor das Dorf hinaus. Es war ein heller, sonniger Julimorgen, die Luft war frisch und der Himmel heiter. Roberts Wanderlust war erwacht. Noch einmal wandte er sich zu den beiden andern. »Lebt wohl, Gottlieb und Mongo!« sagte er, ihnen die Hände schüttelnd, »lebt wohl, und – – auf Wiedersehen!« »Verliere nur das Geld nicht!« bat der junge Pinneberger ängstlich. »Ich bitte dich, Robert, ist das Gold sicher verwahrt?« »Vollkommen sicher«, antwortete Robert zum zwanzigsten Mal. »Der Jaguar hat mir einen Ledergurt genäht, in dem es bis zum jüngsten Tage sitzen könnte, ohne von irgendeinem Unglück bedroht zu werden.« Gottlieb betastete nochmals die Stelle an Roberts Körper. »Wir wollen das Beste hoffen«, seufzte er, »und in Stockton gibst du den Betrag auf die Post, nicht wahr?« »Das werde ich tun, Gottlieb, sei ganz beruhigt. Die Quittung bringen wir dir wieder mit zurück.« »Schön, Robert, schön, und viel Glück auf die Reise!« Er trat zur Seite, um dem Neger Platz zu lassen. Mongo streckte seinem jungen Freund beide Hände entgegen. »Denk zuweilen an mich, Bob!« bat er mit leisen Worten. Robert versuchte umsonst, seiner Stimme einige Festigkeit zu geben. Was er fühlte, verstand er selbst nicht ganz. »Mongo«, sagte er endlich, »Mongo, ich verdanke dir viel, du hast mir in manchen Dingen den rechten Weg gewiesen, – hab Dank, Alter!« Der Neger schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er, »das darfst du nicht sagen. Aber nun geh, – Männer dürfen sich nicht so schwach zeigen.« Er fühlte vielleicht die Tränen, die in seinen ehrlichen Augen standen, er suchte nicht, sie zu verstecken. »Gott beschütze dich, Bob«, fügte er hinzu. »Leb wohl, Mongo, leb wohl!« Und Robert ging die wenigen Schritte bis zu den Pferden, er wollte nicht noch einmal wieder zurückblicken, wollte es kurz machen und sich vollkommen ruhig zeigen, aber – plötzlich kehrte er um und umschlang mit beiden Armen den Hals des Negers. »Mongo, – Leb wohl!« Er küßte das schwarze Gesicht und wandte sich rasch ab. Die vier Indianer und der Jaguar saßen schon in ihren Sätteln. »Es ist ja nur für fünf Wochen«, wiederholte er sich immer wieder, »es ist nicht der Rede wert, und doch tut es mir weh – –.« »Noch ein letzter Gruß mit der Hand, ein Winken, und dann flogen die schnellen Tiere der Steppe zu.« Fort ging es im scharfen Trab durch Busch und Wald. Die gewohnte Umgebung blieb allmählich zurück, und die Landschaft bildete immer neue Schönheiten. Zu zwei und zwei hintereinander ritten die sechs Männer, und mindestens zehn Hunde umsprangen bellend den kleinen Zug. Gesprochen wurde wenig, was Robert im Grunde sehr gelegen kam, da er mit seinen Gedanken lieber allein gelassen sein wollte. Einer der Indianer, der neben dem Trapper ritt, beugte sich über den Hals des Pferdes zu ihm hinüber. »Weiß der Jaguar, was sein Bruder, der fliegende Pfeil, in diesem Augenblick dachte?« fragte er leise. Der Trapper senkte den Kopf. Er wandte keinen Blick von Roberts Gestalt. »Ich weiß es«, erwiderte er in den tiefen Tönen der Comanchensprache, »die Gedanken des fliegenden Pfeiles sind auch die des Jaguars. Vor dreißig Jahren zogen deutsche Auswanderer, arme Goldsucher, von San Franzisko aus mit ihrem einzigen Pferd, mit Kindern und geringem Hausrat in die Minenstädte, die damals erst entdeckt worden waren. Bei dieser kleinen Karawane befand sich ein junger Bursche, der die ganze Hoffnung seiner Eltern war, – ein Junge, so voll Leben und so mutig wie der dort –« Der fliegende Pfeil blickte zum Himmel hinauf. »Eine weiße Wolke segelte über die Wälder«, fügte er hinzu, »und ein Sternstand über der Hütte des roten Mannes. Der junge Bursche blieb bei den Comanchen, und als ihn seine Eltern aufforderten, mitzuziehen in das Goldland, als sie ihn verzweifelnd baten, nicht seine jungen, frischen Kräfte ihrem schwierigen und gefahrvollen Vorhaben zu entziehen, da war er taub für die Bitten der alten Leute – und sein erzürnter Vater fluchte ihm –« Der Jaguar war blaß geworden unter der braunen Hautfarbe. »Die Welt wird alt und verjüngt sich wieder«, sagte er wie zu sich selbst, »die Menschen bleiben die gleichen. Jetzt sind der fliegende Pfeil und der Jaguar Männer mit grauem Haar, und dieser junge Mensch dort, der damals noch nicht geboren war, verläßt die Seinen, um frei in der Wildnis zu leben. Möge ihm der Große Geist gnädiger sein als mir.« Der Indianer erhob sich im Sattel und hielt Umschau. »Noch vor Einbruch der Nacht müssen wir das Grab der Kirschblüte erreicht haben«, sagte er. Der Trapper nickte, und dann versanken beide wieder in das frühere Stillschweigen. Wie Robert selbst, waren auch sie ganz mit ihren Erinnerungen beschäftigt. Gegen Mittag wurde Halt gemacht und im Schatten einiger Bäume eine Mahlzeit von kaltem Fleisch und Maiskuchen eingenommen. Nach kurzer Rast brachen die Reiter wieder auf, um noch vor Abend ein Reh oder einen Hirsch zu schießen. Mit Antilope und Schlangentöter voran, ging es in den stillen, tiefen Wald hinein; die Jäger stellten bald einen stattlichen Sechzehnender, der schon nach kurzer Zeit zur Strecke gebracht war, sie nahmen die besten Stücke heraus, beluden damit eines der Packpferde und suchten dann die versäumte Zeit durch schnelleres Reiten wieder einzuholen. Gegen Abend mußte eine Höhle der Sierra Nevada, in der die Pelze des Jaguars lagerten, erreicht sein. Robert war zwar etwas zerschlagen und kreuzlahm, als er diesen ersten Tag mit seinem langen, anstrengenden Ritt hinter sich hatte, aber daran dachte er jetzt nicht weiter. Er freute sich auf die Höhle, die ihm der Jaguar zeigen wollte. Starr und zerklüftet, ohne allen Baumwuchs, erhoben sich hier die Felsen des Gebirges. Zur Rechten lag dichter Wald, zur Linken ragten die riesigen Steinmassen himmelhoch empor. Die Nähe des gewaltigen Felsmassivs wirkte fast erdrückend. Der Trapper und der fliegende Pfeil, als die ersten im Zuge, machten Halt, und nun entwickelte sich ein emsiges Treiben. Es wurde ein Feuer entzündet, die Hirschkeule an den Spieß gesteckt und ein paar flache Steine glühend gemacht, um dazwischen die Maiskuchen zu backen. Nur ungern schienen sich die Indianer diesen Beschäftigungen zu unterziehen. Robert bemerkte aufs neue, wie sehr die rote Rasse alle Arbeit verachtet und unter ihrer Würde hält. Was sonst die Squaws taten, das mußten die Männer jetzt notwendigerweise selbst verrichten, aber es geschah mit sichtlichem Widerstreben, obgleich der Trapper und Robert mit bestem Beispiel vorangingen. Nachdem die Mahlzeit beendet war, legten sich die Rothäute neben ihren Pferden in das Moos, während der Jaguar Robert aufforderte, mit ihm das Lager von Pelzen und Büffelfellen in Augenschein zu nehmen. Zwei derbe Kienspäne waren bald aus einer nahestehenden alten Tanne herausgehauen und an dem verglimmenden Küchenfeuer in Brand gesetzt, dann ging es durch das Felsengewirr vorwärts. Schon nach einigen Minuten hätte Robert den Rückweg unmöglich wiederfinden können. Bald weit, bald sich vollständig verengend, kreuz und quer liefen die Gänge im Innern des Felsens neben- und durcheinander her, bis sich endlich eine weite Höhle vor den beiden Männern öffnete. Von oben her fiel das scheidende Tageslicht durch die Spalten herein, dennoch aber blieben die Ecken und Winkel der weiten Halle in Dunkel gehüllt, und der Eindruck des Ganzen war äußerst abenteuerlich und geheimnisvoll. Der Jaguar hob die Fackel empor. »Hier siehst du die Schätze, die sich dein Freund auf seinen Wanderungen durch Wald und Steppe zusammenträgt«, sagte er. »Schau hin, der Bär und der Wolf, der Coyote und der Büffel, der Panther und der Biber, alle haben ihr Kleid ausziehen müssen, um es dem Men schen zu leihen. Morgen werden wir mit dem Ertrag des Winters die Packtiere beladen.« Roberts Augen folgten der angedeuteten Richtung. Ganze Haufen von Pelzen und Fellen lagen im Hintergrund der Höhle auf und übereinandergeschichtet, alles nach der Art geordnet, alles sauber getrocknet und zusammengelegt wie in den Schränken der sorgsamsten Hausfrau. Die Pelze schienen aber auch der Stolz und die Freude des Trappers zu sein, obwohl sein dunkles Gesicht sehr ernst und fast traurig aussah. »Vor dreißig Jahren hat der Jaguar in diesen Felsen gewohnt«, sagte er halblaut. »Hier brannte sein Feuer, hier ruhte er von den Anstrengungen des Tages aus, und hier – fiel auf ihn die Hand des Großen Geistes, der nicht will, daß das Unrechte Frieden gebe.« Die letzten Worte sprach er sehr leise, und als Robert teilnahmsvoll fragte, weshalb er so traurig sei, da schüttelte er den Kopf. »Ein anderes Mal«, erwiderte er. »Die Augen des Jaguars müssen hell bleiben und sein Geist frei, – er darf sich von seinen Erinnerungen nicht beirren lassen.« »Aber komm«, fuhr er fort, »der Jaguar will dir noch mehr zeigen.« Robert folgte ihm bis zum Ausgang der Höhle, deren Vorhöfe nach rechts und links in einzelne Gänge abzweigten. Einen dieser Wege verfolgten die beiden bis zu einem freien Raum, dessen weit geöffnete Decke den Abendhimmel mit seinen tausend funkelnden Sternen deutlich erkennen ließ und dessen Boden mit weichem Moos bewachsen war. Von allen Seiten durch steinerne Wände eng umschlossen, glich der Platz einer großen Grabkammer. Eine Pyramide aus losgehauenen Felsstücken und kleinen Steinen erhob sich in der Mitte des Raumes, von Wucherpflanzen mit tausend Ranken überwachsen und halb verhüllt. Weiße Blumen an langen, schilfartigen Blättern neigten überall im leisen Abendwind ihre Glocken. Der Trapper blies die Fackeln aus. »Wir brauchen sie nachher, um den Rückweg zu finden«, sagte er, »während uns hier die Sterne leuchten. – Sieh, mein junger Freund, unter diesem Stein schläft Kirschblüte, das Weib des Jaguars.« Robert empfand kein Erstaunen. Er hatte sich das schon gedacht und wußte auch, daß damit noch ein besonderes Geheimnis verknüpft sein müsse, aber danach fragen mochte er nicht, er schwieg daher, während der Trapper ein paar herabgefallene Steine wieder an ihren Platz legte und die Ranken darüber hinzog. »Der Jaguar hat seit dreißig Jahren dieses Grab behütet wie seinen Augapfel«, sagte er leise, »es ist sein Gotteshaus, er betet zum Großen Geist, sooft er hierherkommt, und der Große Geist hört ihn. Des Jaguars Seele hat Frieden gefunden.« Er strich sachte mit der Hand über die Ranken des sonderbaren Grabmals. »Komm«, sagte er dann, »du bist jung und ein guter Mensch, du willst das Richtige, ohne es begreifen zu können – wie wir alle. – Der Jaguar wird dir in Stockton seine Geschichte erzählen, damit du erkennen lernst, ob dich dein Weg zurückführen darf in den Wigwam des roten Mannes, oder ob du über das große Wasser ziehen mußt, um den Zorn deines Vaters in Segen zu verwandeln.« Robert errötete stark. »Hat dir Mongo von meiner Geschichte erzählt, Jaguar?« fragte er. Der Trapper bejahte. »Du bist ein Kind«, fügte er hinzu, »und der Jaguar ist ein alter Mann, das gibt ihm das Recht, dich zu warnen. Aber komm jetzt, die Zeit für das, was dir dein Freund zu sagen hat, ist noch nicht erfüllt.« »Er entzündete wieder die Fackeln und ging dann durch das Gewirr verschlungener Wege voran bis an den Ausgang des Felsens. Robert war mit den Worten des Trappers gar nicht einverstanden. Der Trotz, der ihn so leicht ergriff«, regte sich auch jetzt wieder in ihm. »Und wenn alle behaupten, daß ich unbedingt abreisen müßte, – ich will es nicht«, dachte er. »Es ist doch immer dasselbe. Sobald man mit alten Leuten zusammenkommt, wollen sie der Jugend ihren Weg vorschreiben. Aber zu befehlen hat mir niemand, auch Mongo nicht, obgleich er mich so gern zähmen möchte! Ich will nicht nach Deutschland zurück, jetzt erst recht unter keiner Bedingung, gerade weil alles dazu drängt und treibt.« Und mit diesem Entschluß legte er sich neben den andern auf das Moos, um zu schlafen, während die Hunde Wache hielten. Am nächsten Morgen ging man daran, die Vorräte aus der Höhle zu tragen und die Tiere zu bepacken. Dann wurde, wenn auch langsamer, die Reise fortgesetzt. Bis nach Stockton waren es noch etwa zehn Tage, man durfte sich jedoch nicht aufhalten, da mit einem solchen Ritt durch eine unbewohnte und von Raubtieren bevölkerte Gegend manche Gefahr verbunden ist, die möglichst rasch umgangen werden muß, zumal wenn die Reisenden einen Wert von mindestens zweitausend Dollar mit sich führen. Robert sorgte während der Reise fast täglich für die Küche, das heißt, er schoß den Braten, und der Trapper bereitete ihn für das Mahl zu. Die Nächte wurden unter freiem Himmel verbracht, am Morgen in einem der zahllosen Nebenflüsse des San Joaquin ein erfrischendes Bad genommen und die Zeit der stärksten Mittagshitze verschlafen, mit einem Wort, es war ein Leben, wie es sich Robert in seinen verwegensten Träumen nicht schöner vorstellen konnte. »Ich bleibe bei den Wilden, solange es mir gefällt«, dachte er, »und dann suche ich in San Franzisko ein Schiff, – ich will leben, um glücklich zu sein.« Er hütete sich, mit dem Trapper unter vier Augen zu sprechen, und als endlich die Umgebung der Stadt Stockton erreicht war, als man nicht mehr jagen konnte, sondern von den Farmern das Fleisch kaufen mußte, da hatte die Reise für ihn den hauptsächlichsten Reiz verloren. »So in einer Stadt leben könnte ich nicht«, dachte er, »nein, entweder auf dem Wasser, oder in der Wildnis bei den Rothäuten.« Er übersah fast geringschätzig die neugierigen Blicke der Farmer, mit denen der Zug von Indianern und Tieren überall empfangen wurde. Nur wenn ein deutscher Laut sein Ohr traf, schoß ihm das Blut in die Schläfen. »Wo es mir gut geht, da ist mein Vaterland!« sagte er sich, aber dieser Trotz konnte ihn doch nicht wirklich beruhigen, und er fragte den Trapper immer wieder, wie lange man sich notwendigerweise in Stockton aufhalten müsse. »Fünf bis sechs Tage«, lautete die Antwort. »Der Jaguar will nicht allein seine Felle verkaufen, sondern sich auch mit allen unentbehrlichen Dingen für die nächsten Monate ausrüsten. Er braucht Schießbedarf, Stiefel und Feuerwasser, er muß sich ein neues Messer kaufen und den Squaws, die seinen Wigwam besorgen, ein Geschenk mitbringen. Hat der junge Weiße so große Eile, wieder zurückzukehren in das Lager der roten Männer?« Robert bejahte äußerlich gelassen, obwohl ihm das Blut in die Wangen trat. »Jede Entscheidung läßt mich ruhiger werden«, dachte er, – »nur das dauernde Hin- und Herüberlegen ist unerträglich. Wenn wir nur erst wieder im Gebirge wären!« Auf diese Weise wurde endlich an einem glühend heißen Tage, Ende Juli 1870, die Stadt Stockton erreicht, und Robert sah nach fast einem Jahr zum erstenmal wieder einen Hafen. Außer den kleinen Postdampfern, die auf dem San Joaquin die Verbindung mit San Franzisko aufrechterhalten, gab es nur einige Holzschiffe, Kähne und Boote, doch selbst dieser matte Abglanz all der Herrlichkeiten, die Robert in den größeren Hafenstädten begeistert hatten, ließ sein Herz schneller schlagen. »Ich könnte nach San Franzisko fahren und dort das Geld auf die Post geben«, dachte er und war schon im Begriff, den andern seinen Entschluß mitzuteilen. Aber dann fiel ihm auch wieder ein, daß irgendwelche unvorhergesehenen Umstände die Rückreise verhindern könnten und er dadurch von seinen Gefährten getrennt werden würde. »Nein«, beschloß er, »ich will der Versuchung widerstehen. Die beiden, der Jaguar und Mongo, sollen sehen, daß ich ein Mann bin und kein Kind, das sich befehlen oder beeinflussen läßt.« Er begleitete also den Trapper und die Rothäute in eine Herberge vor der Stadt, wo sie bereits von früheren Reisen her bekannt waren und wo sich sogleich das Volk in Scharen sammelte, um die roten Fremdlinge anzustaunen. Während die Indianer mit ihrem unzerstörbaren Gleichmut, ohne irgend jemand zu beachten, auf dem Hof des Wirtshauses ihr Zelt aufschlugen, ihre Felle ausbreiteten und sich rauchend darauf ausstreckten, ging Robert durch die Straßen der Stadt, um einen Goldkäufer zu suchen. Das Geschäft war bald abgeschlossen und eine Summe von nahezu fünfhundert Dollar in seinen Ledergürtel gewandert, nach deutschem Geld also für Gottlieb und ihn selbst je dreihundert Taler. Den Anteil seines Freundes brachte er mit einem schnell entworfenen Brief, den Gottlieb leider unter den Comanchen nicht hatte schreiben können, zur Post, und erst als er dies pünktlich erledigt hatte, dachte er an seine eigenen Wünsche. Den Brief an seinen Vater wollte er erst abends in aller Ruhe aufsetzen und jedes Wort darin genau abwägen, vorher aber noch die Stadt ansehen, und – darauf hatte er sich schon lange gefreut, – in einem anständigen Gasthaus einmal wieder ordentlich mit Messer und Gabel zu Mittag essen. Der Trapper verhandelte mit einer Gruppe von Pelzhändlern, er ließ sie durcheinander schnattern, jedes Fell besonders ausbreiten und tadeln, um jeden Cent lange feilschen und über die schlechten Zeiten im allgemeinen bittere Klage fuhren, ohne von seiner Forderung das Allergeringste abzulassen. Höchstwahrscheinlich kannte er die Art dieser Geschäftsleute schon ganz genau, denn er schwieg zu dem, was sie sagten, als sei er stocktaub. Robert dagegen fühlte sich, nachdem er die Sache fünf Minuten lang mit angesehen hatte, recht unangenehm berührt; er fragte den Jaguar, ob er ihm in irgendeiner Weise helfen könne, und als der Trapper dankend ablehnte, ging er fort, um ein Gasthaus zu finden. Seine Augen suchten die Schilder über den Haustüren ab, bis ihm eine große Inschrift in deutscher Sprache entgegenschimmerte. »Zur deutschen Heimat«, las Robert und trat in die weite, saubere Vorhalle, in der große Fässer lagerten, und von da in den Speisesaal. An mindestens zehn Tischen saßen Kopf an Kopf die Gäste. Laute Unterhaltung schwirrte dem Ankommenden entgegen, deutsche Worte hörte man überall, deutsche Zeitungen gingen von Hand zu Hand, und auf den ersten Blick ließ sich erkennen, daß irgendein besonderes Ereignis die Menschen in Aufregung versetzt haben mußte. Robert achtete anfänglich nicht darauf, sondern hielt sich bescheiden zurück und forderte nach sorgfältiger Durchsicht der Speisekarte eine Portion seines Lieblingsgerichtes, dem er tapfer zusprach. Als er gegessen hatte, bat er um eine deutsche Zeitung. Vielleicht konnte er ja daraus von der Heimat irgendeine Neuigkeit erfahren. Der Kellner zuckte die Achseln. »Wir nehmen, seit die Nachricht kam, von jedem Blatt sechs Exemplare«, antwortete er, »aber dennoch ist nie eins zu erreichen. Die Stammgäste halten sie fest, als wären es Heiligtümer.« Robert blickte auf. »Welche Nachricht?« fragte er. »Nun, die von der Kriegserklärung natürlich.« Auf Roberts Gesicht malte sich unverkennbares Erstaunen. »Eine Kriegserklärung?« wiederholte er. »Wo ist denn Krieg?« Der junge Mann schüttelte den Kopf. »Sie kommen wohl aus den Goldminen«, antwortete er, »aber das macht nichts, Sie werden schon genug davon zu hören bekommen. Uns – ich meine natürlich unseren König in Berlin – ist von Frankreich der Krieg erklärt worden, und alles was deutsch spricht, marschiert an den Rhein, um die Grenzen zu schützen.« Er entfernte sich mit seinen Tellern und Schüsseln und ließ Robert in größter Aufregung zurück. Deutschland war von Frankreich der Krieg erklärt worden – das war ein kühnes, gewagtes Spiel, das hieß alles auf eine Karte setzen. Robert fühlte, wie ihm das Herz klopfte. Fast ehe er selbst wußte, was er beabsichtigte, war er zu einer der Gruppen an den anderen Tischen getreten und hatte in deutscher Sprache gebeten, ihm von dem großen Ereignis doch mehr zu erzählen. Noch wußte er ja keine Einzelheiten, sondern nur die Tatsache selbst. Die Leute wandten sich erstaunt um und musterten prüfend die Erscheinung des braungebrannten jungen Menschen. »Wahrhaftig«, sagte einer, »ich glaube, das ist ein Halbindianer. Wenigstens sind Mütze und Gürtel Comanchenarbeit.« »Hallo«, rief der zweite, »kamt Ihr nicht heute früh mit noch einigen anderen aus den Gebirgen herab? Ich denke, daß ich Euch wiedererkenne.« Robert nickte. »Ihr habt recht«, erwiderte er, »aber –« »Alle Teufel, was tut Ihr denn bei den Rothäuten?« unterbrach der Mann. »Ein so junger Bursche kann doch unmöglich daran denken, Trapper zu werden?« Robert konnte seinen Ärger schlecht verbergen. »Ich glaube«, antwortete er nachdrücklich, »daß das meine Sache ist. Aber Sie scheinen nicht die Absicht zu haben, mir das zu sagen, was ich gern wissen möchte. Ich will Sie nicht länger stören!« Vom anderen Tisch herüber wurde ihm ein Bierglas gereicht. »Auf Deutschlands Sieg!« rief ein stämmiger Mann, dessen Äußeres deutlich den »Digger« verriet. »Warst wohl in Lenchi oder Idaho, was? Hast gute Beute gemacht und bist mit den Rothäuten hierhergekommen, um die teure Reise auf der Bahn zu sparen, denke ich.« Robert unterdrückte seinen Unwillen und nahm das dargebotene Glas. »Ich danke Ihnen, Sir«, sagte er. »Sie haben wirklich das Richtige getroffen. Die Comanchen sind mir gute Freunde, ich achte sie ebenso wie alle anderen Menschen.« Die Männer lachten. »Es wollte auch niemand von uns die Rothäute beleidigen«, hieß es, »aber man wundert sich doch, einen Weißen zu sehen, der ständig mit ihnen zusammenlebt.« »Du«, rief wieder der Digger, »willst du jetzt nach Deutschland und dich freiwillig zu den Soldaten melden? Dann können wir zusammengehen.« Dunkle Röte färbte Roberts Wangen. »Ist es Wahrheit mit der Nachricht von der Kriegserklärung?« fragte er nochmals. Nun endlich wurde ihm von allen Seiten Auskunft gegeben. Er nahm gedankenlos die Zeitung, die man ihm reichte – sein erster Blick fiel auf den Erlaß des Kriegsministeriums in Berlin, bei allen Truppenteilen den Eintritt Freiwilliger zu gestatten. Es wirbelte in seinem Kopf, das Blut pochte in den Schläfen, – ein einziger Gedanke verdrängte alle andern. Das Vaterland war in Gefahr, – der König erwartete, daß keiner zurückbleiben werde, wo es galt, die Heimat zu schützen. Aller Zwiespalt war vorüber, alle Zweifel gelöst. Es gab für ihn keine persönlichen Interessen mehr, keinen Trotz gegen seinen Vater oder gekränkte Eigenliebe, – das bedrohte Deutschland rief, und er mußte folgen. Seine Augen suchten den Goldgräber. »Ich gehe mit dir!« antwortete er fest. »Bravo! Trotz deiner Jugend bist du ein ganzer Kerl. Komm, laß uns anstoßen.« Die übrigen bestellten Wein, und die Gläser klangen aneinander. Der Begeisterungsrausch, der damals ganz Deutschland ergriffen hatte, zeigte sich selbst hier, jenseits des Atlantischen Ozeans. Man trank, bis die Köpfe erhitzt waren. Robert, der nie einen Tropfen zuviel über seine Lippen kommen ließ, war rechtzeitig gegangen, um zunächst dem Trapper mitzuteilen, daß er mit dem morgigen Postdampfer nach San Franzisko abreisen und sich von dort für Hamburg anmustern lassen werde. »Nicht wahr«, sagte er, »du verstehst das, Jaguar, du würdest es ebenso machen?« Der Trapper fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Er schwieg lange Zeit, während der er alte, trübe Erinnerungen zu bekämpfen schien. Die Nachricht Roberts mußte ihn offenbar sehr ergriffen haben. »Komm«, sagte er endlich, »komm, der Jaguar will seinem weißen Bruder die Geschichte erzählen, von der er neulich schon gesprochen hat. Komm!« Robert folgte ihm, und die beiden gingen langsam hinaus bis vor den Ort, wo endlich der Jaguar, als sie ganz allein waren, von seiner Jugend erzählte. Wir wissen aus dem Gespräch zwischen ihm und dem fliegenden Pfeil bereits, daß er derjenige war, den sein eigener Vater verfluchte, als er sich weigerte, das Indianerdorf wieder zu verlassen und seine Eltern zu begleiten, aber wir wissen nicht, wie schrecklich der damals noch junge Mann vom Schicksal für diesen Ungehorsam bestraft wurde. »Ich war verblendet«, sagte der Trapper, »ich hielt meine Ehre für bedroht und fand Freude am Trotz gegen meinen alten Vater. Der fliegende Pfeil ging mit mir auf die Jagd, ich lebte in seinem Wigwam ohne Sorge und Arbeit, ich konnte tun, was ich wollte, anstatt dem strengen Vater zu gehorchen und über alles, was ich tat, Rechenschaft abzulegen. Das verlockte mich, zumal da dieser Streit zwischen ihm und mir keineswegs der erste war. Während ich die alten Leute weiterziehen ließ, ohne mich um ihr Schicksal zu kümmern, ging es mir selbst eine kurze Zeitlang ausgezeichnet. Ich heiratete Kirschblüte, die Schwester des fliegenden Pfeils, und wohnte in den Felsen, wo sie begraben liegt, aber – nur für wenige Wochen. Der Große Geist hatte den Fluch des beleidigten Vaters gehört, er sandte das Verhängnis, das ihn erfüllen sollte, er schlug das Auge des Jaguars mit Blindheit, daß er sein Liebstes nicht erkannte. – Drei Tage und drei Nächte hatte er den grauen Bären verfolgt, den gefährlichsten, blutdürstigsten der ganzen Gattung, drei Tage und drei Nächte lang hatte er nicht geschlafen und fast ohne Speise und Trank nur an das Raubtier gedacht, das ihn immer wieder zu necken und zu täuschen schien. Aber gerade das reizte den Trotz des Jaguars. Er dachte an nichts anderes, als nur an diesen Bären, der den Felsen umkreiste, der beständig in der Nähe war und dessen er doch nicht habhaft werden konnte. Sein Blut strömte heiß durch die Adern, seine Ruhe war dahin, er schlief nicht eher, bis ihn die letzten Kräfte verließen. Doch schon nach kurzer Zeit taumelte er wieder empor, um das Raubtier zu verfolgen. Wenn er meilenweite Strecken zurückgelegt hatte und erschöpft auf das Moos des Weges sank, dann trabte hinter ihm gewiß der Bär und schien seinen ohnmächtigen Gegner verspotten zu wollen. Kugel auf Kugel pfiff harmlos an ihm vorüber – das Tier war offenbar gefeit. Zuletzt sah ihn der Jaguar in heller Mondnacht durch das Gebüsch kriechen, als er sich zufällig ganz in der Nähe seiner Höhle befand. Er schoß nicht, – es graute ihm bereits vor dem Klang der niemals treffenden Büchse – aber er schlich nahe und näher heran, er wollte seinen Todfeind von Angesicht zu Angesicht sehen und empfand das wahnwitzige Verlangen, Brust an Brust mit ihm zu ringen, ihm womöglich das Jagdmesser ins Herz zu stoßen und sich an seinen Qualen zu weiden. Lautlos schlich er heran. Der Bär zeigte sich im hellen Mondglanz nur für wenige Sekunden, er sah in das Auge des Jaguars, und dann verschwand er, als habe ihn die Erde verschlungen. Der Jaguar rührte sich nicht, er starrte nur immer auf die eine Stelle und wagte kaum zu atmen, aus Furcht, daß ihm sein Feind entgehen möchte. Stunde um Stunde verrann, die Einsamkeit und Totenstille der Umgebung drückten auf das Gehirn des Jägers, aber er widerstand dem Schlafe, um immer nach jenem Gebüsch zu sehen, um im gleichen Augenblick, wenn das Raubtier zurückkehren würde, ihm die Todeskugel in das Herz zu schicken. Und dann, – dann kam das Verhängnis. Der Jaguar weiß nicht, ob er wenige kurze Augenblicke lang vielleicht geschlafen hat, er hörte plötzlich ein Knistern und Rauschen, er sah, wie sich's an jener Stelle hinter den Zweigen regte und daß etwas wie grauer Pelz durch die Blätter schimmerte. Diesmal stand das Tier, es schien seinen Feind zu erwarten, es blieb auf demselben Platz, regungslos, wie der Jaguar selbst. Wilde Freude ergriff den Jäger, er hob lautlos die Büchse, – der Schuß krachte, daß ihn das Bergecho donnernd zurückwarf, aber – noch ein anderer, schwacher Laut mischte sich in das Getöse – Es klang wie das leise Wimmern eines Menschen – – Der Jaguar taumelte auf. Eiseskälte rann durch seine Glieder, sein Herz schlug stürmisch, er stürzte halb besinnungslos zu der Stelle, wohin er geschossen hatte, und bog die Zweige auseinander – – Da lag Kirschblüte, das Licht seines Auges, sein junges, schönes Weib, und aus ihrer Brust strömte das Blut über das Moos dahin. Nur zu sicher hatte diesmal des Jaguars Kugel ihr Ziel getroffen.