Hinweis: Dieser Text, der im Rahmen des Projekts ePoetics (gefördert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung) digitalisiert wurde, enthält Annotationen zu Textstellen, in denen der Autor auf das theoretische Konzept der Metapher eingeht und Sekundärliteratur dazu sowie Beispiele aus der Primärliteratur diskutiert. Diese Textstellen sind in der HTML-Ansicht des Textes farblich markiert, die Annotationen können per Klick auf entsprechende Buttons ein- oder ausgeblendet werden (hierzu muss Javascript aktiviert sein; die Funktion ist kompatibel mindestens mit Google Chrome 52.0.2743.82+ und Firefox 47.0+). Wenn die entsprechenden Quellen identifizierbar und digital verfügbar sind, enthalten die Annotationen außerdem Links zu Primär- und Sekundärliteraturstellen, auf die in der jeweiligen Textstelle verwiesen wird. Die Annotationen sind des Weiteren in der XML-Version des Textes sichtbar. Eine genaue Erklärung der in den Annotationen benutzten Kategorien findet sich in den Annotationsguidelines des Projekts ePoetics: [link].
|#f0001 : EAI:f|
|#f0002 : EAI:e|
|#f0003 : EAI:d|
|#f0004 : EAI:c|
|#f0005 : EAI:b|

Handbuch der Poetik. ──────

Eine kritisch=historische Darstellung
der
Theorie der Dichtkunst

von
Dr. Hermann Baumgart,
Professor an der Universität Königsberg i. Pr.

[Abbildung]


Stuttgart.
Verlag der J. G. Cotta'schen Buchhandlung.
1887.

|#f0006 : EAI:a|
|#f0007 : RI|

Handbuch der Poetik. ──────

Eine kritisch=historische Darstellung
der
Theorie der Dichtkunst

von
Dr. Hermann Baumgart,
Professor an der Universität Königsberg i. Pr.

[Abbildung]


Stuttgart.
Verlag der J. G. Cotta'schen Buchhandlung.
1887.

|#f0008 : RII|

──────────────────
Alle Rechte,
insonderheit in Beziehung auf Uebersetzungen, sind von der
Verlagsbuchhandlung vorbehalten.
──────────────────
Druck von Gebrüder Kröner in Stuttgart.

|#f0009 : RIII|

Vorwort. ──────


Für den Kundigen bedarf es nicht des Hinweises auf die fast
unüberwindlichen Schwierigkeiten der Aufgabe, eine „Theorie der Dichtkunst“
aufzustellen, zu deren Lösung hier ein Versuch gemacht ist; gibt
es doch auf diesem Gebiete kaum einen einzigen Satz von unbestritten
geltendem Ansehen. Nur in einem Punkte dürfte Einigkeit herrschen,
daß ein rein deduktives Verfahren dabei nicht zum Ziele führen kann,
sondern daß allein auf dem Wege der kritischen Untersuchung des Vorhandenen
Resultate zu erhoffen sind. Eine solche, nach einheitlichen
Gesichtspunkten verfahrende Kritik kann aber nicht anders als unter
steter Berücksichtigung der historischen Entwickelung sowohl der poetischen
Produktion als der zu den verschiedenen Zeiten für dieselbe maßgebenden
Theorieen angestellt werden. Demgegenüber möchte es als ein
Widerspruch erscheinen, daß diese Darstellung den Anspruch macht, für
ein „Handbuch der Poetik“ zu gelten. Ein solches müßte die Hauptgesetze
der Dichtkunst und die Beantwortung der wichtigsten dieselben
betreffenden Fragen in übersichtlicher Zusammenstellung dem Leser darbieten.
Wer jedoch, mag er nun den Wissenden oder den Suchenden
und Lernenden sich zurechnen, wird es bezweifeln, daß eine kompendiarische
Anordnung von Formeln der Poetik wertlos bleiben müßte,
sobald nicht jeder kleinste Teil derselben durch eingehende Begründung
Leben und gesicherten Bestand erhielte? Das Gebiet der Poetik ist so
beschaffen, daß hier jeder Schritt ohne die immer erneute Prüfung und
Orientierung nach allen Seiten einer ganzen Schar von Mißverständnissen
ausgesetzt wäre.


Der Verfasser hat es daher versucht, die kritisch=historische Darstellung
überall bis zu einem bestimmt formulierten Ergebnis zu führen,
so daß als Gesamtresultat eine Zusammenordnung der Hauptsätze der |#f0010 : RIV|

Poetik sich ergibt, deren jeder in der Entwickelung des Ganzen als der
Abschluß eines organischen Teiles gedacht ist.


Er hat es versucht ─ voluit! ─ im Vertrauen auf die ihn
selbst mit voller Überzeugung durchdringende Kraft der aristotelischen
Grundauffassung von der Einheit der künstlerischen Nachahmung
und von der einzigen Richtigkeit der aristotelisch=lessingschen
Untersuchungsmethode.
Wenn jedoch Lessing seinem Laokoon als
Motto das Plutarchische Wort von den Künsten voranstellte, daß sie
nach den Mitteln und nach der Art und Weise der Nachahmung sich
unterscheiden ─ ὕλῃ καὶ τρόποις μιμήσεως διαφέρουσιν ─ so unterließ
er es, den nicht minder gewichtigen Schluß hinzuzufügen: τέλος ἕν
ὑπόκειται ─ das Ziel der künstlerischen Nachahmung ist ein einheitliches,
für alle Künste ein und dasselbe.


Daher sind auch die Gesetze der Künste einheitlich und ewig.
Die Unterschiede der Nationen und Zeiten reihen sich nur den Verschiedenheiten
ein, die an sich schon je nach den Mitteln der Nachahmung
für die Art und Weise, wie sie zu geschehen hat, von selbst gegeben sind.
Daher die innere, engste Verwandtschaft, der mächtige Zug der Wesensgleichheit,
der alle die miteinander verbindet, die zu allen Zeiten und an
allen Orten das Größeste in der Kunst hervorgebracht haben. Dadurch
aber waren sie die Größesten, daß in ihrem Geist und Gemüt jene Einheit
als eine unerschütterliche Gewißheit feststand, die nach dem ewig sich gleichbleibenden
Ziele sie immer wieder den gleichen Weg finden lassen mußte.


Diese Wege in den verschiedenen Gattungen der Kunst zu erkennen,
ist die Aufgabe einer produktiven Kritik; ihre unabänderlichen Gesetze
festzustellen muß die Theorie der Kunst bestrebt sein. Was das Genie
als ein göttliches Vermögen in sich trug, demgemäß es sich schaffend
bethätigte, soll sie in seinen Äußerungen betrachten und das Gleichmäßige,
immer Wiederkehrende darin, soweit es erkennbar ist, in festen
Normen aussprechen.
Es ist nicht erweisbar, daß ein Homer, ein
Äschylus, Sophokles oder Shakespeare bei ihrem Dichten mit klarem
Bewußtsein solchen festen, theoretischen Normen gefolgt sind: wohl aber
müssen dieselben, wenn sie richtig erkannt sind, überall in den Meisterwerken
des Genies wiedergefunden werden; sie müssen daher ebensowohl
das Verständnis der Kunstwerke zu eröffnen vermögend sein, ihren
Genuß zu vertiefen, das ästhetische Urteil über das Beste wie über das
Minderwertige zu begründen, als die künstlerische Produktion selbst auf
ihrem Wege zu leiten und vor dem Abirren zu sichern. So hat sich
Aristoteles den Griechen, Lessing den Deutschen, so haben beide sich der
Welt als Lehrer und Führer erwiesen.

|#f0011 : RV|


Der größte Dichter der Neuzeit, in welchem die spontan schaffende
Kraft des Genius am stärksten erscheint, war am meisten von dem Werte
der Theorie für die Kunst durchdrungen. „Es ist weit mehr Positives,
das heißt Lehrbares und Überlieferbares in der Kunst, als man
gewöhnlich glaubt,“ lautet ein Wort von Goethe. Und ganz wie Aristoteles
sucht er den Schlüssel für die Erkenntnis der Kunstgesetze in der
Kenntnis der menschlichen Seele. Davon handelt eine schöne Stelle des
inhaltreichen Aufsatzes „Der Sammler und die Seinigen“ in dem Gespräch
zwischen dem „Philosophen“ und dem „Gaste“:


Gast: „Jch will über Poesie nicht entscheiden.


Philosoph: Und ich nicht über bildende Kunst.


G. Ja, es ist wohl das beste, daß jeder in seinem Fache bleibt.


Ph. Und doch gibt es einen allgemeinen Punkt, in welchem die
Wirkungen aller Kunst, redender sowohl als bildender, sich sammeln,
aus welchem alle ihre Gesetze fließen.


G. Und dieser wäre?


Ph. Das menschliche Gemüt.


G. Ja, ja, es ist die Art der neuen Herren Philosophen, alle
Dinge auf ihren eigenen Grund und Boden zu spielen, und bequemer
ist es freilich, die Welt nach der Jdee zu modeln, als seine Vorstellungen
den Dingen zu unterwerfen.


Ph. Es ist hier von keinem metaphysischen Streite die Rede.


G. Den ich mir auch verbitten wollte .... Wie wollen Sie auch
den wunderlichen Forderungen dieses lieben Gemütes genug thun?


Ph. Es ist nicht wunderlich, es läßt sich nur seine gerechten Ansprüche
nicht nehmen. Eine alte Sage berichtet uns, daß die Elohim
einst untereinander gesprochen: Lasset uns den Menschen machen, ein
Bild, das uns gleich sei! Und der Mensch sagt daher mit vollem Recht:
Lasset uns Götter machen, Bilder, die uns gleich seien!


G. Wir kommen hier schon in eine sehr dunkle Region.


Ph. Es gibt nur ein Licht, uns hier zu leuchten.


G. Das wäre?


Ph. Die Vernunft.


G. Jnwiefern sie ein Licht oder Jrrlicht hat, ist schwer zu bestimmen.


Ph. Nennen wir sie nicht, aber fragen wir uns die Forderungen
ab, die der Geist an ein Kunstwerk macht! Eine beschränkte Neigung
soll nicht nur ausgefüllt, unsere Wißbegierde nicht etwa nur befriedigt,
unsere Kenntnis nur geordnet und beruhigt werden: das Höhere, was
in uns liegt, will erweckt sein, wir wollen verehren und uns selbst als
verehrungswürdig fühlen.

|#f0012 : RVI|


G. Jch fange an, nichts mehr zu verstehen ... Was wäre denn
jenes Höhere?


Ph. Das Göttliche, das wir freilich nicht kennen würden, wenn
es der Mensch nicht fühlte und selbst hervorbrächte.


G. Jch behaupte immer meinen Platz und lasse Sie in die Wolken
steigen. Jch sehe recht wohl, Sie wollen den hohen Stil der griechischen
Kunst bezeichnen, den ich aber auch nur insofern schätze, als er charakteristisch
ist.


Ph. Für uns ist er noch etwas mehr; er befriedigt eine hohe
Forderung, die aber doch noch nicht die höchste ist.


G. Sie scheinen sehr ungenügsam zu sein.


Ph. Dem, der viel erlangen kann, geziemt, viel zu fordern.
Lassen Sie mich kurz sein! Der menschliche Geist befindet sich in einer
herrlichen Lage, wenn er verehrt, wenn er anbetet, wenn er einen Gegenstand
erhebt und von ihm erhoben wird; allein er mag in diesem Zustand
nicht lange verharren; der Gattungsbegriff ließ ihn kalt, das Jdeale
erhob ihn über sich selbst; nun möchte er in sich selbst wieder zurückkehren,
er möchte jene frühere Neigung, die er zum Jndividuo gehegt,
wieder genießen, ohne in jene Beschränktheit zurückzukehren, und will
auch das Bedeutende, das Geisterhebende nicht fahren lassen. Was
würde aus ihm in diesem Zustande werden, wenn die Schönheit nicht
einträte und das Rätsel glücklich löste! Sie gibt dem Wissenschaftlichen
erst Leben und Wärme, und indem sie das Bedeutende, Hohe mildert
und himmlischen Reiz darüber ausgießt, bringt sie es uns wieder näher.
Ein schönes Kunstwerk hat den ganzen Kreis durchlaufen; es ist nun
wieder eine Art Jndividuum, das wir mit Neigung umfassen, das wir
uns zueignen können.


G. Sind Sie fertig?


Ph. Für diesmal! Der kleine Kreis ist geschlossen; wir sind
wieder da, wo wir ausgegangen sind; das Gemüt hat gefordert, das
Gemüt ist befriedigt, und ich habe weiter nichts zu sagen.“


Dazu noch ein Wort, das Goethe einmal an seinen Freund Schiller
schreibt: „Lust, Freude, Teilnahme an den Dingen ist das
einzige Reelle, und was wieder Realität hervorbringt;
alles
andere ist eitel und vereitelt nur.“


Königsberg, i/Pr., Ostern 1887.


Hermann Baumgart.

|#f0013 : RVII|

Jnhaltsverzeichnis. ──────

Seite
VorwortIII─VI
Einleitung: Aufgabe der „Poetik“ als einer „Theorie der Dichtung“;
neben der abstrakt=begrifflichen eine historisch=kritische Behandlung erforderlich.
Die heutige Poetik beruht auf Lessings und Schillers Hauptschriften,
deren Resultate zu prüfen sind.1─3
Abschnitt I: Kritik von Lessings Laokoon. Die aristotelisch=lessingsche
Untersuchungsweise der Kunsttechnik die einzig fruchtbare. Die Grundlagen
der Kunstbetrachtung des Aristoteles. Die Frage nach dem Begriff
der Nachahmung im Laokoon nicht aufgeworfen.3─9
Abschnitt II: Der Begriff der Handlung im Laokoon; Herders Kritik
desselben; innere und äußere Handlung; Handlung als Gegenstand
und als Mittel der Nachahmung Der Begriff der Mimesis und
ihre Objekte.9─23

Abschnitt III: Das Successive in der Lyrik; dasselbe ist Mittel der
lyrischen Nachahmung, Gegenstand derselben ein Pathos oder Ethos;
auch das Körperliche gehört zu den Mitteln der Poesie. Das Gesetz
des Laokoon ein lediglich technisches, das die Mittel, nicht die Gegenstände
der Mimesis betrifft.

23─32
Abschnitt IV: Aufgabe der Mimesis nicht Nachahmung der Wirklichkeit,
sondern ihrer Wirkungen auf die Seele; dieselben sind bedingt
durch psychisches Leben, das den bloßen Naturobjekten erst durch Analogie
beigelegt wird. Das Poetische der griechischen Mythologie
Berechtigung der Landschaftspoesie; malerische Naturnachahmung;
auch das Koexistente nur Mittel der Mimesis psychischen Lebens.
Deutliche Empfindungen unterschieden von Empfindungsdispositionen
und Stimmungen; die Naturobjekte als Mittel für die Nachahmung
der letzteren. Hierin die wesentlichen Kriterien der Mimesis, der
Gegensatz des Koexistenten und Successiven nur ein technischer und
untergeordneter.32─49
Abschnitt V: Handlung als Gegenstand der Nachahmung das Kennzeichen
der epischen, als Mittel derselben der lyrischen Gattung.
Ballade. Volkslied. Bürgers „Lenore“. ─ Begriff
|#f0014 : RVIII|

Seite
des Ethos. Dasselbe als Gegenstand der Mimesis in Architektur
und Plastik; in der Poesie hier das Feld der Ballade.
Die englische Volksballade.49─64
Abschnitt VI: Definition der Ballade. ─ Warum dieselbe den
Griechen fremd. Goethe über die Ballade. Seine und Schillers
„Balladen“. Die Romanze. Definition derselben. Uhlands
Romanzen; Romanzen-Cyklus. Herders Cid. Die poetische
Erzählung
.64─76
Abschnitt VII: Die sogenannte „didaktische Poesie“ und „Reflexionsdichtung“.
Gedankendarstellung als Mittel der Mimesis.
Verhältnis der Erkenntnis- und Empfindungskräfte zu einander,
des Gedankens zur Anschauung. ─ Das Ethos des Gedankens.
─ Die gnomische Dichtung, die rein lyrische und
die paränetische. ─ Lehrgedicht und Reflexionspoesie. ─ Schillers
Gedankenlyrik. Die Technik derselben. Worin Goethe auf diesem
Felde gegen Schiller zurücksteht und worin er ihn übertrifft. Seine
Umwandlung der Gedankenpoesie in reine Lyrik. Die verschiedenen
Methoden in Goethes Jdeenlyrik: die rein lyrische, dramatische und
allegorische. Die Allegorie als ein poetisch berechtigtes Mittel der
Nachahmung. Definition der „poetischen Allegorie“. „Mahomets
Gesang“; „Seefahrt“; „Adler und Taube“.76─102
Abschnitt VIII: Die satirisch=humoristische Poesie. Schiller über
dieselbe. Die satirische Dichtung erregt das Ethos, das sie nachahmt,
indirekt. Verschiedenes Verfahren der satirischen und humoristischen
Dichtung. ─ Die Empfindungen des Lächerlichen und
des Wohlgefälligen und ihr wechselseitiges Verhältnis. ─ Definition
der Satire.
─ Horaz, Satire I, 4. ─ Goethes „Episteln“.
Schillers satirisch=humoristische Gedichte. ─ Abarten der Gattung.102─115
Abschnitt IX: Das Epigramm; sowohl der gnomischen als der humoristisch=satirischen
Poesie verwandt, durch seine Form verschieden. ─
Lessings „Anmerkungen über das Epigramm“. Seine Definition
des Epigramms trifft nur die Form, nicht das Wesen desselben.
─ Herders „Anmerkungen über die Anthologie der
Griechen
“ und Kritik derselben. Beispiele aus der Anthologie.
Der „Sinnspruch“ und das satirisch=humoristische Epigramm;
verschiedenes Verfahren in denselben. Anwendung von
Bildern, Symbolen, allegorischen Einkleidungen. Das „hyperbolische
und das „komische“ Epigramm. ─ Martial, Logau. ─
Die Spruchdichtung. ─ Das Ethos dieser Art von Poesie. ─
Die „Xenien“.115─140
Abschnitt X: Pseudo-Epigramm. ─ Unterschied der Fabel vom Epigramm;
Lessings Meinung darüber und Kritik derselben. ─ Die
Fabel der epischen Poesie zugehörig, für welche Handlung der
Gegenstand der Mimesis
ist. ─ Wesen und Begriff der Handlung;
verschiedene Bedeutungen des Worts. Verhältnis der Handlung
zu den Seelenbewegungen des Pathos und Ethos. ─ Jnwiefern
die „ästhetische Mimesis“ von „Handlungen“ möglich
|#f0015 : RIX|

Seite
ist. ─ Die mit solcher Nachahmung verbundene Hedone; Begriff
derselben. ─ Das „ästhetische Vergnügender Sitz der
ästhetischen Urteilskraft“. ─ Der fundamentale Unterschied,
ob eine Handlung Gegenstand oder Mittel der Nachahmung ist. ─
Das Volkslied; Goethes „Gefunden“ und „Heidenröslein“.140─154
Abschnitt XI: Die Fabel. Lessings Definition derselben; Hamanns
Polemik gegen sie. ─ Jakob Grimm über „das Wesen der Tierfabel“.
─ W. Scheres Polemik gegen J. Grimm. ─ Herder über
die Fabel. ─ Kritik der Lessingschen und Herderschen Fabeltheorie. ─
Die äsopische Fabel; die deutsche Tierfabel. Das allegorische
Element
in Lessings Fabeln; seine Fabel vom „Tiresias“.154─179
Abschnitt XII: Die Parabel. Lessings Erklärung derselben unrichtig.
Wesen und Definition der Parabel. Lessings Parabel von den
„drei Ringen“ und vom „Palast im Feuer“. ─ Die Allegorie;
Quintilians und Lessings Definition derselben. Die Anwendung der
allegorischen Darstellungsweise in der Kunst. Verhältnis der Allegorie,
als selbständiger Dichtungsweise zur Parabel. ─ Goethe über
„allegorische“ und „symbolische“ Poesie. ─ „Jdee“ und „Begriff“. ─
Wesen der poetischen Symbolik.179─200
Abschnitt XIII: Die verschiedenen Zwecke, Mittel und Formen
der poetischen Nachahmung von Handlungen.

Vollständigkeit der Handlung. ─ Verkürzung des Handlungsverlaufs
durch Modifikation der Personen, der äußeren Umstände;
die hierfür geltenden Gesetze. ─ Poesie und Geschichte. ─ Schicksal;
der Schicksalsbegriff bei den Griechen. ─ Einheit der poetischen
Handlung. ─ Wunder, Sage, Märchen und Tierfabel.
Die Anwendung der Tiere in der Fabel; das Komische derselben. ─
Tierepos, komisches Epos und poetische Erzählung.200─223
Abschnitt XIV: Die „Moral“ und das epische Element in der
poetischen Erzählung. ─ Die Lehre von der „anschauenden Erkenntnis“.
─ Die komische Erzählung. ─ Das Wesen des Lächerlichen.
Aristoteles, Lessing, Kant, Goethe, Jean Paul, Vischer darüber.
─ Die Freude am Lächerlichen, das „richtige Lachen“. ─
Das Gesetz für die ästhetische Darstellung des Lächerlichen;
die Mittel derselben. ─ Gegenseitige Katharsis der Affekte des
Lachens und des Wohlgefallens. ─ Shakespeares Komik; der
Mangel des hedonischen Elementes bei Moliere. ─ Die Entwickelung
der komischen Poesie durch das genre sérieux, die comédie larmoyante;
durch J. Elias Schlegel, Gellert, Lessing. ─ An Stelle des
Ästhetisch-Lächerlichen im achtzehnten Jahrhundert einerseits das
Häßliche, Kleinliche, bloß Witzige vorherrschend, andrerseits
an Stelle des Wohlgefälligen das Moralisierende, Rührselige.224─252
Abschnitt XV: Hauptvertreter dieser Richtung Gellert. Vergleich mit
Hans Sachs ─ Grundgesetz der Epik die Nachahmung
von Handlungen durch Erzählung.
Ethischer und pathetischer
Gesamtcharakter der Epik. ─ Verstandesreflexion und
Moral der Epik widerstrebend; G. Schwabs „Johannes Kant“. ─
|#f0016 : RX|

Seite
Herders moralische Erzählungen, die er Legenden nennt. ─ Die
Legende.
─ Bestimmung der Faktoren, die für Auswahl und
Komposition der Handlung in den Hauptgattungen der Epik maßgebend
sind.252─268
Abschnitt XVI: Die idyllische Gattung. ─ Begriff der Größe der
Handlung. ─ Heroisch=tragische Gattung. ─ Einfache und verwickelte
Handlung. ─ Unglücklicher und glücklicher Ausgang. ─ Vollständigkeit
und Einheit der epischen Handlung. ─ Volksepos und
Kunstepos.268─280
Abschnitt XVII: Homer; Virgils „Aeneis“. ─ Das romantische Epos. Hartmann
von Aue; Gottfried von Straßburgs „Tristan und Jsolde“;
Wolfram von Eschenbachs „Parcival“. ─ Die Nibelungen.
Die Frage der Liedertheorie.Einheit des Nibelungenliedes.280─308
Abschnitt XVIII: Entartung der romantischen Epik zum Phantastischen. ─
Cervantes. Ariost. ─ Das komische Epos. Reineke Vos.
Der Schwank. Goethes „Hans Sachsens poetische Sendung.“ ─
Die komische Legende. Bürger. ─ Die satirisch=didaktischen Erzählungen
des Mittelalters und des sechzehnten Jahrhunderts: Fabeln,
Schwänke, Fabliaux,
Novellen“. ─ Boccaccio. ─
Chaucer. ─ Das spätere komische Epos.308─329
Abschnitt XIX: Das Drama. Gegenstand, Mittel, Art und Weise der
dramatischen Nachahmung; ihre Vollständigkeit, Einheit. ─ Aufgabe
des Dramas, die reinen Schicksalsempfindungen hervorzurufen.
─ Die „schicksalsvollste“ Handlung die dramatisch beste. ─
Nicht Charakterschilderung sondern Handlung der Gegenstand des
Dramas. ─ Verschiedenheit der epischen und dramatischen Handlungsnachahmung.
─ Das Tragische nicht immer auch dramatisch. ─
Tragikomödie, Schäferspiel, Hirtengedicht, Singspiel, larmoyante
Komödie, Schauspiel, dramatisches Gedicht. ─ Goethes „Stella
Tragödie oder Schauspiel?329─358
Abschnitt XX: Grenzen des Tragischen in der dramatischen Poesie. ─
Das Wesen des Schauspiels als einer eigenen dramatischen
Gattung. ─ „Historien.“ ─ Die sogenannte „Jdee“ eines Dramas.
─ Shakespeares „Maß für Maß“, Kaufmann von Venedig“;
Lessings „Minna von Barnhelm“. ─ Shakespeares „Sturmals
Typus des Schauspiels.
─ Das „Wintermärchen“.358─393
Abschnitt XXI: Definition des Schauspiels. Sein Verhältnis
zum Lustspiel und zur Tragödie. ─ Shakespeares „Richard III“;
Schillers „Wilhelm Tell“; Lessings „Nathan der Weise“. ─ Das
Element des Rührenden als Zweck dramatischer Nachahmung;
Wesen und Entwickelung der comoedia commovens und des genre
sérieux
. ─ Voltaire und Diderot, in der Theorie und
Produktion die Begründer der neuen Gattung. Dieselbe weder mit
den Gesetzen des Schauspiels noch mit denen der Tragödie oder
Komödie in Einklang.393─423
Abschnitt XXII: Die Tragödie. Lessing über die aristotelische Definition
der Tragödie. ─ Der Kardinalfehler in Lessings Auffassung
|#f0017 : RXI|

Seite
derselben. ─ Verhältnis der aristotelischen Kunstanschauung zur
Kantschen. ─ Goethe über die aristotelische Tragödienerklärung. ─
Das Schöne der Natur und des koexistent oder successiv vorgetragenen
Kunstwerks. ─ J. Bernays' Erklärung der tragischen
Katharsis.
─ Die Bedeutung des Ausdrucks Katharsis bei Aristoteles.
─ „Läuterung“ nicht „Entladung“. ─ Die musikalische
Katharsis. ─ Der Unterschied von Pathos und Pathema
im aristotelischen Sprachgebrauch. ─ Bedeutung dieser Begriffe in
Psychologie und Ethik des Aristoteles.423─451
Abschnitt XXIII: Die Katharsis als Aufgabe aller Kunst. ─ Die tragischen
Affekte der Furcht und des Mitleids. ─ Lessings Auffassung
der aristotelischen Definition derselben; sein Jrrtum.
Die tragische Furcht und der Schicksalsbegriff. ─ Die
Ödipustragödien des Sophokles; seine „Antigone“. ─ Das
Dogma von dem „tragischen Konflikt der Pflichten“. ─ Lessings
Emilia Galotti“; der Mangel des Stückes aus dem Fehler der
Lessingschen Theorie hervorgehend. ─ Kuno Fischer über das tragisch
Furchtbare. ─ Begriff der „tragischen Größe“. ─ Das bürgerliche
Trauerspiel.
─ Shakespeares „Romeo“, „Othello“, die
„Gretchen-Tragödie“ im Faust; dagegen „Miß Sara“, „Clavigo“,
„Kabale und Liebe“.451─497
Abschnitt XXIV: Furcht und Mitleid in der klassischen Tragödie der
Franzosen, in der späteren Entwickelung der deutschen Tragödie. ─
Unentbehrlichkeit der tragischen Furcht neben dem tragischen Mitleid.
─ Mendelssohns Erklärung des Mitleids verfehlt. ─ Die
tragische Hamartie.
─ Körperliches Leiden als tragischer Stoff. ─
Der „Philoktet“ des Sophokles. ─ Das tragische Schicksal und
der moderne Pessimismus. ─ Die Schicksalslösung in Goethes
„Jphigenie“. Der deus ex machina im „Philoktet“. ─ „Schuld“
und „Schicksal“ in der Tragödie.497─513
Abschnitt XXV: Resultate der Polemik gegen die Bernayssche
Entladungstheorie.
Lessings Jugendbriefe an Mendelssohn
nicht Zeugnisse für, sondern gegen dieselbe. ─ Die Emotionstheorie
des Abbé Dubos. ─ Begriff der „Jllusion“. ─ Furcht
und Mitleid nicht mitgeteilte, sondern primäre Affekte. ─ Die
kathartische Wirkung der Olymposlieder. ─ Die neuplatonische
Bekämpfung
der aristotelischen Katharsistheorie; die Beschwichtigungstheorie
der Neuplatoniker. ─ Die psychologischästhetische
Begründung der Bernaysschen Hypothese. Begriff der
Ekstasis bei Aristoteles. ─ Die Katharsis das regulative
Prinzip für die Komposition der Tragödie
.514─538
Abschnitt XXVI: Schillers Abhandlungen „Über den Grund des
Vergnügens an tragischen Gegenständen
“. ─ Seine Theorie
des „freien Vergnügens“; die Begründung desselben durch den
Zweckmäßigkeitsbegriff“. ─ Die angeblich aristotelische Definition
der Schönheit durch den Begriff der „Größe und Ordnung“.
─ Schillers Erklärung des „Rührenden“ und „Erha=
|#f0018 : RXII|