« Der Trapper hielt inne, überwältigt von der Macht der schrecklichen Erinnerung, unfähig, weiterzusprechen. Er stützte den Kopf in die hohle Hand und sah starr vor sich auf den Weg. Robert versuchte kein Wort des Trostes. Was hätte auch gesagt werden können, einem so vernichtenden Schmerz gegenüber? »War Kirschblüte tot, Jaguar?« fragte er nach einer Weile. Der Trapper nickte. »Sie hat den Jaguar kaum noch erkannt«, fuhr er fort, »sie hat ihm nicht mehr erzählen können, weshalb sie dort in das Gebüsch gegangen war, aber er weiß, daß sie ihn aufsuchen wollte, weil er während des ganzen vorigen Tages und der Nacht nicht nach Hause gekommen war. Es war das Verhängnis, – der Fluch, der auf des Jaguars Haupt lastete. Und dann begann für ihn eine schreckliche Zeit. Die Comanchen wollten den Leichnam der erschossenen Kirschblüte nach Art ihres Volkes bestatten und im dichten Wald ein Gerüst aufschlagen, um den Körper, in Felle genäht, von der Luft zerstören zu lassen. Aber der Jaguar verweigerte die Herausgabe seines toten Weibes. Da, wo sie gelebt hatte, begrub er Kirschblüte nach der Weise des Christentums, in dessen Lehren er erzogen worden war, und wenig kümmerte es ihn, was dazu die roten Männer sagten. Doch sollte die Strafe auf dem Fuße folgen. Der fliegende Pfeil grub die Streitaxt aus dem Boden, die Comanchen verfolgten den Jaguar wie ein reißendes Tier, das in ihre Hürden eingebrochen war und ihr Eigentum geraubt hatte. Er mußte in die Wälder flüchten, heimatlos, ganz allein, er hatte kein Dach, das ihm Schutz gewährte, kein Feuer, an dem er sich wärmen durfte, und der Zorn des Ewigen schwebte über seinem Haupte. Einmal kam er in die Nähe einer Minenstadt, hungernd, frierend, ermüdet zum Sterben, – da sah er eine Hütte und darin ein Feuer, an dem Kinder spielten, er sah den Rauch vom Bratspieß zum Himmel steigen und erblickte harmlose, zufriedene Menschen. Es hatte geregnet, der Jaguar in seinen abgetragenen Kleidern war bis auf die Haut durchnäßt, er fühlte Fieber in den Adern und seine Füße bluteten, – schon wollte er sich der Hütte der Goldgräberfamilie nähern und um einen Platz an ihrem Feuer bitten, da sah aus dem einzigen kleinen Fenster ein alter Mann. Das Haar war grau und das bleiche Antlitz von tiefen Furchen durchzogen, die Augen blickten dunkel und trübe – – Dieser Mann, den wenige Monate zum Greis gemacht hatten, war des Jaguars Vater. Nahe, ganz nahe stand der Sohn, dem er geflucht hatte, ein Bettler in Lumpen, hungernd und frierend, mit Fieber in den Adern. Und dieser Sohn dachte an das Bibelwort von dem Verlorenen, der zurückgekehrt war, an die Verheißung, daß dem Reuigen verziehen werden soll, es stritten wilde, böse Mächte in seinem Herzen, aber der Trotz behielt den Sieg. Wäre er ein wohlhabender Mann und ein glücklicher Mensch gewesen, ja, dann hätte er mit tausend Freuden die Seinigen begrüßen können, aber zu ihnen als heimatloser, fluchbeladener Bettler zurückzukehren, sie zu bitten, ihre Hilfe in Anspruch zu nehmen? – Nie! – Er wandte sich ab und lief fort, wie von bösen Mächten verfolgt. Und Jahre vergingen, bis sein Trotz gebrochen war, bis er sich mit den Comanchen wieder aussöhnte und in ihrem Dorf seinen Wigwam erbaute. Er hat das Antlitz des Großen Geistes im Zorn gesehen und in der Versöhnung, er hat seine Stimme kennengelernt in der Natur und in den Ereignissen, die ohne menschliches Dazutun aus den Wolken herab sprechen. So wußte er auch, als sich seine und seines weißen Bruders Kugel im Fluge trafen, daß das ein Wahrzeichen sei und daß er einen Freund gefunden habe, dem die Kunde dessen, was er gesündigt und was er erlitten hatte, als Warnung dienen könne. Möge der junge weiße Fremdling des Jaguars gedenken, sooft ihn das heiße Blut zum Widerstand treibt, möge er sich allzeit erinnern, daß es ein anderes ist um die schnelle, trotzige Tat und um den langen, mahnenden Weg der Reue.« Er schwieg, und Robert drückte ihm erschüttert die Hand. Er dachte an das stille Grab Mohrs an der Küste der kubanischen Insel. Und die Gestalten dieser beiden Männer, das traurige Antlitz des Geistersehers und das ernste des Trappers, standen ihm noch vor Augen, als er längst in das Wirtshaus zurückgekehrt war und zum erstenmal wieder in einem Bett schlief. Am anderen Morgen nahm er Abschied von den Comanchen, denen der Trapper erzählt hatte, um was es sich handelte, und deren völlige Zustimmung er ihm ins Englische übersetzte. Sie alle begleiteten Robert bis an das Postschiff, das ihn nach San Franzisko bringen sollte. »Grüße Mongo und Gottlieb«, bat er mit etwas unsicherer Stimme, »und versprich ihnen Briefe von mir. Auch dir darf ich schreiben, nicht wahr, Jaguar?« Der Trapper nickte. »Unter dem Namen des Wirtes, bei dem wir wohnen«, antwortete er. »Wenn ich im Herbst noch lebe, so erhalte ich dort den Brief meines jungen Freundes.« »Gut also! Aber jetzt läutet die Glocke zum drittenmal, – leb wohl, Jaguar, – leb wohl und noch einmal Dank für alles!« Der Trapper trat, während die Matrosen die Haltetaue lösten, auf die Landungsbrücke. Er hielt noch immer Roberts Hand und sah ihm fest ins Auge. »Leb wohl«, sagte er in deutscher Sprache, »leb wohl, und der allmächtige Gott segne dich!« Das Schiff begann sieh zu drehen, die schrille Pfeife zerschnitt die Abschiedsworte, und die Hände lösten sich. Noch einmal grüßte der ernste Mann vom Lande herüber, noch ein Lächeln schwebte um die Lippen, die nach dreißig langen Jahren das erste deutsche Wort gesprochen hatten, – und dann traten andere Menschen dazwischen, dann sah Robert nur noch wie im Fluge die hohe, spitze Mütze und die schlanke Gestalt des Trappers. Als er sich auf die Zehenspitzen erhob, war alles verschwunden. So schnell zerrissen das Band der letzten Monate, so ganz allein wieder unter Fremden, – das Gefühl war sonderbar wehmütig. Der Deutsche, den er gestern getroffen hatte, war ebenfalls auf dem Dampfer und wollte wie er zur Armee nach Deutschland gehen. Robert hatte also einen Reisebegleiter, mit dem er über Vergangenes und Künftiges sprechen konnte, einen Mann, der die Verhältnisse in den Minenlagern kannte, aber auch aus früheren Jahren her im Militärischen bewandert war. Es ließ sich herrlich mit ihm plaudern, bis der Dampfer die Suisunbai und die Pablobai durchquert hatte und in San Franzisko landete. Dort trennten sich ihre Wege, da der Goldgräber mit dem nächsten Dampfer nach Deutschland ging, während sich Roberts Angelegenheiten nicht ganz so schnell regeln ließen. Er war, wie wir wissen, sehr sparsam, und wollte daher keineswegs als Passagier nach Europa reisen, sondern vielmehr auf der Überfahrt noch ein gutes Stück Geld verdienen, um sich in Hamburg einen neuen Seemannsanzug zu kaufen und bei seinen Eltern nicht so abgerissen anzukommen. Er besaß außerdem kein Stück Wäsche, sondern außer seinem Lederanzug nur noch den Brustbeutel des Spaniers mit der Nähnadel aus einer Fischgräte, – also mußte er noch vieles zusammenkaufen. Zunächst erstand er eine Seekiste mit festem Schloß und verwahrte darin den Comanchengürtel, dann versorgte er sich mit dem nötigsten wollenen Unterzeug und neuen, derben Seestiefeln, zog den Betrag für einen vollständigen Anzug und weiße Wäsche noch außerdem ab, und rechnete dann heraus, was ihm in Hamburg bleiben würde. Mit der Heuer, die er zu verdienen hoffte, etwa zweihundert Taler, also nach Abzug des Betrages, den er seinem Vater schuldete, noch hundert Taler, – das genügte ihm, um auf seinem Besuch in Pinneberg unabhängig zu sein. Er wechselte das Geld in Banknoten um und legte es zu dem Gürtel in die Kiste, dann aber machte er sich auf, um ein Schiff zu suchen, und schon am folgenden Tage war er unterwegs nach Hamburg. Heimkehr Heimkehr In Europa waren inzwischen die ersten siegreichen Schlachten gegen Frankreich geschlagen worden. Robert ersah aus den Zeitungen, die in England an Bord kamen, daß die deutsche Armee überall vorrückte, und freute sich darauf, bald selbst Soldat sein und seine Pflicht für das Vaterland tun zu dürfen. An Bord eines Kriegsschiffes dem Feind gegenüber zu stehen und sich mit ihm auf hoher See im Gefecht zu messen, – welch ein Erlebnis mußte das sein! Niemand von der Mannschaft kannte die Pläne, mit denen er sich trug, niemand beachtete den stillen, schweigsamen jungen Matrosen, der seinen Dienst an Bord ordnungsgemäß erfüllte und in den wenigen Freistunden träumend auf das Wasser hinaus blickte, immer nachdenklicher und ernster, je mehr sich das Schiff der Heimat näherte. Jetzt war Helgoland in Sicht, dann Brunshausen und endlich Cuxhaven. Der Lotse kam an Bord, neue Siegesnachrichten verbreiteten sich unter den Passagieren und Matrosen, das Schiff lief in die Elbmündung ein, – es war Holsteins Küste, die sich dort in letzter Abenddämmerung von fernher abhob. Tief bewegt suchte Robert mit den Augen das geliebte Land. Holstein! – Er sah wie im Traum die grünen Ufer, hinter denen, nur wenige Meilen entfernt, sein Elternhaus lag. Wie würde, er es finden, das niedere, alte Dach, – und wie die Menschen darin? Ein Schauer überlief ihn. Wenn der Vater unbeugsam blieb? Wenn er ihm die Tür wies und alle Leute es erfuhren, daß Robert Kroll im Elternhause ein Ausgestoßener war? Er verscheuchte gewaltsam die trüben Gedanken und ging wieder an die Arbeit, während das Schiff die Elbe hinauffuhr und endlich am späten Abend in Hamburg vor Anker ging. Für die Nacht war an eine Auszahlung der Heuer nicht zu denken, und auch am folgenden Vormittag verzögerte sie sich, da mit einem Teil der Mannschaft unterwegs Zwistigkeiten entstanden waren. Erst abends um sieben Uhr konnte Robert, nachdem sich sein silberner Schatz um vierzehn Taler vergrößert hatte, an Land gehen. Mit welchen Gefühlen er aus der Jolle sprang und die Treppenstufen hinaufstieg, kann man kaum schildern. Sein Herz klopfte bis zum Hals. Einige Minuten lang stand er im Menschenstrom am Hafen regungslos still, um erst wieder etwas ruhiger zu werden, dann aber nahm er sich zusammen und ging mit der Kiste auf der Schulter in das nächste beste Logierhaus, um dort sein Hab und Gut in Sicherheit zu bringen, während er selbst einen Anzug und Wäsche kaufte und vor allem ein Bad nahm, um erst einmal wieder richtig sauber zu werden. Als er zurückkam, braungebrannt und frisch, mit einem kühnen Bärtchen auf der Oberlippe, ganz in frische Wäsche und den neuen Anzug gekleidet, erregte er mit seiner schlanken, hochgewachsenen Gestalt und seinem sicheren Auftreten überall Aufsehen und unverkennbares Wohlgefallen. Für heute war es zu spät, noch nach Pinneberg zu fahren, er mußte daher seine Ungeduld zügeln und versuchen, den Rest des Abends so gut wie möglich zu verbringen. Im Gastzimmer seines Logierhauses saßen die Menschen Kopf an Kopf. Unter ihnen befanden sich einige fremd aussehende Männer, die Robert auf den ersten Blick als französische Kriegsgefangene erkannte. Es waren Offiziersburschen, deren Herren in Privathäusern aufgenommen worden waren, und die man in nahegelegenen Wirtschaftslokalen untergebracht hatte, um sie ständig überwachen zu können. Auch einer der Offiziere war darunter, er saß für sich an einem Tisch, anscheinend ohne auf die lebhafte Unterhaltung der Gäste zu achten. Manchmal schrieb er in ein Buch einige kurze Bemerkungen, und dann durchlief sein Blick wie zufällig den Kreis der Umsitzenden, zu denen auch die Gruppe der Burschen gehörte. Einer von ihnen mußte sich sehr langweilen. Er malte bald mit dem Zeigefinger auf der Tischplatte, bald sprach er zu einem fast schwarzen Zuaven hinüber oder zu dem Kellner, der ihn durchaus nicht verstehen konnte, und in den Zwischenpausen zog er ein französisches Buch aus der Tasche, um einzelne abgebrochene Worte vor sich hin zu murmeln. Die Stammgäste am Nebentisch besprachen währenddem lang und breit das Neueste vom Kriegsschauplatz, wo die Armeen der Deutschen standen, die Kriegsschiffe lagen, welche Küstenplätze, man als bedroht ansehen müsse und wo die Gefahr am größten sei. Robert beobachtete das ganze Treiben, ohne ihm irgendein Interesse abgewinnen zu können. Er wandte sich an den Wirt und fragte ihn, ob in dieser Gegend noch eine Schenke sei, deren Eigentümer Peter Volland heiße, und ob er ihm den Weg dahin zeigen könne. Der Mann in Hemdsärmeln schien sich zu besinnen. »Peter Volland?« wiederholte er fragend. »Ach ja doch, nun hab' ich's, Peter Volland! – Der sitzt im Zuchthaus!« Ein plötzlicher, leiser Ausruf hinter ihm veranlaßte Robert, sich umzusehen. Es war ihm, als beuge sich der Franzose, der so unruhig sprach, noch tiefer als vorhin auf sein Buch herab. Sonst bemerkte er nichts. »Im Zuchthaus?« wiederholte er. »Wie ist das möglich?« Der Wirt zuckte die Achseln. »Da passierte vor drei Jahren eine dumme Geschichte«, sagte er. »Es wurde in seinem Hause ein Seemann so schwer verwundet, daß er bald darauf starb, und bei der Gelegenheit kam denn so manches andere mit heraus. Volland hatte noch ein kleines Nebengeschäft als Seelenverkäufer, indem er Jungen vom Lande an Schiffe vermittelte, auf denen geschmuggelt wurde oder manchmal noch Schlimmeres, Sie wissen schon, – hohe Versicherung, Ladung von Steinen und ein Korallenriff, an dem der Schoner verunglückte. Was gemacht werden kann, wird gemacht. Volland hatte auch noch einen Mitschuldigen, aber der war nicht aufzuspüren.« »Kerl«, hörte in diesem Augenblick Robert die Stimme eines der Gäste, »Kerl, ich glaube, du verstehst deutsch, – du lauerst auf das, was gesprochen wird!« Eine Faust schlug derb auf die Tischplatte, und unter den Gästen entstand allgemeine Unruhe, während welcher sich der Offizier vom anderen Tisch unbemerkt entfernte. »Dieser Kerl versteht deutsch«, rief der Gast, auf den schon erwähnten Franzosen deutend, »er ist bei dem, was er reden hörte, bald rot, bald blaß geworden.« Roberts Blicke folgten der allgemeinen Richtung. Da saß der Offiziersbursche und schien unbekümmert zu lesen, wenigstens hielt er das bärtige Gesicht tief gesenkt, obgleich ganz offenbar seine Hände leise zitterten. Die übrigen Franzosen flüsterten miteinander. »Du!« rief der Wirt, die Schulter des Mannes berührend, »du, verteidige dich, wenn du kannst, oder gib Rede und Antwort wie ein ehrlicher Kerl. Hast du verstanden, was gesprochen wurde?« Jetzt mußte der Franzose aufblicken. Er tat es, aber nur einen Augenblick lang ruhte sein Auge auf dem Gesicht des Wirtes, dann wandte es sich wie von unwiderstehlicher Macht angezogen Robert zu. Etwas wie eine flehende Bitte schimmerte in den eingesunkenen Augen. Robert erschrak, ohne zu wissen, weshalb. Wo hatte er dies Gesicht schon früher gesehen? Der Franzose stammelte in seiner Sprache einige Worte, die niemand verstand, die aber einem Blitzschlag gleich Robert alles erklärten. Als er die Stimme hörte, erkannte er den Mann. Eine unwillkürliche Bewegung der Hand verriet vielleicht diese Entdeckung, ein Name trat auf seine Lippen, aber der Blick der bittenden Augen hielt ihn zurück. Robert konnte nicht zum Verräter werden, auch jetzt nicht, als ihm der Mann gegenüberstand, der ihm soviel Unrecht zugefügt hatte. Er dachte nur: »Georg! – Georg!« – aber er sprach es nicht aus. Und der französische Gefangene las ihm seinen Entschluß von der Stirn. Er sah dreister um sich und fragte mit lauter Stimme, was man von ihm wolle. Der Wirt schüttelte den Kopf. »Sie irren sich«, beruhigte er den entrüsteten Gast. »Dieser Mann versteht kein Wort.« Um Roberts Lippen kräuselte sich ein verächtliches Lächeln. So tief war Georg gesunken, daß er dem Feind diente? – Das konnte er ihm weniger verzeihen als den Diebstahl, zu dem ihn damals die bittere Not getrieben haben mochte. Er ging hinaus und suchte durch einen weiten Spaziergang an der Elbe entlang wieder ruhiger zu werden, er dachte über die ernste Lehre nach, die ihm dieser Abend gegeben hatte, und daß es doch wahr sei, was ihm so oft gepredigt worden war und was er immer wieder in den Wind geschlagen hatte, daß jede Schuld auf Erden ihre Strafe findet. Peter Volland im Zuchthaus, Georg ein Kriegsgefangener, der sein Vaterland und seine Sprache verleugnen mußte, und endlich – er selbst? Was erwartete ihn vielleicht zu Hause in Pinneberg? Er nahm sich vor, es zu ertragen wie ein Mann und sich nichts zu vergeben, auch nicht seinem Vater gegenüber. Je näher der Augenblick des Wiedersehens heranrückte, desto stärker wurde sein Trotz, mit dem er sich auf sein Geld berief. Wieder in das Logierhaus zurückgekehrt, legte er sich sogleich ins Bett und wollte möglichst die ganze Zwischenzeit bis zur morgigen Abreise ohne Unterbrechung verschlafen. Aber schon nach fünf Minuten wurde er durch einen unerwarteten Besuch gestört. Im Türrahmen stand Georg. Er wagte wie ein armer Sünder keinen Schritt über die Schwelle. Robert sah das eingesunkene, blasse Gesicht des ehemaligen Seilers, die ganze kümmerliche Haltung und das Beschämende seiner Lage, – er vergaß im Augenblick alles andere, stand wieder auf und zog den Unglücklichen zu sich ins Zimmer. »Nun«, sagte er, »Georg, was willst du von mir?« Der Gefangene sank erschöpft auf den nächsten Stuhl. »Robert«, bat er, »willst du mein Geheimnis bewahren? Und – und hast du mir verziehen? Sieh, damals –« Robert unterbrach den angefangenen Satz. »Laß das gut sein, Georg«, erwiderte er. »Ich denke nicht mehr an das, was du mir getan hast, ich habe dir alles verziehen, nur nicht, daß du dein Vaterland verrätst.« Dunkle Glut schoß über das fahle Gesicht des Seilers. »Ach, du«, stammelte er in kläglichem Ton, »rechne mir das nicht so sehr hoch an. Ich verdiente mein bißchen Brot als Diener des Franzosen, mit dem ich nun in Gefangenschaft geraten bin, – ja, und da kam der Krieg, aber ich habe nie gegen Deutschland gefochten, könnte es ja auch des lahmen Fußes wegen schon gar nicht. Wie unglücklich ich bin, davon machst du dir keinen Begriff.« Roberts gutmütiges Herz hatte längst allen Groll vergessen. »Nun«, antwortete er, »das läßt sich als Entschuldigung schon hören. Warum bist du denn nicht mehr Seiler?« Der andere seufzte schmerzlich. »Meine Gesundheit erlaubt mir keine Anstrengungen«, erwiderte er. »Ich spucke Blut, die Meister nehmen mich nicht mehr in Arbeit.« »Du armer Kerl! – Man soll doch nie voreilig urteilen.« Und Robert schloß die Seekiste auf, nahm aus der Brieftasche eine Banknote von zehn Talern und drückte sie dem Seiler in die Hand. »Jetzt geh, Georg«, sagte er freundlich, »laß uns nicht zusammen gesehen werden. Wenn das rauhe Volk, das hier im Hause verkehrt, den Deutschen in dir entdecken sollte, so wärest du höchstwahrscheinlich vor Mißhandlungen nicht sicher. Mir allerdings darfst du vollkommen vertrauen. Gute Nacht!« Der Seiler hatte widerstrebend das Geld angenommen. Robert sah nicht den tückischen Blick der eingesunkenen Augen, er hörte nicht, wie Georg, nachdem er scheinbar demütig gedankt und sich nach einem kurzen Lebewohl entfernt hatte, – draußen einen Fluch in sich hineinmurmelte. Daß Robert nur noch der verzeihende, großmütige Mensch war, aber keineswegs der Freund von damals, daß er Barmherzigkeit übte, aber ohne mit dem Dieb und Überläufer weiterhin zusammenkommen zu wollen, – alles das sah er ganz deutlich, und aus seinem häßlichen Gesicht sprach boshafter Haß. »Pinsel«, murmelte er in den Bart, »alberner Narr, der doch alles, was er geworden ist, mir verdankt. Hat Geld in der Brieftasche, viel Geld sogar, – pah, darauf pocht er und glaubt mich beschimpfen zu dürfen, aber er wird schon sehen, wie weit ihn sein Weg führt –« Er nickte mehrere Male vor sich hin, als wolle er sich einen gefaßten Entschluß recht fest einprägen, und dann verschwand er hinter der Tür seiner Kammer, die nur angelehnt blieb. Unten im Gastzimmer schwieg allmählich der Lärm, die Türen wurden verriegelt, das Licht ausgedreht, und alles versank in tiefste Stille. Jedermann schien zu schlafen, selbst auf den Straßen war nur noch der Nachtwächter zu hören. Ins Fenster hinein schien der Mond durch die Spalten herabgelassener Vorhänge, hüpfend tanzten die Schatten durch das Zimmer, und geisterhaft lautlos drehte sich die Tür in ihren Angeln, ganz langsam, leise und heimlich wie eine Schlange – – Eine Gestalt huscht herein, auf leisen Sohlen schleichend, unhörbar, – sie kauert neben Roberts Kiste, – ein Knirschen, kaum wahrnehmbar, ertönt, es rauscht wie welke Blätter im Wind – – Und ebenso lautlos fällt die Zimmertür ins Schloß zurück. Am nächsten Morgen steckte Robert nur die Brieftasche zu sich, machte aus einigen unentbehrlichen Wäschestücken ein Bündel, ließ die Kiste in der Obhut des Wirtes zurück und fuhr mit dem Frühzug nach Pinneberg. Er hatte sich einen Platz am Fenster gesucht und sah nun hinaus in die Landschaft. Allmählich tauchte immer mehr Bekanntes, Altgewohntes aus der Eintönigkeit der Torfmoore und Heideflächen auf. Zuerst Eidelstedt, dann der kleine bescheidene Turm von Rellingen, wo er konfirmiert worden war, wo er vom Chor herab mit Gottlieb und den anderen Schuljungen so oft gesungen hatte, wo er das Abendmahl erhalten und als der Beste aus der Prüfung hervorgegangen war. Das Bild des Sonntagsgottesdienstes im stillen Dorf sah er unbewußt vor sich. Er sah die Decke der Kirche mit Engelchören und Blumengewinden, sah. die andächtige Gemeinde und die Sonnenstrahlen, wie sie spielend über das Altarbild glitten. Er hörte die Stimme des Pastors, den Chor und die rauschenden Orgelklänge – – Dann tauchten die Dächer von Pinneberg auf, die Räder drehten sich langsamer, und der Zug hielt. Roberts Herz schien still zu stehen. Als sei er hier gestern zuletzt gewesen, so unverändert war die ganze Umgebung, so altgewohnt die Menschen und Dinge ringsumher. Konnten wirklich drei lange Jahre vergangen sein, seit er heimlich nachts von hier fortging, einem ungewissen Schicksal entgegen? Eine Hand legte sich auf seine Schulter. »Mein Gott, das ist ja Robert, der durchgebrannte Robert!« Robert fuhr herum und sah in ein wohlbekanntes Gesicht. Der junge Mann in der Uniform der Bahnbeamten, einige Jahre älter als er selbst, war ein alter Schulkamerad und im Augenblick natürlich voller Neugier, Näheres über die Abenteuer des Ausreißers zu hören, aber Robert schüttelte den Kopf. »Später, Emil, später«, preßte er hervor. »Ich bleibe einige Tage hier und werde auch dich besuchen. Jetzt sag mir nur –« Er konnte nicht weiter sprechen, aber der andere half gutmütig ein. »Ob deine Eltern leben, meinst du? Darüber beruhige dich, sie sind gesund und wohlauf.« Robert drückte herzlich die Hand seines Schulfreundes. »Ich danke dir, Emil. Und frage jetzt nicht weiter. Ich kann nicht ruhig überlegen, bevor ich nicht mit meinem Vater gesprochen habe.« Emil zuckte leicht die Achseln. »Soll ich zuerst hingehen, du?« fragte er freundlich. »Soll ich die erste Bresche schlagen?« Robert nahm sich zusammen. »Auf Wiedersehen, Emil, – vielen Dank, aber ich muß das selbst tun. Wir sehen uns bald!« Er wandte sich ab und ging quer durch das Gehölz, um nicht so häufig erkannt zu werden. Je eher sich die Sache entschieden hatte, desto besser. Jetzt tauchten die Umrisse des Elternhauses vor seinen Blicken auf, jetzt sah er die weiße Wäsche auf der Leine und das Traubengeländer an der Giebelwand. Vor der Haustür im Sonnenschein lag ein grauhaariger, alter Hund – Pikas! – Er hatte es unwillkürlich laut ausgesprochen, das letzte Wort, und schon stürzte das Tier mit allen Anzeichen von Hundeliebe und Hundefreude auf ihn zu, versuchte an ihm emporzuspringen, leckte seine Hände und warf sich dann wieder winselnd und bellend ihm zu Füßen. »Pikas!« sagte er halblaut, »Pikas!« Von der Tür her tönte ein halberstickter Schrei. Da stand mit ausgebreiteten Armen, weinend und lachend seine gute Mutter, und alles vergessend, stürzte sich Robert an die Brust der schluchzenden alten Frau. »Mutter«, stammelte er nur, »meine liebe, liebe Mutter!« Minuten vergingen, ehe beide ihre Sprache wiederfanden, dann sah die alte Frau ängstlich zur Tür des Wohnzimmers, »Robert«, flehte sie, »Robert, mein lieber Junge, sei vernünftig! Tu einen Fußfall, damit er dir vergibt.« Robert runzelte die Stirn, seine Lippen preßten sich aufeinander. »Mutter«, sagte er mit einem tiefen Atemzug, »das verstehst du nicht. Aber laß mich mit dem Vater sprechen – je eher, desto lieber. Auch von dir muß ich noch erfahren, was du mir nach Lenchi nicht geschrieben hast. Was war das, Mutter? Ich habe die Anspielungen auf etwas, was du mit deinem Erbteil ausgleichen wolltest, wirklich niemals verstehen können.« Die arbeitsharte Hand der alten Frau hob sich mahnend empor. »Robert«, sagte sie mit leisem, bittendem Ton, »Robert, sei nicht so verstockt. Wenn du gegen den Vater in diesem Ton auftreten willst, dann geht die Sache niemals gut.« »Ach Gott«, fügte sie erschreckend hinzu, »ach Gott, da kommt er selbst.