Seite
benen“ aus dem Sieg des Moralischen über das Sinnliche. ─
Seine Beispiele nicht tragisch, sondern moralisch. „Timoleon“ und
Shakespeares „Julius Cäsar“. ─ Jrrige Anwendung des Begriffs
der „moralischen Lust“ auf die Kunst. ─ Schillers Unterschätzung
der Komödie und seine Verkennung der griechischen Tragödie.
─ „Notwendigkeit“ und „Schicksal“.538─558
Abschnitt XXVII: Dergefesselte Prometheusdes Äschylus.
Die antike Auffassung des tragischen Schicksals; ihr Gegensatz
zu der dualistischen Weltauffassung. ─ K. Lehrs über den
Prometheus des Äschylus.558─585
Abschnitt XXVIII: Schillers Abhängigkeit von Kant in der Theorie der
Kunst. ─ Die Emanzipation seines poetischen Schaffens von den
Jrrtümern seiner Spekulation. ─ Seine späteren Äußerungen über
Tragödie und Drama, im Gegensatz zu der Egmont-Rezension von
1788. ─ Schiller über das Symbolische in der Poesie.
Die Abhandlung „über den Gebrauch des Chors in der
Tragödie
“. ─ DieBraut von Messina“.585─609
Abschnitt XXIX: Die „Choephoren“ und die „Eumeniden“ des
Äschylus; die „Elektra“ des Sophokles; die „Elektra“ des
Euripides. Shakespeares „Hamlet“.609─659
Abschnitt XXX: Die Komödie. Jhr Wesen und ihre Definition.
Beweis, daß das in Cramers Anecdota Parisiensia überlieferte
Fragment „Über die Komödie“ der aristotelischen Poetik
entstammt. Kritik der Abhandlung von J. Bernays über dasselbe.
─ Die aristotelische Definition des Lachens. ─ „Lachen
und „Freude“ die komischen Affekte. ─ Unterscheidung der Komödie
von der Schmähung und dem Spott. Begriff der „Emphasis“.
─ Die Mimesis auf der „Energie“ der Darstellung beruhend.
─ Das „Ebenmaß“ des hedonischen und komischen Elementes
in der Komödie. ─ Die komische Katharsis. ─ Die
Phantastik in der Komödie. ─ Die komischen Charaktere; der
aristotelische Begriff der „Jronie“ und der Humor. ─ Die verschiedenen
Arten des komischen Ausdrucks und der komischen
Handlungen
659─700
Anhang: Kants Kritik der ästhetischen Urteilskraft in ihrem
Verhältnis zur aristotelischen Philosophie
.701─723
Register724─735
|#f0019 : E1|


Bei dem Versuche, die „Poetik“, als eine „Theorie der Dichtkunst“,
wissenschaftlich darzustellen, wird man es immer noch nicht
wagen können, den direkten Weg rein systematischer Begriffsentwickelung
einzuschlagen. Denn wie es hier an einem allgemein anerkannten
Grundprincip der theoretischen Betrachtung fehlt, so wäre auch jeder
Schritt jenes Weges mit einer Menge der dornigsten Probleme besät,
von denen keines ganz losgelöst von den Zeitverhältnissen und =Anschauungen,
die es in den Vordergrund drängten, und ganz unabhängig
von den verschiedenen Stadien der Erörterung, die es erfahren, erwogen,
ja nur verstanden werden kann. Der Gegenstand verlangt daher neben
der abstrakt=begrifflichen gebieterisch eine historisch=kritische Behandlung;
beide müssen eng verbunden werden und, wo möglich, sich gegenseitig
völlig durchdringen. Wie die theoretischen Begriffe der Poetik auf dem
Hintergrunde ihrer geschichtlichen Entwickelung angeschaut werden müssen,
so kann andrerseits die Darstellung der letzteren nirgends der kritischen
Prüfung entraten, und wieder, wie könnte diese in einheitlich zusammenhängender
und übereinstimmender Weise erfolgen, ohne daß eine gemeinsame
principielle Grundlage gewonnen würde, auf welche überall
die einzelnen Sätze zurückzuführen wären?


Nicht anders ist auch in der That der Komplex von Vorschriften,
Gesetzen, Definitionen und Beobachtungen entstanden, welchen wir mit
dem Namen einer deutschen Poetik bezeichnen. Da hierzu eine Vereinigung
von litterar=historischem Bewußtsein mit gelehrter Kritik und ästhetischer
Spekulation erfordert wurde, so zeigen sich die ersten Spuren
nicht vor dem Beginn des siebzehnten Jahrhunderts. Aber sowohl Opitz
und seine Mitstrebenden als die sehr zahlreichen nachfolgenden „Poetiken“
dieses Jahrhunderts haben für die Theorie der Dichtkunst sehr wenig
geleistet, sie beschränken sich fast ausschließlich auf Vorschriften für die
praktische Uebung der Poesie. Erst das „philosophische“ achtzehnte Jahrhundert
fand für die Lösung der Aufgabe die höheren und allgemeineren
Gesichtspunkte; anknüpfend an die kunst=philosophischen Schriften der |#f0020 : 2|

Franzosen, Jtaliener und Engländer entstand in Deutschland der berühmte
litterarische Streit, der, obwohl im Grunde um wenige, vereinzelte
und verhältnismäßig untergeordnete Fragen sich bewegend, doch
die Veranlassung wurde, daß aus dem gesteigerten Jnteresse an der
litterarischen Kritik die Untersuchung nun den Aufschwung zu den höchsten
Zielen gewann: zu der Frage nach dem Wesen des Schönen überhaupt
und was in den einzelnen Künsten dafür zu gelten habe. Wenn schon
die Streitschriften der Schweizer diese Richtung eingeschlagen hatten, so
erfuhr um die Mitte des Jahrhunderts die neue Wissenschaft auf dem
Boden der Wolffschen Philosophie eine systematische Bearbeitung und
erhielt zugleich den Namen, den sie seither getragen hat, durch die
„Aesthetica“ des Frankfurter Professor Baumgarten. Seine Schriften
und die seines Schülers und Anhängers Meier bildeten das Fundament,
auf welches noch eine lange Zeit die Untersuchungen über die Theorie
der Dichtung gegründet wurden. Aber bleibenden Wert und absolute
Geltung vermochten sie so wenig zu behaupten als die Wolffsche Philosophie
selbst, aus welcher ihre obersten Principien geschöpft waren. Die
Baumgartensche Theorie lieferte weder unmittelbar praktisch verwendbare
Gesetze und Regeln, welche direkt zur Bekämpfung der Mängel der
deutschen Dichtung, wie sie um die Mitte des Jahrhunderts sich entwickelt
hatte, geeignet gewesen wären, noch war sie tief genug gegründet, um
in den folgenden Jahrzehnten den ungemein erweiterten und bereicherten
Anschauungen vom Wesen der Poesie standhalten zu können.


Hier treten nun Lessing und Schiller ein, der eine auf der
Aristotelischen, der andere auf der Kantschen Philosophie Fuß
fassend. Soweit die heute geltende „Poetik“ auf einigermaßen festem
Boden steht, stützt sie sich in den Fundamentalsätzen überall auf die von
Lessing und Schiller gewonnenen Resultate. Sie beginnt erst recht
eigentlich mit dem „Laokoon“, und der Laokoon mit der „Hamburgischen
Dramaturgie
“ liefert ihr noch heute den größten Teil
ihres Besitzstandes.


Eine historisch=kritische Darstellung der deutschen Poetik wird also
nicht umhin können sich zunächst mit den Fragen auseinanderzusetzen:
Wie weit sind die in den genannten Schriften aufgestellten Fundamentalsätze
noch heute in Geltung? Mit welchem Rechte sind sie zum Teil bestritten
oder bestreitbar? Sofern sie fehlerhaft sind, wo sind diese Fehler
zu suchen, in den Voraussetzungen oder in den Schlußfolgerungen? Jst
demnach die Methode der Untersuchung oder sind die Grundprincipien
zu verwerfen?


Mit einem Worte: ehe die eigentliche Darstellung begonnen werden |#f0021 : 3|

kann, wird der Versuch zu machen sein, einen möglichst objektiven und
absoluten Maßstab der Beurteilung zu konstruieren, und jener Versuch
wird notwendig von der Prüfung jener mit Recht in ihren Hauptresultaten
als kanonisch geltenden Schriften seinen Ausgang nehmen müssen. Zunächst
also von Lessings Laokoon. Jn den folgenden einleitenden
Abschnitten soll dieser Versuch gemacht werden. ──────


I.


Mehr als ein Jahrhundert ist seit dem Erscheinen von Lessings
Laokoon verflossen, ohne daß die Zeit dem Ansehen und der Bedeutung
dieser Schrift etwas abzuziehen vermocht hätte. Eher könnte man, sieht
man die wachsende Litteratur an, die sich an den Laokoon knüpft, behaupten,
daß das Jnteresse an den darin behandelten Problemen und
namentlich an der Art ihrer Behandlung sich noch fortwährend steigert.
Das könnte nicht so sein, wenn diese Streitfragen einen sicheren Abschluß
gefunden hätten; statt dessen ist vielmehr unter allen Sätzen das Laokoon
kaum ein einziger, der, seit Herders erstem kritischen Wäldchen bis auf
den heutigen Tag, nicht fast ebenso viele Gegner als Verteidiger gefunden
hätte, und zwar so, daß die Polemik nicht allein Lessings specielle Auffassung
der Laokoongruppe trifft, sondern daß die wichtigsten Resultate
der Lessingschen Kunsttheorie vielfach geradezu negiert, andrerseits selbst
von den Verteidigern doch nur bedingt gelten gelassen werden. Ein mit
der höchsten Sorgfalt und Vollständigkeit entworfenes Bild des Standes
der Frage gibt nach allen Seiten hin die zweite Auflage von Blümners
Kommentar zum Laokoon.


Für alle Zeiten mustergültig ist die eben nur einem Lessing eigentümliche
Methode der kritisch=polemischen Untersuchung in dem merkwürdigen
Buche; hieraus zu lernen wird man so wenig aufhören, als
aus dem Besten, was das Altertum uns hinterlassen hat. Um so mehr
wird, sofern die Sätze des Laokoon die unbestrittene kanonische Geltung
nicht mehr besitzen, die Untersuchung sich auf die Voraussetzungen zu
wenden haben, von welchen Lessing darin ausgegangen ist.


Aber wo den Maßstab hernehmen, um die Kritik eines Lessing zu
prüfen? Wo die Autorität finden, der selbst ihm gegenüber eine objektive
und unbedingte Giltigkeit zuzuerkennen wäre?


Es gibt nur einen, dem dieses Ansehen unbestritten gebührt, und
für den Lessing selbst es am nachdrücklichsten gefordert hat: Aristoteles;
aber nicht allein mit seiner Poetik, sondern mit der Gesamtheit seiner |#f0022 : 4|

Schriften, aus denen ja für jene erst das Verständnis gewonnen
werden kann.


„Die Poetik des Aristoteles ist das Fundament der Lessingschen
Aesthetik. Von dem Höhepunkt dieser Aesthetik, der Theorie des Tragischen,
ist diese Thatsache offen daliegend; sie ist aber eben so zweifellos
in betreff des allgemeinen Aufbaues dieser Wissenschaft wie er im Laokoon
vorliegt.“ So schreibt W. Dilthey in einem trefflichen Aufsatze „über
Gotth. Ephr. Lessing“ in den Preußischen Jahrbüchern 1867, und es wird
die Richtigkeit des Satzes wohl nicht bestritten werden.


Dagegen ist die folgende Stelle desselben Aufsatzes geeignet eine
Reihe von Bedenken hervorzurufen: „Das Rätsel des Schönen und der
Kunst ist durch drei ganz verschiedene Untersuchungsweisen in Deutschland
der Erörterung unterworfen worden. Der Aristotelische Gedanke
einer Technik der Künste, d. h. einer Untersuchung der Mittel, vermöge
deren sie die höchsten Wirkungen hervorrufen, herrschte bei Kant. Durch
Kant trat die Verfassung des produzierenden Genies selber in den Vordergrund;
der tiefe Gedanke von einer besondern Art des Genies die Welt
aufzufassen ward durch ihn, Schiller und Fichte, die Romantiker und
folgenden Philosophen fortgebildet und in seine historischen Konsequenzen
verfolgt. Das Studium der physiologischen Bedingungen hat dann den
gegenwärtigen Arbeiten ein ganz neues Fundament gegeben.“


Diese Sätze enthalten manche Unklarheit; vor allem aber muß dagegen
Verwahrung eingelegt werden, daß in jenen „drei ganz verschiedenen
Untersuchungsweisen“ eine Steigerung enthalten sei, hinsichtlich ihrer
Fähigkeit das „Rätsel des Schönen und der Kunst“ zu lösen, ja daß sie
in dieser Beziehung auch nur als gleichberechtigt einander koordiniert
werden dürften. Eher noch möchte die Steigerung im umgekehrten Verhältnisse
stattfinden. Untersuchungen über Symmetrie und Proportion,
wie z. B. der empirische Erweis, daß das Verhältnis des goldenen
Schnittes uns besonders wohlgefällig sei und daher überall im Kunstgewerbe
eine vorzugsweise Anwendung finde, ferner über Harmonie,
Farbenmodulation und Aehnliches können bis auf einen gewissen Grad den
Nachweis führen, daß manches unsern Sinnen Angenehme (ἡδεῖα)
sich als auf bestimmte mathematische und arithmetische Verhältnisse, auf
die physikalische Natur des Klanges oder der Farbenerscheinung, zugleich
auf die Physiologie unseres Organismus gegründet, als natürliches Postulat
der Einrichtung unserer Sinneswerkzeuge ergibt. Aber da, wo das
eigentliche Gebiet der Kunst erst beginnt, mit den ethischen Eindrücken,
da also, wo es gilt, vermittelst jener angenehmen Sinneseindrücke
zusammenhängende, bewußt empfundene Seelenvorgänge höherer |#f0023 : 5|

Art, wie sie die Seele bevorzugter Menschen bewegten, nun auch in den
Seelen der übrigen Menschen hervorzurufen, da hören alle Resultate jener
Untersuchungsmethode längst auf. So wichtig z. B. die berühmten Helmholtzschen
optischen und akustischen Entdeckungen für die Wissenschaft sind,
so haben sie für die Ausübung und auch für die Betrachtung der musikalischen
und malerischen Kunst doch kaum einen andern Wert als das
Apercü der Pythagoräischen Zahlentheorie. Diese ganze, vielfach jetzt
so hoch gepriesene Methode kann es höchstens zu äußerlichen Resultaten
bringen und auch hier nur dazu, einzelne von der Praxis längst oder
von jeher geübte Handgriffe und immer befolgte äußere Elementargesetze
nun noch als durch die physikalische Wissenschaft bestätigt und mit physiologischen
Erfahrungen in Uebereinstimmung aufzuzeigen.