« Die Tür des Wohnzimmers öffnete sich, und auf der Schwelle erschien Meister Kroll, den das laute Gebell des Hundes und das Gespräch auf dem Flur neugierig gemacht hatten. Bei dem unerwarteten Anblick seines Sohnes, den er offenbar sofort erkannte, wurde der alte Mann blaß wie ein Toter. Taumelnd, mit bebenden Lippen, lehnte er sich gegen den Türpfosten. – Kein Wort des Willkommens begrüßte den heimgekehrten Sohn. Die Mutter wandte sich flehend mit gefalteten Händen von einem zum andern. »Vater«, sagte sie schluchzend, »Robert, – ach Gott, gebt euch doch ein gutes Wort!« Robert streckte die Rechte dem alten Mann entgegen. »Willst du mich in deinem Hause nicht als dein Kind willkommen heißen, Vater?« kam es kaum verständlich von seinen Lippen. »Willst du mir nicht den unüberlegten Jungenstreich verzeihen?« Aber der Alte ließ die Hand seines Sohnes unbeachtet. Er schüttelte grollend den. Kopf. »Ist das die Sprache eines reumütigen Herzens?« fragte er. »Darf ein Verbrechen vergeben werden, ohne –« Robert unterbrach ihn mit lauter Stimme. Auch er war blaß geworden, die Augen flammten, der Atem keuchte und die Hände waren geballt. Die ganze wilde Leidenschaftlichkeit seiner Natur trat zutage. »Was sagst du?« zischte er, während sich die geängstigte alte Frau laut weinend zwischen den Mann und den Sohn warf, »was sagst du? – Auch mein Vater darf mich nicht ungestraft beschimpfen!« Der Alte lachte spöttisch. »Hättest am anderen Ende der Welt bleiben sollen«, erwiderte er, »hättest vor dem Hause deines Vaters, der sich immer noch berechtigt hält, dir mit der Elle Gehorsam beizubringen, mindestens soviel Achtung bewahren können, daß du es mit deiner Gegenwart verschontest. Jetzt geh, – die Krolls haben es niemals mit Dieben gehalten!« Es war, als hätten die Worte des alten Mannes die ganze Angelegenheit plötzlich beendet, als sei jede weitere Frage abgeschnitten und alle Heftigkeit zu Eis erstarrt. Beide totenbleich, unnatürlich ruhig, sahen Vater und Sohn einander ins Auge. Nur die Mutter hatte das Gesicht mit der Schürze bedeckt und betete laut, daß Gott Barmherzigkeit üben möge. »Du und ich«, begann nach längerer Pause der Sohn, »du und ich sind seit dieser Stunde für immer geschieden, Vater, vorher aber will ich dir mit allen Zinsen das Geld zurückzahlen, das ich damals, um mich auszurüsten, aus deiner Kasse nahm. Etwa sechzig Taler waren es, für die du jetzt hundert von mir zurückerhältst. Damit bist du hoffentlich bezahlt, sollte das jedoch nicht der Fall sein, so stelle ich dir für den Rest einen Wechsel aus.« »Vater im Himmel«, schluchzte die alte Frau, »vergelte ihm die Sünde nicht!« Robert legte die Hand auf ihren gesenkten Scheitel. »Still, Mutter«, sagte er ruhig und kalt, »still – auch dein Sohn ist ein Mann.« Er wollte die Brieftasche hervorziehen, aber der Alte hielt ihn zurück. »Einen Augenblick«, sagte er gebieterisch. »Laß die Komödie mit den sechzig Talern, du machst dich dadurch nur noch verächtlicher. Aber sag, wo du vor drei Jahren die Schmucksachen deiner Mutter verkauft hast, damit ich versuche, ob möglicherweise das eine oder andere zurückerworben werden kann.« Robert stand sprachlos. »Die Schmucksachen meiner Mutter?« wiederholte er. »Ja. Die du zugleich mit den tausend Mark, – nein, nur neunhundertdreiundsechzig – die der Geldkasten enthielt, gestohlen hast.« Robert sah von seiner Mutter zu dem Alten und wieder zurück. »Ich?« fragte er, »ich? Wer behauptet solchen Wahnsinn?« Die alte Frau faltete in ausbrechender Freude ihre Hände. »Vater, Vater«, rief sie jubelnd, »siehst du denn noch nicht, daß er unschuldig ist?« Meister Kroll schien sie nicht zu hören. »Sag mir, wo du die Gegenstände verkauft hast«, wiederholte er. »Ich weiß von alledem nichts, ich habe keinen Wertgegenstand, ich habe nicht mehr als sechzig Taler genommen, und die will ich zurückgeben.« Robert sagte es mit dem festen Ton der Wahrheit, aber doch durchblitzte ihn im gleichen Augenblick ein Verdacht, der zu nahe lag, als daß er ihn hätte übersehen können. Hohe Röte stieg ihm ins Gesicht, er sah nicht auf, er schien in der Tasche die Mappe nicht zu finden. Sollte Georg den Diebstahl begangen haben? Sollte der Dieb doch durch seine Schuld in das Haus gekommen sein? »Sieh, Mutter, sieh, wie er zittert und rot wird«, sagte der Alte schmerzvoll. »Ist das die Sprache der Unschuld, arme Frau?« Robert wollte nicht mehr antworten, sondern erst den ehemaligen Seiler zur Rechenschaft ziehen, bevor er über diese Angelegenheit auch nur ein einziges Wort weiter sprach. »Es ist gut, Vater«, sagte er kalt, »bleibe vorerst bei deiner Meinung. Ich fahre noch heute nach Hamburg zurück und wohne dort, wo meine Kiste steht, Vorsetzen Nr. 1000, im ›Richtigen Ankergrund‹. Betrachte mich, wenn ich dein Haus nicht wieder betreten kann, um mich zu rechtfertigen, als tot, denn dann sehen wir uns im Leben nie wieder. Einstweilen aber ist hier dein Geld.« – Er hatte bei diesen Worten die Brieftasche hervorgezogen und auseinandergeschlagen. Als er aber die Banknoten herausnehmen wollte, sah er, daß sie vollständig leer war. Ein Schrei kam von seinen Lippen. »Mein Geld!« rief er, »mein Geld! – O mein Gott, ich muß bestohlen worden sein.« Meister Kroll sah ihn halb traurig, halb verächtlich an. »Laß die Possen«, sagte er kalt, »laß die Possen und bitte ehrlich und aufrichtig um Verzeihung, – dann soll dir vergeben sein.« Auch die Mutter rang die Hände. »Robert, Robert, um Gottes willen, gib ein gutes Wort. Sag die Wahrheit, mein armes Kind, mehr verlangt ja der Vater nicht!« Robert hörte nicht darauf. »Vater«, rief er, »du glaubst mir also nicht? Denkst du vielleicht auch, daß meine Behauptung, das Geld gehabt zu haben, eine Lüge war?« Der Alte nickte. »Lüge, wie alles, was du sagst. Wer stiehlt und seinen Eltern den Gehorsam verweigert, weshalb sollte der nicht lügen?« Robert wandte sich zum Gehen. »Es ist gut, Vater«, sagte er. »Es ist alles zu Ende. Ich werde mich von Hamburg aus freiwillig zum Kriegsdienst melden und wünsche, daß mich die erste Kugel treffen möchte, damit mir mein Vater verzeihen kann, was ich niemals getan habe. Sollte jedoch noch einmal die Stunde kommen, welche die ganze Sache in ihrem wahren Licht zeigt, so nimm heute schon meine Vergebung. Leb wohl!« Er küßte seine schluchzende Mutter, steckte die Brieftasche wieder zu sich und ging mit festen Schritten aus der Tür. Nur der Hund wollte ihn begleiten, aber er mußte ihm wie damals mit strengem Ton befehlen, ihn allein ziehen zu lassen. Die helle Herbstsonne schien auf die stillen Dächer, einige Sperlinge hüpften über die Straße, und Kinder spielten vor den Häusern. Robert stand draußen, die Tür seines Elternhauses hatte sich für ihn auf immer geschlossen, der Gedanke einer Aussöhnung mit dem Vater war dahin und eine entsetzliche Öde bemächtigte sich seines Herzens. Dies Gefühl hatte auch der Jaguar gekannt, als er hungernd und krank in die Wälder zurückfloh, so war Mohr durch sein langes Leben gegangen, ohne Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Es lief ihm eiskalt über den Rücken herab. Zum erstenmal fühlte er sich vollkommen gebrochen. Ohne alle Mittel, verfolgt von dem Zorn seines Vaters, ungerecht beschuldigt und ohne einen Freund – wozu sollte er noch leben? Er sah Mongos schwarzes Gesicht vor sich. – Ach, hätte er ihn in seiner Nähe gehabt, ihm hätte er alles anvertrauen können. Langsam ging er weiter. Überall saubere Gärten und helle Fenster. Er sah die beladenen Erntewagen, das schwarzbunte Vieh und die großen Gehöfte, sah Menschen bei der Arbeit und fühlte sich von allem so ausgestoßen. Er wollte fort von hier, wo es Menschen gab, die ihn kannten. Niemand sollte erfahren, daß er das Haus seines Vaters nicht mehr betreten durfte. Fast laufend durcheilte er den kleinen Ort und folgte unwillkürlich der Straße nach Hamburg. Er besaß nicht einen Groschen, also blieb ihm nur übrig, den Weg zu Fuß zurückzulegen und vor allen Dingen erst einmal mit dem Seiler Abrechnung zu halten. Dann mußte vor allem die Seekiste verkauft werden, um nur das Allernotwendigste zum Leben zu haben, und darauf wollte er sich bei dem nächsten besten Reservebataillon einstellen lassen. Er fühlte sich zerschlagen an Leib und Seele, selbst seine Vaterlandsliebe schien wie ausgestorben. Die Sonne brannte unbarmherzig herab, der Durst quälte ihn, und die Füße versagten schon jetzt bei Beginn der Wanderung den Dienst. Und weiter ging er, immer weiter, am Himmel zog ein schweres Gewitter herauf und die Tropfen fielen erst langsam, dann schneller herab auf seine heiße Stirn. Er bemerkte es kaum, er sah nicht die schwarzen Regenwolken und spürte nicht die Feuchtigkeit, die ihm durch die Kleider drang. Ganze Schauer stürzten herab, und Robert troff vor Nässe. Als ihm mitleidige Menschen in Rellingen ein Obdach anboten, da schüttelte er nur stumm den Kopf und ging weiter. Und einmal hörte er hinter sich die Stimme einer Bäuerin. »Mein Gott, ist das nicht Robert Kroll, den ich schon gekannt habe, als er noch nicht über den Tisch sehen konnte? – Lauft ihm doch nach, der arme Junge muß ja krank sein, er sah ganz verstört aus.« Aber Robert lief, als habe er ein Verbrechen begangen. Der Regen durchnäßte ihn bis auf die Haut, und seine Zunge klebte am Gaumen. Er setzte sich auf einen Stein am Wege und stützte den Kopf in die hohle Hand. Seine Glieder schmerzten ihn. Unwillkürlich dachte er an den Tag in Lenchi, als er mit den beiden Gefährten so dasaß auf dem gestürzten Baumstamm, auch von Kopf bis zu den Füßen durchnäßt, auch ohne jegliche Aussicht, aber doch war ihm damals so ganz, ganz anders zu Mute gewesen als heute. Noch nie hatte ihn ein äußeres Unglück beugen können. Heute aber spürte er zum ersten Mal die innere Qual der Reue, und ihr konnte er sich nicht widersetzen. Wie er gemessen hatte, so war ihm gemessen worden, wie er die schönsten Hoffnungen seiner Eltern zerstört und ihr Eigentum ohne Erlaubnis an sich genommen hatte, so mußte er, es jetzt selbst erfahren. Aber diesmal erwachte nicht sein Trotz, diesmal ballte er nicht die Faust, wie er es sonst wohl getan haben würde, sondern er senkte den Kopf noch tiefer herab und gab sich immer mehr seinen trostlosen, bitteren Gefühlen hin. Zum erstenmal erkannte er die Gerechtigkeit des Schicksals, er sah sein Unrecht ein, und es schmerzte ihn tief. Viertelstunde auf Viertelstunde verging, da tönte Hufschlag auf der durchnäßten Landstraße. Robert fuhr erschrocken auf, er horchte und spähte durch das Gebüsch. Wenn zufällig ein Gendarm oder Polizist des Weges kam, so mußte er gerade jetzt im Kriege darauf gefaßt sein, nach seinem Paß gefragt und, da er gänzlich ohne Papiere war, zur nächsten Polizeistation geführt zu werden. Einige schnelle Schritte, ein rascher Sprung, und er stand hinter einem Baum. Seine Geschichte anderen erzählen, das konnte er nicht, also blieb ihm nichts übrig, als nur das Versteck unter den tropfenden Zweigen? Als der Gendarm vorüber war, ging Robert auf der Straße weiter, immer weiter, bis er die ersten Häuser von Altona erreicht hatte. Es dämmerte jetzt bereits, seine Stirn brannte, und er spürte, daß er den ganzen Tag nichts gegessen hatte. Nur wie im Traum setzte er seinen Marsch durch die Stadt fort. »Wenigstens heute kann ich mich ruhig schlafen legen«, dachte er, »die Kiste sichert ja dem Wirt das Geld, das ich ihm für ein Abendbrot und für die Schlafstelle schuldig bin. Ich könnte jetzt nicht mehr zu einem Trödler laufen und um einige Groschen feilschen. Auch Georg kommt morgen erst an die Reihe – er ist ja ein Gefangener und kann mir nicht entkommen.« Nachdem er sich verschiedene Male in der Straße geirrt hatte, erreichte er endlich das Hafentor. Jetzt war er seinem Ziel nahe, hatte die Aussicht, bald ins Bett zu kommen und vorher etwas zu essen, daher wurde er unwillkürlich etwas ruhiger. Von weitem erkannte er die Buchstaben des Schildes. Der »Richtige Ankergrund« war noch offen, obwohl es schon nach zehn Uhr war und draußen im strömenden Regen kaum noch ein Mensch zu sehen war. Gerade an der Biegung der Straße, in der Nähe des Gasthauses, öffnete sich der Blick auf das Wasser. Im Dämmergrau des Abends und der nassen Luft ragte der Mastenwald unheimlich bis zu den Wolken empor, das Takelwerk knarrte und knisterte im Wind. Mehrere Matrosen, Arm in Arm, offenbar etwas angeheitert, lavierten singend über die ganze Breite der Straße. »Lieb Vaterland magst ruhig sein, – Fest steht und treu die Wacht am Rhein.« Es griff wie Krallen in Roberts Herz. Alles war für ihn verloren. Wenn er diese Schiffe sah, diese Matrosen, wenn er ihr fröhliches Singen hörte, dann glaubte er nicht länger leben zu können, ohne wahnsinnig zu werden. An die Mauer gelehnt, umtobt von den Schauern des Regens und dem Sausen des Sturms, blickte er über den Hafen. Wo war all sein Stolz geblieben? Jetzt wußte er es. Was ihn in aller Not gehalten und ihn so mutig und zuversichtlich gemacht hatte, das war immer die Überzeugung gewesen, mit einem einzigen guten Wort sein Vergehen wieder gutmachen und seine Eltern versöhnen zu können. Heute dagegen hatte er Vater und Mutter für immer verloren, heute war er aus dem Elternhause fortgewiesen worden, ein heimatloser Bettler. Der ganze Schmerz des Alleinseins ergriff sein junges Herz. Den Kopf in die Hand gelegt, bemühte er sich, die Tränen zurückzuhalten, die der Schmerz und die getäuschte Hoffnung von drei langen Jahren unwiderstehlich heraufgelockt hatten. Ein Schatten kreuzte die Straße. Aus dem Dunkel des nächsten Torweges trat eine Gestalt im langen, altmodischen Gehrock, den derben Stock in der Hand, das graue Haar vom Regen an die Schläfen gepreßt, das bleiche Gesicht voll Gram und Angst. Langsam näherte sich der Alte dem weinenden jungen Menschen, – und kaum vernehmbar klang es durch das Brausen des Windes: »Robert! –« Er taumelte auf, er glaubte, daß sich die Erde drehe, daß er träumen müsse oder daß ihn ein Spuk auf offener Straße quäle. Beide Arme vorgestreckt, starrte er in das Gesicht des vor ihm Stehenden. Kein Laut kam über seine Lippen. Da fragte der Alte noch einmal. »Robert, willst du mir nicht antworten?« Das klang so ernst, so traurig, das rührte das verzweifelte Herz des Sohnes, daß es bebte unter diesem Eindruck. »Vater!« flüsterte er gequält, »Vater – du hast mich einen Dieb genannt!« Der Alte zog ihn an der Hand zur nächsten Gaslaterne. »Robert«, sagte er, »schau mich an und sag mir die Wahrheit. Hast du die Schmucksachen deiner Mutter – von dem Geld will ich nicht einmal reden – wirklich nicht genommen?« Robert war kreidebleich, seine Lippen zuckten krampfhaft. Fast unfähig zu sprechen, hob er die Rechte zum Himmel. »Bei dem Gott, an den wir beide glauben«, stammelte er kaum hörbar, »ich habe es nicht getan und nichts davon gewußt.« Der Alte sah ihn an, lange, unbeweglich und, wie es schien, erlöst von schwerem Druck. »Das kann mein Sohn nicht lügen«, antwortete er endlich. »Robert – willst du jetzt deine Bitte von heute morgen noch einmal wiederholen? Willst du –« Robert ließ ihn nicht ausreden. Mit beiden Armen seinen Hals umschlingend, warf er sich schluchzend an die Brust des alten Mannes. »Vater«, quoll es von seinen Lippen, »lieber Vater, vergib mir, ich bitte dich tausend – tausendmal.« Auch die Stimme des eigensinnigen, alten Meisters war seltsam weich geworden. »Es ist gut«, erwiderte er, »alles gut. Komm nur rasch, daß wir die Mutter beruhigen, sie war ja fast außer sich heute morgen und nannte mich einen Rabenvater, der sein Kind in den Tod treiben wolle. Komm, wir müssen uns beeilen, damit wir eine Droschke bekommen.« Robert atmete wie neu belebt. »Vater«, sagte er, »das geht nicht, ich muß vorher mit Georg sprechen, muß ihn fragen –« Der Alte schüttelte den Kopf. »Ich kann dir alles das genau erzählen, Robert, er aber könnte es nicht mehr. – Laß uns laufen, mein Junge.« Robert gehorchte, und als wenige Schritte weiter beim Hafentor eine Droschke gefunden war, gingen die beiden erst in ein Wirtshaus, um sich zu stärken. Als das Fuhrwerk mit ihnen durch Altona denselben Weg wieder zurückrollte, den Robert unter so ganz anderen Umständen eben erst gekommen war, da er zählte Meister Kroll seinem atemlos lauschenden Sohn, daß am heutigen Morgen der ehemalige Seiler einen Fluchtversuch gemacht habe, indem er versuchte, ein im Hafen liegendes französisches Handelsschiff zu erreichen, und daß er dabei gefaßt und tödlich verwundet worden sei. »Der Bursche verlangte sterbend nach dir, mein Sohn«, schloß der Alte seinen Bericht, »er wollte durchaus, daß du ihm verzeihst, ehe er diese Welt verlassen müsse, und ist endlich ohne Frieden und Versöhnung hinübergegangen. Gott sei seiner armen Seele gnädig.« Robert war von dieser Nachricht tief erschüttert, es fiel ihm schwer, sich in die so plötzlich veränderten Verhältnisse hineinzufinden. Dann aber fragte er den Vater, woher er diese Einzelheiten habe, und Meister Kroll nannte ihm den Wirt zum »Richtigen Ankergrund« als seinen Gewährsmann. »Es ist auch der Polizei ein Päckchen zugestellt worden«, sagte er, »das der Sterbende für dich bestimmte und dem Aufzeichnungen beiliegen, die er kurz vor seinem Tode noch diktierte. Jetzt aber, mein Junge, – laß uns von dir sprechen«, schloß er, »und was du für deine Zukunft geplant hast. Ich will den Seemann in dir anerkennen, da du doch zum Schneider ganz und gar verdorben zu sein scheinst. Das schneidet mir freilich fast das Herz ab und spricht allen meinen Wünschen ein Todesurteil, aber wenn sich die Welt dahin geändert hat, daß die Söhne eigenmächtig über ihr Schicksal entscheiden dürfen, nun, dann muß ich mich eben wohl oder übel fügen. Ein Rabenvater bin ich doch nicht, – das soll mir die Mutter noch abbitten.« Robert lachte zum erstenmal wieder. Er hatte es ja schon längst geahnt, daß die liebe alte Mutter dem starrköpfigen Mann solange zugesetzt hatte, bis er endlich mürbe geworden, in den langen Rock gefahren und davongeeilt war, dem zum zweitenmal flüchtigen Sohn nach. Nun hatte sich ja alles zum besten gewendet, und während der ganzen Fahrt berichtete Robert vom Vergangenen und Zukünftigen, erkundigte sich Meister Kroll nach allen Einzelheiten so genau und wurde so lebhaft gesprochen, daß den beiden die Fahrt wie im Flug verging. Die Mutter wachte noch, sie hatte heißen Kaffee gekocht und frische Semmeln herbeigeholt, auf dem Tisch stand Roberts Teller von früher her, seine Tasse, sein Besteck, – viele Worte wurden nicht gesprochen, aber es war wie Weihnachten bei den drei Menschen in dem kleinen Häuschen. Und dann mußte sich Robert in das Bett legen, in dem er als Kind geschlafen hatte, die beiden alten Leute aber schlichen leise auf den Zehenspitzen umher. Die Mutter hantierte geräuschlos in der Küche, als ob eine ganze hungrige Kompanie Soldaten bewirtet werden sollte, und Meister Kroll saß mit gekreuzten Beinen auf dem uralten Thron seiner Väter und nähte emsig. Das Maß zu dem neuen Anzug aber hatte er an den Kleidern seines Sohnes genommen. Und Robert selbst? – – Er schlief, und im Traum erblickte er ein liebes, bekanntes Gesicht. Der Geisterseher von der ›Antje Marie‹ beugte sich über ihn herab, aber jetzt nicht mehr ernst und trübsinnig wie früher, sondern lächelnd, heiter lächelnd. Nach wenigen Stunden wußte ganz Pinneberg, daß Robert Kroll wieder da sei. Man umdrängte ihn, er wurde der Held des Tages, man staunte und hörte zu mit allen Ohren, wenn er von seinen wunderbaren Erlebnissen sprach. Jetzt hatten alle diese guten Leute vorausgesehen, daß das so kommen mußte, niemand hatte je an dem Wiedererscheinen des Ausreißers und an seiner Tüchtigkeit gezweifelt, sondern jeder erinnerte sich, gerade dieses glückliche Ende mit Sicherheit vorausgesehen zu haben. Robert erhielt Einladungen über Einladungen, die er aber fast alle ablehnte, bis auf einen Besuch, den er wirklich gern machte. Als die Hamburger Polizeibehörde das für Robert bestimmte Päckchen des gestorbenen französischen Gefangenen nach Pinneberg weitergeleitet hatte, fand sich nicht allein das ganze Geld, sondern auch ein umfassendes, reumütiges Geständnis des ersten und zweiten Diebstahls, so daß Robert in den Augen seiner Eltern vollständig gerechtfertigt war. Es blieb nur die eigentliche Flucht und die Zwangsanleihe von sechzig Talern, die Robert niemals zu Gesicht bekommen hatte, – beides aber wurde ihm und war ihm längst von Herzen vergeben. Meister Kroll wickelte die Banknoten wieder in das Papier. »Da, mein Junge«, sagte er, »geh hin und bring das Geld den Eltern deines Freundes. Die alten Leute haben im Armenhause eine böse Zeit verlebt, so daß ihnen die Erlösung aus solchen Verhältnissen wohl zu gönnen ist. Wir können's ja tun, und nebenbei – – ich mag auch das einmal Gestohlene gar nicht besitzen. Der Georg war ein Spion, weiter nichts, er hatte sich mit Absicht zum Gefangenen machen lassen, um hier die Lage und Stärke der Armee auszukundschaften und dem Feinde zu hinterbringen. Mit solchen Dingen wollen wir nichts zu schaffen haben.« Robert nahm dankbar das Geld und ging hinaus vor den Ort, um es im Armenhause Gottliebs alten Eltern zu überreichen. Er sagte aber, daß es von ihrem Sohn komme, und sparte auf diese Weise den armen Leuten das schwere Wort des Dankes. Als er nach Hause zurückkam, fand er dort den Schein des Landwehrbezirkskommandos, der ihn sofort nach Kiel rief, um von dort aus mit einem für den Schutz der Handelsschiffe nach dem Mittelmeer bestimmten Dampfer an Bord des Kanonenbootes »Meteor« gebracht zu werden. Das Schiff lag im Hafen von Havanna, und sein Kommandant, Kapitänleutnant Knorr, hatte kürzlich telegraphisch um etwa zehn Mann Verstärkung gebeten, zu denen auch Robert gehören sollte. Der Abschied von den Eltern war zwar schwer, aber er war das, was man einen ›gesunden Schmerz‹ nennt, und wurde deshalb leichter ertragen. Acht Tage später war Robert, von den Segenswünschen seiner Eltern begleitet, schon wieder auf hoher See. Auf dem »Meteor« Auf dem »Meteor« An Deck des Kanonenbootes ›Meteor‹ im Hafen von Havanna standen zehn Marinesoldaten und vor ihnen der Kommandant des kleinen Fahrzeuges, Kapitänleutnant Knorr. Er hatte besonders einen der Ankömmlinge ständig im Auge, und erst als die anderen neun nach ihren persönlichen Verhältnissen gefragt waren, wandte er sich an diesen letzten. »Sie wollen also als Freiwilliger eintreten?« Robert – denn er war es – bemühte sich, eine möglichst militärische Haltung einzunehmen. »Nur kurze Zeit zu früh, Herr –« »Keine lange Rede!« unterbrach ihn der Offizier etwas barsch. »Ja oder nein?« Robert errötete bis unter die Haarwurzeln. Dieser Ton war keineswegs nach seinem Geschmack. »Ja!« antwortete er mit erzwungener Ruhe. Über das wetterbraune Gesicht des Offiziers flog ein Lächeln. »Die Antwort heißt in diesem Fall künftig ›Zu Befehl!‹« belehrte er und fuhr dann fort: »Welchen Grad haben Sie in der Handelsmarine erreicht?« »Ich bin Leichtmatrose, Herr –« Die ungeduldige Hand hob sich mit dem Notizbuch schon wieder zu halber Nasenhöhe. »Bootsmann!« rief der Offizier. Der Gerufene erschien in vorschriftsmäßiger Haltung. »Zu Befehl, Herr Kapitänleutnant.« Der Offizier begann auf und ab zu wandern. »Da schickt man uns von Kiel einen Freiwilligen«, sagte er halb seufzend. »Hole der – –« »Na, Bootsmann, nehmen Sie ihn mit und geben Sie ihn einem der Maaten zum Einpauken. Ist das ein – – hm, ich meine, daß die Reservebataillone an Land schon mit allem, was Freiwilliger heißt, ihre Not haben, aber auf See – –« Er hielt wieder inne, und ein neuer ärgerlicher Blick streifte den unwillkommenen Gast. »Die anderen Leute werden als Matrosen eingestellt«, fügte er hinzu. »Mit dem Freiwilligen müssen Sie mir bei allen Dienstmanövern ganz fortbleiben, Bootsmann, bis er wenigstens nichts mehr verdirbt und keinen Anstoß erregt. Sorgen. Sie dafür.« »Zu Befehl!« antwortete der Bootsmann, und ein Wink seiner Hand beorderte die Ankömmlinge unter Deck. Die schon geschulten Matrosen konnten den Weg dorthin bereits ohne Mühe allein finden, während Robert, etwas enttäuscht und trotzig, stehen blieb und wartete, was man ihm weiter befehlen werde. Der Bootsmann schien es unter seiner Würde zu halten, den Freiwilligen besser zu bewillkommnen, als es der Kapitänleutnant selbst getan hatte. Er kümmerte sich um ihn weiter nicht mehr, sondern rief in den Raum des Zwischendecks hinein einen einzelnen Namen: »Gerber!« Darauf erschien einer der Bootsmannsmaaten, dessen Gesicht Robert auf den ersten Blick bekannt vorkam. Er fragte sich, wo ihm diese gutmütigen blauen Augen schon einmal begegnet sein konnten. Er mußte den Mann kennen. »Gerber«, sagte der Bootsmann, »in Ihrer Backschaft fehlt ja ein Mann, seit wir die Cholera an Bord hatten, nicht wahr? – Na gut, da haben Sie ihn, aber so wie er geht und steht. Den Kriegsschiffsmatrosen müssen Sie ihm erst beibringen. Soll tüchtig gezwiebelt werden und nicht mit an Deck, bis er die Sache versteht.« Der blonde Maat begnügte sich damit, zu nicken. »Komm hierher, mein Junge«, sagte er, »erst laß dir in der Kombüse deine Back füllen, und dann wollen wir weiter sehen. Sind ja alle einmal grüne Jungen gewesen, meine ich.« Und mit diesen, für Robert nicht gerade schmeichelhaften Worten führte er ihn zu dem Platz, wo künftig sein Kleidersack hängen sollte und wo er das angeschraubte flache Schränkchen erhielt, das mit 35 Zentimeter Länge und 25 Zentimeter Breite das ganze Eigentumsgebiet des einfachen Matrosen an Bord eines Kriegsschiffes darstellt. »Da hast du deine Nummer und deine Uniform«, sagte er, »hier die Reservestücke und hier die Waffen. So, das wäre das. Eigentlich müßte ich dich mit Sie anreden, die Instruktion will es so, aber das ist mir zu offiziell, und wenn wir außer Dienst sind, geht es keinen Deubel was an. So – du da, Röder, geh mal mit ihm, daß er seine Back gefüllt kriegt. Wie heißt du denn, mein Junge?