Auch die zweite von Dilthey namhaft gemachte „Untersuchungsweise“
ist weit davon entfernt, die erste, Aristotelisch-Lessingsche zu überbieten,
oder auch nur ihr gleichgestellt werden zu können. „Die Verfassung
des produzierenden Genies selbst,“ „der tiefe Gedanke von einer besondern
Art des Genies die Welt aufzufassen“ ─ es ist nicht mit völliger Deutlichkeit
zu erkennen, was damit für die theoretische Kunstbetrachtung
specifisch Unterscheidendes gesagt sein soll. Genies hat es zu allen Zeiten
gegeben, und zu allen Zeiten hat nicht allein ein jedes seine besondere
Art gehabt die Welt anzusehen und wiederzuspiegeln, sondern solange
es etwas Aehnliches wie Kunstbetrachtung gibt, hat sie gerade von dem
Eigenartigen, welches das einzelne Genie charakteristisch in dieser Beziehung
auszeichnete, ihren Anfang genommen. Daß eine räsonnierende
Kunstphilosophie von diesem Gesichtspunkte aus, namentlich wenn sie in
historischer Ueberschau die Epochen und Zeitalter vergleichend ins Auge
faßt, eine Menge interessanter Beobachtungen anstellen kann, ist gewiß,
und von denen, die Dilthey nennt, hat Schiller hierin den schärfsten
Blick und die großartigste Auffassungsweise entwickelt. Er hat auch noch
mehr gethan: er hat in solcher Betrachtung die Wege gefunden, „das
Rätsel des Schönen und der Kunst“ in seiner Lösung höchst wesentlich
zu fördern. Aber wie anders konnte dies geschehen, als daß durch solche
vergleichende Erforschung des Genies eben nur neues Material vermittelt
wurde, Gesetze der Kunsttechnik aufzufinden, Regeln und Vorschriften
für die einzelnen Künste aufzustellen; wie anders, als daß „die Mittel
untersucht wurden, vermöge deren sie die höchsten Wirkungen hervorrufen,“
d. h. also, wie anders als in derselben Weise, in der eben
Aristoteles und Lessing die Kunst oder vielmehr die Künste untersucht
haben. Und ist Lessing nicht auf demselben Wege dazu gelangt
wie Schiller? Jst etwa in der Hamburgischen Dramaturgie nicht der |#f0024 : 6|

„tiefe Gedanke“ enthalten „von einer besondern Art,“ wie die französischen
Tragiker und die Griechen die Welt auffassen und wie die
spanischen Dramatiker und wie etwa ein Shakespeare?


Kurz, es gibt nur eine Art der Kunstbetrachtung, welche zu positiven
Resultaten führt, und das ist die Aristotelisch-Lessingsche! Wie in
ihr alle übrigen zusammenlaufen und sie fähig ist alle andern in sich aufzunehmen
und sich dienstbar zu machen, so muß eine jede andere, sobald
sie zu ihrem eigentlichen Zwecke gelangt, die Konsequenzen zu ziehen, sich
ihrer bedienen. Eine Technik der Kunst aufzustellen, die Mittel
ihrer höchsten Wirkung
zu bezeichnen, darauf kommt alles an, und
hier haben Aristoteles und Lessing für alle Zeiten das mustergültige
Beispiel gegeben. Jhre Methode ist die einzig wahre und fruchtbare,
unübertroffen und unvergänglich!


Jeder Versuch von einem Princip, einer Definition des Schönen
ausgehend, die einzelnen Künste zu erforschen und ihnen Regeln zu stellen
─ des absolut Schönen oder wie es dem einzelnen Genie oder einzelnen
Nationen und Epochen erschien ─ muß scheitern. Der Begriff dessen,
was in den einzelnen Künsten schön sei, kann sich für die theoretische
Erkenntnis umgekehrt erst aus den richtig erkannten technischen Gesetzen
derselben ergeben; ja die Theorie des Schönen überhaupt wird, wenn
sie nicht in subjektive und leere Abstraktionen sich verlieren oder mit
einzelnen ganz allgemeinen Bestimmungen sich begnügen soll, diesen Weg
einschlagen müssen. Auch das Naturschöne wird schlechterdings nicht
anders theoretisch erkannt und beurteilt werden können, als indem
der Umweg durch die Erkenntnis des Kunstschönen genommen wird,
und nur der Ueberblick über die Gesamtheit der technischen Grundgesetze
der einzelnen Künste wird diese Erkenntnis in ihrem vollen Umfange
herbeiführen können.


Für die Begründung aber einer solchen Erkenntnis hat das Altertum
und vor allen Aristoteles bei weitem mehr gethan, als die
neuere nnd neueste Kritik anerkennen will. Noch in der erwähnten zweiten
Auflage seines Laokoon-Kommentars, in welchem überall das Bestreben
vorwaltet den heutigen Stand der Kritik zu resümieren, findet Blümner,
daß „eine wirkliche Theorie der Künste, ein ästhetisches System, wenn
man es so nennen soll, niemals bei den Alten existiert hat.“ „Wir sind
gewöhnt,“ fährt er weiterhin zur Begründung fort, „die Werke der Kunst
als Schöpfungen der frei waltenden Phantasie zu betrachten; wie fremdartig
muß es uns daher anmuten, wenn wir sehen, daß das gesamte
Altertum, indem es die Künste als nachahmende bezeichnete, ihnen
eine, wie es zunächst scheinen könnte, niedrigere Stufe anwies, sie aus |#f0025 : 7|

dem Gebiete des Jdealen in die gemeinere Sphäre der Wirklichkeit herabdrückte.“
Das einzige aber, was er zur Abwehr der grob=realistischen
Auffassung der Nachahmungstheorie des Aristoteles anführt, ist dieses,
„daß, wenn die Alten die Künste als nachahmende bezeichnen, sie als
Gegenstände der Nachahmung nicht etwa allein die Objekte der
wirklichen, uns umgebenden materiellen Welt verstehen, sondern
auch, ja vornehmlich
jene idealen Formen, welche nicht willkürlich
erfundene, abstrakte Vorstellungen sind, sondern auf der Grundlage einer
ununterbrochenen lebendigen Naturanschauung beruhen.“ Jn der umfangreichen
Einleitung, in welcher Blümner die Vorgeschichte des Laokoon=
Problems gibt, ist denn auch Aristoteles mit einigen wenigen, ganz
allgemein gehaltenen und zwar sehr anfechtbaren Sätzen abgethan.


Eine Behauptung wie die folgende, so oft sie auch ausgesprochen
und nachgeschrieben ist, sollte doch in einem so vorzüglichen Werke wie
das Blümnersche keine Stelle finden: Aristoteles habe den Begriff der
Nachahmung beibehalten, „weil er die psychologische Erklärung des Ursprungs
der höheren Kunstthätigkeit und der Wirkungen, welche
die Werke der Kunst auf die Seele ausüben,
vornehmlich in der
nachahmenden Natur fand. Dem Menschen ist ebenso der Trieb zum
Nachahmen eingepflanzt, als die Lust am Nachgeahmten, und dies erklärt
ebenso die Entstehung der nachahmenden Künste, als das Vergnügen,
welches ihre Schöpfungen bereiten.
“ Das ist natürlich mit Berufung
auf das vierte Kapitel der Poetik gesagt; aber wie kann man
denn übersehen, daß in diesem Kapitel gar nicht von der künstlerischen
Nachahmung die Rede ist, weder von der poetischen,
noch von einer andern kunstgemäßen, sondern von den in der Natur
des Menschen liegenden Ursachen (αἰτίαι φυσικαί), die als die erste
Veranlassung anzusehen sind, wie er überhaupt zu einer bildnerischen
─ poietischen ─ Thätigkeit den Weg hat finden können; denen die
ersten rohen und zufälligen Versuche
(αὐτοσχεδιάσματα) zuzuschreiben
sind, in welchen dann eine spätere Zeit die Antriebe für die
allmähliche Fortentwickelung zur Kunst gefunden hat!


Mit ganz demselben Recht kann man mit dem Hinweise auf jenes
vierte Kapitel und noch vielleicht auf die verwandte Stelle in der Rhetorik
(Buch I. K. 11. 1371, b 4) behaupten ─ und leider ist ja auch
dieses oft geschehen ─, daß nach Aristoteles die Freude, welche die Kunst
hervorbringe, auf der Erkenntnis (μανθάνειν) und der Verwunderung
(θαυμάζειν) beruhe. Jn die empirische Aufzählung dessen, woran die
Menschen sich erfreuen, wie sie an jener Stelle der Rhetorik gegeben
wird, gehört auch diese Freude an der Nachahmung als solcher, an der |#f0026 : 8|

bloßen wohlgelungenen Nachahmung, mag auch das Nachgeahmte an sich
selbst unerfreulich sein; auch hatte Aristoteles gewiß recht in ihr die
zweite natürliche Ursache zu finden (wie es im vierten Kapitel der Poetik geschieht),
welche die primitiven Vorübungen zur Kunstthätigkeit veranlaßte.
Aber diese Freude geht nicht aus dem Jnhalte der Nachahmung hervor,
sondern aus dem bei einer jeden Nachahmung stattfindenden Schluß,
„daß dieses jenes sei“, sie kann also auch wohl durch das echte Kunstwerk
erregt werden, aber als eine nebensächliche und ganz untergeordnete;
mit der Freude am Kunstschönen, mit der von jeder einzelnen Kunst
in besonderer Weise erweckten, ihr ganz eigenen, allein durch sie
bezweckten und erzeugten Freude (οἰκεία ἡδονή) hat jene nicht das
Geringste zu schaffen.


Und doch hat auch Lessing nicht allein den Begriff der Nachahmung
von Aristoteles übernommen, sondern auf dem Grundsteine dieses Begriffes
ruht die ganze Untersuchung seines Laokoon. Nur auf der
Voraussetzung dieses Grundbegriffes hat die ganze von Aristoteles entlehnte
Einteilung und Unterscheidung der Künste nach den Gegenständen
der Nachahmung, nach den Mitteln, mit welchen sie erfolgt
und somit nach der Art und Weise, wie sie einzurichten ist, ihren Sinn
und Bestand. Ein Fehler also, eine Unklarheit in der Auffassung dieses
Fundamentalbegriffes muß notwendig, wenn auch noch so versteckt, in
seinen Konsequenzen sich durch alle Teile der Untersuchung bis in ihre
äußersten Zweige fühlbar machen.


Nun ist freilich Lessing von der trivialen naturalistischen Fassung
des Begriffes der Nachahmung so weit entfernt gewesen, daß es ihm
nicht einmal in den Sinn kam sich dagegen zu verwahren; auch jene
oberflächliche Erklärung des Begriffes aus dem bloßen Naturtrieb und
der Freude am Wiedererkennen konnte sich mit der ihm eigenen Auffassung
der Kunst und ihrer Bestimmung nimmermehr vertragen; aber
─ wie hat denn nun er dieses Fundamentalprincip der „Nachahmung“,
der Aristotelischen Mimesis, definiert? Offenbar erschien ihm eine allgemeine
Definition überflüssig und er ließ es daher zunächst bei dem
herkömmlichen Sprachgebrauch des deutschen Wortes „Nachahmung“ sein
Bewenden haben, ohne sich a priori auf die Ermittelung des Objektes
und der Art und Weise dieser Nachahmung einzulassen. Er meinte
wohl, daß beides, also der specifische Jnhalt dieses Terminus für das
Kunstgebiet, erst als das Resultat der Untersuchungen über die
einzelnen Künste
für jede derselben festgestellt werden könnte.


Es ist klar, daß dieses Verfahren logisch nicht richtig war; denn
wie sollte Sicherheit und Uebereinstimmung in den Einzelunterscheidungen |#f0027 : 9|

vorhanden sein, wenn nicht das Gemeinsame, für die Kunst als solche
überall in gleicher Weise Geltende, welches die Gesamtheit ihrer Aeußerungen
als gesetzgebendes Princip beherrscht, erkannt und in fester Begrenzung
dargestellt ist?


Ein solches Grundprincip ist in dem Aristotelischen Begriff der
Nachahmung“ gegeben, in der Lehre, daß alle Kunst auf der „Mimesis
beruhe. Daß Lessing es versäumte, in der sonst von ihm geübten
Weise diesen überaus wichtigen Begriff der genauesten Zergliederung und
seine Grundlagen der weitgehendsten Durchforschung zu unterziehen, hat
dann zur notwendigen Folge gehabt, daß er im Laokoon, ganz anders
als in der Hamburgischen Dramaturgie, obwohl von der Einteilung des
Aristoteles ausgehend, im weiteren Verlaufe die ungemeine Fruchtbarkeit
derselben im wesentlichen fast ganz unbenutzt gelassen hat, und obwohl
in der Methode ihm treu bleibend, in den Resultaten von seiner Spur
weit abgewichen ist.


Liegt aber im Laokoon eine derartige Jnkonsequenz zu Grunde, so
werden sich daraus nicht allein Abweichungen von des Aristoteles Sätzen
und Meinungen ergeben haben, sondern auch ganz ohne Rücksicht auf
diesen eine Anzahl unrichtiger Schlüsse, welche als solche an und für
sich
erkennbar sein müssen. Da der Laokoon das Hauptstück, ja das
eigentliche Fundament der geltenden Theorie der Dichtkunst ist, so wird
die Untersuchung dieser Frage einem jeden Versuch, dieselbe kritisch darzustellen,
schlechterdings vorangehen müssen. ──────


II.