« Robert nannte seinen Namen und nahm sich vor, diesen gemütlichen Vorgesetzten demnächst zu fragen, wo er ihm früher schon begegnet sein könne, vor der Hand aber ließ er sich die gute und reichliche Mahlzeit des preußischen Marinesoldaten vom Koch verabfolgen, obwohl er nur wenig essen konnte. So ganz anders hatte er sich die Sache vorgestellt! Er hatte geglaubt, daß jeder Freiwillige mit offenen Armen aufgenommen werde, und tatsächlich war die harmlose Äußerung des Maaten, daß ja doch am Ende jeder einmal ein grüner Junge gewesen sei, das Höchste, was man ihm zum Schutz gegen ein unverhülltes Mißfallen der Vorgesetzten überhaupt noch zugestand. Robert war einfach wie aus allen seinen Himmeln gefallen. Trotzdem aber mußte er ein ruhiges Gesicht zeigen. Die Dienstvorschrift an Bord erlaubte keinerlei Ausnahmen, das wußte er nur zu genau, und fort von hier konnte er jetzt unter keiner Bedingung. Seine Begeisterung war zwar keineswegs geringer geworden, aber er hatte sich eben alles so anders vorgestellt, wie es in Wirklichkeit war. Niemand dankte dem Freiwilligen, daß er gekommen war, sondern er wurde wie eine Art nicht zu vermeidende Belästigung mit guter Miene ertragen, mehr schienen die Leute nicht tun zu können. Als er gegessen hatte, näherte sich Robert seinem neuen Vorgesetzten. »Ist es vielleicht möglich, daß ich Sie schon früher einmal gesehen habe, Maat?« fragte er. »Das kann schon sein, mein Junge. Wie heißt du doch gleich? Ach ja, Kroll, ich weiß schon, ist mir aber leichter, wenn ich dich Nummer Acht nenne, das macht sich so gut und bleibt immer dasselbe, wenn auch der Mann einmal wechselt, wie es uns kürzlich in Venezuela passierte, als die Cholera an Bord kam. – Aber was wolltest du noch?« »Wo ich Sie vielleicht schon einmal gesehen haben könnte, Maat?« »Ja, Kerl, da besinne dich einmal. Leg dein Gehirn in die Weiche, wie wir bei uns zu Hause sagen. Ich bin in der halben Welt herumgekommen, auf Handelsschiffen und auf unserer Flotte. Vielleicht kennst du mich vom ›Blitz‹ her.« Vom ›Blitz!‹ – Jetzt erinnerte sich Robert sofort, jetzt wußte er, wo ihm das gutmütige Gesicht schon früher begegnet war. »Maat«, rief er, »erinnern Sie sich noch an die Tage, als das Kanonenboot ›Blitz‹ auf der Elbe vor Neumühlen ankerte? Damals kam ein Junge zu Ihnen an Bord, wissen Sie es nicht mehr?« Der Unteroffizier nahm die Tonpfeife aus dem Munde. »Oho, Nummer Acht, also das warst du? Der Schneider, dem ich mein Schiff und mein Buch schenkte. Nun beichte nur gleich alles, du Tunichtgut, bist doch richtig durchgebrannt, nicht wahr?« Robert nickte. »Ja, richtig durchgebrannt, aber ich habe auch dafür einstehen müssen und möchte das, was ich dabei erlebt habe, nicht noch einmal durchmachen. Jetzt ist die ganze Geschichte vergeben und vergessen, mein Vater hat mich für den Eintritt in die Armee mit Geld und Kleidung ausgerüstet und war auch von Herzen einverstanden, daß ich wieder zur See gehen wollte.« Der Unteroffizier legte zwei Finger an die Schläfe, als grüße er respektvoll. »Das mag ich leiden von dem Alten«, sagte er, »dein Vater ist ein ganzer Mann. Da kommst du wohl direkt von Hause, Nummer Acht?« »Geradewegs, Maat, und ich soll nun hier meine Ausbildung nachholen. Bitte lassen Sie mich alles an Bord so rasch wie möglich kennen lernen, damit ich bei einem Gefecht schon mit dabei sein darf.« Der Unteroffizier berührte Roberts Brust mit der Spitze seiner Tonpfeife. »Du bist ein Wildfang erster Klasse. Aber tröste dich! Wenn es zum Kampf kommt, so kannst du auch ohne Befehl und Kommando mit einspringen, das sage ich dir jetzt schon.« Roberts Herz klopfte schneller. »Haben wir dazu Aussichten, Maat?« fragte er. »Hm, das kann man nicht wissen. Kommt uns ein französisches Schiff vor die Rohre, so greifen wir es an, dafür sind ja die Kanonen an Bord.« Robert lachte. »Zeigt sich denn keins hier in der Nähe?« fragte er. »Nicht die Bohne, mein Junge. Aber warte nur ab, bis die Geschichte soweit ist. Ich muß dir ja erst beibringen, wie man ein Geschütz bedient oder mit dem Seitengewehr umgeht. Und das will ich dir nur gleich sagen, Nummer Acht, wenn ich beim Exerzieren mal ein bißchen ungemütlich werden sollte, dann mußt du dir dabei nicht das Geringste denken. Es ist so Gewohnheit und tut den Burschen gut.« Robert lachte wieder. »Wollen Sie gleich anfangen, Maat?« fragte er. Der Unteroffizier schüttelte den Kopf. »Nee!« erwiderte er gleichmütig. »Nee! Bis zwei Uhr gehört uns die Mittagszeit, und davon beißt bei mir die Maus keinen Faden ab. Du wirst übrigens von der Geschichte bald genug haben, das verspreche ich dir. Jetzt aber laß uns eine Partie Dame spielen, um die Ehre natürlich, was dich aber nicht abhalten soll, wenn wir einmal zusammen an Land gehen, ein paar Knöpfe springen zu lassen. Karten sind an Bord verboten.« Robert fügte sich dem Wunsch des freundlichen Maaten, obwohl er selbst eigentlich lieber das Schiff und alle seine Einrichtungen einer genauen Besichtigung unterzogen hätte. Aber auch während der Partie konnte er einiges über seine neue Laufbahn erfahren. »Wo sind denn hier die Kojen der Mannschaft?« fragte er. Der Maat überlegte rauchend, mit in der Luft schwebendem Arm, seinen nächsten Zug. »Die Kojen, mein Junge? – Hierhin oder dorthin? Hm! Ich schlage dir zwei Mann, hast du's gesehen? Und beim nächsten Zug springe ich bis in die Ecke und setze den dritten Stein übereinander, verstanden? – Und von Kojen sprachst du? Aber Junge, im ganzen Schiff ist keine einzige.« Robert sah zweifelnd hinüber. »Aber wo schläft man denn?« fragte er. »In Hängematten, mein Sohn. Sie wird dir zugeteilt, wenn du Freiwache hast, und du mußt sie später sauber wieder aufrollen und an Deck in den ›Finkennetzkasten‹ legen. Wird dir Schweiß genug kosten, alles zu lernen, und unser erster Leutnant ist noch dazu ein Scheuerteufel durch und durch, kann ich dir sagen, aber das bleibt unter uns.« Robert erschrak einigermaßen. »Scheuern«, wiederholte er, »tun das denn nicht die Schiffsjungen und Leichtmatrosen allein? Ich denke, wer Soldat ist – –« Der Unteroffizier sah ihn mit einem sorgenvollen Blick an. »Du«, sagte er, »Nummer Acht, wenn du klug bist, so denkst du gar nicht, sondern hörst und tust, was man dir sagt. Scheuern müssen alle, und wenn sie – na, wenn sie – des Großmoguls Söhne wären. Übrigens schlage ich dir hier deinen vorletzten Mann.« Die Partie war demnach für Robert verloren, und auch bei der zweiten erging es ihm nicht besser. Dann aber begannen die Übungen mit den Handfeuerwaffen. Heute und abwechselnd auch an den folgenden Tagen sollte jedoch Robert ganz allein die ihm noch vollständig neuen Handgriffe nachholen, während die übrigen Matrosen aus Gerbers Abteilung auf die anderen Bootsmannsmaaten verteilt wurden und dort die längst bekannten Übungen wiederholten. Das waren für den leidenschaftlichen, ungestümen Robert zuerst sehr qualvolle Tage. Immer wieder dieselben gleichgültigen Handgriffe ausführen, immer wieder Einzelbewegungen machen wie ein Kind, das seine Glieder gebrauchen lernt, und dabei nicht sprechen, nicht das tun, was man wollte, ja, nicht einmal sich verteidigen, wenn der gemütliche Maat aus seiner urfreundlichen Stimmung gelegentlich ganz heraus und in einen Eifer hineingeriet, der sich durch einen Schwall aller erdenklichen Kraftausdrücke Bahn brach. Robert sträubte sich innerlich dagegen. Er war ein Freiwilliger, er diente aus Begeisterung für die gute Sache des Vaterlandes, und doch konnten Kapitänleutnant und Offiziere diese Behandlung, die er sich gefallen lassen mußte, mit anhören, ohne sich irgendwie in die Sache hineinzumischen. Das war unerhört und warf auf den Militärdienst, wie Robert meinte, einen höchst verdunkelnden Schatten. Zwang und persönliche Unterordnung haßte er als Feinde seiner freiheitsliebenden Natur. Nach und nach aber sah er die Sache auch wieder mit ganz andern Augen und konnte nicht umhin, ihr eine Art widerstrebender Achtung entgegenzubringen. Alles so sauber geordnet, so bis ins Kleinste hinein durchdacht und danach eingerichtet, das entsprach zu sehr seinen eigenen Neigungen, um nicht bei vorurteilsloser Betrachtung auch von ihm gewürdigt zu werden. Nur daß der Einzelne kaum atmen durfte wie er wollte, sondern fast völlig Maschine war, das störte ihn immer noch äußerst empfindlich. Wenn Robert hörte, daß Deckoffiziere oder Kadetten den Offizieren mit »Zu Befehl!« antworteten, dann empörte ihn das innerlich. Ein »Ja« oder »Nein« hätte auch genügt, meinte er, und wäre eines Mannes würdiger gewesen. Erst nachdem einige Wochen vergangen und Roberts aufrührerische Empfindungen ein wenig in das gewohnte Gleis zurückgekehrt waren, gewann er soviel geistige Freiheit, um sich nach einem Ausflug in die Umgegend zu sehnen. Nur etwa drei Stunden weit entfernt lag ja die Insel, auf der er sein erstes Abenteuer bestanden hatte, wo er so nahe am Tode vorbeigegangen war und wo unter den hohen Mangobäumen sein alter Freund den letzten Ruheplatz gefunden hatte. Er wollte Mohrs Grab sehen, bevor vielleicht der »Meteor« plötzlich durch irgendein Ereignis von hier abgerufen wurde, und zu diesem Zweck fragte er eines Tages seinen Vorgesetzten, ob es nicht möglich sei, auf kurze Zeit Urlaub zu bekommen. Der blonde Maat pfiff durch die Zhäne. »Das wird schwer halten!« meinte er. »Aber ich bin doch ein Freiwilliger!« rief Robert, »ich könnte morgen die Sache wieder aufgeben, wenn ich wollte!« »Hui! Wie das in die Wolken hineinfliegt! Könnte morgen die Sache wieder aufgeben! Daß du die Nase im Gesicht behältst, mein Junge! Ich sage dir, du stehst unter dem Kriegsgesetz so gut wie jeder andere Soldat und kannst das einmal Abgemachte nicht wieder umstoßen. Ein Wort, ein Mann, du unruhiger Geist!« Robert errötete. »Ich denke ja auch nicht daran«, erwiderte er hastig. »Aber was könnte es denn schaden, wenn ich einmal mit der Barkasse auf sechs bis acht Stunden nicht an Bord wäre?« Der Unteroffizier schob vor Schreck die Mütze in den Nacken. »Das ist nicht schlecht, wahrhaftig! Also auch die Barkasse sollte das Vergnügen mitmachen! Da müßtest du ja wenigstens sechs Mann zur Bedienung haben!« »Die will ich im Hafen schon auftreiben und bezahlen. Kleinere Boote sind für den Weg durch Klippen und Strudel nicht so recht zu brauchen. In der Nähe der Insel, die ich besuchen möchte, liegt ein unterseeisches, sehr gefährliches Korallenriff auf dem damals mein Schiff strandete, überhaupt führt ja der Weg dorthin über das offene Meer.« Gerber schüttelte den Kopf. »Das schlag dir gänzlich aus dem Kopf, Nummer Acht«, sagte er. »Dafür wirst du nie die Erlaubnis erhalten.« »Aber warum denn nicht? Ich bitte Sie, warum nicht?« Der Unteroffizier wiegte seinen ganzen Oberkörper hin und her. »Weil das eine Unmöglichkeit wäre, Nummer Acht, weil das – na – ich sage, es geht nicht. Wenn du mit der Barkasse spazieren fährst, so möchte ein anderer vielleicht an Bord eine Gesellschaft geben und der dritte sonst irgend etwas Ausgefallenes anstellen. Wer Soldat ist, der darf an solche Dinge nicht mehr denken.« Robert schwieg, aber der Gedanke ließ ihn nicht mehr los. Von den Franzosen zeigte sich nichts, an den täglichen Übungen nahm er jetzt zusammen mit den andern teil und hatte überhaupt das neue Leben an Bord des Kriegsschiffes etwas besser begriffen und sich hineingelebt, daher plagte ihn die Langeweile ebensosehr, wie es seinen Trotz herausforderte, so vollständig ohne eigene Tatkraft zu sein. Auf hoher See wäre noch alles anders gewesen, aber im Hafen stillzuliegen, täglich mit dem ungeladenen Gewehr zu exerzieren und in den Freistunden auch noch einer strengen, militärischen Disziplin unterworfen sein, das war gräßlich. Eines Tages, als Robert zur Steuerbordwache gehörte und wie gewöhnlich abends um acht Uhr seine Hängematte erhielt, hatte er seinen Plan fertig und in allen Einzelheiten vorbereitet. Der Mond schien fast taghell, das Meer lag ruhig und glatt wie ein Spiegel, – kurz, es lockte ihn unwiderstehlich hinaus. Er schlief nicht, obwohl es seine nächsten Nachbarn glauben mußten, sondern erwartete mit pochendem Herzen den Augenblick, wo das Trillern der Bootsmannspfeife im Zwischendeck ertönen und der Ruf ›Ronde! Ruhe im Schiff!‹ auch das letzte Wort unter der Mannschaft ersticken würde. Endlich war es soweit, er drehte geschickt die Kleider seines Nebenmannes so, daß der Schimmer der großen Sicherheitslaterne nicht direkt auf seine Hängematte traf, und dann stand er behutsam auf. Die Ronde war vorüber und die Wache verteilt, – tiefe Stille herrschte im ganzen Schiff. Robert fuhr geräuschlos in die Kleider und kroch an Deck, ohne bemerkt zu werden. Hier oben war er geborgen, obgleich eigentlich jetzt das Schwierige seines Unternehmens erst begann. Aber er hatte vorgesorgt. Der Mann, der am Bug Wache hielt, war auch ein Holsteiner, ein naher Landsmann und sehr arm, er sah also für einige Taler gerade zufällig nach der andern Seite, als Robert über Bord kletterte, da wo die Jolle bereitlag, ihn an ein größeres Fischerboot zu bringen, das häufig zwischen dem Hafen und den Inseln kreuzte. Ebenso sollte der Holsteiner, wenn um zwölf Uhr nachts die neue Wache mit Namen aufgerufen wurde, für seinen Landsmann antworten, – Gerber tat nichts, um die Geschichte laut werden zu lassen, das wußte Robert, und davon war auch der andere überzeugt, sonst hätte er sich wohl gehütet, auf den gefährlichen Handel einzugehen. Der gemütliche Maat würde zwar in aller Stille Donner und Wetter fluchen, den Ausreißer noch Spießruten laufen und kielholen lassen, aber dabei doch die ganze Geschichte bis an die letzten Grenzen des Möglichen vertuschen, dafür kannten ihn alle. Und Robert dachte nicht einmal so weit. Er wollte nur erreichen, was ihm auf dienstlichem Wege nicht erlaubt wurde, und schlug zu diesem Zweck die Folgen gänzlich in den Wind. Wie er am vorhergehenden Tage den Fischer hierher beordert hatte, so sprang er jetzt in die Jolle, nur mit weißem Leinenzeug bekleidet, das Herz voll froher Hoffnung, unbekümmert um das, was daraus entstehen konnte. Er atmete förmlich auf, als das leichte Fahrzeug unter ihm tanzte und der Wind ihm spielend durch die Haare fuhr. Nach kurzer Fahrt stieg er von der Jolle in das größere Segelboot über, und nun ging es mit dem Wind aus dem Hafen hinaus. Der Fischer kannte den Weg, den er nehmen mußte, ganz genau, also war nach kaum zwei Stunden das Eiland, das Robert früher bewohnt hatte, in Sicht. Noch wenige Minuten, dann stießen sie auf das sandige Ufer, und Robert konnte den Boden betreten, der einst für ihn fast zum Grab geworden wäre. Taghell schien der Mond, ein frischer Wind fuhr durch die Zweige, und Robert lief am Ufer entlang, um zuerst das Grab des alten Matrosen aufzusuchen. So bekannt war das alles, so unverändert, er hätte den Weg auch ohne den Mond gefunden. Aber hier unter den Bäume, wo der Geisterseher schlief, war es in der Tat dunkel! Die Wellen spielten in der stillen Bucht, die uralten Mangos neigten ihre Zweige bis auf den Wasserspiegel herab, und ringsumher wuchs es in üppiger Fülle. Robert ließ ein Streichholz aufflammen, entzündete die schon dafür mitgebrachte Wachskerze und schützte das Licht mit der Hand. Hunderte von Blumen blühten dort, wo Mohr begraben lag, und der Wind spielte leise in den dichten Blättern. Wo war die Blüte, die Robert vor zwei Jahren zum Abschied hier gepflückt hatte? – Er dachte mit Grauen an den Augenblick, der sie vernichtete, als ihn hoch oben am Nordkap die Eismassen und das spritzende, halberstarrte Wasser auf den Strand warfen. »Lieber alter Geisterseher, wüßtest du, was dein Freund, der kleine Schiffsjunge, inzwischen alles erlebt hat, seit er hier an dieser Stelle dir dein letztes Bett grub!« Die Nähnadel aus Fischgräten lag jetzt in Pinneberg und war heimlich Meister Krolls kostbarstes Besitztum, eine Art Reliquie, die zugleich zeigte, was für ein tüchtiger Kerl sein Sohn und welch ein unentbehrliches Gerät die kleine Nähnadel war – aber die Blume, die Robert getrocknet hatte, ging damals verloren. Heute steckte er in den kleinen Brustbeutel des Spaniers eine frische, schöne Blüte, ehe er noch einmal mit langem Abschiedsblick das Grab überflog. Die Zeit drängte, er wollte ja auch noch die andere Insel wiedersehen, wo er unter Räubern und Mördern gelebt hatte, obwohl ihm der Fischer abriet, dort an Land zu gehen. Die Piraten bewohnten noch immer ihren Schlupfwinkel, und man konnte doch nicht voraussagen, ob sie ihn als Verräter betrachten und zulassen würden, daß er lebend zum zweitenmal die Insel verließ. Aber wiedersehen wollte er das Dach, unter dem er einstmals Schutz gefunden hatte. Das Fischerboot nahm seinen Kurs wieder auf, es glitt durch die engen Wasserstraßen zwischen den einzelnen kleinen Inseln und kam auch bis an die flache Küste, wo Rafaeles Fahrzeuge lagen, wo von weitem sein Wohnhaus unter den Bäumen zu erkennen war und die Hunde ein lautes Gebell erhoben, als sich das fremde Boot dem Strande näherte. Auch hier war alles, wie es Robert verlassen hatte, damals, am Tage des Messerkampfes zwischen den beiden Räuberbanden, als das französische Schiff für ihn zur Rettung wurde. Wie sich doch die Verhältnisse geändert hatten! – Jetzt hätte kein Fahrzeug der Grande Nation wagen dürfen, den Weg des »Meteor« zu kreuzen, es wäre sofort angegriffen worden. Wie sehnten sich die preußischen Blaujacken danach, wie hofften sie an jedem Morgen, daß auch sie endlich zum Kampf kommen würden. Und Robert selbst war ja der Ungeduldigste, gerade er konnte am allerwenigsten den Augenblick erwarten, wo es »losgehen« würde, er freute sich maßlos auf das erste Gefecht. Aber dazu schien ja noch immer keine Aussicht. Der »Meteor« lag tatenlos an seinen Ankerketten, während die Landarmee Sieg auf Sieg erfocht. Alle paar Tage kamen Zeitungen an Bord, man las mit Jubel, wie der Feind überall zurückging und wie sich die deutschen Truppen im Kampf auszeichneten, – ohne selbst daran teilnehmen zu dürfen. Das ärgerte alle, vom Kapitän bis zum Schiffsjungen herab, am meisten aber den ungeduldigen Robert. Er hatte jetzt auch die Pirateninsel wiedergesehen, – das Fischerboot wendete und kreuzte gegen den Wind auf, dem Hafen zu. Wenn um vier Uhr wieder die Wache abgelöst wurde, ließ sich seine Abwesenheit vielleicht nicht mehr verheimlichen, daher durfte jetzt keine Zeit mehr verloren werden. Die bewaldeten Ufer der Insel traten weiter und weiter zurück, sie waren auf dem offenen Meer, – noch einmal ließ Robert den Blick zurückgehen. Was war das dort? – Ein weißer Punkt hob sich vom Hintergrund des dunklen Ufers ab. Ein Schiff! Der Fischer blickte auf, als er Roberts plötzliche Aufmerksamkeit sah. »Das ist ein Kriegsschiff«, sagte er gleichgültig. »Ich habe es schon vor mehreren Tagen zwischen den Inseln bemerkt.« Roberts Herz stand fast still. »Von welcher Nation, Pedro?« fragte er atemlos. »Ja, das weiß ich nicht. Ich sah nur die Kanonen.« »Dann laß uns gleich wenden und die Sache genauer ansehen. Ich bezahle ein paar Piaster mehr, wenn du mich bis unter den Bug des Schiffes bringst. Du bist Spanier und läufst dabei keine Gefahr.« »Das weiß ich wohl«, nickte gleichmütig der Mann. »Kann mir auch schon recht sein, wenn Ihr die Fahrt bezahlt.« Das Ruder wurde nochmals gedreht, und der weiße Punkt angesteuert. Robert erkannte sehr bald die französische Flagge, konnte drei Geschützpforten zählen und las den Namen »Bouvet«. Jetzt wußte er genug, um auf dem »Meteor« Meldung machen zu können. Ein französisches Kriegsschiff so nahe beim Hafen, der langersehnte Gegner endlich gekommen, das Zeichen zum Kampf gegeben! »Schnell, schnell!« befahl er dem Fischer. »Es ist zwar schon viel zu spät, aber es eilt trotzdem. Wir können schon morgen ins Gefecht kommen.« Es war heller Tag, als das Fischerboot neben dem »Meteor« anlegte. Ein Besuch einiger deutscher Familien aus der Stadt hatte das Schiff überschwemmt, so daß Robert, der ohne Uniform war, vielleicht unbemerkt hätte an Bord kommen können, aber das wollte er nicht einmal. Die Strafe, die ihn erwartete, kümmerte ihn nicht. Vielmehr hätte er es für ehrlos gehalten, die Nachricht von der Nähe des feindlichen Kriegsschiffes zu verschweigen. Unter Deck stürmen und sich in die Uniform werfen, war das Werk von zwei Minuten, ebenso schnell aber hatte ihn auch schon der gemütliche blonde Maat erwischt und festgehalten. »Du siebenmal«, begann er seine Rede, wurde jedoch durch Robert entschieden an der Fortsetzung gehindert. »Still«, flüsterte er. »Stellen Sie sich vor, Maat, der Franzose kommt, – ich muß sofort zum Kommandanten.« »Daß du die Motten kriegst! Junge, du stehst monatelang auf der schwarzen Liste, wenn er dich nicht sogar einsperrt! Und was fabelst du da von dem Franzosen?« »Warten Sie's nur ab, Maat. Ging denn heute nacht alles gut?« »Du Schwerenöter hast ja einen Mitschuldigen, der für dich antwortet und einsteht! Noch ist nichts bemerkt worden, aber ich sage dir, wenn du mehr solche Streiche machst, verpurre ich dir die Geschichte. Du bist ja ein ganz gefährlicher Ausreißer!« Robert lachte. »Meinen Sie, daß ich bestraft werde, Maat?« fragte er. »Und das gehörig. Du mußt die höchsten Stengen schmieren, alle Tage scheuern, den Rost von den Ankerketten klopfen, die Gallion waschen und die Messingplatten putzen. Du bekommst nur eine halbe Stunde Mittag, deine Grogration fällt aus, und du hast Bordarrest, wenn nicht eine richtige Gefängnisstrafe für dich herausspringt. Das glaube ich noch eher, also behalte die Nachricht für dich, hörst du!« Robert schüttelte den Kopf. Unmöglich, das konnte er nicht, und als die Fremden von Bord waren, meldete er sich bei Kapitänleutnant Knorr. Der sah ihn verwundert an. »Nun«, fragte er, »was haben Sie?« Robert stand jetzt in dienstlicher Haltung vor ihm, etwas blaß zwar, weil er die entehrende Strafe fürchtete, aber doch ruhig und ernst. Mit wenigen kurzen Worten berichtete er von seiner Beobachtung und hatte die Genugtuung, seinen Vorgesetzten auf das höchste überrascht zu sehen. Er sprang vom Sitz auf und ging erregt hin und her. »Ein Franzose also? Und was für ein Schiff?« »Der ›Bouvet‹ soweit ich erkennen konnte, Herr Kapitänleutnant. Er hatte drei –« »Ja, ja, drei Geschütze, ich weiß schon. Nun, das kann – –« »Aber«, fügte er hinzu, sich plötzlich unterbrechend, »weshalb haben Sie mir die Sache gemeldet, da doch kein Zeuge dabei war, der Sie verraten konnte? Ist Ihnen bekannt, daß für sämtliche Schiffe der deutschen Marine im Augenblick die außergewöhnlichen Gesetze des Kriegszustandes gelten? – Ich könnte Sie als Deserteur behandeln und bestrafen lassen.« Robert zuckte unter dem entehrenden Wort, die letzte Farbe wich aus seinen Wangen, und das Herz klopfte ihm zum Zerspringen. Der Kapitänleutnant sah ihm fest ins Auge. »Weshalb meldeten Sie mir die Sache?« fragte er noch einmal. »Weil ich das für meine Pflicht hielt, Herr Kapitänleutnant.« »Sie, der ohne Erlaubnis von Bord ging?« »Ach«, schoß es Robert plötzlich unwillkürlich heraus, »das ist ja nichts. Dann nehme ich schon die Strafe auf mich, bevor ich eine so wichtige Sache verschweige. Ein Deserteur bin ich nicht, und – das wissen Sie, Herr Kapitänleutnant.« Der Offizier wandte sich ab, um ein ganz undienstliches Lächeln zu verbergen. Dann aber kam er zurück und legte die Hand auf Roberts Schulter. »Sie sind ein etwas außergewöhnlicher Mensch, Kroll«, sagte er sehr ernst, »Sie dürfen aber Ihren Eigensinn niemals für Männlichkeit halten. Lernen Sie erst einmal Manneszucht und unbedingten Gehorsam jedes einzelnen, sei er Offizier oder Soldat, gründlich als das kennen, was sie wirklich sind, nämlich als Grundlage und Mittelpunkt aller militärischen Unternehmen, als Voraussetzung allen Kriegsglücks, – bevor Sie künftig Fälle, wie den gegenwärtigen, für ein ›Nichts‹ erklären. Ihre Strafe ist Ihnen geschenkt, weil ich Ihre Haltung trotzdem anerkenne. Denken Sie an das, was ich Ihnen soeben gesagt habe, Kroll, und nun gehen Sie.« Robert blieb doch noch einen Augenblick lang stehen. Es brauste in seinen Ohren, und ein sonderbares Gefühl, halb Beschämung, halb Stolz, erfüllte ihn. »Ich danke Ihnen, Herr Kapitänleutnant«, preßte er hervor. »Ich – werde Ihre Worte nicht vergessen.« Und dann ging er wie im wachen Traum hinab in das Zwischendeck, wo ihn Gerber mit heimlichem Herzklopfen erwartete. »Nun, Nummer Acht, du Erzbösewicht?« Robert schüttelte den Kopf. »Es ist alles gut gegangen, Maat«, sagte er. »Und keine Strafe, Kerl?« »Keine äußerliche wenigstens!« Der Unteroffizier erhob sich von seinem Sitz. »Nanu«, staunte er, »das verstehe ein anderer. Sprich deutsch, Nummer Acht, was hat der Kommandant gesagt?« Robert lächelte unwillkürlich. »Nicht viel, Maat, aber es liegt mir doch schwer im Magen. Der Kapitänleutnant hat eine eigene Art, zu sprechen.« Über Gerbers Vollmondgesicht glitt ein Sonnenstrahl der Befriedigung. »So, so«, schmunzelte er, »nun begreife ich. ›Du Satanskerl‹, hat er gesagt, – vielleicht ein bißchen feiner gedrechselt, mit Glacéhandschuhen und so, – du Höllenbrand, diesmal will ich's schießen lassen, weil dir der Franzose in die Zähne lief und du mir die gute Nachricht nach Hause gebracht hast, aber tu's nicht noch mal wieder, du Galgenholz, sonst sollen dich alle siebentausend Haifische zugleich fressen! War's nicht so?« »Ganz ähnlich!« lächelte Robert. »Siehst du wohl, ich wußte Bescheid. Kann ein Gesicht machen, daß alle Ratten im Schiff Reißaus nehmen möchten, und ist doch eine Seele von einem Mann. Na, laß dir's gesagt sein, Nummer Acht, und mach keine solchen Dummheiten wieder.« Damit ließ er Robert allein, der sich nun ganz ungestört seinen Gedanken hingeben und sich wieder den Augenblick vergegenwärtigen konnte, als ihn der Offizier so ernst und wohlwollend zugleich ermahnte, in Zukunft nicht mehr Eigensinn und Männlichkeit miteinander zu verwechseln. Gehörte denn wirklich gerade dazu die größte Selbstbeherrschung und Willenskraft, sich scheinbar vollständig unterzuordnen? Er seufzte, aber er wußte ganz sicher, daß ihm dies nicht wieder begegnen werde; hatte er denn dem Kommandanten gegenüber mit dem trotzigen Davonlaufen eines Schuljungen wirklich gezeigt, daß er ein selbständiger Mann sei, oder vielleicht eher, daß ihm die Grundbegriffe jeder gesetzlichen Ordnung noch vollkommen fehlten? Das Blut kehrte in seine Wangen zurück. »Möchte doch heute noch der ›Bouvet‹ kommen«, dachte er, »möchte doch der Kampf beginnen und ich als erster an Bord des feindlichen Schiffes klettern können, damit mich Kapitänleutnant Knorr loben und sagen müßte, ich sei doch ein Mann und tapfer dazu!« Er war an diesem ganzen Tag so aufgeregt, daß Gerber mehrere Male heimlich lächelte. »Den Kroll hat's aber gepackt«, dachte er, »würgt noch an dem schweren Bissen, den ihm unser Kapitänleutnant ins Maul gesteckt hat.« Gegen Abend endlich erschien der ›Bouvet‹ und legte sich in dem neutralen Hafen Seite an Seite neben den ›Meteor‹. Etwas größer und schneller, mit einer Überzahl von zwanzig Mann Besatzung und besseren Geschützen, war er dem ›Meteor‹ ziemlich in jeder Weise überlegen. Bord an Bord lagen die beiden feindlichen Schiffe auf dem Wasser. »Eine wunderliche Welt«, sagte Gerber. »Da ist der ›Bouvet‹, der bei Helgoland zusah, als wir gegen die Dänen im Gefecht standen, – nun läuft er selbst unseren Geschützen in die Zähne.« »Wißt ihr was, Jungens«, raunte er beim Essen in die Ohren seiner Backschaft, »wißt ihr was? Ich möchte, daß ein paar von der Mannschaft drüben das Schiff verließen und an Land eine Kneipe aufsuchten. Dann könnten wir's ihnen zeigen, was unsere Fäuste wert sind! – Das müßte ein ungeheures Vergnügen sein und hätte doch das Völkerrecht nicht verletzt.« Die Seeleute hatten durchaus Lust zu dem Plan, aber Gerber schüttelte schmerzlich das Haupt. »Wird nichts, Kinder«, fügte er hinzu, »waren nur Gedankenspäne, fromme Wünsche, wie man zu sagen pflegt. Ihr sollt sehen, daß es schon morgen in aller Frühe eine Vermahnung setzt. Immer Augen links, wenn ihr auf Backbord über das Schiff marschiert, und Augen rechts, wenn's von Steuerbord hergeht. Ich kenne das.« Und richtig, wie er vorausgesagt hatte, so geschah es. Am folgenden Morgen wurde Generalmarsch geschlagen, und als bis auf den letzten Mann die ganze Besatzung an Deck versammelt war, hielt der Kapitänleutnant eine Ansprache, in der er den Leuten befahl, sich jeder Berührung mit den Franzosen zu entziehen, besonders aber an Land bei einer möglichen Begegnung sofort das Lokal zu verlassen und auf keine Herausforderung einzugehen. Die Franzosen auf dem ›Bouvet‹ sahen sich diese ganze Szene mit Interesse an. Sie schienen den Inhalt der Rede, die dort gehalten wurde, vollkommen zu begreifen, und vielleicht eben deswegen erhielten ungewöhnlich viele von ihnen am Abend Urlaub. Die Deutschen auf dem kleinen Kanonenboot, das sich neben dem ›Bouvet‹ doch sehr schmächtig ausnahm, diese übermütigen Deutschen sollten womöglich eins draufkriegen. Etwa vierzig Mann von der Besatzung des französischen Schiffes gingen an Land, und auch der gewohnten Anzahl Deutscher war Urlaub erteilt worden. Fast zu gleicher Zeit verließen die Preußen und die Franzosen ihre Schiffe, wobei ihnen der Kapitänleutnant mit gerunzelter Stirn nachsah. »Reibungen werden sich nicht vermeiden lassen«, äußerte er zu seinem Ersten Leutnant. »Die Kerle brennen förmlich darauf, den Franzosen zu zeigen, daß sie nicht weniger gut zuzuschlagen verstehen, wie ihre Brüder an Land.« Der Erste Leutnant lächelte bedeutsam. »Und wir selbst?« fragte er halblaut. »Wir ebenso, wenn auch in anderer Form«, erwiderte der Kommandant. »Ich wollte übrigens, daß die Sache bald entschieden wäre, besonders da ich an diesem entlegenen Punkt ohne alle Instruktion ganz nach eigenem Ermessen handeln muß. Der ›Bouvet‹ ist uns überlegen, darüber besteht kein Zweifel.« Der Erste Offizier schwieg, aber es war ein Schweigen, das mehr als die längste Rede ausdrückte, so daß ihn der Kapitänleutnant fragend ansah. »Sie würden den Kampf aufnehmen, Herr Leutnant?« »Ohne Bedenken!« Der Kapitänleutnant nickte leicht. »Ich tu's auch!« bestätigte er. Damit war die Unterredung beendet, aber die innere Unruhe des Kommandanten zeigte sich deutlich in jedem Schritt, in jeder Bewegung, besonders als um die festgesetzte Stunde nur ein Teil der beurlaubten Mannschaft an Bord erschien, die übrigen aber ausblieben. Man fragte die Zurückgekehrten nach den andern, aber die Antworten lauteten so unbestimmt und ausweichend, daß sich der Argwohn des Kapitänleutnants bis zur Überzeugung steigerte. Trotz aller Verbote mußte eine Schlägerei stattgefunden haben. Es wurde zwölf Uhr nachts, bis spanische Polizisten die ausgebliebenen Matrosen vom »Meteor« mit starkem Geleit an das Schiff brachten. Mehrere unter ihnen waren verwundet, aber kein einziger zeigte über das, was er verbotenerweise getan hatte, die mindeste Reue. Franzosen und Deutsche waren aneinander geraten, hatten gehörig miteinander gerauft und sich gegenseitig die Nasen blutig geschlagen, obwohl niemand Sieger geblieben und niemand besiegt worden war. Der Kapitänleutnant ließ die Verwundeten in das Lazarett bringen und die übrigen, so mäßig, als es die Gesetze erlaubten, bestrafen, wobei jedoch sein ganzes Benehmen zeigte, daß er die Ursache der Übertretungen durchaus verstand. Ja, er tat noch mehr. Er schickte dem Kapitän des feindlichen Schiffes drei Tage nacheinander eine Herausforderung zum Kampf auf offener See, aber der französische Kommandant weigerte sich und blieb vor Anker liegen, als sei nichts geschehen. Die Folge davon war, daß sich die Besatzung des »Bouvet« an Land nicht mehr sehen lassen konnte, sondern wo sie erschien, offen verhöhnt wurde. Auf die Dauer schienen die Franzosen das denn doch unbehaglich zu finden, sie lichteten die Anker, und eines Morgens war der »Bouvet« verschwunden. Jetzt herrschte auf dem »Meteor« freudige Kampfstimmung. Nach vierundzwanzig Stunden durfte man den Feind verfolgen und ihn außerhalb des Hafens angreifen, – mehr konnten sich die Blaujacken gar nicht wünschen. »Wenn er uns nur nicht entwischt!« hieß es. »Wenn er nur den Kampf aufnimmt.« Als das Kanonenboot die Anker lichtete und zum erstenmal, seit Robert an Bord war, der Dampf aus den Schloten strömte, da umstanden Tausende von Menschen, besonders alle Deutschen, die in der Stadt wohnten, das Ufer, und in fast allen Sprachen, außer in der französischen, wurde dem »Meteor« ein Hoch ausgebracht. Die Besatzung antwortete mit einem dreifachen Hurra. Und dann rasselten die Ankerketten herauf, das Schiff drehte sich, die Bevölkerung winkte mit Hüten und Taschentüchern, und die Jagd auf den Feind begann. Hinter dem »Meteor« dampfte das spanische Kriegsschiff »Hernan Cortez«, das die Neutralität des Hafens wahren und für den Fall eines bedeutenderen Unglücks in der Nähe sein wollte. Wie pochte Roberts Herz, als das Schiff unter seinen Füßen Fahrt aufnahm. Jetzt erst war er Soldat, jetzt erst hatte er das Ziel seiner Wünsche erreicht, denn jetzt ging es ins Gefecht. Keiner von der ganzen Besatzung des »Meteor« suchte so sehnsüchtig den Horizont nach dem Rauch des französischen Schiffes ab. Er war es auch, der zuerst den »Bouvet« entdeckte. »Dort!« rief er, »dort, Herr Kapitänleutnant, – ich sehe es deutlich.« Der Kommandant ließ sich das Glas reichen, und dann bestätigte ein Kopfnicken der ganzen Mannschaft, daß Robert richtig gesehen hatte. Es war in der Tat der »Bouvet«, der nun den Kampf eröffnete. Es blitzte auf, der Donner rollte über das Wasser, doch die Kugel schlug in weiter Entfernung vom preußischen Schiff ins Wasser. »Wir schießen nicht, bis die Entfernung zwischen beiden Schiffen auf vierhundert Meter herabgesunken ist«, sagte Kapitänleutnant Knorr ruhig. Ein Hoch der Mannschaft auf ihren Kommandanten antwortete seinen Worten. Jedes Herz schlug erwartungsvoll, während das Schiff mit höchster Fahrt durch die Wellen stampfte. Schuß auf Schuß erschütterte vom Bord des ›Bouvet‹ die stille Morgenluft, ohne jedoch zu treffen, während auf dem ›Meteor‹ gleichsam zur Herausforderung von allen drei Masten die Toppflaggen lustig flatterten. Endlich aber konnte das deutsche Geschütz antworten. Auf dem ›Meteor‹ blitzte es auf, und ein erster Gruß aus seinen Rohren pfiff durch das Takelwerk des Franzosen. Im gleichen Augenblick schien sich jedoch das Glück gegen die Deutschen zu wenden. Es erhob sich ein plötzlicher Wind, dem das Kanonenboot entgegenarbeiten mußte, während er andererseits den ›Bouvet‹ mit schneller Fahrt auf die Breitseite des Feindes zutrieb. Das alles ereignete sich innerhalb weniger Minuten, und die Entfernung der beiden Schiffe verringerte sich auf dreihundert Meter, bevor man noch an Bord des ›Meteor‹ die neue Lage richtig erkannte. Das Schlingern des weit kleineren Fahrzeuges war durch den aufkommenden Wind so stark geworden, daß kaum noch ein richtiges Zielen möglich war. Der Ernst des Augenblicks war unverkennbar. Der Kapitänleutnant behielt jedoch seine ruhige Geistesgegenwart. Er stand auf der Kommandobrücke und übersah mit sicherem Blick die Lage. »Ruhe«, befahl er mit tiefer Stimme. »Ruder hart Steuerbord! Klar zum Entern!« Der Befehl wurde sofort vollzogen. Robert, der dicht bei der Kommandobrücke stand, sah mit einer Art begeisterter Verehrung auf den Kommandanten, der so vollkommen ruhig und sicher die Lage überblickte. »Ein solcher Mann will ich werden!« dachte er und packte sein Gewehr fester. Alles an Bord war totenstill, aller Augen sahen auf den Kommandanten. Durch die hochgehenden, fast tobenden Wellen brausten die beiden Schiffe aufeinander zu. Jetzt – jetzt kam die Entscheidung – – Nur noch Augenblicke, dann waren vielleicht fünfundsechzig Menschen in den Fluten des Meeres begraben, dann berichteten die Zeitungen von einem glänzenden Siege der Franzosen über das kleine preußische Kanonenboot ›Meteor‹. Und jetzt, – beide Fahrzeuge berühren einander – – Aber da fliegt ein befreiendes Lächeln über das Gesicht des Kommandanten – – Sein geübter Blick hatte ihn nicht getäuscht, er hatte richtig gehandelt. Im spitzen Winkel trafen beide Schiffe zusammen, es knirschte und krachte, die Bordwände berührten sich, nur wenige Sekunden lang sahen sich die Gegner aus nächster Nähe ins Auge, dann war die größte Gefahr vorüber. Niemand hatte Zeit gehabt, ans Entern zu denken. Jetzt aber eröffneten die Franzosen ein heftiges Gewehrfeuer, das von den Deutschen lebhaft erwidert wurde. Neben Robert fiel der Steuermann und stürzte, sofort getötet, auf die Decksplanken. Robert sah auf. Ein wilder Zorn hatte ihn gepackt. Er suchte mit den Augen auf dem ›Bouvet‹ den Schützen und hatte ihn nur zu bald entdeckt. Halb von der Takelage verborgen lauerte der Mann und erhob schon sein Gewehr zum nächsten Schuß. Es war unverkennbar der Kapitän, auf den er zielte. Das erkennen und unbekümmert um die eigene Sicherheit zwischen die Kugel und ihr Ziel springen, war für Robert Sache eines Augenblicks. Er fühlte einen Schlag gegen die linke Schulter, so daß er für einen Moment schwankte, dann aber nahm er noch einmal seine Kräfte zusammen, legte an und gab Feuer. Wie damals in der Prärie der getroffene Adler, so stürzte der Franzose aus den Marsen herab. Ein lautes Bravo des Kapitänleutnants belohnte den gelungenen Schuß. »Sie haben für mich Ihr Leben in die Schanze geschlagen, Kroll«, sagte der Kommandant laut. »Ich danke Ihnen und werde es Ihnen nicht vergessen.« Robert wankte, aber ein Glücksgefühl, wie er es nie gekannt hatte, durchzog sein Herz. Schon nahmen ihn einige Matrosen, unter ihnen der blonde Maat, in ihre Mitte, um ihn ins Lazarett zu führen. »Laßt doch!« stammelte er, »laßt nur – ich kann allein gehen.« Aber Gerber ließ nicht locker. »Du Tausendsassa, du Schwerenöter«, raunte er. »Kommt dieser Junge kaum an Bord, hat noch keinen Schuß abgefeuert und zeichnet sich schon vor allen aus. Na, das hätte aber leicht dein letzter Augenblick werden können.« Robert lächelte matt. »Es kam ja nicht auf mich an«, flüsterte er, »sondern auf den Kommandanten.« Und dann verließ ihn das Bewußtsein. Gerber trug ihn wie ein kleines Kind ins Zwischendeck, wo der Schiffsarzt mit seinem Assistenten bereitstand, um die Verwundeten zu verbinden. »Schnell, Herr Doktor«, bat der keuchende Unteroffizier, »bitte, sagen Sie mir, ob es schlimm ist. Ich möcht's gern wissen und muß doch wieder hinauf.« »Das Gewehrfeuer hat aufgehört«, bemerkte der Arzt, während er Roberts Kleider öffnete und die Wunde untersuchte. »Wie kommt das?« »Gotts ein – –« Der gemütliche Maat hätte fast einen Kernfluch vom Stapel gelassen, aber er besann sich noch zur rechten Zeit, daß auch der Arzt ein Offizier sei, wenigstens dem Range nach, und verschluckte seinen energischen Satz, indem er laut sagte: »Zu Befehl, Herr Doktor, die Entfernung ist dafür zu groß geworden. Aber wie steht es denn mit der Wunde?« »Die ist nicht gefährlich!« entschied der Arzt. »Das Fleisch ist zerrissen und die Muskeln haben stark gelitten, – Knochen oder edlere Teile sind nicht verletzt.« Gerber lächelte sehr zufrieden. Er ergriff sofort seine Mütze und stürzte wieder hinauf. Oben an Deck hatte sich inzwischen die Lage völlig verändert. Bei der scharfen Berührung der beiden Schiffe waren die Boote vom »Meteor« vollständig weggerissen, die Fockraa abgebrochen und die Wanten zerschnitten, der Großmast aber durch den schweren eisernen Kranbalken des Franzosen sogar eingeknickt. Kurz darauf stürzte der beschädigte Mast um, riß den Besanmast mit sich und schlug die Kommandobrücke in Trümmer. Und nun entstand eine heillose Verwirrung. Die über Bord gegangenen Masten wurden vom Schiff an ihren Tauen nachgeschleift und hemmten dadurch die Fahrt fast vollständig. In diesem Augenblick hätte der »Bouvet« entern und den Kampf vielleicht gewinnen können, aber ein derartiger Versuch wurde von seinem Kommandanten nicht unternommen. Der »Meteor« machte jetzt kaum noch Fahrt, aber Kapitänleutnant Knorr gab deshalb nichts verloren. Er befahl, die Taue zu kappen, und gab der Geschützbedienung Anweisung, nach Möglichkeit auf den Dampfkessel des »Bouvet« zu zielen. Der Schuß krachte und alle sahen gespannt zu dem feindlichen Schiff hinüber. »Er versucht zu entkommen!« murmelte der Kapitänleutnant und stampfte mit dem Fuß auf, »noch eine halbe Stunde, und der Hafen ist erreicht!« Aber da sahen plötzlich alle eine weiße Wolke, die sich rings um das Schiff verbreitete, stärker und stärker anschwoll und endlich den »Bouvet« ganz einhüllte. Es konnte nicht zweifelhaft sein, daß die Maschine getroffen war. »Hurra!« kam es aus hundert Kehlen. »Hurra, das war ein Treffer!« Der »Hernan Cortez«, der sich immer ganz in der Nähe des »Meteor« gehalten hatte, setzte ein Boot aus und wollte mehrere Ärzte sowie Erfrischungen und Verbandmittel an Bord des deutschen Kriegsschiffes bringen, aber Kapitänleutnant Knorr lehnte mit höflichem Dank jede Hilfeleistung ab, einmal um zu zeigen, daß auf seinem Fahrzeug alles in Ordnung sei, zum andern aber auch, um bei der Verfolgung des bewegungsunfähig gewordenen Franzosen keine Zeit zu verlieren. Noch immer war der »Bouvet« in eine weiße Wolke gehüllt, noch immer lag er auf demselben Fleck, aber auch der »Meteor« hatte genug zu tun, um die Schraube von Splittern und Tauwerk zu reinigen und alles zu kappen, was auf beiden Seiten die Fahrt hinderte. Der Kapitänleutnant ging von einer Seite zur andern wie ein Löwe im Käfig. »Wir müssen entern!« wiederholte er, »wir müssen ihn nehmen!« Aber es kam anders. Die Maschine des »Bouvet« war zerstört, das Dampfrohr durchschossen und die Fahrt gehemmt, doch gerade, als die Schraube des »Meteor« wieder voll in Tätigkeit getreten war, hatten die Matrosen des »Bouvet« Segel gesetzt, und nun begann die Flucht nach dem Hafen von Havanna. Mit voller Kraft arbeitete die Maschine des »Meteor«, aber – die Entfernung zwischen beiden Schiffen wurde größer und größer, die Kugeln des Buggeschützes auf dem Kanonenboot konnten den »Bouvet« nicht mehr erreichen, und die Verfolgung mußte aufgegeben werden. Außerdem verkündete ein Schuß vom Bord des »Hernan Cortez«, daß jetzt das Gebiet des Hafens wieder erreicht sei, also mußte nach dem Völkerrecht der Kampf eingestellt werden. Nach einer halben Stunde lagen beide Schiffe wieder friedlich nebeneinander auf ihren alten Plätzen. Robert hatte während dieser ganzen letzten Zeit körperliche und seelische Qualen zu bestehen. Sein Bewußtsein kehrte schon unter den Händen des Arztes zurück, und die Schmerzen, die er ertragen mußte, waren furchtbar, aber mehr noch verlangte er danach, über den Verlauf des Kampfes Genaueres zu hören. Von Zeit zu Zeit kam jemand ins Zwischendeck, und dann fragte der Arzt solange, bis er – und mit ihm Robert – alles gehört hatte. Erst als die Ankerketten durch die Klüsen rasselten und nun auch der Doktor Zeit fand, sein gelehrtes Haupt aus der Decksluke hervorzustrecken, erst dann legte sich Robert auf die Seite, um zu schlafen. Als ihn der Arzt in Begleitung des Kapitäns am Abend noch einmal besuchte, und als der Kommandant lange und freundlich mit dem jungen Freiwilligen gesprochen hatte, da meinte Gerber, aber er behielt es für sich, daß doch der verteufelte, siebenmal übersegelte und von neun Millionen Haifischen gefressene Bursche, der Kroll, ein wahres Glückskind sei. »Um diese Wunde beneide ich ihn«, dachte er, »sie ist eine – hm – na, ich will sie eine Schicksalswunde nennen. Hast du nicht gesehen, wird die Beförderung zum Maaten hinterdreinfliegen, wenn auch der Herr Freiwillige eben erst ausexerziert hatte, als die Geschichte losging.« Und der gemütliche Maat sollte recht behalten. Als Robert mit dem Arm in der Binde, blaß und abgemagert, nach vier Wochen wieder umhergehen konnte, da kam aus Kiel ein Telegramm, in dem Kapitänleutnant Knorr das eiserne Kreuz verliehen wurde, und das außerdem mehreren Leuten eine Beförderung brachte. Robert wurde, wie es Gerber vorausgesehen hatte, richtig zum Maaten ernannt, obgleich der Kapitänleutnant lächelnd dieser Nachricht hinzufügte, wenn die da in Kiel ganz genau wüßten, wie kurz er erst – – Robert erlaubte sich gegen alle Dienstordnung seinen Vorgesetzten zu unterbrechen. »Der ganze Winter wird ja vergehen, bis die Ausbesserungsarbeiten am ›Meteor‹ beendet sein können«, rief er, »so lange bleibe ich einfach noch Matrose und werde erst dann wirklich Bootsmannsmaat, wenn Sie mich für fähig halten, Herr Kapitänleutnant.« Der Kommandant mußte über diese Bescheidenheit lächeln, doch Robert trug von diesem Tag an die Uniform des Maaten, er erhielt höheren Sold, nahm aber nach wie vor als Matrose am Dienst teil und bemühte sich mit doppeltem Eifer, seine beiden Hauptfehler, seinen Trotz und seinen Jähzorn, nach Möglichkeit zu überwinden. Er hatte gelernt, was es heißt, durch Vernunft und Gehorsam aus fünfundsechzig Menschen eine Körperschaft zu machen, die auf den leisesten Wink reagiert und nur ein gemeinsames Ziel kennt. Was wäre aus Schiff und Besatzung geworden, wenn die Befehle des Kapitänleutnants auch nur eine Minute lang nicht befolgt worden wären? Der ›Bouvet‹ würde den ›Meteor‹ gerammt und die ganze Besatzung mit dem Schiff zu den Fischen geschickt haben. Robert erkannte nun klar genug als unbedingte Notwendigkeit, was ihm im Anfang wie eine Mißachtung seiner männlichen Ehre erschienen war, aber trotzdem kamen noch häufig Augenblicke, in denen ihm das Blut heiß ins Gesicht stieg und er seinen Zorn kaum beherrschen konnte. Zu einer gründlichen Erziehung gehört eben viel Zeit, und um mit einer solchen Veranlagung fertig zu werden, braucht man schon einen sehr festen Willen, der erst in Jahren langsam heranreifen kann. Robert war noch längst kein besonnener Mensch, obgleich ihn die Leute mit ›Maat‹ anredeten und er sich Mühe gab, jeden Fehler zu vermeiden. Während des ganzen Winters, als der ›Meteor‹ ausgebessert wurde und also der Dienst beinahe ganz aufgehoben war, bemühte er sich, die spanische Sprache zu lernen, oder er trieb Geographie, Geschichte und andere nützliche Wissenschaften, ebenso schrieb er oft nach Hause und an die Freunde hoch oben in den Bergen der Sierra Nevada. Er konnte sich jetzt kaum noch vorstellen, daß er einmal den Wunsch gehabt hatte, für immer in dem Indianerdorf zu bleiben. Gottlieb hatte sich damals Tinte, Federn und Papier aus Stockton mitbringen lassen, deshalb konnte er jetzt selbst schreiben und den Brief durch einen der vielen umherstreifenden Indianer nach Lenchi befördern lassen, von wo er per Post über San Franzisko und Panama nach Havanna gelangte. »Mir geht es äußerlich gut«, schrieb der junge Goldsucher, »und wenn ich mich nicht so sehr nach den Eltern und nach geordneten Verhältnissen zurücksehnte, dann müßte ich sagen: auch innerlich. Wilde Tiere kommen nicht bis in unser Dorf, das steht fest, die Comanchen skalpieren niemand, der mit ihnen die Friedenspfeife geraucht hat, das weiß ich jetzt auch, denn so ganz allmählich lerne ich die Sprache der Rothäute und frage sie über alles aus. Die Squaws erzählen mir, was ich wissen will. Mongo arbeitet jetzt ständig beim Losbrechen und ich beim Auskörnen, – du solltest mich nur sehen, wie gut ich es habe, Robert. Den Platz vor unserem Wigwam haben die Squaws von Moos und Wurzeln gänzlich reinigen müssen, und Mongo hat ihn mit einer gestampften Lehmschicht so glatt und so fest gemacht, wie den besten Holzfußboden. Darauf wird nun das Gold ausgesucht, und der Lederbeutel ist jetzt schon ganz gefüllt. Meistens lasse ich mich den ganzen Tag über nicht stören, sondern arbeite ununterbrochen, während mir die Squaws alles bringen, was ich brauche, Essen, Trinken und vielleicht einen Schluck Branntwein. Die Rothäute machen es ja ebenso, also weshalb sollte ich es nicht tun? Sie sehen mir auch jetzt, während ich vor einem großen, flachen Stein auf den Knien liege und mühselig schreibe, von weitem zu. Näher heran aber kommen sie nicht, aus Furcht vor dem Zauber. Ist das nicht wirklich komisch? Soviel von mir, und nun zu dir, du lieber, alter Junge, den ich so gern hier bei mir hätte. Also du bist auf einem Kriegsschiff und fühlst dich ganz wohl da, wo es von Gefahren wimmelt. Ich bin wirklich froh, daß ich hier sicher sitze, hoch oben im Gebirge, wo mich kein Einberufungsbefehl erreichen kann, und du – du mußt unbedingt mitten in den Kugelregen hineinlaufen. Tat es nicht entsetzlich weh, als die Wunde genäht wurde? – Denn du mußt wissen, daß wir drei, der Trapper, Mongo und ich, die ganze Geschichte genau kennen. Als der Jaguar im Oktober wieder nach Stockton ritt, hörte er, daß ein französisches Schiff vor dem Hafen von Havanna kreuzte, und nun ruhte er nicht eher, bis es ihm gelang, trotz des langen und mühevollen Weges Ende November noch einmal hinunterzukommen, nur aus heimlicher Sorge um dich, den er seinen ›weißen Bruder‹ nennt und sehr ins Herz geschlossen hat. Er brachte uns beiden, dem Neger und mir, alle Zeitungen mit, in denen das Gefecht beschrieben wurde, auch, daß du dem Kapitän das Leben gerettet hast und selbst verwundet bist. Ich verstehe nicht, wie du dich freiwillig melden konntest. Nur gut, daß ich so weit vom Schuß bin. Aber jetzt leb wohl, Robert. Mein Privatpostbote, ein Indianer, steht da und wartet. Schreib bitte zum März wieder, dann geht der Jaguar nach Stockton. Mit vielen herzlichen Grüßen, dein Gottlieb.« Robert hielt diesen zerknitterten, nicht gerade sauberen und gut duftenden Brief, den der Indianer in seinem Ledergürtel durch die Wildnis bis nach Lenchi befördert hatte, zwischen den Fingern und sah träumend ins Leere. Hatte er wirklich noch vor wenigen Monaten wünschen können, dies Leben, wie es Gottlieb schilderte, auch selbst weiterzuführen? Er konnte es kaum noch glauben. Aber damals war er mit sich selbst uneins und fürchtete sich vor etwas, das ihm noch bevorstand und sich inzwischen so günstig entschieden hatte: die Aussöhnung mit dem Vater. Gottliebs Brief wurde als Andenken an die Zeit in den Bergen der Sierra Nevada sorgfältig aufbewahrt, und als bald darauf die Nachricht vom endlich abgeschlossenen Frieden zugleich mit dem Heimberufungsbefehl für den. »Meteor« in Havanna eintraf, da hatte Robert vorher noch Gelegenheit gehabt, die kleine Insel, auf der er so lange als Einsiedler gelebt hatte, auch bei Tage wiederzusehen. Acht Mann erhielten die Erlaubnis, einen ganzen Tag auf seinen Ausflug zu verwenden, und mit Robert an der Spitze durchzogen die fröhlichen Blaujacken das ganze Eiland, indem sie singend und lachend alle Vögel aus ihrer Ruhe aufscheuchten und dann von der halbverfallenen Hütte feierlich Besitz ergriffen, um auf seinen leeren Weinkisten den mitgebrachten Proviant auszubreiten und ausgiebige Rast zu halten. Am folgenden Tage lichtete der »Meteor« die Anker und dampfte nach Europa, wo er im Hafen von Kiel nach glücklich überstandener Reise eintraf. Robert hatte schon gleich nach Beendigung des Feldzuges darum nachgesucht, seine dreijährige Dienstzeit auf der Flotte ohne Unterbrechung abschließen zu dürfen, und da ihm das bewilligt worden war, so kam er als Bootsmannsmaat auf die Korvette »Gazelle«, die im Sommer 1871 mit Kadetten nach Westindien und Brasilien gehen sollte, auch Gerber wurde diesem Schiff zugeteilt, und nur den Abschied von dem verehrten Kapitän Knorr empfand Robert als sehr schmerzhaft. Er trennte sich von diesem ebenso strengen wie gerechten Vorgesetzten nur äußerst ungern. Als aber der Kapitänleutnant halb scherzend, halb ernsthaft sagte: »Wir treffen uns noch einmal wieder, Kroll, wahrscheinlich, wenn Sie bereits Deckoffizier sind, denn zur Handelsmarine gehen Sie ja doch nicht mehr zurück!« – da lächelte er getröstet. Wie ihn doch dieser Mann richtig erkannte. Wirklich, es wäre jetzt ein harter Entschluß gewesen, den Dienst an Bord eines Kriegsschiffes mit seiner gerechten Behandlung, seiner guten Verpflegung und den interessanten, anregenden Aufgaben wieder gegen ein Handelsschiff zu vertauschen, auf dem doch im Grunde die Willkür des Kapitäns in der Behandlung der Mannschaft den Ausschlag gibt. Aber daran brauchte er vor der Hand nicht zu denken. Noch standen ihm fast anderthalb Dienstjahre bevor, und was dahinter lag, das fand sich später. Erst einmal gab es Urlaub in die Heimat, und an einem frischen, kühlen Aprilmorgen bestieg Robert in Kiel den Zug nach Pinneberg, kam also diesmal aus entgegengesetzter Richtung in das kleine Städtchen zurück. Am Bahnhof stand der Vater, noch in demselben großväterlichen Gehrock, den er vor dreißig Jahren als Bräutigam eigenhändig genäht hatte, noch mit dem riesigen Hut und den Vatermördern von Anno dazumal, die er nur trug, wenn irgendeine besondere Festlichkeit gefeiert werden sollte, – ein Spießbürger durch und durch, aber doch sein Vater, sein lieber, guter Vater, dem er sich in die Arme warf und ihn freudig begrüßte. Und Meister Kroll schaute so stolz drein, er schien allen Leuten, die einst sein schweres Leid gesehen hatten, sagen zu wollen: »Nun ist es aber anders geworden, was?