Jm sechzehnten Abschnitt faßt Lessing die Resultate der vorhergehenden
Untersuchungen in die berühmten Sätze zusammen, welche den
Schwerpunkt des ganzen Laokoon enthalten:


„Wenn es wahr ist, daß die Malerei zu ihren Nachahmungen
ganz andere Mittel oder Zeichen gebraucht als die Poesie; jene nämlich
Figuren und Farben in dem Raume, diese aber artikulierte Töne in der
Zeit; wenn unstreitig die Zeichen ein bequemes Verhältnis zu dem Bezeichneten
haben müssen: so können nebeneinander geordnete Zeichen auch
nur Gegenstände, die nebeneinander oder deren Teile nebeneinander existieren,
aufeinander folgende Zeichen aber auch nur Gegenstände ausdrücken,
die aufeinander oder deren Teile aufeinander folgen.“


„Gegenstände, die nebeneinander oder deren Teile nebeneinander
existieren, heißen Körper. Folglich sind Körper mit ihren sichtbaren Eigenschaften
die eigentlichen Gegenstände der Malerei.“

|#f0028 : 10|


Gegenstände, die aufeinander oder deren Teile aufeinander
folgen, heißen überhaupt Handlungen.
Folglich sind
Handlungen der eigentliche Gegenstand der Poesie.“


„Doch alle Körper existieren nicht allein in dem Raume, sondern
auch in der Zeit. Sie dauern fort und können in jedem Augenblicke
ihrer Dauer anders erscheinen und in anderer Verbindung stehen. Jede
dieser augenblicklichen Erscheinungen und Verbindungen ist die Wirkung
einer vorhergehenden und kann die Ursache einer folgenden und sonach
gleichsam das Centrum einer Handlung sein. Folglich kann die Malerei
auch Handlungen nachahmen, aber nur andeutungsweise durch Körper.“


„Auf der andern Seite können Handlungen nicht für sich selbst bestehen,
sondern müssen gewissen Wesen anhangen. Jnsofern nun diese
Wesen Körper sind oder als Körper betrachtet werden, schildert die Poesie
auch Körper, aber nur andeutungsweise durch Handlungen.“


Der Hauptbegriff, auf dessen Definition sich diese ganze Theorie
stützt, ist der Begriff der Handlung und in diesem liegt auch zu einem
wesentlichen Teile das Jrrtümliche derselben. Offenbar mit sorgfältigem
Vorbedacht hat Lessing diesem Begriffe, durch den die Poesie in der
schärfsten Weise von der Malerei geschieden werden sollte, im Laokoon
die weiteste Fassung gegeben, um ihn dadurch fähig zu machen das ganze
Gebiet der Poesie einzuschließen. Das ergibt sich auf das deutlichste,
sobald man die hier gegebene Definition mit den an andern Stellen von
Lessing formulierten vergleicht. Ja, er ist in den Entwürfen zum
Laokoon sogar noch weiter gegangen; heißt es im Abschnitt XVI: „Handlungen
sind der Gegenstand der Poesie,“ so schrieb er damals nach Mendelssohns
Vorschlag:1 „Nach dem, was wir in unsern mündlichen Unterredungen
ausgemacht haben, verbessere ich meine Einteilung der Gegenstände
der poetischen und der eigentlichen Malerei folgendergestalt:


Die Malerei schildert Körper und, andeutungsweise durch
Körper, Bewegungen.


„Die Poesie schildert Bewegungen und, andeutungsweise durch
Bewegungen, Körper.


„Eine Reihe von Bewegungen, die auf einen Endzweck abzielen,
heißt eine Handlung.


„Diese Reihe von Bewegungen ist entweder in demselben Körper,
oder in verschiedenen Körpern verteilt. Jst sie in eben demselben Körper,
so will ich es eine einfache Handlung nennen, und eine kollektive
Handlung,
wenn sie in mehreren Körpern verteilt ist.“

1
Vgl. Lessing (Hempel) VI, S. 295, Nr. 12. Blümner, Laokoon, S. 444, K. 11.
|#f0029 : 11|


Jhm schien also der Begriff „Handlung“ damals noch zu enge
und er wählte den allgemeineren „Bewegung“, weil bei diesem das
Moment der Einheit fehlt. Mit der hier gegebenen Definition wiederholte
er fast wörtlich die bekannte, in den Abhandlungen über die Fabel1
zu Grunde gelegte: „Eine Handlung ist eine Folge von Veränderungen,
die zusammen ein Ganzes ausmachen. Diese Einheit des Ganzen beruht
auf der Uebereinstimmung aller Teile zu einem Endzwecke.“ Er
betont im Fortgange noch besonders, daß zu der Handlung eine Folge
von Veränderungen
erfordert werde; eine einzelne oder auch
mehrere, die aber nebeneinander bestehen und nicht aufeinander
folgen,
reichen nicht aus; sie würden sich ganz malen lassen
und damit wäre die untrügliche Probe gegeben, daß sie nur vermeintlich
als Handlung angesehen würden, in Wirklichkeit nur ein
Bild seien.


Wenn er bei der Ausarbeitung des ersten Teiles seines Laokoon
nun doch zu dem Ausdrucke „Handlung“ zurückkehrte, so geschah es,
weil er die Unterscheidung zwischen einfachen und kollektiven Handlungen
für den zweiten Teil sich vorbehalten und für den ersten, allgemeiner
gehaltenen, nur den Begriff eines Komplexes von Veränderungs= oder
Bewegungsmomenten ohne irgend welche nähere Präcisierung setzen
wollte. Er ließ sogar die Forderung der Einheit fallen; auf nichts
weiteres sollte es ankommen als auf das Moment der Zeitfolge,
der Succession. Selbst die ganz unentbehrlich scheinende Bestimmung,
daß es „Veränderungen“ sein müssen, als deren „Folge“ sich die
Handlung darstellt, kommt nicht zum Ausdruck; statt dessen wird der
denkbar allgemeinste Terminus gewählt: „Folge von Gegenständen
oder deren Teilen.


Völlig selbstverständlich ist es, zum Ueberfluß auch noch durch die
bekannte Stelle aus den Abhandlungen über die Fabel zu erhärten, daß
es Lessing nicht einfallen konnte, sich diese „Folge von Gegenständen“,
unter denen schlechterdings ja doch nur „Veränderungen“ oder „Bewegungen
verstanden werden können, auf die Körperwelt eingeschränkt
zu denken, sondern daß er sich dieselbe auf das geistige Gebiet im weitesten
Sinne ausgedehnt dachte: „auch jeder innere Kampf von Leidenschaften,
jede Folge von verschiedenen Gedanken, wo eine die andere aufhebt,“2
ist ihm eine Handlung.


So ist es denn auch nicht angänglich den Lessingschen Begriff der

1
Lessing (Hempel) X, S. 38.
2
Lessing a. a. O., S. 44.
|#f0030 : 12|

Handlung gegen Herders Polemik im 16. Abschnitt des ersten kritischen
Wäldchens ins Feld zu führen.


Herder erkennt an, daß die bildenden Künste im Raume wirken,
aber er leugnet entschieden Lessings Antithese, daß die Poesie in der
Zeitfolge
wirke: nicht in der Zeit, sondern durch die Zeitfolge
wirke sie, das Mittel dieser Wirkung sei in der Poesie die Kraft; somit
seien die Künste der Zeitfolge, Musik und Poesie als die Künste der
Energie zu bezeichnen. Die Kraft, die den Worten beiwohnt, welche
unmittelbar auf die Seele wirkt,ist das Wesen der Poesie,
nicht aber das Koexistente oder die Succession
“.1 Diesen von
Herder vermißten Begriff der Kraft meint Blümner in dem Begriff der
Einheit der Handlung als gegeben zu finden und mit diesem einen
Schlage Herders ganze Argumentation in Nichts aufzulösen; als ob,
auch abgesehen davon, daß Lessing die Forderung der Einheit im Laokoon
geflissentlich beiseite gelassen, der weitere Begriff „eine Folge von
Gegenständen oder Veränderungen“ oder der engere „eine einheitliche
Gruppe daraus“ das Geringste daran änderte, daß Lessing auf den Unterschied
des Koexistenten in der Malerei und des Successiven in der
Poesie seine gesamte Schlußfolgerung gründet, und grade dieses ist es ja,
wogegen Herders Polemik sich richtet!


Dennoch ist Herders Einwand falsch; aber der Fehler liegt an
einer ganz andern Stelle. Auch Herder geht in die Jrre, weil er versäumt
hat von der Mimesis sich eine scharf bestimmte Vorstellung zu
machen. Hier freilich läßt sich die Schiefheit seiner Argumente mit zwei
Worten erweisen: sie liegt in dem doppelsinnigen Gebrauch des Verbums
wirken“.


Die Künste „wirken durch dieses oder jenes“ kann einmal
bedeuten: sie vollziehen ihr Geschäft; so ist es bei Lessing gemeint,
wenn er sagt, die Malerei wirkt im Raume durch Figuren und
Farben, die Poesie in der Zeit durch artikulierte Töne. Sodann aber
kann es heißen: sie erzeugen Wirkungen in der Seele des
empfangenden Menschen, sie bringen Vorstellungen hervor,
welche sein Empfindungsvermögen der Absicht des Künstlers
gemäß afficieren.
Das eine Mal ist die Frage: welche technischen
Mittel treten in den einzelnen Künsten in Aktion? und das
andere Mal: welchen ästhetischen Erfolg bringt die Aktion dieser
Mittel hervor? Durch die Erkenntnis dieses Sophismas wird Herders
gesamte Schlußfolgerung in dieser Frage über den Haufen geworfen;

1
Vgl. Herder (Hempel), Bd. XX, S. 109.
|#f0031 : 13|

seine Argumentation läßt sich nun in ihr direktes Gegenteil verkehren,
alles von den „Wirkungen“ der Poesie Gesagte mit eben demselben Rechte
auf die Malerei anwenden. Lediglich nebeneinander gestellte, koexistierende,
Figuren und Farben „wirken“ gerade so wenig „künstlerisch“ als
lediglich aufeinander folgende Worte und Klänge. „Das Wohlgefallen
an dem Anblick des Koexistierenden, die Wirkung der Kunst, die
Seele, die den Figuren und Farben einwohnt, der Sinn, der durch die
künstlerische Absicht in sie hineingelegt wird, ist alles. Durch diesen
Sinn der Figuren und Farben wirkt die Malerei erst auf die Seele.
Wir wollen das Mittel dieser Wirkung Kraft nennen, die einmal den
Körpern beiwohnt, Kraft, die zwar durch das Auge eingeht, aber unmittelbar
auf die Seele wirkt. Diese Kraft ist das Wesen der Malerei,
nicht aber das Koexistente oder Successive.1


Es ließe sich diese Parodierung durch den ganzen Abschnitt und
alles daraus Folgende durchführen. Jene Wirkungskraft ist in der
Sphäre des Koexistenten so unentbehrlich wie in der des Successiven,
ohne sie ist ein Kunstwerk nicht denkbar;2 aber was hat dieser an sich
unzweifelhafte Satz mit Lessings Einteilung zu schaffen, welcher die
äußeren Mittel der bildnerischen und poetischen Technik nach ihrer
äußerlichen Grundverschiedenheit voneinander sondert? und welcher
den fortschreitenden Mitteln der Poesie das homogene Gebiet sich in der
Zeit vollziehender Veränderungen, also einer Folge von Darstellungsobjekten
zuweist, deren Nachahmung um so anschaulicher sich gestalten
wird, je mehr sie ihrer Natur nach nur als aufeinander folgend gedacht
werden können, und um so weniger anschaulich, je mehr diese
Darstellungsobjekte ihrer Natur nach als koexistent vorgestellt werden
müssen? Wenn Herder behauptet, die Ursache „Succession verhindert
Körper zu schildern“ treffe auf jede Rede, da jede Rede in solchem Falle
nicht das Definitum als ein Wort verständlich, sondern als eine Sache
anschauend machen wolle, auch z. B. die Beschreibung des Kräuterlehrers,
so irrt er wieder. Eben die Anschauung kann ein solcher entbehren,
er setzt sie voraus, der Dichter aber muß sie erst hervorbringen.


Hier hatten wir es mit Herder, dem Dialektiker, zu thun, und wie
oft hat dieser geirrt! Aber folgen wir ihm auf sein eigentliches Feld,
hören wir den dichterischen Kritiker, den Mann voll feinster Empfindung
für alles Große und für jede zarteste Nüance der Poesie!


„Fortschreitung ist die Seele des Homerischen Epos; sie ist das

1
Vgl. Herder, Krit. Wäld. I, 16. (Hempel) Bd. XX, S. 107─110.
2
Vgl. hierzu R. Haym, Herder I, S. 245─247.
|#f0032 : 14|

Wesen seines Gedichts, der Körper der epischen Handlung; in jedem
Zuge ihres Werdens muß Energie, der Zweck Homers, liegen.“1 ....


„Nun aber ist Homer nicht der einzige Dichter; es gab bald nach
ihm einen Tyrtäus, Anakreon, Pindarus, Aeschylus u. s. w. Sein
ἔπος, seine fortgehende Erzählung, verwandelte sich mehr und mehr in
ein μέλος, in ein Gesangartiges, und darauf in ein εἶδος, in ein
Gemälde; Gattungen die noch aber immer Poesie blieben. Ein Sänger
(μελοποιός) und ein lyrischer Maler (εἰδοποιός), Anakreon und Pindar,
stehe also gegen den Geschichtsdichter (ἐποποιός) Homer“ ...