« Und dann, als der erste Rausch verflogen war, drängte er zur Eile. Die Mutter in ihrer altgewohnten Bescheidenheit, befangen in den Vorurteilen des kleinen Städtchens, hatte es ja nicht schicklich gefunden, am hellen Morgen schon im Sonntagsstaat spazieren zu gehen, als gäbe es am Herd und in der Küche gar keine Arbeit mehr, sondern sie war daheim geblieben, kochte und backte und lief, als sie das Pfeifen der Lokomotive hörte, in jeder Minute ans Fenster, um nach den beiden Ausschau zu halten. Wie war das jetzt alles so ganz anders als damals im vorigen Herbst, als Robert nur bis auf den Flur gekommen war und ohne ein versöhnendes Wort wieder fortging – – Die Mutter wischte sich mit dem Schürzenzipfel die Tränen aus den Augen. Als aber nach ein paar Minuten die Erwarteten endlich erschienen, da rollten sie ihr doch über die Wangen herab, und die alte Frau brachte vor Freude kaum ein Wort über die Lippen. Robert durfte jetzt er für längere Zeit ausruhen und konnte mit Recht seinen Urlaub genießen. Und was hatte er nicht alles zu erzählen, wie wurde der schlanke, braune Bootsmannsmaat mit dem zurückhaltenden, sicheren Benehmen in der ganzen Stadt bewundert und überall freudig begrüßt. Er verlebte in dem kleinen, engen Heimatstädtchen wahrhaft glückliche Tage, aber dennoch erwachte in ihm die Sehnsucht nach dem Wasser schon sehr bald wieder, und als der Juni herankam, ging es zurück nach Kiel, um den Dienst auf der ›Gazelle‹ anzutreten. Diesmal begleitete ihn der Vater bis an die Ostsee. »Das Schiff geht für zwei Jahre fort«, meinte er, »und es ist gut, wenn sich der Mensch auf alles vorbereitet. Ich glaube, ich werde dich nicht wiedersehen, mein Junge, ich habe so eine Ahnung, die nicht mehr weichen will.« Robert suchte ihm den trüben Gedanken auszureden, aber der Alte schüttelte den Kopf. »Ich sterbe ja nicht, weil wir davon sprechen«, sagte er lächelnd, »aber ich will dir doch jetzt schon sagen, daß meine Ansichten und Absichten in vieler Beziehung anders geworden sind. Die Mutter behält, solange sie lebt, alles was ich hinterlasse. Nach ihrem Tode aber magst du in Gottes Namen das Haus verkaufen, das Kapital kündigen und dir einen Anteil an einem Schiff dafür sichern. Ich wünsche dir Gutes für diesen Plan und segne ihn von Herzen – das war's, was ich dir als Abschiedsgruß mit auf den Weg geben wollte.« Robert umarmte gerührt seinen treuen, alten Vater. »Ich glaube ja nicht an deinen Tod«, flüsterte er, »im Gegenteil, du hast eine ausdauernde Gesundheit und wirst wie dein Vater und Großvater sicherlich weit über achtzig Jahre werden, aber dennoch möchte ich dich bei dieser Gelegenheit noch etwas fragen. Hast du mir den Schmerz und das Unrecht, das ich dir damals bereitet habe, wirklich von Herzen vergeben?« Meister Kroll lächelte wehmütig. »Mehr noch, mein Junge«, sagte er nach einer Pause. »Auch ich habe eine ernste Lehre erhalten. Meine Sorge um dein Wohl war immer die ehrlichste und aufrichtigste, aber vielleicht –« »O Vater, Vater«, unterbrach ihn Robert, »um Gottes willen, verteidige dich nicht deinem schuldigen Sohn gegenüber.« »Laß mich ausreden, Kind. Ich habe erkannt, daß selbst die reinste Absicht den Menschen irreleiten kann, – ich bin vielleicht aus Vaterliebe oft willkürlich vorgegangen, aber auch mir hat der Schmerz um dich eine Lehre gegeben. Aber ich glaube, Robert, wir haben uns jetzt verstanden und werden uns innerlich nie wieder trennen, wenn wir uns auch vielleicht auf Erden nicht mehr sehen. Versprich mir das.« Fest lagen die Hände des Vaters und des Sohnes ineinander. Erst jetzt, in der Abschiedsstunde, hatten sich diese beiden stolzen und trotzigen Menschen gegenseitig ganz ausgesprochen, und Robert fühlte wohl, was ihm mit diesem Geständnis sein eigensinniger, in so ganz anderen Anschauungen erzogener Vater geschenkt hatte. »Grüß noch viel tausendmal die Mutter«, preßte er hervor, »und denk nicht an den Tod, Vater. Wir sehen uns wieder.« Meister Kroll nickte sehr ernst. »Wir sehen uns wieder«, sagte auch er, »das ist meine feste Zuversicht. Und nun laß es uns kurz machen, mein Junge. Behüt dich Gott auf allen deinen Wegen, und bleib gut, bleib ein braver Mensch!« Noch einmal drückte der alte Mann die Hand des Sohnes. »Leb wohl, mein Kind!« Er wandte sich, um zu verbergen, daß seine Fassung schwankte, er sah auch nicht mehr zurück, sondern ging langsamen Schrittes davon. »Weh tut's doch«, dachte er, »daß das alles so kommen mußte und nicht anders. Ich habe ihm von Herzen vergeben und von Herzen gesegnet, aber Gott weiß, welche Kämpfe es kostete. Glaube doch, ich hätte mich noch im Grabe gefreut, den Jungen als Schneidermeister zu sehen. Aber das wäre wohl zuviel Glück gewesen, – es sollte nicht sein.« Mit der »Gazelle« nach Westindien Mit der »Gazelle« nach Westindien Die Korvette »Gazelle«, auf der Robert jetzt seinen Dienst als Bootsmannsmaat antrat, war ein bedeutend größeres Schiff als das Kanonenboot »Meteor«. Eine Korvette hatte damals auf dem Oberdeck zwei Geschütze schweren, in der Batterie zwanzig mittleren und sechs Geschütze leichten Kalibers. Sie war etwa 60 m lang und 15 m breit und hatte einen Tiefgang von 6 Metern. Die Besatzung bestand aus etwa 380 Mann. Gegen die 65 Leute des »Meteor« war das eine bedeutende Veränderung, und Robert sagte sich, daß dementsprechend auch der Dienst an Bord strenger und die Bedeutung der geplanten Expedition wichtiger sein müsse als die des Kanonenbootes, natürlich abgesehen von dem Gefecht mit dem »Bouvet« auf der Reede von Havanna. Eine Korvette diente damals meist als Stationsschiff in den Häfen halbzivilisierter Völker zum Schutz dort ansässiger deutscher Staatsangehöriger. Da die »Gazelle« gleichzeitig als Schulschiff für Seekadetten Dienst tat, so herrschte an Bord desto größere Ordnung und Disziplin, die Roberts Geduld oft auf harte Proben stellte. Es wurde ihm nicht leicht, aber er gewöhnte sich allmählich daran, und als das Schiff in die Tropen kam, als er jeden Tag Neues und Fremdartiges sah, waren die kleinen Sorgen des Anfangs bald überwunden. Er konnte jetzt wieder mit zehn oder zwanzig Kameraden die Küsten der Inseln durchstreifen und frische Früchte sammeln, hier und da auf die Jagd gehen oder mit den Eingeborenen verhandeln, er lernte in den Städten die Lebensweise fremder Völker aus nächster Nähe kennen und bereicherte nach Möglichkeit seine Sprachkenntnisse. Von seinen Eltern und den Freunden im Hochgebirge der Sierra Nevada erhielt er häufig Briefe, die er alle sorgfältig aufbewahrte. Im Hafen von Haiti erwartete ihn sogar ein kleines Päckchen, und als er es öffnete, war die Freude groß. Eine Photographie hatten sie ihm von Stockton aus geschickt, und keiner fehlte darauf. Da standen sie nebeneinander, der liebe alte Mongo mit seinem schwarzen, ehrlichen Gesicht, der Trapper, auf die lange Büchse gestützt, ernst und ruhig wie immer; ihm zu Füßen die beiden Hunde und im Hintergrund die Indianer, halb scheu, halb neugierig, jedenfalls von dem Gedanken der Zauberei völlig durchdrungen und in diesem Augenblick ihrer Würde so ziemlich beraubt. Und dann erst erkannte er Gottlieb. Robert lachte laut, als er die Veränderung seines schüchternen, schmalen Gesichtes sah. Das Haar bis auf die Schultern herabhängend und mit langem Bart, glich der junge Goldsucher in seinem Lederanzug und den derben Stiefeln einer Art von Urmenschen. Das wußte er auch und sagte es selbst. »Ich will mich dir noch in meiner ganzen Wildnispracht zeigen«, schrieb er, »in einer Gestalt, die ich in wenigen Stunden für immer ablegen werde. Wir sind auf dem Wege nach San Franzisko, wir kehren zu zivilisierten Menschen zurück, als reiche Leute, Robert, aber das ganz im Vertrauen gesagt! – Deshalb, bevor ich den alten Menschen wieder anziehe, nimm noch ein Andenken an die Vergangenheit, in der wir miteinander gelebt haben. Jetzt, da es überstanden ist, möchte ich doch die Erinnerung daran nicht verkaufen! Bei ein paar Krämern bin ich hier in Stockton schon gewesen und habe heimlich das Handwerk gegrüßt. Aber man muß sich ihrer schämen, der Schmutz liegt in den Ecken, man schenkt Branntwein aus, die Leute sitzen auf allen Kisten und Tonnen, man streckt die Beine in lümmelhafter Weise von sich und spuckt, wie es einem Spaß macht, auf den Fußboden. Ich kehre zurück nach Deutschland, Robert, – im Ledergürtel stecken die Wechsel – hurra, nach Deutschland!« Robert konnte sich von dem Anblick des Bildes kaum trennen. Der Jaguar und Mongo und die beiden großen gelehrigen Hunde, – sie weckten in ihm die Erinnerung an viele schöne Tage. Er steckte die Aufnahme zu sich und suchte dann in der nächsten Straße ein Wirtshaus. Es war drückend heiß an diesem Tage. Große schwarze Regenwolken verdeckten die Sonne vollständig, und die Luft lag wie Blei auf der Brust. Kein Windhauch regte sich, die Blätter an den Bäumen hingen schlaff herab, und die Tiere verhielten sich scheu und teilnahmslos. Robert suchte mit noch einigen anderen Matrosen von der ›Gazelle‹ Schutz unter einem großen Leinwandzelt, das einladend mitten in einem Garten lag. Dort wurden Flaschen aufgefahren, deutsche und englische Zeitungen herbeigebracht und nach Herzenslust ›gekneipt‹. Es war heute der letzte Tag an Land, und das mußte noch wahrgenommen werden. Morgen sollte die Korvette wieder in See stechen. Das Bild von Stockton ging von Hand zu Hand. Roberts Abenteuer, von denen er sonst nie viel sprach, wurden bei dieser Gelegenheit lebhaft erörtert, auch die andern frischten so manche Erinnerung an eigene Erlebnisse wieder auf, und es ergab sich eine sehr angeregte Unterhaltung, bei der die jungen Leute ganz übersahen, daß sich der Himmel immer dunkler färbte und einzelne Blitze die Luft zerrissen. Deutsche Lieder wurden gesungen, heitere Scherzworte den Vorübergehenden nachgerufen, sobald sie irgendwie die Neckerei der ausgelassenen Schar herausforderten, und lautes Lachen klang vom Zelt herüber bis zum nahen Hafen, wo die Schiffe aller Nationen friedlich vor Anker lagen. Da erschien plötzlich bleich wie ein Gespenst der Wirt, ein brauner, magerer Spanier, unter dem Eingang des Zeltes und rang jammernd die Hände. »Madre de dios«, stammelte er, seine eigene Sprache und ein schlechtes Englisch bunt durcheinander mischend. »Señores, es kommt, es kommt, – alle vierzehn Nothelfer beschützen uns – flieht, flieht!« Die Matrosen sprangen unwillkürlich von ihren Sitzen auf. »Was kommt?« wiederholten sie. Und einige meinten: »Der Bursche hat den Sonnenstich!« »Betet!« ächzte der Wirt. »Betet! – San Christophoro, Santa Anna, Santa Barbara –« »Der Kerl ist verrückt!« Aber im nächsten Augenblick verstummten alle derartigen Bemerkungen. Ein Wirbelwind, urplötzlich und völlig unvorbereitet für jeden, dem die klimatischen Verhältnisse der Insel fremd waren, ergriff das Zelt, dessen Pfähle wie Streichhölzer zerbrachen und dessen Leinwanddach, gewaltig aufgebauscht, mit donnerartigem Krachen zerplatzte. In weniger als einer Minute lagen sämtliche Männer am Boden, während Tische und Stühle wie lose Blätter vom Sturm entführt wurden. Überall im Garten knickten und krachten die Zweige der Obstbäume, wurden ganze Sträucher mit den Wurzeln aus dem Boden gerissen und die Früchte wie von einem Hagelschauer auf die Erde geschleudert. »Laßt uns ins Haus laufen!« rief Robert und raffte sich auf. »Diese Staubmassen ersticken einen ja förmlich!« Der Wirt, auf seinen Knien liegend, das Gesicht in den Händen verborgen, krümmte sich, als ob er an Krämpfen litte. »Nicht in das Haus! Santissima virgin, – nicht in das Haus!« schrie er. Inzwischen hatte sich die Straße mit Menschen belebt. Überall stürzten Männer und Frauen aus den Türen, schreiend, gestikulierend, die Heiligen anrufend, gänzlich fassungslos wie der Wirt selbst. Hoch in der Luft hörte man ein Sausen und Heulen; es rollte wie ferner Donner. Vor einem Wagen, der gerade in der Nähe stand, scheuten die Pferde, rissen sich los und stürmten, die Verwirrung nur noch steigernd, durch die menschenbelebte Straße. Und dann kam das Erdbeben. Mit hohlem Rauschen stieg vor den Augen der Matrosen, die See von Minute zu Minute höher, die Schiffe rissen an ihren Ankerketten, und dann plötzlich hob und senkte sich die Erde wie eine atmende Menschenbrust. Es war unmöglich, aufrecht zu stehen. Schwindelnd und kaum noch ihrer Sinne mächtig, ließen die deutschen Matrosen das Unvermeidliche über sich ergehen, während ringsum die Südländer in ihrer Lebhaftigkeit durcheinanderschrien oder laut beteten. Nur als Robert, blaß und wie von einem Anfall der Seekrankheit geschüttelt, zufällig den Kopf hob und sah, daß an der Hafenmauer die Boote von den Pfählen gerissen und in das hochgehende Meer hinausgetrieben wurden, raffte er sich gewaltsam auf. »Kameraden, unsere Jolle, – unsere Jolle!« Er versuchte zu gehen, fiel dabei und versuchte es noch einmal, bis endlich das Beben etwas abzunehmen schien und Ruhe eintrat. Bevor jedoch die Matrosen, taumelnd wie Schwerbetrunkene, bis an die Ufertreppen kamen, hatte sich das kleine Fahrzeug bereits losgerissen und wurde von den zischenden, kochenden Wellen wie eine Nußschale herumgeworfen. Robert sprang schnell entschlossen ins Wasser und schwamm mit langen Stößen der Jolle nach. Vergebens riefen vom Ufer die andern, er hörte nicht. Dicht vor ihm, kaum noch erkennbar im letzten Dämmerlicht des sinkenden Tages, schaukelte auf den Wellen das Boot, das ihm anvertraut war und das er erreichen wollte. Sein leidenschaftlicher Eigensinn hatte ihn einmal wieder gänzlich mit sich fortgerissen. Hart unter den Bug eines spanischen Schiffes ging die Jagd. Robert schwamm, so schnell er konnte, alle seine Kräfte waren zurückgekehrt, sein Kopf klar und seine Arme spürten keine Müdigkeit. Die Jolle schien unter dem Fallreep des Spaniers einen Augenblick lang still zu liegen, sie drehte sich und schaukelte, ohne vorwärts zu kommen. Robert streckte schon die Hand aus, um sie zu erfassen. Aber der nächste Windstoß entführte ihm seine Beute. Ein anderes kleines Boot schoß unmittelbar neben ihm durch das Wasser, dessen grünschillernde Oberfläche sich allmählich zu beruhigen begann. Ein einzelner Mann ruderte das Fahrzeug, das Robert sofort anrief. »Bringt mich an Bord der Korvette ›Gazelle‹, Kamerad«, bat er in englischer Sprache. »Ich bezahle Euch die Mühe.« Der Fremde antwortete nicht, aber er duldete, daß Robert in sein Boot kletterte, und nahm dann seine Rudertätigkeit wieder auf, offenbar, um aus dem Hafen herauszukommen. Robert war außerstande, in der Dunkelheit das Gesicht seines Begleiters zu erkennen, aber er glaubte mißverstanden zu sein und wiederholte in spanischer Sprache seine Bitte, ihn an Bord der »Gazelle« zu bringen. Der andere hielt nur um so stärker und eiliger aus dem Hafen heraus; jetzt blieben die letzten Schiffe hinter dem kleinen Fahrzeug zurück, und das offene Meer, schwarz wie Tinte, war erreicht. Der Ruderer arbeitete unter Aufbietung aller seiner Kräfte, während Robert, endlich von bestimmtem Verdacht er füllt, aufsprang und ihm die geballten Fäuste dicht vor das Gesicht hielt. »Schurke!« rief er, »willst du nicht hören?« Eine tiefe Stimme antwortete ihm. »Hab' ich dich?« klang es mit teuflischem Frohlocken. »Jetzt kommst du nicht lebend davon!« Wie ein Blitz durchzuckte es Robert. Sein scharfes Gedächtnis erkannte sofort die Stimme, obwohl er sie vor Jahren zuletzt gehört hatte. »Rafaele!« rief er, »Ihr seid es!« »Ich bin es«, wiederholte der Flibustier. »Stirb, Verräter!« Und ehe sich Robert zur Wehr setzen konnte, hatte er ihn um den Leib gefaßt und versuchte jetzt, ihn über Bord zu werfen, was allerdings bei der Körperkraft und Gewandtheit des jungen Seemanns keine leichte Sache war und auch nur soweit gelang, als beide Gegner, unfähig, auf dem schwankenden Boden des Fahrzeuges sicher zu stehen, eng miteinander verschlungen ins Wasser stürzten und im Augenblick von den Wellen verschlungen wurden. Schon nach einigen Augenblicken tauchten jedoch die Köpfe wieder empor. Beide Männer waren mit der Gefahr, die sie umgab, viel zu vertraut, als daß sie nicht versuchten, sich sofort in Sicherheit zu bringen. Ein Ringkampf im Wasser mußte für beide den Tod zur Folge haben. Robert behielt seinen Gegner fest im Auge. »Rafaele«, sagte er, »Ihr habt jetzt kein Kind mehr vor Euch, sondern einen Mann, der entschlossen ist, sein Leben so teuer wie möglich zu verkaufen. Weshalb bezeichnet Ihr mich als Verräter? Ich habe Euer Geheimnis bis zu dieser Stunde mit keinem Menschen geteilt, darauf mein Wort.« Der Flibustier lachte. »Aber Ihr könntet es schon morgen tun«, erwiderte er. »Solange Ihr atmet, bin ich in Gefahr.« Und während er sprach, versuchte er mit einem schweren Faustschlag Roberts Kopf zu treffen. Der wich ihm aber geschickt aus, und im nächsten Augenblick schrillte der Ton der Signalpfeife langhallend über das Wasser. »Hier!« schrie aus ziemlicher Entfernung Gerbers Baßstimme, und zugleich gab seine Pfeife Antwort, »hier! Junge, wo steckst du denn?« Der Flibustier fiel mit der Kraft der äußersten Verzweiflung über seinen Gegner her. Er wußte jetzt, daß er keine Zeit mehr zu verlieren hatte und daß es ihm schlecht gehen würde, wenn ihn die Leute von der »Gazelle« einfingen. »Kroll! Kroll!« rief es vom Boot her. Nochmals gelang es Robert, das Signal zu wiederholen, dann aber hatte der Räuber Gelegenheit gefunden, mit einem schweren Schlüssel, den er in der Tasche trug, die Schläfe seines Gegners zu treffen und ihn dadurch im Augenblick zu betäuben. Ehe Robert einen Schrei ausstoßen oder einen Entschluß fassen konnte, hob ihn eine heranrauschende Welle auf und entführte seinen anscheinend leblosen Körper aus dem Gesichtskreis des Räubers, dem jedoch dieser Sieg von keinem besonderen Nutzen sein sollte, da gerade jetzt das von der Korvette ausgesandte Boot mit schnellen Ruderschlägen herankam. »Hallo, Kroll!« rief Gerber, »gib Antwort!« Der Räuber schwamm, so schnell er konnte, dem offenen Meere zu. Vor allen Dingen durften ihn die deutschen Seeleute nicht sehen. Einen Fluch nach dem andern murmelnd entzog er sich ihren Blicken, wobei er jedoch vom Hafen zunächst ganz abgeschnitten wurde. Er sah, daß die Matrosen im Boot nach allen Seiten Ausschau hielten. »Das ist eine fremde Jolle«, hörte er Gerbers Stimme sagen, ohne natürlich den Sinn der Worte mehr als nur erraten zu können. »Der Kroll muß ertrunken sein.« »Das ist doch unmöglich«, meinte ein anderer. »Jedes Kind könnte bei solchem bißchen Wind den Hafen wieder erreichen. Es war ja nur eine Mütze voll.« »Ganz gleich, aber wo ist denn der Kroll geblieben?« »Dort! Dort!« rief plötzlich einer der Matrosen. »Ich sah seinen Kopf.« Man steuerte der bezeichneten Stelle zu, aber die meisten der Leute glaubten doch, daß sich ihr Kamerad geirrt haben müsse. »Weshalb sollte denn Robert nicht antworten?« fragten sie. »Nun, wißt ihr denn, ob er überhaupt noch lebt?« »Wäre er tot, so könnte der Körper nicht treiben.« Das war richtig, man ruderte also schweigend mit aller Kraft der angegebenen Richtung nach. Der Kutter durchschnitt, von zwölf Paar kräftigen Armen getrieben, in rascher Fahrt die Flut. Manchmal glaubten die Matrosen mit Sicherheit einen schwimmenden Menschen zu sehen, aber im nächsten Augenblick war die Erscheinung verschwunden. Schon machte sich unter den Leuten eine abergläubische Furcht bemerkbar. »Vielleicht ist es der Klabautermann«, sagte einer, »er lockt uns mitten in der Nacht auf das offene Meer hinaus, und keiner von uns sieht lebend das Schiff wieder.« Gerber setzte die Signalpfeife an den Mund. Lang anhaltend rollte der Ton über das Wasser, – dann horchten alle. Es erfolgte keine Antwort. Aber wenn man auch mit dem Ohr nichts wahrnehmen konnte, so war doch das, was man sah, desto beängstigender. Ein Streif wie das Kielwasser eines schnell dahingleitenden Bootes zog sich durch das Wasser, grünlich glänzend, schaumbedeckt und in Kreisen verrinnend, – eine Flosse wie ein Dreizack hob sich aus den Wellen. Und dort, – dort, wieder das Gesicht von vorhin, jetzt in wilder, verzweifelter Flucht, – Arme, die das Wasser teilten, ein Kampf zwischen Mensch und Raubtier, ein Peitschen und Schlagen, dann ein gräßlicher Schrei, ein Knirschen wie von einer Säge – Konnte es Robert sein? – Weshalb sollte er nicht geantwortet haben? Die Matrosen sahen sich um, schreckensstarr, mit bleichen Gesichtern. Nichts vom Hafen, nichts von der Korvette, – nur dunkle, tiefschwarze Nacht ringsum. »Der Klabautermann!« flüsterten sie. »Gott stehe uns bei.« Einer tauchte die Hand in das Wasser, und als der Schein eines Streichholzes die herabfallenden Tropfen beleuchtete, da war es rot von Blut. Was hätte es jetzt noch genützt, weiter nachzuforschen? Ob Robert, ob ein anderer, – den dort der Hai angegriffen hatte, der brauchte keines Menschen Hilfe mehr. Aber geheimnisvoll war das ganze Abenteuer. Ein herrenloses Boot, ein schweigender Mann, der hinausflüchtete auf das Meer, warum, wußte niemand zu sagen, – die tiefe, nächtliche Stille, die Erinnerung an das kaum überstandene Erdbeben, alles das wirkte unheimlich und beklemmend auf die Herzen der Männer. Schweigend, ohne ein Wort zu sprechen, suchten sie den Rückweg. Allmählich traten die Lichter am Strande, die dunklen Umrisse der Schiffe und das Geräusch der Stadt wieder deutlicher hervor, und Gerber, als der Führer des Bootes, begann sich zu orientieren. »Mehr Steuerbord«, wies er den Mann am Ruder an, »ich weiß, daß wir das Schwimmfloß dort passiert haben, – es war die Stelle, an der wir das Signal hörten. Armer Kerl! Ein so guter Kamerad!« Und Gerber schwieg, weil er fürchtete, daß weitere Worte nicht mehr ganz sicher klingen würden. Die Matrosen ruderten so schnell wie möglich, um dem Abenteuer ein Ende zu machen. Das Schwimmfloß war jetzt fast erreicht, die breite Wasserstraße zwischen der Doppelreihe der Schiffe öffnete sich vor ihnen, da – erklang plötzlich aus derselben Richtung wie vorhin die Signalpfeife, nur schwächer, matter als sonst. Auf den Köpfen der Matrosen sträubten sich die Haare. Sie hielten wie auf Verabredung mit Rudern ein und wagten kaum zu atmen. Dort, wo Robert zuletzt gelebt und die Kameraden zur Hilfe gerufen hatte, dort hielt sie jetzt der Klabautermann zum besten. Gerber war der einzige, der sich aufzuraffen vermochte. Schweißtropfen perlten auf seiner Stirn, die antwortenden Klänge seiner Signalpfeife zitterten wider Willen, aber dennoch bewahrte der gemütliche Maat seine ganze Würde. »Vorwärts!« befahl er. »Wer sich weigert, mir zu gehorchen, wird dem Kommandanten gemeldet.« Das half. Einige Mutige rissen die anderen mit sich fort, das Boot wurde wieder flott und kam dem Schwimmfloß näher. Im Dunkel erkannte man in halbliegender Stellung eine menschliche Gestalt. Ein Arm streckte sich dem Boot entgegen. »Jungens!« sagte eine schwache Stimme, »seid ihr es?« Gerber räusperte sich zweimal, bevor er sprechen konnte. Dann trat er hart an den Bootsrand. »Im Namen Gottes, sag, wer du bist!« rief er. »Gerber!« kam es zurück. »Ach, Gott sei Dank, daß ihr da seid. Nehmt mich auf, ich glaube, der Schurke hat mir den Kopf zerschlagen.« Jetzt erkannten alle, daß sie den totgeglaubten Kameraden lebend vor sich hatten, und jeder wollte der erste sein, der vor sich selbst und den andern die abergläubische Furcht von vorhin zu leugnen suchte. Robert wurde von allen Seiten mit Fragen bestürmt. Er konnte sich kaum mit Hilfe der anderen bewegen. Ihn schwindelte, und der Kopf schmerzte zum Zerspringen. Nur in Bruchstücken erfuhren die Matrosen, was geschehen war. Rafaele hatte, als er Robert umbringen wollte, auf eine so entsetzliche Weise den eigenen Tod gefunden; der Mörder, dem nichts heilig war, hatte sich widerstandslos durch das grobe, physische Recht des Stärkeren besiegen lassen müssen. Als das Boot zur Korvette zurückgekehrt war, wurde Robert sofort ins Lazarett gebracht und konnte erst nach mehreren Tagen alle Einzelheiten der ganzen Sache zu Protokoll geben, wobei ihm die Aussagen sämtlicher Bootsgasten ergänzend zu Hilfe kamen. Der Kapitän hielt sich jedoch nicht für berufen, nach dem Tode Rafaeles noch den kubanischen Behörden eine Mitteilung zu machen. Robert freute sich darüber sehr, weil doch sonst sein einstiger Wohltäter, der Koch, mit den andern hätte büßen müssen. Wie er von den Wellen auf das Schwimmfloß geschleudert worden war, erinnerte er sich später nicht mehr, und auch die Jolle blieb verschwunden, – nur dem Bild Gottliebs und der Indianer war nichts geschehen, da es bei dem plötzlichen Erscheinen des Wirtes auf dem Tisch gelegen hatte und nachher von den Matrosen mitgenommen worden war. Robert aber dankte dem Himmel, in allem so gut davongekommen zu sein. Von der Westindien-Fahrt der ›Gazelle‹ kam er im Jahre 1872 nach Deutschland zurück, machte mit demselben Schiff noch eine zweite Reise und ging dann, nachdem seine Dienstzeit abgelaufen war, freiwillig auf die ›Arkona‹, bis es im Frühjahr 1874 bekannt wurde, daß die ›Gazelle‹ eine wissenschaftliche Reise um die Erde antreten werde. Robert bewarb sich darauf hin sofort um die Erlaubnis, diese Fahrt mitmachen zu dürfen, und als er sie erhalten hatte, nahm er Urlaub, um vorher noch einmal sein Heimatstädtchen zu besuchen. Schon im Jahre 1872 hatte er die längsterwartete Nachricht vom Tode seines Vaters erhalten, und das Wiedersehen mit der alten Mutter war daher sehr ernst und wehmütig, besonders, da er die stille Hoffnung der alten Frau, daß ihn der Besitz des väterlichen Vermögens bewegen könne, an Land zu bleiben, – doch trotz aller Liebe nochmals enttäuschen mußte. Er fand die Mutter immer noch gesund, im übrigen aber auch seinen Freund Gottlieb als wohlhabenden Hausbesitzer und Krämer, mit grüner Schürze und roten Fäusten, mit dem gleichen bescheidenen Wesen und in dem Laden, den er sich genau nach dem Muster des abgebrannten Häuschens wieder aufgebaut hatte. Eine niedrige Decke, ein enges Arbeitszimmerchen, ein sicherer Hofraum und zwei mächtige Eisenstangen, mit denen er in dem harmlosen Pinneberg allnächtlich die Haustür versperrte, – das war Gottliebs Paradies. Der junge Kaufmann führte seinen Freund in das kleine Hinterzimmer und holte aus dem Keller eine Flasche Wein herauf. »Ich kann wirklich nicht klagen«, schmunzelte er. »So kleine zehntausend Mark sind in guten Hypotheken angelegt, und das Haus ist schuldenfrei, alles was du siehst, bar bezahlt. Die Goldkörner, die mir meine Squaws aus dem Quarz herausklauben mußten, haben gut vorgehalten.« Robert gratulierte lachend und fragte dann nach Mongos Schicksal. »Dem geht es gut!« erwiderte Gottlieb. »Er hat für seinen Anteil unseres Verdienstes in New York eine kleine Schenke gekauft und kann nun auch seinem Sohn die Steuermannslaufbahn ermöglichen. Als wir uns trennten, wünschte er vom Leben nur noch, daß es euch beide einmal wieder zusammenführen möchte.« Robert hob das Glas, um mit Gottlieb anzustoßen. »Auf die Verwirklichung dieses Wunsches«, sagte er. »Und darauf, daß jeder von uns sein Ziel erreicht, so verschieden es auch sein mag.« Der junge Kaufmann erhob sich. »Wart einen Augenblick!« bat er, »ich möchte dazu erst meine Eltern herbeiholen.« Und dann brachte er die beiden alten Leute und legte die Hand seines blinden Vaters in die des Freundes. »Das ist Robert«, sagte er mit etwas unsicherer Stimme, »der, dem wir alles verdanken, der mich unter Gefahr seines eigenen Lebens gerettet hat und –« »Als der Schafbock in der Nähe war!« raunte ihm Robert ins Ohr, um das beabsichtigte Kompliment zu unterbrechen und keine Rührung aufkommen zu lassen. »Du irrst dich übrigens, es war Mongo, der sich dem reißenden Tier tollkühn in den Weg warf.« Da war es denn aus mit dem Ernst; man lachte und neckte unbarmherzig den jungen Hausherrn, der so wunderbar Fersengeld gegeben hatte, als ihm das Horn des Moufflons durch die Büsche entgegenschimmerte. Um aber gerecht zu bleiben, erzählte Robert außerdem auch die Geschichte, als Gottlieb durch seine Geistesgegenwart auf der Insel in der Magelhaensstraße die ganze Schiffsmannschaft vor dem Verderben bewahrt hatte, eine Tatsache, die der bescheidene, junge Mensch eben um ihrer Wahrhaftigkeit willen nie erwähnt hatte, obgleich er andererseits den schaudernden Kunden im Laden die unglaublichsten Geschichten vorfabelte und sich Gefahren andichtete, die er niemals bestanden hatte und die, aus der Nähe besehen, doch sehr merkwürdig anmuteten. Robert trennte sich von ihm und der Heimat über haupt in dem Bewußtsein, glückliche und geordnete Verhältnisse zurückzulassen, besonders als ihm Gottlieb zum Schluß noch anvertraut hatte, daß er bei der diesjährigen Einberufung zunächst zur Ersatzreserve überschrieben worden sei. »Seit ich das wußte, habe ich mir noch eine Versicherungsagentur zugelegt und will außerdem eine Wirtschaft eröffnen.« Robert wünschte ihm von Herzen alles mögliche Gute, aber er begriff doch noch weniger als sonst, wie etwas so Enges und Begrenztes ein Menschenleben ausfüllen konnte. »Und du möchtest nicht noch mehr von der Welt sehen?« fragte er. »Behüte mich Gott!« rief der junge Kaufmann schaudernd. »Ich bin mit dem zufrieden, was ich hier habe. Sich Gefahren aussetzen, nur durch ein paar Bretter von der Tiefe des Meeres getrennt sein und so seine Tage hinbringen, heißt in jeder Stunde Spießruten laufen!« Robert geriet immer mehr in Eifer. »Aber tausend neue Schönheiten sehen, immer lernen, immer mehr erkennen und seinen Gesichtskreis erweitern; ist das denn nicht der Mühe wert?« rief er. Gottlieb nickte. »Du hast schon recht! Aber dann lese ich lieber zu Hause die Schilderungen solcher Reisen und lasse mir auf diese Weise neue Erkenntnisse vermitteln. Das macht die Sache angenehmer und billiger.« Jetzt lachte Robert. »Du Erzphilister«, sagte er, »du eingefleischter Spießbürger. Wir wollen uns nicht länger streiten, es kommt dabei nichts heraus, weil wir eben Gegensätze bilden. Aber etwas anderes gibt es noch, wobei wir uns hoffentlich besser verstehen. Gottlieb, wenn du wirklich glaubst, mir einigen Dank schuldig zu sein, – willst du ihn abtragen an meiner Mutter? Darf ich dich bitten, ab und zu nach ihr zu sehen und ihr beizustehen, wenn es notwendig sein sollte?« Der junge Kaufmann ergriff die Hand seines Freundes und schüttelte sie herzlich. »Verlaß dich auf mich!« sagte er fest. Robert gab gerührt den Händedruck zurück. Als er sich von Gottlieb verabschiedete, wußte er, daß die alte Mutter immer einen Halt und einen treuen Helfer in ihm finden werde. Die Trennung von ihr selbst wurde schwer, sie war für beide ein schmerzvoller Augenblick, und nur das feste Gottvertrauen der alten Frau half ihr über die abermalige Enttäuschung hinweg, während Robert bereits das neue Ziel vor Augen hatte und dadurch den Abschied leichter verschmerzte. Um die Erde Um die Erde Am 21. Juni verließ die ›Gazelle‹ den Hafen von Kiel, um zunächst mehrere Wissenschaftler zu astronomischen Beobachtungen nach der Kergueleninsel im südlichen Eismeer zu bringen. Der eigentliche Zweck der Reise lag jedoch in der Erforschung des Meeresbodens und der Erkundung sicherer und kürzerer Seewege. Die Engländer hatten nacheinander mehrere Schiffe ausgeschickt, hatten bedeutende Entdeckungen gemacht und mit ihren Schleppnetzen in einer Tiefe von 500 Meter das Meer erkundet, – weshalb sollte man es also nicht auch von Deutschland aus versuchen. Die Reichsregierung ließ die Korvette ›Gazelle‹ für diese Aufgabe ausrüsten, das Schiff ging in See, und schon in den ersten Tagen des Monats Juli wurden Tiefenmessungen vorgenommen, die auf der Höhe von Madeira das Resultat von 4800 Meter ergaben. Robert hatte sich ein kleines, verschließbares Buch angeschafft, in das er jeden Tag die Erlebnisse dieser interessanten Reise niederschreiben wollte. Er war sehr glücklich darüber, diese Fahrt der ›Gazelle‹ mitmachen zu dürfen, die ihm kein Handelsschiff, aber auch kein anderes Kriegsschiff jemals bieten konnte. Handelsschiffe fahren nur um des materiellen Nutzens willen, sie müssen vor allen Dingen Zeit sparen, daher wählen sie die bekanntesten Verkehrswege, umgehen alle Gefahren und vermeiden jeden Aufenthalt, der nur dem Reeder Geld kostet, ohne irgendwelchen Gewinn zu bringen. Robert wußte zum Beispiel, wie ungern die Handelsschiffkapitäne loten, und daß sie, sobald das Schiff etwa hundert Faden Tiefe unter dem Kiel hat, sofort alle weiteren Versuche aufgeben, also den Grund des Meeres nur in sehr seltenen Fällen kennenlernen können. Um so interessanter waren ihm daher jetzt die Tiefenmessungen, die in bestimmten Zwischenräumen von Zeit zu Zeit wiederholt wurden. In Funchal, der Hauptstadt von Madeira, lag das Schiff nur zwei Tage vor Anker, Robert konnte daher von der Insel nur wenig kennenlernen, desto mehr aber war er jetzt auf den Pik von Teneriffa gespannt, der einige Tage später in Sicht kam, obgleich die Insel selbst nicht angelaufen wurde. Dieser Vulkan, dessen Spitze schon in einer Entfernung von zwanzig Meilen aus dem Meer aufsteigt, war von großartiger, überwältigender Schönheit, und Robert bedauerte lebhaft, nicht zeichnen zu können, um den Eindruck dieses Bildes, so wie es sich ihm bot, für sich festzuhalten. Um den Fuß des Berges zog sich ein üppiger Pflanzenwuchs, der jedoch stufenweise nach oben hin immer dürftiger wurde, bis endlich unterhalb des kegelförmigen Gipfels das Ganze in eintöniges Grau überging. Hier bestand der Berg nur noch aus vulkanischer Asche, Bimsstein und Lava. Auf dem höchsten Gipfel schimmerte es von den letzten Überresten des kaum geschmolzenen Winterschnees, und aus mehreren Spalten drang ständig dichter Rauch hervor. Robert hatte noch keinen Vulkan gesehen, er wäre deshalb am liebsten an Land gegangen und hätte den Berg näher erforscht. Den Dienst an Bord kannte er jetzt genau, und an die strenge Disziplin hatte er sich gewöhnt. Der junge Bootsmannsmaat war bei seinen Matrosen beliebt, von den Vorgesetzten geachtet und durch die Erbschaft seines Vaters ein unabhängiger Mensch, – unter solchen Voraussetzungen wurde diese Reise für ihn wirklich ein großes und schönes Erlebnis. Er hatte jetzt erkannt, wie notwendig es ist, sich an Bord eines Schiffes der Gemeinschaft unterzuordnen. Was er in seinem jungenhaften Übermut nicht einsehen wollte, das hatte er nun gelernt: nicht darauf kam es an, den eigenen Trotz und Willen durchzusetzen, sondern sich zu beherrschen und durch Vernunft und Gehorsam dem Wohl des Ganzen zu dienen. Langsam, wie er aufgetaucht war, versank der Pik von Teneriffa im Meer, und wieder umgab die endlose See das Schiff. Dann aber kam São Thiago in Sicht, und bei Praia warf die Korvette Anker, um Kohlen zu übernehmen. Robert ging auch diesmal an Land, aber der Vergleich mit Madeira, dem schönen, blühenden Madeira, fiel für die Insel Sao Thiago nicht gerade vorteilhaft aus. Das ganze Land bestand aus wildzerrissenen und zerklüfteten rötlichbraunen Felszacken, die nur an sehr vereinzelten Stellen mit einem spärlichen, unschönen Pflanzenwuchs bedeckt waren. Robert hörte, daß es hier nur zwei oder dreimal im Jahre regne. Da konnte natürlich kein Pflanzenwuchs gedeihen. Er sah aber auch nichts, das auf Ackerbau oder Tierzucht hingedeutet hätte. Die Bedeutung des Hafen beruhte allein auf der Kohlenstation, um derentwillen vorüberfahrende Schiffe die Insel überhaupt nur anlaufen. Nachdem die »Gazelle« ihren Vorrat übernommen hatte, verließ sie schon am 29. Juli, also nach zwei Tagen, den Hafen, um dafür die Negerrepublik Liberia zu besuchen. Robert sollte jetzt auch Afrika kennenlernen, Mongos Vaterland, von dessen tropischer Schönheit ihm der Alte so viel erzählt hatte und das deshalb immer schon das Ziel seiner Wünsche gewesen war. Das Königreich Dahomey mit den Ankerplätzen Palma und Lagos, lag östlicher als Liberia, das wußte er, aber es war ja dasselbe Land und mußte demnach ganz ähnlich beschaffen sein. Er freute sich schon auf den Brief, den er dem Alten aus seiner Heimat nach New York schreiben wollte. Konnte auch Mongo vielleicht nicht lesen, so gab es doch Leute genug, die ihm den Inhalt des Schreibens auseinandersetzen würden, und Robert sah schon im Geist den Neger schmunzeln: »Dieser junge Spitzbube!« Weiter und weiter verfolgte die »Gazelle« ihren Kurs. Jetzt mußte Robert wieder einmal die glühende Hitze des tropischen Sommers ertragen; schlaff hingen alle Segel herab, das Deck flimmerte im Sonnenschein, der Dienst wurde auf ein Mindestmaß beschränkt und den Leuten nach Möglichkeit mehr Freiheiten gestattet. Nach sechs Tagen kam die afrikanische Küste in Sicht. Vom Kap Mesurado wehte die Flagge der Negerrepublik und dann, am 4. August, erschien der Lotse. Diejenigen unter den Matrosen, die bisher noch nicht in Afrika gewesen waren und daher auch die Landessitten noch nicht kannten, wandten sich ab, um ihre Heiterkeit zu verbergen. Der Afrikaner erschien nämlich nur mit einem Lendenschurz aus Baumwollstoff bekleidet, und weil daran selbstverständlich keine Taschen angebracht waren, so trug er das Lotsenpatent in einer Blechkapsel am Hals. Seine guten Navigationskenntnisse ließen jedoch den schwankenden Respekt der Matrosen sehr bald zurückkehren, und am 5. August konnte die »Gazelle« an der Mündung des St. Paulsflusses vor Anker gehen. Wie ganz anders, wie urweltlich und ursprünglich, von Technik und Zivilisation vollständig unberührt, erschien dieses Land. Die Stadt selbst war nur ein Dorf mit ungepflasterten, unbeleuchteten Straßen, der Hafen klein und nichts weiter als eine natürliche, zum Ankern günstige Bucht, der St. Paulsfluß endlich brach unmittelbar aus dem Urwald hervor und mündete, ohne daß die Ufer befestigt oder durch eine Brücke verbunden waren, ins Meer. Überhaupt begann unmittelbar hinter den letzten Häusern der bescheidenen, dörflichen Stadt die Wildnis, so daß man mit Rücksicht auf die Gefahren, die ein Eindringen in den Urwald mit sich brachte, von einem eigentlichen Erkundungszug ganz absehen mußte, jedenfalls auf dem Land. Die Dampfpinasse der Korvette dagegen machte schon am nächsten Tage eine Fahrt auf dem St. Paulsfluß, und selbstverständlich war Robert auch hier wieder der erste, der ins Boot sprang, ohne ein Kommando abzuwarten. Der erste Offizier kannte ihn ja und wußte, daß er an solchen Streifzügen Freude hatte, während viele andere, darunter besonders Gerber, glücklicher waren, wenn ihnen unnötige Strapazen erspart blieben. Diese übrigens nur kurze Fahrt durch den Urwald gehörte später zu Roberts schönsten Erinnerungen, und auch Doktor Hüsker, der Zoologe, der als Wissenschaftler an der Reise teilnahm, erfreute sich einer reichen Ausbeute wunderschöner Schmetterlinge und verschiedener, auf der Oberfläche des Wassers lebender Insekten, besonders Spinnen und Käfer, die hier in vielen Arten vorkamen. Der Fluß war zu breit, als daß man von seiner Mitte aus beide Ufer gleichzeitig beobachten konnte; die Pinasse hielt sich daher auf einer Seite, aber auch hier gab es genug Interessantes und Schönes zu sehen. Ein Stück von der Stadt entfernt lagen ab und zu unter Palmen die leichtgebauten Hütten der Neger, während im Freien dicht davor jedesmal aus großen Steinen ein Herd errichtet war und über einem Holzfeuer der Eisenkessel mit Palmenkernen brodelte. Die Bereitung des Palmöls ist fast das einzige, was an Arbeit von der schwarzen Bevölkerung geleistet wird und womit sie sich etwas Geld verdient. In diesen Breiten wächst beinahe alles, was die Menschen brauchen, wild im Urwald. Was sollte also die Schwarzen bewegen, zu arbeiten? Es gibt am Äquator keinen Frost, keinen Winter, man braucht keine schützenden Wände und keine wärmenden Kleider, man kennt keinen Luxus, also wozu die Mühe, die Sorge? Blühende Mimosen und Akazien, ein Gewirr von Schlingpflanzen mit wunderschönen, glockenförmigen oder langgestielten lilienartigen Blüten, schlanke Palmen, Bananen-, Brot- und Parabäume säumten das Ufer, das sich einmal steil aus dem Wasser erhob, dann wieder flach und von grünem Moos überzogen den Fluß begrenzte. Robert sah Nashornvögel und manchmal eine träge im Sonnenschein daliegende zusammengerollte Schlange, aber ein größeres Raubtier war ihm noch nicht zu Gesicht gekommen. Hätte er doch an Land gehen und mit einigen Kameraden das Jagdglück versuchen dürfen! Aber daran war nicht zu denken. Noch am selben Tage sollte die Korvette wieder in See gehen, also wäre jede etwaige Verzögerung streng bestraft worden, – Robert schlug sich schweren Herzens die Sache ganz aus dem Kopf. Immer schöner und blühender wurde das Ufer. Dichte Laubwände, undurchdringlich wie feste Mauern aus Blättern und Blüten, traten bis dicht an das Wasser heran. Sie strömten einen berauschenden Duft aus, der Wind fächelte leise, und fast betäubend drückte die Hitze. Roberts Gewehr kam nicht aus der Hand, sollte es denn nichts, gar nichts zu schießen geben? Aber dort! – Ein Schatten glitt über das Moos, die Ranken brachen und zitterten, ein Paar glühende Augen spähte aus dem Gebüsch hervor. Robert fuhr auf. Mit einer Handbewegung verständigte er die andern. »Ein Leopard! – Ein Leopard!« Und jetzt zeigte sich das Tier in ganzer Größe auf der Lichtung. Mit glühenden Lichtern und wild gesträubtem Haar, den schön gefleckten, schlanken Körper gekrümmt und leise mit dem langen Schweif peitschend, stand der Leopard am Wasser und hielt die Augen fest auf das Schiff geheftet. Offenbar ahnte er nichts von der Gefahr, die ihm drohte. Die Pinasse stoppte ihre Fahrt, – langsam hob Robert die Büchse und legte an. »Jetzt! Jetzt!« flüsterte Doktor Hüsker. Der Schuß krachte, und sich überschlagend stürzte das Raubtier tödlich getroffen auf den Sand. Ganz nahe am Wasser zuckte der Körper, noch einmal schlugen die Läufe um sich, dann dehnte sich das Tier, verlor dabei seinen letzten Halt und stürzte in den Fluß, daß die Wellen über ihm zusammenschlugen. Noch sekundenlang regte sich der Körper. Ebenso schnell aber war er von der Pinasse aus mit einer bereitgehaltenen Schlinge eingefangen. Noch drei oder vier Minuten vorsichtiger Arbeit, dann lag die Jagdbeute auf dem Verdeck, und Blut und Wasser liefen aus den Speigatten heraus. Robert wurde von allen Seiten beglückwünscht und einstimmig als Besitzer des schönen Felles anerkannt. Doktor Hüsker verstand es, das Abziehen sachgemäß zu leiten und später das Zubereiten und Trocknen selbst zu besorgen, – Robert durfte also mit Recht hoffen, der Mutter daheim in Pinneberg für die kalten Winterabende eine warme, weiche Decke schicken zu können, und darüber freute er sich von Herzen. Er dankte bescheiden, als ihm das Leopardenfell zugesprochen wurde, aber er war traurig, als man die Pinasse wendete. Es ging zurück zum Schiff, von dem aus der Kapitän, Freiherr von Schleinitz, inzwischen dem deutschen Konsul, Herrn Brohme, und dem Präsidenten Roberts einen Besuch gemacht hatte. Das Fell des Leoparden wurde allgemein bewundert und von der Mannschaft, besonders von den Kadetten, mit liebäugelnden Blicken betrachtet, aber Robert bewahrte sein Eigentumsrecht, schon um ein Andenken dieses Tages mit nach Deutschland zu bringen. Am Abend ging es weiter, diesmal nach Ascension, einer kleinen, mitten im Atlantik gelegenen einsamen Insel, die nur angelaufen wurde, um überall auf dem Wege dorthin zu loten und Tiefe und Beschaffenheit des Meeresgrundes möglichst genau festzustellen. Die Fahrt verlief auch diesmal glücklich. Ohne Zwischenfall wurde die kleine Himmelfahrtsinsel erreicht, auf der Robert wieder einmal Berge bestieg, die allerdings wenig bedeutend und nicht gerade interessant waren. Am Strande wurden ein paar riesenhafte Schildkröten als willkommene Zugabe für den Tisch der Mannschaft erlegt, weiter bot das Eiland nicht Bemerkenswertes. Im Meer aber entdeckte man nördlich von Ascension bei einer Tiefe von 3300 und 3000 Meter zwei verschiedene unterseeische Gebirge von 700 und 1000 Meter Höhe, – eine sehr interessante Beobachtung, die für die Wissenschaft von großer Bedeutung war. Ein Tag auf Ascension, dann wieder zurück nach Afrika. So ging es kreuz und quer über den Atlantischen Ozean. Jetzt sollte die Mündung des Kongo erreicht werden, des zweitgrößten Stromes der Erde, dessen Wassermassen selbst die des Mississippi noch bedeutend hinter sich lassen. Der Kongo wurde erst später durch den berühmten Zug des Amerikaners Stanley in seiner ganzen Länge erforscht, damals kannte man nur die Mündung des Flusses, dagegen noch nicht seinen Lauf. Es war der gefährlichen Stromschnellen wegen nicht möglich, weiter als nur etwa dreißig Meilen stromauf zu fahren. Die Mannschaft der »Gazelle« unter Führung des Kapitäns erreichte auf der Dampfpinasse die holländische Faktorei Boma, wobei zugleich überall gelotet wurde und beide Gelehrte, der Botaniker Stabsarzt Doktor Naumann und der Zoologe Doktor Hüsker, eine reiche Ausbeute machten. Besonders überraschend wirkte auf Robert der Affenbrotbaum, dieser Elefant der Pflanzenwelt. Stämme von 20 Meter Höhe bei einem Durchmesser von 7 Meter, also ganz ungestalte, gleichsam verkrüppelte Gewächse, waren hier nichts Seltenes. Als die unförmigen Zweige, deren Länge von einem Ende zum andern oft mehr als 40 Meter beträgt, an einer Stelle über den Fluß hinauswuchsen, konnten die Matrosen einige reife Früchte mit Handspaken herunterschlagen. Jeder kostete von dem Fleisch, doch nur wenige fanden den süßen Brei einigermaßen eßbar. Interessanter war es schon, als Doktor Naumann erklärte, wie sich die Neger aus den zu Asche verbrannten Schalen der Frucht in Verbindung mit Palmöl eine sehr gute Seife bereiten. Auf dem Markt von Boma herrschte ein buntes Leben. Die Neger tauschten dort ihre eigenen Produkte gegen europäische Waren, vor allem gegen Alkohol, dem sie sehr verfallen sind. Robert sah plötzlich einen sonderbaren Zug von offenbar Halbbetrunkenen, die alle bei trockenstem Wetter unter bunten Regenschirmen einherzogen und in ihrer Mitte einen Mann führten, der sich laut und gestikulierend wie ein Sieger gebärdete. Alles Volk staunte aus ehrerbietiger Ferne. Die Europäer erkundigten sich natürlich eingehend und fragten solange, bis ihnen ein alter Holländer die erwünschte Auskunft gab. Unter den Negern dieser Gegend herrscht noch die bis zum vierzehnten Jahr hundert auch in Europa übliche Sitte der Gottesurteile, und zwar durch Anwendung des Hexentrankes. Er wird aus bestimmten, wahrscheinlich in jedem Lande anders gebräuchlichen Bestandteilen zusammengebraut und dem Verdächtigen eingeflößt. Erkrankt oder stirbt der Mann, so ist seine Schuld bewiesen, konnte dagegen, vielleicht vorbereitet, sein Magen dem Angriff widerstehen, so wird er in feierlichem Zuge durch die Stadt geführt und mit allen Ehren freigesprochen. Er ist unschuldig, – Gott selbst hat gerichtet. Nachdem der Kongo vermessen worden war, ging die ›Gazelle‹ nach Kapstadt. Auf dem Wege bot sich den jetzt schon verwöhnten Seeleuten ein wunderbares Schauspiel. Sie sahen eines Nachts um das Schiff herum das sogenannte Meeresleuchten, das von winzig kleinen, spindelförmigen Tierchen erzeugt wird, die sich zu Millionen an einer Stelle versammeln und das Wasser gleichsam zum Glühen bringen. Der Zug schwamm vorüber, und von Bord wurde mit dem Schleppnetz eine Menge dieser kleinen Tierchen heraufgeholt, ohne jedoch den eigentlichen Wunsch des Zoologen zu erfüllen; denn außerhalb ihres Elementes leuchten sie nicht mehr. Am 26. September lief die Korvette in die Tafelbai ein, benannt nach dem 1100 Meter hohen Tafelberg, zu dem noch im Westen der Löwenkopf und im Osten der Teufelspik hinzukommen. Kapstadt selbst machte auf Robert keinen andern Eindruck als andere Hafenstädte auch, es herrschte das gleiche Getriebe wie überall, und das Durcheinander von Weißen und Farbigen war ihm ja nichts Neues mehr. Aber schon nach wenigen Tagen begann die Fahrt nach der Kergueleninsel im südlichen Eismeer, die für die ›Gazelle‹ weniger angenehm und ruhig, wenn auch sonst glücklich verlief. Stürme, hoher Seegang, Nebel und Regenwetter wechselten miteinander ab, doch am 26. Oktober erreichte das Schiff wohlbehalten die Insel und lief in die Bucht von Betsy-Corn ein, dem geschütztesten Ankerplatz, um dort die Astronomen zu landen und sie, so gut es ging, unterzubringen. Auf Kerguelen wollte der Kapitän etwa vierzehn Tage bleiben, Robert fand daher Gelegenheit, die Insel nach allen Seiten zu durchstreifen, obgleich er nirgends einen besonders schönen Punkt entdecken konnte. James Cook, der bekannte Weltumsegler, nannte Kerguelen einfach das ›Desolationsland‹, das Verzweiflungsland, und wirklich schien es den Leuten von der ›Gazelle‹, als habe er damit das richtige getroffen. Kein Tier außer den Wasservögeln, kein Baum, keine Blume, nur ein riesiges Gewächs, eine Art Kreuzblume, der Kerguelenkohl, der als Gemüse zubereitet wirklich gut schmeckte und dessen Saft Doktor Naumann ein erprobtes Mittel gegen den Skorbut nannte. Vom Land aus sah Robert wieder Walfische speien, ebenso entdeckte er auch Robben und alle Arten von Seevögeln, jedoch keinerlei jagdbares Wild. Am 12. November begann die ›Gazelle‹ ihre Forschungsreise nach der Westküste der Insel, und von dort wurde unter persönlicher Führung des Kapitäns eine Expedition in das Innere unternommen. Alles nur Stein und Fels, sonst nichts. Wohl nie vorher hatte ein. Mensch dieses Land betreten, und nur ein Wissenschaftler könnte daran jemals etwas Interessantes finden. Freiwillig würde sich dort nie jemand niederlassen. Im Osten der Insel wurde ein schmaler Fluß von Basaltblöcken von dreißig Meter Höhe förmlich eingekeilt; es schien unmöglich, auf den einzelnen losgerissenen Felsstücken, über die er seinen Weg nahm, in das Innere dieser nach oben hin ganz verdeckten und verengten Höhle einzudringen, dennoch aber versuchte es Robert, der hier überhaupt bei jedem Schritt an die Eiswüste des Nordpols erinnert wurde, immer wieder. Er war der einzige, der es nicht aufgab, den gefährlichen Weg auf überhängenden Klippen, einzelnen Vorsprüngen und vom Wasser überspülten Steinen doch zu erzwingen. Sollte er denn zum zweitenmal den Lauf eines Gebirgsflusses in rätselhafter Weise aus den Augen verlieren, sollte er wieder, wie damals in Norwegen, das Land verlassen, ohne sein Geheimnis erforscht zu haben? Er schüttelte den Kopf, als ihn die andern aufforderten, doch davon abzulassen. Es bestand ja keine Gefahr, er wollte es versuchen, – also vorwärts, und noch dazu am liebsten ganz allein. Robert watete oder sprang, dann kroch er auf allen vieren, balancierte an schaurigen Abgründen vorbei oder schwang sich über eine breite Kluft. Aber was war das? – Er hatte es im stillen erwartet und doch packte es ihn überraschend. Das Wasser versiegte unter seinen Füßen, immer weniger sickerte über die Felsen, bis es plötzlich ganz aufhörte, gerade wie damals am Nordkap. Wo war der Fluß geblieben? Er sah zurück. Aus einer schmalen Spalte drang Wasser hervor, von rechts und links liefen kleine Adern bis zur Mitte, aber hier oben war alles trocken. Roberts Herz pochte laut. »In Norwegen lag der See tief unten, und oben rauschte der Wasserfall«, dachte er, »hier verhält es sich umgekehrt. Ich muß hinauf.« Er sah an dem schneebedeckten Gipfel empor. Bis nach oben war es noch weit, sicherlich ein stundenlanger, beschwerlicher Weg, aber was schadete das? Dort oben mußte der See sein! Ein See, hunderte von Metern über dem Meeresspiegel, – und er sollte Kerguelen verlassen, ohne ihn gesehen zu haben? Nein! Proviant hatte er noch genügend in seinen Taschen, der Tag war noch lang und das Wetter frostklar, also vorwärts! Seine ganze alte Entdeckerlust war mit einemmal wieder erwacht. Der Weg bergauf war steil und mühsam, aber doch nicht so beschwerlich wie das Waten durch das Flußbett. Robert wählte für den Aufstieg die Außenseite des Felsens, wo ganze Strecken ohne große Anstrengung überschritten werden konnten, wenn auch wieder andere mit ihren scharfen Zacken die Kleider zerrissen und die Haut abschürften, so daß er bald an einigen Stellen blutete. Robert achtete nicht darauf. Immer näher kam er einem Kranz von einzelnen, eigenartig geformten Felsblöcken, die wie Riesennadeln zum Himmel emporstarrten. Sie sahen aus, als ob von ihnen hier oben ein Schatz behütet werde, sie schienen, eng gedrängt und oft merkwürdig geformt, den Eintritt in ein Heiligtum zu verwehren, das noch nie der Fuß eines Menschen berührt hatte, das hoch über der Erde versteckt lag und nur der Sonne als Spiegel diente. Robert suchte lange nach einem Zugang. Endlich. Hier hingen zwei Blöcke schräg gegeneinander. Mit weiten, faltigen Mänteln und riesigen, von Haubenbändern umgebenen Köpfen sahen sie aus wie plaudernde, uralte Frauen, die sich von der Vergangenheit erzählen. Die eine trug unter dem Mantel eine Krücke, und die andere hielt einen Korb. – Robert bewunderte das seltsame Naturspiel. Wie von Künstlerhand grob gemeißelt, in riesenhaften Formen, erschienen ihm die Gestalten. »Laßt mich hindurch, ihr beiden«, lachte er. »So alte Großmütterchen können ja den Enkeln nichts abschlagen.