„Homer dichtet erzählend: ‚Es geschah! es ward!‘ Bei ihm kann
also alles Handlung sein und muß zur Handlung eilen. Hierhin strebt
die Energie seiner Muse; wunderbare, rührende Begebenheiten sind seine
Welt. Er hat das Schöpfungswort ‚Es ward!‘“


„Anakreon schwebt zwischen Gesang und Erzählung; seine Erzählung
wird ein Liedchen; sein Liedchen ein ἔπος des Liebesgottes.
Er kann also seine Wendung ‚Es war!‘ oder ‚Jch will‘ oder
‚Du sollst‘ haben ─ genug, wenn sein μέλος von Lust und Freude
schallt; eine frohe Empfindung ist die Energie, die Muse jedes seiner
Gesänge.“


„Pindar hat ein großes lyrisches Gemälde, ein labyrinthisches
Odengebäude im Sinne, das eben durch anscheinende Ausschweifungen,
durch Nebenfiguren in mancherlei Licht ein energisches Ganzes werden,
wo kein Teil für sich, wo jeder auf das Ganze geordnet erscheinen soll:
ein εἶδος, ein poetisches Gemälde, bei dem überall schon der Künstler,
nicht die Kunst, sichtbar ist. Jch singe!“


„Wo mag nun Vergleichung stattfinden? Das Jdeal-Ganze Homers,
Anakreons, Pindars, wie verschieden! wie ungleich das Werk, worauf
sie arbeiten! Der eine will nichts als dichten: er erzählt, er
bezaubert; das Ganze der Begebenheit ist sein Werk; er ist ein Dichter
voriger Zeiten. Der andre will nicht sprechen, aus ihm singt die Freude;
der Ausdruck einer lieblichen Empfindung ist sein Ganzes. Der dritte
spricht selbst, damit man ihn höre: das Ganze seiner Ode ist ein Gebäude
mit Symmetrie und hoher Kunst. Kann jeder seinen Zweck auf
seine Art erreichen, mir sein Ganzes vollkommen darstellen, mich in
dieser Anschauung
täuschen ─ was will ich mehr?“


.... „Alles muß indessen innerhalb seiner Grenzen, aus seinen
Mitteln und seinen Zwecken beurteilt werden. Keine Pindarische Ode
also als eine Epopöe, der das Fortschreitende fehle; kein Lied als ein

1
Vgl. Krit. Wäld. I, 17 am Schluß und 18, zu Anfang, a. a. O., S. 120─123.
|#f0033 : 15|

Bild, dem der Umriß mangele; kein Lehrgedicht als eine Fabel und kein
Fabelgedicht als beschreibende Poesie.“


.... „Jch zittre vor dem Blutbade, das die Sätze: ‚Handlungen
sind die eigentlichen Gegenstände der Poesie; Poesie schildert Körper,
aber nur andeutungsweise durch Handlungen, jede Sache nur mit einem
Zuge‘ u. s. w. unter alten und neuen Poeten anrichten müssen. Herr
Lessing hätte nicht bekennen dürfen, daß ihn die Praxis Homers darauf
gebracht; man sieht es einem jeden beinahe an, und kaum ─ kaum
bleibt der einige Homer alsdann Dichter. Von Tyrtäus bis Gleim
und von Gleim wieder nach Anakreon zurück, von Ossian zu
Milton und von Klopstock zu Virgil wird aufgeräumt ─ erschreckliche
Lücke! der dogmatischen, der malenden, der Jdyllendichter nicht zu
gedenken.“


Nach seiner Weise läßt Herder hier der stürmischen Rhetorik den
Vorrang vor der festgegründeten Beweisführung. Aber was soll dieser
siegenden Beredsamkeit gegenüber ein Einwand wie der Blümners, der
nicht einmal ein halber Einwand ist: „Für Lessing handelte es sich ja
im Laokoon gar nicht um die Lyrik, sondern vornehmlich um das Epos;
dann aber darf man nicht vergessen, daß ja auch jede Bewegung des
Gemüts ─ und diese sind doch der Gegenstand der Lyrik ─ eine Handlung
ist!“1 Lessing exemplificiert vom Epos, aber er macht Gesetze für
die gesamte Poesie: und Lessing sagt in den Fabelabhandlungen keineswegs,
daß „jede Bewegung des Gemütes eine Handlung sei“, was sehr
unrichtig wäre, sondern er behauptet das von „jedem innern Kampf
von Leidenschaften, jeder Folge von Gedanken, wo eine die andere
aufhebt“, was etwas ganz Verschiedenes ist. Eine jede „Bewegung“ des
Gemütes (affectus, πάθος) ist ein Veränderungsvorgang im Vergleich
zur völligen Ruhe oder zu einer andern, vorangehenden Erregung; doch
kann er als solcher nun durchaus einheitlich, stationär und kontinuierlich
sein. Das wesentlich charakterisierende Moment der Handlung, die
Folge von „Gegenständen“ oder Veränderungen haftet der „Bewegung
des Gemütes als solcher keineswegs an; die einzelne Gemütserregung
oder Bewegung für sich steht vielmehr zu dem Begriff der Handlung in
demselben Gegensatze wie die einfachen Teile zu dem Begriff des zusammengesetzten
Ganzen. Erst aus dem „innern Kampf der Leidenschaften“,
erst aus „der Folge der Gedanken“ und aus dem Zusammenstoße
beider, wo sie abwechseln und „einander gegenseitig aufheben“, entsteht
das, was Lessing als geistige Handlung mit vollstem Rechte bezeichnet.

1
Vgl. a. a. O. S. 604.
|#f0034 : 16|


Wohlgemerkt, in der Abhandlung über die Fabel! Jm Laokoon
begnügt er sich, einzig und allein das Moment der Succession hervorzuheben.
Sehr seltsam! Blümner bemüht sich zu beweisen, „daß Lessing
den Begriff der Handlung nicht im entferntesten so eng zog, als es
nach seiner Definition im Laokoon scheinen könnte“1 und in Wahrheit
ist der Kardinalfehler dieser Definition, daß sie in jedem Betracht viel
zu weit
gefaßt ist. Aber mag der Ausdruck und seine Definition
beiseite bleiben, halten wir uns an das, was Lessing damit im
Sinn hatte!


Der Jnhalt der poetischen Nachahmung soll das Successive sein:
Gegenstände, die aufeinander oder deren Teile aufeinander folgen!


Hierin, in diesem weitesten Umfange, soll also alles beschlossen
sein, wovon der Dichter uns zu singen und zu sagen hat: die gesamte
äußere Welt, von tausend Kräften bewegt, durch die Thaten und Kämpfe
der Menschen gestaltet und bedingt, die erregten Leidenschaften, die
streitenden Empfindungen, die auf und ab wogenden Seelenstimmungen,
aus denen jene erwachsen; überall Leben und Bewegung, eine unendliche
Reihe sich kreuzender, sich aufhebender oder sich kombinierender, immer
aber eben in ihrer Folge wirksamer Veränderungen!


Es springt in die Augen, daß diese Auffassung der dichterischen
Aufgabe vornehmlich vom Epos und vom Drama abstrahiert ist; es ist
zu untersuchen, ob und inwieweit die Lyrik darin Platz findet. Zuvor
aber muß hier eine wesentliche Unterscheidung gemacht werden, die für
den ganzen Fortgang der Untersuchung von großer Wichtigkeit ist. Der
deutsche Sprachgebrauch ─ und ebenso der griechische ─ verwendet das
Wort „Handlung“ ─ πρᾶξις ─ in zwei scharf voneinander zu
trennenden Bedeutungen: man kann die eine bezeichnen als den äußeren,
uneigentlichen
Begriff der Handlung, die andere als den eigentlichen,
innern
Begriff derselben.


Was ist das Wesentliche, ausschließlich Eigenartige in der Geschichte
des Mucius Scävola, also die eigentliche Handlung desselben?
Daß ein für die Freiheit begeisterter Jüngling ausgeht, um
einen Tyrannen, einen übermütigen Bedränger des Vaterlandes zu
töten, daß er, gleichviel ob die That gelingt oder nicht, freudig allen
Martern Trotz bietet, alles dieses hat die Geschichte des Mucius Scävola
mit vielen andern gemein; was ihr vor allen andern das eigentümliche
Gepräge verleiht, ihre Bedeutung nicht allein für unser Jnteresse, sondern
auch an sich, was das Entscheidende für ihren Verlauf bildet, das

1
Vgl. a. a. O. S. 604.
|#f0035 : 17|

ist die eigenartige, durch den Moment eingegebene Handlung des
Mucius, der blitzartig in ihm auftauchende Entschluß, durch selbstgewählte,
lächelnd ertragene Qual eine überwältigende Probe todesverachtenden
Freiheitsmutes zu geben. Trotzdem diese Entschließung nicht
anders als aus dem Augenblick geboren gedacht werden kann, so ist doch
gerade sie es, welche die einzige Mischung aus Enthusiasmus und Klugheit,
aus hochgemutem Stolz und schlauer Berechnung, völlig bezeichnet,
welche nicht allein diesen Mann charakterisiert, sondern welche auch ein
wesentlicher Zug des römischen Nationaltypus ist. Und wie diese Entschließung
im Augenblick gefaßt ist, so genügt auch zu ihrer Ausführung
ein einziger Moment, so kann sie in einem einzigen Bilde verkörpert
durch die Malerei dargestellt werden. Diese Handlung ist keine
Folge
von Gegenständen, keine Reihe von Veränderungen, sie ist
schlechterdings ein einziger Veränderungsvorgang und als solcher
für die bildende Kunst unbedingt geeignet. Sobald dieselbe jenes
innerste, eigentliche Handlungsmoment erfaßt, so hört damit der
Gegenstand auch auf eine „kollektive“ Handlung zu sein, „welche unter
mehrere Körper verteilt ist“ (vgl. Lessing [H.] a. a. O. S. 295; Blümner
S. 444), zu welcher Gattung er nach Lessing gerechnet werden müßte. Die
Handlung fällt vielmehr in diesem Sinne ganz und gar der Hauptperson
zu und wird zur „einfachen“, so daß durch ihre, im Ausdruck vollendete
Darstellung genug geschieht, um die Phantasie zur Vorstellung des ergänzenden
Vorganges zu erregen, gerade so wie Thorwaldsens Argustöter
im höchsten Grade wirksam ist, gerade weil das Ungetüm, dem
seine bezaubernde Arglist und sein vernichtender Streich gelten, und
dessen Ausprägung uns als gleichgültig nur stören würde, fortgelassen
ist. Ja noch mehr! Was einer solchen Handlung das eigentliche Jnteresse
verleiht, um dessentwillen sie überhaupt ein Gegenstand künstlerischer
Darstellung wird, ist im letzten und tiefsten Grunde auch nicht
einmal so sehr die Aktion selbst, als vielmehr die Charakterbeschaffenheit,
der Seelenzustand, als dessen prägnanteste Ausprägung sie erscheint.
Sofern aber die menschliche Gestalt durch Körperform und Züge des
Antlitzes, zumal durch Stellung des Körpers und Gesichtsausdruck eine
unmittelbare, durch sich selbst deutliche Vorstellung ethischer Beschaffenheit
und psychologischer Vorgänge zu geben vermag, ist die bildende Kunst
auch imstande den Eindruck, den die Dichtung durch die Erzählung
der Handlung hervorbringt, unmittelbar zu erzeugen. Freilich darf sich
der bildende Künstler der Freiheit bedienen, seinen Stoff als bekannt
vorauszusetzen und auf die bereitwillig ergänzende Phantasie des Beschauers
zu rechnen; das ändert aber an der Thatsache nichts, daß es |#f0036 : 18|

in seiner Macht liegt, den eigentlichen Handlungsmoment selbst zu verkörpern.
Ja! der ächte Künstler verfährt gar nicht anders, auch wenn
er, ohne den Anspruch eine dem Beschauer bekannte Handlung darzustellen,
seine Gestalt in scheinbarer äußerer Ruhe verharrend bildet.
Soll er einen lebendig wirkenden Eindruck hervorbringen, so muß auch
seine Conception von jenem Lebendigsten des innern, wirkenden Lebens
ausgehen, dem thaterzeugenden Willensakt. Statt aller Beispiele diene
das eine: des Phidias olympischer Zeus, der mit den Gewährung winkenden
Brauen den Olymp erschüttert.


Jst aber eine Handlung wie die des Mucius Scävola in der
That das Werk eines Momentes und kann sie als solche durch die
bildende Kunst fixiert werden, so ist es andrerseits der redenden Kunst
völlig unmöglich eine solche eigentliche Handlung, die eben nur einen
Veränderungsvorgang enthält, für sich allein darzustellen. Sie
bedarf, um zu diesem ihrem Hauptzwecke zu gelangen, der Vergegenwärtigung
aller jener Veränderungsmomente, welche das Erscheinen jenes
Hauptmomentes äußerlich möglich machten oder zuwege brachten; dann
kann sie, je nachdem sie sich ihr Ziel gesteckt hat, mit dem Moment der
eigentlichen Handlung abschließen oder sie hat noch überdies die Aufgabe,
den weiteren äußeren Verlauf des Vorganges mit darzustellen.
Jn der Poesie also erscheint das eigentliche Handlungsmoment als der
Gipfelpunkt einer aufwärts und abwärts steigenden, parabolisch gekrümmten
Linie; die ganze Reihe von Punkten aber, die den Weg dieser
Linie bilden, stellen die Einheit der Folge von Veränderungen
dar, die in der Wirklichkeit den Moment der Handlung vorbereiteten
und weiter durch diesen herbeigeführt wurden, und diese ganze Folge
von Veränderungen
oder „Gegenständen“ muß auch die Poesie
uns vor das geistige Auge bringen, um die Nachahmung jenes eigentlichen
Hauptmomentes in seiner Kraft und Bedeutung uns mitzuteilen.


Für diesen ganzen Vorgang aber hat der Sprachgebrauch denselben
Namen eingeführt wie für jenen entscheidenden Entschließungsmoment
selbst: beide heißen Handlung.


Wenn also der Begriff der eigentlichen, innern Handlung auf die
in einer einzelnen Veränderung sich realisierende Entscheidung eingeschränkt
ist, so umfaßt die äußere Handlung den ganzen, jene Entschließung
umgebenden Komplex von Vorgängen.


Was sich aus dieser Unterscheidung für die Theorie der Dichtung
schon hier ergibt, ist dieses:


Jene Succession von Veränderungen, die äußere Handlung, ist nicht
der Gegenstand der Nachahmung in der Poesie, sondern sie ist nur |#f0037 : 19|

ein Mittel um etwas Anderes, Höheres nachahmend zur Darstellung zu
bringen. Dieses andere, die innere Handlung, kann zwar an und für
sich auch eine Succession von zweien oder auch mehreren, selbst vielen
Veränderungsmomenten umschließen, wie z. B. bei komplizierten Entschlüssen,
welche aus langem Schwanken zwischen entgegengesetzten Extremen
hervorgehen und bei welchen das letzte entscheidende Entschließungsmoment
nicht ohne jene vorausgehende Reihe zu denken ist (z. B. bei
Coriolan), es kann aber auch lediglich auf einen einzigen Moment beschränkt
sein; unter allen Umständen jedoch ist das Wesentliche an der
Darstellung von Handlungen durch die Poesie, dasjenige also, um dessentwillen
im Grunde die poetische Nachahmung erfolgt, nicht die so oder
so geschehende äußere Verwirklichung, sondern das im Jnnern der Seele
vorgehende psychologisch=ethische Ereignis, welches als Entschluß
sich nach außen kundgibt. Dieser ist Gegenstand der künstlerischen
Nachahmung, die Folge von Veränderungen nur eins von
den Mitteln, deren sich die Kunst dazu bedienen kann.