« Und auf Händen und Füßen kriechend gelangte er, Korb und Krücke streifend, auf die andere Seite. Hier aber wäre er fast in die Tiefe gestürzt. Nur durch einen schmalen Felsvorsprung vom Abgrund getrennt, sah er unter sich, von den Felsen rings umgeben, einen See, dessen Spiegel keine Welle kräuselte. Weiße Kronen von Schnee lagen auf allen Ecken und Vorsprüngen, in jedem geschützten Winkel, im Inneren jeder Spalte, das Wasser aber war blau und rein wie Samt. Am Himmel erschien in diesem Augenblick die Sonne. Wie Millionen funkelnder Diamanten glänzte es da unten, wie eine zweite goldene, leuchtende Kugel spiegelte sich das Tagesgestirn auf dem Wasser. Robert sah nichts als den Himmel und den See mit seinem Steinkranz. Darüber hinwegzublicken war ganz unmöglich. Lange blieb er in der kleinen, abgeschlossenen Welt da oben, wo seine Füße kaum stehen konnten und wo es so still und so feierlich wie in einer Kirche war. Er bedauerte beinahe die andern, denen der Weg zu weit und zu mühevoll gewesen war, um ihn freiwillig zu unternehmen. Als er, rückwärts kriechend, mit äußerster Vorsicht und nur um wenige Meter am Abgrund vorbei, wieder aus dem geheimnisvollen Zauberkreis des Felsengürtels hinausgelangte, bot sich ihm nach allen Seiten eine herrliche Aussicht. Die Felsen ringsherum glitzerten und funkelten in der Sonne durch die verschiedenen Gesteinsarten und bildeten die merkwürdigsten Formen, am seltsamsten aber kam es ihm vor, so von oben herab wie ein Kinderspielzeug auf dem Wasser die ›Gazelle‹ liegen zu sehen, deren Masten ihm sonst, wenn er an Deck stand, so schwindelnd hoch vorkamen. Als er von seinem gefahrvollen Ausflug wieder unten anlangte, hatte er so viel Schönes gesehen, daß ihn seine geschundenen Knie und blutenden Hände nur sehr wenig kümmerten. Doktor Naumann lächelte, als er ihn sah. »Nun, junger Freund, einige Kobolde und Gnomen kennengelernt?« scherzte er. »Nur Nixen, Herr Doktor, – da oben ist ein See.« »Donnerwetter, dann müssen wir ja hinauf, – ich fürchte nur, daß es einen starken Schneefall gibt. Auch das Crosbiegebirge werden wir aus diesem Grunde nicht erforschen können.« Und so kam es. Die Besteigung dieses bedeutenderen Höhenzuges mußte unterbleiben, wenn sich die Entdecker vor der Gefahr des Eingeschneitwerdens schützen wollten. Man hatte auch jetzt von der Insel genug gesehen, um mit Sicherheit behaupten zu können, daß hier keine Ansiedlung möglich sei. Wenn im Hochsommer schon ein solches Klima herrschte, – wie sollte es dann im Winter werden? Die Wissenschaftler und Photographen bezogen wieder ihre Kabinen auf der ›Gazelle‹, die Anker wurden gelichtet und fort ging es, tausend Meilen weit über den Ozean, nach der Tropeninsel Mauritius. Auf dieser Fahrt hatte die Korvette mehrere Stürme zu bestehen, doch wurde das Ziel schließlich ohne ernsthaften Schaden erreicht. Hier war man wieder mitten in den Tropen. Überall grünte und blühte es, und die Luft war sommerlich warm, eine idyllische kleine Welt, die nur monatlich einmal von einem Dampfer besucht wird. Die Tiefenlotungen waren unterwegs fortgesetzt worden, Kohlen und Lebensmittel eingenommen, die Briefe zur Post gegeben und der ausgebrannte, völlig mit Wald überwachsene Krater im Innern der Insel von Robert und mehreren anderen einer Besichtigung unterzogen, dann dampfte die ›Gazelle‹ wieder weiter, mit Kurs auf Australien. Hier kam Robert nicht von Bord, da nur die Haifischbai und der Dampiersarchipel ausgelotet werden sollten. Interessanter waren dagegen die Sunda-Inseln, und zwar vor allem Timor, das schon ein mehr asiatisches Gepräge trägt. Es wurden nun nacheinander in viermonatlicher, beschwerlicher Fahrt auf lauter Nebenrouten und bisher wenig befahrenen Schifffahrtswegen die Melanesischen Inseln genauer durchforscht, wobei man weniger auf Naturgeheimnisse und Naturschönheiten ausging, sondern hauptsächlich neue Verkehrswege und günstige Ankerplätze ausfindig machen wollte oder Tiefenlotungen vornahm. Gelandet wurde zuerst auf Neuguinea und den drei kleinen Anachoreteninseln, wo Roberts altes Interesse an der Reise wieder auflebte, als man mit den Eingeborenen in Berührung kam. Wie die Schwarzen Afrikas trugen sie als einziges Kleidungsstück einen Lendenschurz, sie besaßen jedoch wohleingerichtete Kokospflanzungen und Kanus mit Segel und Masten, im übrigen zeigten sie sich, nachdem die erste Scheu überwunden war, als harmlose, friedliche Menschen, die mit der Mannschaft der ›Gazelle‹ einen lebhaften Tauschhandel anfingen und gern die Produkte ihrer Heimat gegen Messer, Scheren, Knöpfe und Nadeln an die Deutschen abließen. An der Südküste von Neu-Hannover wohnte ein ganz anderer Menschenschlag. Diese Wilden liefen vollständig unbekleidet herum, es waren schwarzbraune, gut gewachsene Gestalten mit rot oder gelb gefärbtem kurzem Haar, geschlitzten Ohrläppchen, Muscheln in den Ohren und am Hals und bunten Armbändern. Als sich die Korvette der Küste näherte, stürzten sich sämtliche Männer in die Kanus, um das fremde Wunderding aus nächster Nähe zu sehen, während am Ufer die Frauen schreiend, hüpfend und sich wie toll gebärdend zurückblieben. Aber schon sehr bald konnten auch sie ihre Neugier nicht mehr bezähmen, – sie sprangen ohne weiteres ins Wasser und schwammen den Booten nach, waren aber ebensowenig wie die Männer zu einem Besuch an Bord zu bewegen. An der entgegengesetzten Seite derselben Insel kam es mit den Eingeborenen sogar zu einem ernstlichen, wenn auch nur kurzen Streit. Hier sollte ein Fluß ausgelotet werden, und da die Korvette selbst einen zu großen Tiefgang hatte, mußte die Dampfpinasse die Mündung hinauffahren und dabei auch mehrere von den Wissenschaftlern am Ufer absetzen, um die Pflanzen- und Tierwelt der Insel zu erkunden. Als aber ein kleines Boot, das den Verkehr mit dem Schiff aufrecht erhielt, zufällig einige Minuten lang unbewacht blieb, wurde es von den Eingeborenen gänzlich geplündert; als die Matrosen zurückkehrten, waren Lebensmittel und Ausrüstungsgegenstände verschwunden, ohne daß sich einer der Wilden gezeigt hätte. Am folgenden Tage, als die Besatzung im Flußwasser ihre Wollkleidung gründlich gereinigt und zum Trocknen zwischen den Bäumen aufgehängt hatte, kamen die Eingeborenen, jetzt schon dreister geworden, in hellen Haufen heran und vertrieben durch einen Hagel von Steinen die friedlich beschäftigten Matrosen, wobei sogar zwei ernstlich verwundet wurden. Von der Dampfpinasse antwortete sofort das kleine Bootsgeschütz, und daraufhin zogen sich die Wilden, offenbar sehr eingeschüchtert, zurück. Am andern Tage jedoch zeigte der ohrenzerreißende Lärm ihrer Kriegsinstrumente, daß sich die verschiedenen Stämme sammelten und offenbar Feindseligkeiten planten. Kapitän von Schleinitz beschloß, dem zuvorzukommen. Er selbst stellte sich an die Spitze von vierzig Mann, die alle ausreichend bewaffnet waren, und dann wurde der Zug nach den nächsten Dörfern unternommen. Natürlich befand sich unter der kleinen Schar auch Robert, der diesmal jedoch seine Erfinderfreude teuer bezahlen mußte. Um an das Dorf heranzukommen, mußte zuerst das hohe, von Gestrüpp und Schlingpflanzen bedeckte Ufer erklettert werden, die Matrosen sahen sich gezwungen, ihre Waffen und Patronen während des beschwerlichen Marsches über den Köpfen zu tragen, und als endlich die jenseitige Anhöhe erreicht war, da starrte das gestern gewaschene Zeug von Schlamm und Schmutz, es war vollkommen durchnäßt und erschwerte sehr unangenehm den Marsch in das Innere der Insel. Aber die Blaujacken verloren ihren Mut nicht. Ein Lied verkürzte die Zeit und half über alle Belästigungen hinweg. Zugleich mit dem vor einer Anhöhe gelegenen Dorf, das von aller Schönheit tropischen Pflanzenwuchses umgeben war, sahen die Deutschen einen Haufen von etwa zweihundert Wilden, die alle mit Speeren, Keulen und Schleudern bewaffnet waren, sich aber sehr zurückhielten und sogar bei Annäherung der geschlossen marschierenden kleinen Schar langsam zurückwichen. Nur vier alte Männer, jedenfalls Häuptlinge, blieben vor dem Dorfe auf einigen Steinen sitzen und erwarteten die Fremden. Herr von Schleinitz, der selbstverständlich die Angelegenheit so rasch und einfach wie möglich zu beenden wünschte, ließ an eine lange Stange ein weißes Tuch binden und ging dann, nur von einem Matrosen als Adjutanten begleitet, zum Dorf hinab. Schon von weitem versuchte er den Eingeborenen begreiflich zu machen, daß er sprechen, unterhandeln, aber nicht kämpfen wolle. Die Wilden mußten offenbar verstehen, was das weiße Tuch bedeuten sollte, sie banden schleunigst ein junges Huhn an einen Stock und trugen diese sonderbare Fahne dem deutschen Kapitän entgegen. Damit war auch von ihrer Seite die Zusammenkunft als friedlich anerkannt worden. Herr von Schleinitz nahm höflich dankend, aber durchaus ernst und hoheitsvoll das Geschenk in Empfang und vergalt es sofort durch Überreichen eines Stückes Uniformtuch, das schon zu diesem Zweck von Bord her mitgebracht worden war. Dann aber, nachdem die Insulaner ihr Entzücken in kindischer Weise zu erkennen gegeben hatten, bedeutete ihnen der Kapitän mit Hilfe der Gebärdensprache, daß er bestohlen worden sei und die Rückgabe des geraubten Gutes unbedingt verlange. Er fragte, ob die Häuptlinge von diesem Diebstahl Kenntnis erhalten hätten. Die Antwort war natürlich ein Nein. Herr von Schleinitz zuckte die Achseln. Dann nahm er die Pistole und schoß vor den Augen der vier Häuptlinge einen jungen Baum durch den Stamm, so daß weißer Saft aus dem Einschußloch hervorquoll; hierauf deutete er mit der Rechten auf die in einiger Entfernung stehenden Soldaten, als wolle er sagen: »Die dort verstehen alle das Gleiche und werden euch empfindlich bestrafen, wenn ihr nicht das gestohlene Gut sofort herausgebt.« Die Wilden sahen in großer Angst auf den getroffenen Baum. Sie berieten leise untereinander, gaben offenbar heimliche Befehle in das Dorf hinauf und bemühten sich, eine freundliche Miene zur Schau zu tragen. Nach kurzer Zeit näherte sich ein junger Bursche, der die gestohlenen Dinge im Korb am Arm trug und dem Kapitän zu Füßen legte, worauf er sich mit Hasensprüngen wieder entfernte, offenbar sehr froh, der Gefahr so glücklich entronnen zu sein. Das laute Gelächter der Seeleute folgte ihm nach. Herr von Schleinitz hatte inzwischen den Korb durchsucht und wandte sich jetzt achselzuckend an die Wilden. »Das ist noch längst nicht alles«, sagten seine Gebärden, »es fehlen verschiedene Instrumente und andere Kleinigkeiten. Wir wollen eure Hütten in Brand stecken, um euch zu bestrafen.« Das wirkte. Die Häuptlinge baten, das geraubte Gut den Weißen wieder zuschicken zu dürfen; sie wollten selbst im Dorf eine Haussuchung vornehmen und ihr Möglichstes tun, um alles Verlorene herbeizuschaffen. Man möchte nur ihre Wohnungen verschonen. Herr von Schleinitz erklärte sich mit diesem Angebot durchaus einverstanden, und die Seeleute konnten den Rückmarsch antreten, ohne von ihren Waffen Gebrauch gemacht zu haben, was allerdings einigen unter ihnen gar nicht recht war, da doch im Lazarett der Korvette die beiden verwundeten Kameraden noch immer in ihren Verbänden lagen und einer sogar eine tüchtige Stirnwunde davongetragen hatte. Wie maßvoll und gerecht jedoch der Kapitän vorgegangen war, mußten auch die Kampflustigen anerkennen. Wozu wäre es gut gewesen, den hilflosen, schlecht bewaffneten Wilden, die doch als harmlose Naturkinder kaum einen Begriff von Recht und Unrecht haben konnten, – hier wegen einiger Vergrößerungsgläser, Schleppnetze und Lotungsapparate eine blutige Lehre zu geben? Die armen, ahnungslosen Wilden wären dadurch nicht belehrt, sondern nur gekränkt worden; für die Weißen aber wäre es nicht gerade rühmlich gewesen, ihre zehnfache Überlegenheit an primitiven Eingeborenen erprobt zu haben! Als die Soldaten an das Ufer zurückkamen, fanden sie sämtliche gestohlenen Gegenstände schon vor. Jedenfalls hatten die Insulaner, um sich keiner Gefahr auszusetzen, auf Nebenwegen irgendeinen schnellfüßigen Burschen entsandt und auf diese Weise keinen als den Schuldigen gekennzeichnet. Von Bord der Korvette war beobachtet worden, wie mehrere Schwarze aus dem Gebüsch hervorkrochen, schleunigst die Sachen in das Gras legten und wieder verschwanden. Das Ansehen des Deutschen Reiches war also gewahrt worden, man hatte den Diebstahl gerügt und Rückerstattung des Geraubten erlangt, – Herr von Schleinitz hatte durchaus vorbildlich gehandelt. Nachdem diese Angelegenheit erledigt war, nahm die Korvette zunächst Kurs auf Neu-Irland und die umliegenden Inseln, wobei jedoch zu Roberts großer Enttäuschung eine Berührung mit den Eingeborenen gänzlich oder doch soweit wie möglich vermieden wurde. Es lebten nämlich auf diesen Inseln damals noch Menschenfresser, daher hielt sich Herr von Schleinitz einem Zusammenstoß mit diesen Stämmen möglichst fern. Die Reise der ›Gazelle‹ diente ja allein wissenschaftlichen Zwecken, so schien es das Klügste, derartigen unangenehmen Zwischenfällen schon von vornherein aus dem Wege zu gehen. Für Robert war diese Maßnahme um so betrüblicher, als er sehr viel Reizvolles darin fand, mit Wilden in Berührung zu kommen und in die Geheimnisse ihrer Sitten und Lebensgewohnheiten einzudringen. Er mußte hier so ziemlich auf alles Erhoffte verzichten, da von seiten der Gelehrten nur Vermessungen und Beobachtungen angestellt wurden, ohne jedoch dabei die Menschen einzubeziehen. Einige Stämme, zum Beispiel beim Passieren der Byronstraße, zeigten sich herausfordernd und feindselig, während andere durchaus friedlich waren, sogar eigene Landwirtschaft betrieben und den Weißen mit harmloser Vertraulichkeit entgegenkamen. Besonders auf den Salomo-Inseln wurden Fleisch, frische Früchte und Gemüse von den Bewohnern in Kanus an Bord gebracht, wofür dann Kleidungsstücke und sonstige Kleinigkeiten als Zahlungsmittel dienten. Auf Neu-Britannien hatte die ›Gazelle‹ eine eigentümliche Mission zu erfüllen. Vor langen Jahren waren auf dieser Insel gegen die Handelsniederlassungen der hamburgischen Firma Godeffroy die gröbsten Gewalttätigkeiten verübt worden, und man wollte jetzt die Wilden vor etwaigen Wiederholungen warnen. Da inzwischen einige Jahre vergangen waren und im übrigen niemand an Bord die Sprache der Eingeborenen verstand, begnügte sich Herr von Schleinitz damit, an eben der Stelle, wo damals Mord und Brandstiftung stattgefunden hatten, auch jetzt wieder einen Haufen brennbarer Gegenstände anzünden und einige Salven abfeuern zu lassen. Als die Wilden sahen, welche Verheerungen unter Bäumen und Sträuchern die Kanonenkugeln anrichteten, erschraken sie so sehr, daß ihnen die eiligste Flucht als bestes Schutzmittel erschien. Sie verschwanden wie in den Boden hinein. Von hier aus fuhr die ›Gazelle‹ nach den Auckland-Inseln, wo jede Spur einer Bevölkerung fehlte. Die Forschungen der Wissenschaftler konnten zwar ohne Störung betrieben werden, doch ergaben sie keine besonders lohnende Ausbeute. Die ›Gazelle‹ hat aber in bezug auf Hafenplätze und Tiefenlotungen gerade hier das Wesentlichste für die Schiffahrt geleistet, andererseits erfüllte sie ihre Mission als Repräsentant des Deutschen Reiches bei vielen Fürsten der wenig bekannten, bisher immer übersehenen kleinen Inselreiche des Stillen Ozeans. In Levuka, der Hauptstadt der Insel Viti-Levu, der größten Fidschi-Insel, verkehrten die Offiziere der Korvette in äußerst freundschaftlicher Weise mit dem regierenden Landesherrn, König Thakembau, der sich durchaus als denkender und gebildeter Mann erwies und der auch seinerseits mehrere Male als Gast an Bord der Korvette empfangen wurde. Beim Abschied blieb er bis zum Augenblick des Ankerlichtens und konnte sich erst trennen, als die Maschine in Tätigkeit trat. Von den Fidschi-Inseln ging die Korvette nach den Tonga-Inseln, auf denen hellfarbige und kulturell auf einer höheren Stufe stehende Menschen leben. Wie ganz Australien, leidet auch diese Inselgruppe an Wassermangel; es gibt nur wenige Tiergattungen, aber einen verhältnismäßig ausgedehnten Pflanzenwuchs. Dagegen haben aber die Bewohner schon feste Häuser, sie arbeiten und sind kulturell die höchststehenden unter allen Völkern auf den Inseln des Stillen Ozeans. Auch hier sah Robert einen farbigen Fürsten, den siebzigjährigen König Georg. Der alte Herr empfing äußerst höflich die Vertreter des Deutschen Reiches, dankte für den Besuch und lud seine Gäste zur Tafel, wobei ein Missionar als Dolmetscher diente. Am Nachmittag machte er an Bord der Korvette einen offiziellen Gegenbesuch, der von Seiten der Mannschaft mit einer Ehrensalve von einundzwanzig Kanonenschüssen begrüßt wurde, worauf sogleich an Land die beiden einzigen vorhandenen Geschütze den Salut erwiderten. Zu Ehren des Fürsten hielt man an Bord eine Parade ab und gab ein Essen, bei dem Herr von Schleinitz ein Hoch auf König Georg ausbrachte. Die Rede des Fürsten, bescheiden und dankbar, aber doch seine Würde als Landesherr vollständig wahrend, zeigte einen denkenden, für das Wohl seiner Untertanen eifrig besorgten Monarchen, der seiner Freude Ausdruck gab, mit Deutschland die besten Beziehungen angeknüpft zu haben und auch weiter noch knüpfen zu können, indem er den deutschen Auswanderern allen nur möglichen Schutz gewähre und sie den Eingeborenen des Landes in jeder Beziehung gleichstelle. Auf ihre Fragen erfuhren die Offiziere, daß die Deutschen auf den Tongainseln vor allem mit Kobra handeln, den zerschnittenen Kernen der Kokosnuß, die dort in großen Wäldern wächst und den bedeutendsten Ausfuhrartikel darstellt. Es lagen auch gleichzeitig mit der ›Gazelle‹ noch sieben europäische Schiffe im Hafen, die gerade eine Ladung Kobra übernahmen. Von hier ging die Korvette nach den Samoa-Inseln und war nun wieder ganz vom Zauber der Tropenwelt umgeben. Am 24. Dezember warf die ›Gazelle‹ im Hafen von Apia auf Upolu Anker, und die Mannschaft erhielt Erlaubnis, an Land zu gehen und dort den Weihnachtsabend zu verbringen. Das war eine eigenartige Feier. Die Matrosen konnten sich nicht entschließen, in den Wirtschaften zu sitzen, zu trinken und zu tanzen wie sonst, wenn sie nach langer Fahrt zum erstenmal wieder Land betraten. Sie alle waren ja einmal Kinder gewesen, die am Weihnachtsabend um den Tannenbaum standen und mit glücklichen Augen den Glanz seiner Kerzen sahen, sie alle hatten ja daheim ihre Lieben und wußten, daß deren Gedanken jetzt bei ihnen waren, – kein einziger war ausgelassen oder beging irgendwelche kleinen Tollheiten, die sonst zum Leben eines Matrosen an Land nun einmal gehören. Auch Robert war sehr ernst gestimmt. Er sah die Farbenpracht tropischer Wälder mit ihren bunten Blüten, aber er dachte an die heimatlichen Tannen. Er glaubte den Harzgeruch zu spüren, sah die kleinen, bescheidenen Lichter und die vergoldeten Früchte und erkannte das niedere Zimmer im Elternhause, – und auch die Gesichter der beiden lieben alten Leute wurden vor seinen Augen lebendig; die Mutter, die vielleicht jetzt weinend an ihren einzigen Sohn dachte, der Vater, den er nun nicht mehr wiedersehen würde. Es beengte ihm die Brust, – er mußte etwas sagen. »Jungens«, sagte er, »wollen wir uns einen Christbaum machen?« Mehrere Stimmen antworteten zugleich, und alle waren einverstanden. »Daran dachte ich längst!« rief Gerber. »Die Fremde ist doch immer die Fremde, – man wird ganz weinerlich, wenn einen so die Erinnerungen an die alte Heimat überfallen.« »Aber einen Tannenbaum gibt's in ganz Apia nicht!« meinte ein anderer. »Was schadet das? Grün ist Grün, und Lichter hat man ja auch hier.« Und so kam es. Die Matrosen besorgten sich ein stattliches, mit Blüten und Früchten bedecktes Brotfruchtbäumchen, das mit seinen Wurzeln aus dem Boden gehoben und in einen großen Kübel gestellt wurde. Dann ging es an den Baumschmuck. Jeder einzelne der ganzen Schar brachte seine Lichter in Gedanken an die lieben Angehörigen daheim in Deutschland, jeder erzählte von den Weihnachtsabenden früherer Jahre und wie die Kinderzeit so schön gewesen sei und so glücklich – – »An Land möchte man nicht leben«, sagte Gerber, »wahrhaftig, ich hielte es nicht aus ohne die See, aber es ist doch eigenartig, so Jahr für Jahr über die Meere zu fahren und nur selten für wenige Tage unter Menschen ein Mensch zu sein. Wenn ich jetzt nach Hause komme, finde ich lauter fremde Gesichter, – meine alte Mutter starb, seit wir von Kiel fortgingen, und zwei Schwestern haben geheiratet, – es ist alles anders geworden.« Robert legte ihm die Hand auf die Schulter. »Keine trüben Erinnerungen, Gerber«, sagte er ermunternd. »Wir wollen singen, das macht das Herz frei. Kinder noch einmal, wir sind ja doch jetzt auf der Heimreise, also warum denn erst traurig werden?« Die Bowle, wunderbar nach tropischen Früchten duftend, wurde gebracht, und unter dem eigenartigen Weihnachtsbaum entfaltete sich ein buntes Bild. Die Matrosen, saßen und lagen um den Tisch, Zigarrenrauch erfüllte den Raum, und zwischen den Lichtern blühte es und trug reife Früchte am eigenen Stamm. Die Gesichter der Eingeborenen sahen von draußen herein, horchten mit Erstaunen den Klängen der deutschen Sprache und summten im Takt die Melodie, ohne den Wortlaut zu ahnen: »O du fröhliche, O du selige, Gnadenbringende Weihnachtszeit« Es war ein schöner und froher Weihnachtsabend, den die Matrosen von der ›Gazelle‹ im fernen Apia verlebten. Erst gegen Morgen kehrten die jungen Leute zum Schiff zurück, singend, fröhlich und bepackt mit allen möglichen guten Dingen, um an Bord die Armen von der schwarzen Liste, die Wache gehalten hatten, jetzt nachträglich noch zu bewirten. Sie erschienen wie die leibhaftigen guten Geister des Weihnachtsabends und brachten die Festfreude auch zu den armen Missetätern, die einmal auf das frischgescheuerte Deck gespuckt, in der Nähe des Großmastes laut gelacht oder vielleicht sogar eine Stenge ungeschmiert gelassen hatten, wofür ihnen dann die Strafwache unweigerlich zugefallen war. Am folgenden Tage ging es an eine Besichtigung der Umgebung. Soviel tropische Schönheit wie hier hatte Robert kaum an irgendeinem anderen Ort der Welt gesehen. Die ganze kleine Insel glich einem Garten, in dem die einzelnen Ansiedlungen zerstreut unter den Bäumen dalagen. Deutsche Handelshäuser haben für die Bedeutung der Insel sehr viel getan. Sie betrieben den Ankauf der einheimischen Erzeugnisse und beschäftigten durch Pflanzungen von Kaffee, Mais, Baumwolle und Kokosnüssen viele Hunderte von Arbeitern. Robert fand bei einem Streifzug, den er mit andern unternahm, auf Upolu keinen eigentlichen Urwald mehr, aber er bereicherte seine Sammlung von Mineralien und erstieg wieder Gebirgszüge, von wo aus er herrliche Fernsichten hatte. Und dann, nach kurzem Aufenthalt, lichtete die ›Gazelle‹ ihre Anker und nahm Kurs auf die Heimat. Um die Südspitze Amerikas herum, durch die Magelhaensstraße, durch die Robert, wie wir wissen, schon einmal gekommen war, ging jetzt die Fahrt von der Südsee in den Atlantischen Ozean, vorher aber gab es noch eine unerwartete Begegnung. Nach einer schnellen und glücklichen Reise lief die ›Gazelle‹ am Neujahrstage in die Magelhaensstraße ein und traf dort überraschend die Korvette ›Vineta‹, die von Deutschland kam. An dem großen Korallenriff, das Robert schon von seiner Reise von Bergen nach San Franzisko her kannte, lag die ›Gazelle‹ beigedreht, um eine nähere Untersuchung des Riffs von der Pinasse aus vorzunehmen, als plötzlich vom Ausguck her der freudige Ruf »Schiff in Sicht an Backbord!« alle Matrosen und sogar die gelehrten Herren in Aufregung versetzte. Die Magelhaensstraße wird von Handelsschiffen nur in Fällen eintretenden Wassermangels befahren, es war daher schon immer ein kleines Ereignis, hier einem Schiff zu begegnen. Als man im Topp des herankommenden Fahrzeuges die deutsche Flagge erkannte, erscholl fast gleichzeitig hüben und drüben ein lautes, freudiges Hurra der Mannschaft. Kanonendonner erfüllte die Luft, beide Schiffe legten sich möglichst nahe nebeneinander, und dann wurden Boote ausgesetzt, um die gegenseitigen Beziehungen so eng wie möglich zu gestalten. Landsleute fanden sich, Freunde und Bekannte freuten sich über das unverhoffte Wiedersehen, der eine erzählte und der andere hörte zu, kurz, es war ein Fest, das hier auf See gefeiert wurde. Die Wissenschaftler machten eine reiche Ausbeute von besonders schönen, seltenen Korallen, von Muscheln, Schnecken und Fischen sowie einer Anzahl Insekten der verschiedensten Arten; die Matrosen erhielten einen freien Tag und eine außergewöhnliche Ration Grog, die Offiziere endlich konnten politisieren, über dienstliche Angelegenheiten sprechen und alte Erinnerungen austauschen. Am folgenden Tag trennten sich die Schiffe, die Mannschaft der ›Vineta‹ gab den heimkehrenden Kameraden noch Briefe und Grüße mit auf den Weg, und die ›Gazelle‹ steuerte der Heimat zu. Nach fast zweijähriger Abwesenheit erreichte sie ohne Zwischenfälle im April den Hafen von Kiel. Man würdigte beim Empfang der Korvette nicht nur die Verdienste der Wissenschaftler bei der Erforschung kürzerer und sicherer Seewege, sondern auch die einmalige seemännische Leistung von Kommandant und Besatzung. Und hier nehmen wir von Robert Abschied. Wir folgten ihm auf seinem Lebensweg über alle Länder der Erde. Das Schicksal ließ ihn durch eine harte Schule gehen, doch er hat seine Lehren beherzigt, er hat an sich gearbeitet und gelernt, seinen Eigensinn und seinen Trotz, die ihn einstmals aus dem Elternhaus forttrieben, zu beherrschen. Eins aber bewahrte sich Robert in all den Jahren: seine Liebe zur See. Nach längerer Ruhezeit, die er zu Hause bei seiner alten Mutter verbrachte, zog er noch einmal als Bootsmannsmaat hinaus. Dann ging er nach Hamburg auf die Seefahrtschule und legte dort sein Steuermannsexamen ab. Als Kapitän eines großen Seglers ist Robert noch lange Jahre über alle Meere gefahren.