Hieraus ergeben sich die folgenden Sätze und weiteren Schlußfolgerungen:



Zum Wesen der eigentlichen, innern Handlung gehört es nicht, daß
sie eine Folge von Veränderungen darstellt; sie kann sich auch in einem
einzigen Augenblick verwirklichen.


Diesen einen Augenblick kann die bildende Kunst ebenso wohl zum
Gegenstande der Nachahmung wählen als die Poesie. Die bildende
Kunst erzielt diese Nachahmung vermittelst der Darstellung von Figuren
und Körpern, die Poesie vermittelst der Darstellung einer Succession von
Veränderungen.


Es ist also nicht richtig mit Lessing die Malerei und die Poesie so
zu einander in Gegensatz zu stellen, daß der einen Körper, der andern
Handlungen als Gegenstände der Nachahmung zugewiesen werden.
Jn beiden Fällen handelt es sich nur um die Mittel der Nachahmung,
oder wenn man den Ausdruck Mittel nur auf die Werkzeuge
Worte, Töne, Linien, Flächen, Farben ─ einschränken will, um das
Material, ─ ὕλη ─, durch welches die einzelnen Künste der Natur jener
Werkzeuge gemäß allein ihre Nachahmung zu bewerkstelligen vermögen.


Alle Sätze Lessings, welche er aus jenem obersten Grundsatz herleitet,
gelten nur für dieses Material ─ ὕλη ─, in welchem die
verschiedenen Künste arbeiten. Hier freilich unbedingt.


Aber nicht für die Gegenstände der Nachahmung. Hier erfüllt
sich das Wort Plutarchs in seinem ganzen Umfange, dessen wesentliche
zweite Hälfte Lessing in dem Motto seines Laokoon fortgelassen hat: |#f0038 : 20|

ὕλῃ καὶ τρόποις μιμήσεως διαφέρουσι, τέλος δ'ἀμφοτέροις \̔εν ὑπόκειται.
„Jm Material und in der Art der Nachahmung unterscheiden
sich die Künste, das Ziel aber, welches sie verfolgen,
ist beiden gemeinsam!


Welches ist nun aber dieses gemeinschaftliche Ziel? Welches ist der
Gegenstand
oder sind die Gegenstände der Nachahmung in den
Künsten? Darauf geben Lessings Sätze für die Malerei direkt gar keine
Antwort; nur was die Malerei unter Umständen vermöge ihrer Mittel
andeuten könne, geben sie an; umgekehrt schränken sie die Poesie auch
in ihren Gegenständen auf das einzige Gebiet der Handlungen
ein und lassen ihr nur die Möglichkeit andeutungsweise auch
Körper nachzuahmen, welche an sich gar nicht Gegenstände der
künstlerischen Nachahmung sind, sondern nur das Material, dessen sich
eine andere Kunst zu jener Nachahmung bedient.


Denn die Malerei kann vermöge ihrer Mittel den eigentlichen
Gegenstand ihrer Nachahmung überhaupt nur andeuten! So wie
aus ihren Figuren und Farben eine Handlung nur erraten werden
kann, so ist auch in allen andern Fällen ihrer künstlerischen Ausübung
ihr Zweck nicht die Körper um ihrer selbst willen nachzuahmen ─
sofern dieselben lediglich Gegenstände sind, die nebeneinander oder deren
Teile nebeneinander existieren ─, sondern durch dieses Mittel einen
geistigen, seelischen Jnhalt nachahmend zur Darstellung zu bringen, welcher
auch in der Natur nur auf dieselbe Weise, durch die Zeichen der demselben
entsprechenden Formen und Farben, sich andeutend kundgibt.1


Und nicht anders die Poesie! Sie, der nach der Natur ihrer
Mittel es am besten gelingt Fortschreitendes nachzuahmen, stellt ihre
äußeren Handlungen ebensowenig um ihrer selbst willen dar ─ sofern
dieselben nämlich lediglich eine Reihe äußerer Veränderungen, Gegenstände,
deren Teile aufeinander folgen, sind ─, sondern in allen Fällen
ist diese äußere Nachbildung nur das Material der Nachahmung
─ die Hyle der Mimesis ─; ihr eigentlicher Gegenstand ist, wie in
der bildenden Kunst, geistiger Natur. Diesen seelischen Jnhalt zur
Empfindung zu bringen ist das beiden Künsten gemeinsame Ziel, das
τέλος ἕν!


Dieser Jnhalt kann nun zwar ebenfalls in einer „Handlung“

1
Vgl. Aristoteles, Politic. VII, c. 5, 1340a 32: ἔτι δὲ οὐκ ἔότι ταῦτα (sc.
τὰ σχήματα) ὁμοιώματα τῶν ἠθῶν, ἀλλὰ σημεῖα μᾶλλον τὰ γιγνόμενα σχή-
ματα καὶ χρώματα τῶν ἠθῶν. καὶ ταῦτ' ἐστὶν ἐπὶ τοῦ σώματος ἐν
τοῖς πάθεσιν.
|#f0039 : 21|

bestehen, in jenem oben definierten eigentlichen, innern Sinne, mag dieselbe
nun in einem einzigen, momentanen Veränderungsvorgange erscheinen
oder in einer beliebig ausgedehnten Folge von Veränderungen
sich vollziehen. Aber mit dem Handlungsmoment, wenn es auch vielleicht
der bedeutendste und sicherlich fruchtbarste Vorgang auf dem gesamten
Gebiet des Geistes- und Seelenlebens ist, wird doch der Jnhalt
desselben keineswegs erschöpft. Und mag man den Begriff der Handlung,
mit Berufung auf Lessings Definition als Gegenstand, dessen Teile
aufeinander folgen, auch noch so widernatürlich ausdehnen, so wird es
doch ─ ganz abgesehen davon, daß damit der bildenden Kunst der
nährende Boden verkümmert, ja im Grunde völlig entzogen ist ─
nimmermehr gelingen, alle die zahllosen Voraussetzungen darin einzuschließen,
aus denen der Entschluß (προαίρεσις) zur Handlung (πρᾶξις)
hervorgeht, durch die er bedingt wird und auf denen, als fest bestehenden
Grundpfeilern, er ruht! Alle diese sind die vollberechtigten Gegenstände
der künstlerischen Nachahmung für alle ihre verschiedenartigsten
Gebiete, denen sie mit den mannigfaltigsten Mitteln auf immer wieder
anders geartete Weisen lebendig wirkende Form zu geben sucht; also
das ganze, unendliche Gebiet der Empfindungen, Stimmungen,
Leidenschaften, Seelenzustände
und Charakterbeschaffenheiten,
nicht minder die gesamte, ebenso grenzenlose Gedankenwelt,
sofern sie nämlich mit jener Gemüts- und Empfindungswelt
in unmittelbare Wechselwirkung tritt.
Denn da die
Mittel der Nachahmung durch die Kunst vermöge der Natur ihrer Werkzeuge
sich nur an die sinnliche Wahrnehmung ─ αἴσθησις ─
wenden können, so kann sie ihre Gegenstände auch nur auf dem Gebiete
wählen, welches mit den Kräften der sinnlichen Wahrnehmung
in unmittelbarem Zusammenhange steht, das ist das Gebiet der
Empfindungen und Gemütszustände; ja auch die Handlungen fallen
im strengsten Sinne eben auch nur insoweit in das Gebiet der Kunst,
als sie vermöge der Voraussetzungen, auf denen sie beruhen, Gegenstand
Empfindung erregender Wahrnehmungen ─ αἰσθήσεις ─ werden können
oder vielmehr müssen!


Es wären also drei große Hauptgruppen, nach welchen die Gegenstände
der künstlerischen Nachahmung zu klassifizieren sind, und außer
diesen gäbe es keine weiteren. Zuerst die einfachen Empfindungen,
die der Grieche unter dem Gattungsbegriff πάθος begreift; sodann alles,
was wir als Gemütszustände oder =Stimmungen, und Seelen=
oder Charakterbeschaffenheit bezeichnen, samt allen dazwischen liegenden
Abstufungen und Uebergängen, wofür wir einen zusammenfassenden |#f0040 : 22|

Gattungsbegriff nicht ausgeprägt haben, was aber insgesamt unter dem
griechischen Ausdruck ἦθοςEthos ─ verstanden wird; endlich die
Handlungen im inneren Sinne ─ πράξεις ─.


Alle drei: Empfindung, Seelenzustand, innere Handlung ─ πάθος,
ἦθος, πρᾶξις ─ sind direkt überhaupt gar nicht darstellbar.1 Jm
Grunde kann ihre Nachahmung überall nur andeutungsweise erfolgen;
in der Malerei vermittelst der Linien und Farben, durch
Körper, in der Poesie vermittelst der Succession von Worten, durch
das, was man mit Lessing im allerweitesten Sinne (äußere) Handlung
nennen mag, wenn man darunter auch jeden kleinsten, aus der Kombination
von Sinneseindruck und damit sich verknüpfendem Empfindungsmoment
zusammengesetzten Vorgang verstehen will.


Absolut betrachtet stehen also die beiden Künste den sämtlichen
drei Gegenständen der Nachahmung ganz gleich gegenüber.


Relativ aber ergibt sich aus der Verschiedenheit ihrer Mittel,
daß die Poesie ganz direkt Handlung (πρᾶξις) nachahmen kann, Empfindung
und Seelenzustand (πάθος und ἦθος) indirekt durch
Handlungen;2 und umgekehrt die Malerei ganz direkt Empfindung
und Seelenzustand (πάθος und ἦθος) (nicht Körper!), indirekt
durch jene auch Handlung (πρᾶξις).


Die Bedingungen, unter denen solche indirekte Nachahmung in
beiden Künsten möglich wird, lassen sich darnach auf das einfachste bestimmen.
Handlungen sind für den bildenden Künstler darstellbar,
sobald die den Entschluß bedingenden Empfindungen und Seelenzustände
in den Zeichen der Körperformen und =Farben sichtbar sich direkt zu
erkennen geben, oder sofern es ihm gelingt sie durch die Aehnlichkeit
körperlicher Zeichen indirekt erkennbar zu machen.


Ebenso sind der Nachahmung durch die Poesie alle πάθη und ἤθη,
alle Empfindungen und Seelenzustände zugänglich, sobald sie erstlich
in der Bewegung der Körper oder Dinge, oder in successiven Vorgängen
oder Handlungen unmittelbar sich kundgeben; sodann aber auch

1
Auch durch die Sprache nicht; wie Schiller es ausdrückt:
Warum kann der lebendige Geist dem Geist nicht erscheinen?
Spricht die Seele, so spricht, ach! schon die Seele nicht mehr.
2
Schief aber erscheint Lessings Satz, daß die Poesie durch Handlungen andeutend
Körper
nachahmt. Das wäre eine Andeutung der Andeutung! Sondern: wie die
Malerei durch Figuren und Farben die Körper vor das äußere Auge, so bringt die
Poesie, durch Worte ihre Vorstellung erweckend, sie vor das innere Auge; beide verfolgen
dabei den gleichen Zweck (τέλος): vermittelst dieser Körper ihren eigentlichen Gegenstand
nachahmend darzustellen, gleichviel welcher von den dreien es gerade ist.
|#f0041 : 23|

ebensowohl, insofern es gelingt vermittelst der Aehnlichkeit von Körpern
und Gegenständen,
nicht allein in ihren Veränderungen, sondern
auch in ruhenden Zuständen mit Empfindungs- und Seelenzuständen
diese durch jene indirekt wach zu rufen. Und hier ist es, wo
der Lessingsche Satz: Handlung ist der Gegenstand der Poesie, selbst
bei der äußersten Dehnung des Begriffes, seine Geltung völlig verlieren
muß. ──────


III.


Es wird erforderlich sein diese Sätze an der Erfahrung zu prüfen,
um auch unabhängig von der entwickelten Schlußfolge zur Beantwortung
der Frage zu gelangen, inwieweit die im Laokoon gegebene Definition
der Poesie auf die Lyrik Anwendung finden kann.


Wie steht es also mit dem Lessingschen Successionsbegriff, wenn
es sich, wie in der Lyrik, um nachahmende Darstellung von Empfindungen,
von Stimmungen und Seelenzuständen handelt? Jst nicht das wesentliche
einer Seelenstimmung, eines Gemütszustandes vielmehr
gerade etwas Stationäres? Und ist die nachahmende Darstellung solcher
psychologisch=ethischen Zustände nicht gerade eine der Hauptaufgaben der
Poesie? Und wenn auf dem Gebiete der Darstellung von bloßen Empfindungen
das Moment der Entwickelung, der Wandlung, des Streites
entgegengesetzter oder des Wechsels verwandter Affekte naturgemäß leichter
Platz greift, kann denn in einem lyrischen Gedichte nicht auch eine
einzelne Empfindung ganz ohne Veränderung kontinuierlich oder vielmehr
stationär zur Darstellung gebracht werden, etwa wie ein einzelner,
lang ausgehaltener Ton oder Akkord? Wie soll z. B. der Begriff des
„Gegenstandes, dessen Teile aufeinander folgen“, Anwendung finden auf
Goethes „Wanderers Nachtlied“?


Ueber allen Gipfeln
Jst Ruh,
Jn allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.


Durch die sinnliche Vorstellung des schweigenden Waldes, zugleich
freilich durch die wunderbare Macht des rhythmischen Tonfalles, ist hier |#f0042 : 24|

in unübertrefflicher Weise der Seelenzustand (das Ethos) still, fast
heitergefaßter Ergebung in den Todesgedanken nachgeahmt und zwar in
einer Freundlichkeit der Stimmung und in einem Reichtum der Nüancen
─ die durch die Analogie des wunderschönen Bildes, das an alle Sinne
zugleich sich wendet, mit Eins gegeben ist ─ wie sie keine abstrakte
Schilderung zu wecken vermöchte. Aber wo ist hier ein Moment der
Veränderung oder Folge? Nicht einmal in dem angewandten Bilde!
Man müßte denn die „Folge“ und damit die „Handlung“ darin finden,
daß auf die Schilderung des koexistenten Bildes die mit dem Anblick
desselben sich verknüpfende Stimmung der Zeit nach folgend zur Erwähnung
gelangt; aber dann wäre in allen derartigen lyrischen Gedichten
ein und dieselbe Handlung, ─ ein Gedanke, den man Lessing
nicht zutrauen darf.


Ein Gedicht wie dieses muß, wenn der rechte Künstler sich dazu
findet, ganz gemalt werden können! Es ist die recht eigentliche Aufgabe
der Landschaftsmalerei, wenn sie nicht lediglich die Formen der
Natur kopiert, sondern ihre Wirkungen nachzuahmen trachtet, ein derartiges
Ethos, wie es hier in den Schlußworten mit der Vorstellung
des geschilderten Bildes verknüpft wird, nachahmend zu erwecken und
diese Nachahmung zu ihrem eigentlichen Gegenstande und obersten Zwecke
zu machen.


Freilich setzt das Lied den Ausdruck der Empfindung ─ „Warte
nur u. s. w.“ ─ dem Naturbilde hinzu; aber doch nur, da in demselben
der Anlaß dazu gegeben ist. Verfährt nun der Maler nicht als Kopist,
sondern als Künstler, so besteht seine Kunst eben darin, sein Bild so zu
malen, daß es nicht bloße Vedute, sondern Mimesis eines Ethos
sei, daß in ihm der Anlaß zu jener Empfindungsweise mit eben
der Kraft gegeben sei wie im Liede. Man muß es nicht betrachten können,
ohne zu demselben Gefühl bewegt zu werden; es muß die Bereitschaft ─
δύναμις ─ zu demselben herzustellen, ganz ebenso alle Mittel in sich
vereinigen wie das Lied. Freilich wendet sich dieses an mehrere Sinne
zugleich, es nimmt auch den Gehörssinn in Anspruch ─ „die Vögelein
schweigen im Walde“ ─, das kann die Malerei nicht; aber wie viel
mehr vermag sie uns dafür zu zeigen und wie viel deutlicher! Mit
tausend Stimmen reden Formen, Licht und Farben zu uns, alle übereinstimmend
jenes eine Gefühl, zu einer Gesamtwirkung vereinigt, uns
in die Seele zu gießen.


Die Alten gingen sogar im Liede so weit, sich auf die bloße Schilderung
des Landschaftsbildes zu beschränken und den Ausdruck der Empfindung
ganz fortzulassen, wie das kleine Gedicht des Alcman zeigt, |#f0043 : 25|

welches mit Recht als eine überraschende Parallele zu Goethes „Ueber
allen Gipfeln“ herangezogen ist:


Εν῞δουσιν δ'ὀρέων κορυφάι τε καὶ φάραγγες,
πρώονές τε καὶ χαράδραι,
φύλλα θ'ἑρπετά θ'ὅσσα τρέφει μέλαινα γαῖα,
θῆρες ὀρεσκῷοί τε καὶ γένος μελισσᾶν
καὶ κνώδαλ' ἐν βένθεσι πορφυρέας ἁλός·
εὕδουσιν δ'ὀϊωνῶν
φῦλα τανυπτερύγων.


Schlafend liegen der Berge Gipfel und die Thäler,
Uferklippen und Felsenschluchten,
Laubgezweig und alles Gewürm der schwarzen Erde,
Tiere des Bergwalds und das Volk der Bienen,
Und die Ungetüme der dunklen Meerestiefe,
Schlaf umfängt der Vögel
Breitgeflügelte Schwärme.


Ueberall wird in beiden Künsten dieser eigentliche Gegenstand
und Zweck der Nachahmung von den dafür verwendeten technischen Mitteln
scharf zu unterscheiden sein.


Eine einzige, die ganze Seele wie der Spiegel eines ruhenden Sees
ausfüllende Stimmung ist es auch, nur scheinbare Bewegung in Bildern
und Empfindung, was in Goethes Lied „An den Mond“ nachgeahmt ist:


Füllest wieder Busch und Thal
Still mit Nebelglanz,
Lösest endlich auch einmal
Meine Seele ganz;

Breitest über mein Gefild
Lindernd deinen Blick,
Wie des Freundes Auge mild
Ueber mein Geschick.

Jeden Nachklang fühlt mein Herz
Froh- und trüber Zeit,
Wandle zwischen Freud' und Schmerz
Jn der Einsamkeit.

Fließe, fließe, lieber Fluß!
Nimmer werd' ich froh!
So verrauschte Scherz und Kuß
Und die Treue so.

Jch besaß es doch einmal,
Was so köstlich ist!
Daß man doch zu seiner Qual
Nimmer es vergißt!
|#f0044 : 26|

Rausche, Fluß, das Thal entlang,
Ohne Rast und Ruh,
Rausche, flüstre meinem Sang
Melodien zu,

Wenn du in der Winternacht
Wütend überschwillst,
Oder um die Frühlingspracht
Junger Knospen quillst.

Selig, wer sich vor der Welt
Ohne Haß verschließt,
Einen Freund am Busen hält
Und mit dem genießt,

Was von Menschen nicht gewußt,
Oder nicht bedacht,
Durch das Labyrinth der Brust
Wandelt in der Nacht.


Es ist der Zustand völliger, tiefster Stille der Seele, der aus diesen
wundervollen Strophen sich uns mitteilt, aber einer Stille, die über die
gedrängte Fülle stärkster Empfindungen und reichster Erinnerungen sich
breitet; als ob die in rastlosem Wechsel zahllos thätigen, zu Genuß und
Schmerzen immer erneut aufregenden Lebenskräfte nun dem rückwärts
gewandten Bewußtsein alle zugleich sich darbietend in ruhendem Gleichgewichte
weithin sich ausbreiten, keine das Gemüt beherrschend, alle doch
zugleich ihm gegenwärtig, ganz gelöst die Seele und doch zugleich schwellend
von der unendlichen Fülle der regsten Energien! ─ Koexistenz in des
Wortes striktester Bedeutung, in dem dargestellten Seelenzustande wie
in dem Bilde des mondüberglänzten Thales mit seinen Gebüschen und
mit seinem ruhig hingleitenden Flusse! Nur einen Augenblick wandelt die
entrückte Phantasie sich das ruhende Bild zu einer Analogie künftiger
Gesänge, um sogleich wieder dem Schweigen der Mondnacht hingegeben
in sich selbst zu versinken. Allein auch dieses scheinbare „Nacheinander“
ist doch im Grunde nur ein „Nebeneinander“, und es ist lediglich
das technische Moment der zeitlichen Wortfolge, welches zwingt, die zeitlich
durchaus koexistenten Stimmungselemente in Succession vorzuführen.
Will man das eine „Handlung“ nennen, so ist in diesem
Sinne ganz ebenso die „Folge von Gegenständen oder deren Teilen“ in
jeder Hallerschen, Brockesschen oder Hoffmannswaldauschen Beschreibung
nachzuweisen.


Man sehe die ganze Reihe der Goetheschen Lieder an, z. B. „Meeresstille“,
„Herbstgefühl“, „Frühzeitiger Frühling“, Mignons „Kennst du |#f0045 : 27|

das Land“, oder welche man will, es ergibt sich immer dasselbe Verhältnis.



Zum Beweise diene ein Lied, welches auf den ersten Blick dem
Lessingschen Begriff von Handlung auf das vollkommenste zu entsprechen
scheint: „Auf dem See.“


Und frische Nahrung, neues Blut
Saug' ich aus freier Welt;
Wie ist Natur so hold und gut,
Die mich am Busen hält!
Die Welle wieget unsern Kahn
Jm Rudertakt hinauf,
Und Berge, wolkig himmelan
Begegnen unserm Lauf.

Aug', mein Aug', was sinkst du nieder?
Goldne Träume, kommt ihr wieder?
Weg, du Traum, so gold du bist!
Hier auch Lieb' und Leben ist.

Auf der Welle blinken
Tausend schwebende Sterne;
Weiche Nebel trinken
Rings die türmende Ferne;
Morgenwind umflügelt
Die beschattete Bucht,
Und im See bespiegelt
Sich die reifende Frucht.


Hier ist erstlich die äußere Handlung der Fahrt auf dem See und
neben ihr und mit ihr verschlungen die innere des Streites der Empfindungen
und des Obsiegens des freudigen Naturgefühls; dazu ist in
dem entzückenden Landschaftsbilde, das sich vor uns entrollt, in dieser
Succession von Worten, deren jedes dem Bilde einen neuen Zug hinzufügt,
jeder dieser einzelnen Züge auf das kunstreichste in einem kleinen
Bewegungsvorgange für sich zur Anschauung gebracht, von der den Kahn
im Rudertakt „dahinwiegenden“ Welle bis zu dem die Bucht „umflügelnden“
Morgenwinde und den Früchten, die im See sich „bespiegeln“.


Nun ist es doch aber ganz ohne Frage dieses Bild nicht, bei
aller seiner Schönheit, um dessentwillen Goethe jenes Lied gesungen hat;
und wie will man von dem Gesichtspunkte aus, daß sein Gegenstand eine
„Handlung“ sei, ohne pedantischen Zwang zu einer einheitlichen Auffassung
desselben gelangen?


Wir wissen, Goethe hat das Lied am 15. Juni 1775 auf dem
Züricher See gedichtet, nachdem er mit liebeerfülltem Herzen von Lili |#f0046 : 28|

sich losgerissen, und es ist uns interessant diese individuellen Umstände
zu kennen. Was aber dem Gedichte seinen unvergänglichen Zauber verleiht,
ist doch etwas davon ganz Unabhängiges; es ist die Kraft und
Frische, mit der es eine einzige Seelenstimmung so lebhaft hervorbringt,
daß hier in der künstlerischen Nachahmung die Wirkung eine
noch weit intensivere und vor allem gewissere ist, als wenn die Mittel,
deren sie sich bedient, in der Natur selbst auf uns wirkten. Denn hier
ist ihren Reizen Sprache verliehen, und von der Gewalt, mit der sie in
einem hoch überragenden Geiste wirkten, empfangen wir die Richtung
und Erhebung unsers eigenen Fühlens.


Eine einzige Seelenstimmung ist nachgeahmt, der Streit der
Empfindungen ist nur diesem Zwecke dienstbar: die Tiefe und Freudigkeit
des Goetheschen Naturgefühls,
die glühende Liebe, mit der
er jede ihrer Erscheinungen als die Aeußerung eines beseelten Wesens
sympathisch empfängt und jubelnd wiederklingen läßt, ─ sie wird nur
gehoben durch die Kontrastierung mit der Befangenheit jener süßen
Herzensirrungen, aus denen er mit entzücktem Aufschwunge zu der Gesundheit
und Kraftfülle seines universellen Empfindens sich emporhebt.


Analysieren wir die Mittel genauer, mit welchen der Dichter die
überwältigend stark wirkende Nachahmung dieses „Ethos“ bewirkt hat,
so lassen sich deren zwei sehr deutlich unterscheiden. Lassen wir die vier
Eingangszeilen fort, die weiter nichts als einen Ausruf enthalten, in
welchem die Grundtonart der Stimmung angegeben ist, und scheiden die
vier Zeilen der mittleren Strophe aus, so behalten wir in den verbleibenden
zwölf Zeilen ein bloßes Landschaftsbild übrig, dessen
Haupt- und Detailzüge mit der größten Sorgfalt aus lauter einzelnen
Bewegungsvorgängen zusammengefügt sind und zwar zu einem koexistierenden
Ganzen, einem einzigen Totalbilde, in Wahrheit der ζωγραφία
λαλοῦσα ─ dem „redenden Gemälde“ ─ des Simonides. Nur müßte
der Maler, der sich vermessen wollte „das Goethesche Gedicht gemalt“
zu haben, es verstehen in seine Landschaft diejenige „Kraft“ zu zaubern,
daß sie unwiderstehlich und überwältigend mit demselben „Ethos“ uns
unmittelbar erfüllte, welches zu erzeugen der Dichter nun den anderen
Teil seines Gedichtes hat zu Hülfe nehmen müssen. Der frische Hauch
des Morgens müßte uns aus seinen Farben und Konturen entgegenwehen,
daß wir in freier Welt an dem holden Busen der Natur uns
fühlten! Mit so siegender Gewalt müßte das Entzücken an der verschwenderischen
Fülle ihrer Schönheit, an der unvergänglich erfrischenden
Kraft ihrer ewigen Jugend uns ergreifen, daß wir ein „Weg, du Traum,
so gold du bist“ allen lediglich individuellen und eben darum beengenden |#f0047 : 29|

Empfindungen zurufen, die sich diesem Entzücken beeinträchtigend in den
Weg stellen, und mögen es die uns teuersten sein! Dann wäre es dem
Maler gelungen das Ethos der Naturwirkung nachahmend hervorzubringen;
der Dichter mußte den direkten Ausdruck desselben seinem Bilde
hinzufügen und ebenso von der überwiegenden Gewalt des Naturgefühls
über die stärkste individuelle Regung konnte er nur durch die direkte
Vorführung jenes Streites uns überzeugen.


Mit Evidenz ergibt sich aus diesem Beispiel, bis zu welchem Grade
es als ein Fehlgriff zu bezeichnen ist, welcher in der Praxis notwendig
in die Jrre führen muß, wenn man der Poesie generell als ihren Gegenstand
„Handlungen“ zuweist.


Mit Evidenz zeigt sich aber auch daran, in welchem Sinne Lessings
Gesetz seine ganz unbestreitbare Richtigkeit hat; immer bleibt das Mittel
der Dichtung die Bezeichnung von Bewegungen, Vorgängen, ihr
Element ist das Successive; immer das Mittel der Malerei die Darstellung
von Körpern, Situationen, ihr Element ist das Koexistente;
die Gegenstände können beiden Künsten gemeinsam sein.


Mit dem Takte des Genies hat Goethe dies erkannt, und in dieser
Beschränkung, aber eben auch nur so weit, läßt sich die Befolgung des
Lessingschen Gesetzes durch die gesamte Goethesche Dichtung als eines
der wirksamsten Mittel seiner Kunst nachweisen.


Jeden Teil des koexistierenden Gesamtbildes, zu welchem der Maler
eine gesonderte Gruppe von Körpern in sorgfältigst ausgewählter Haltung
zueinander und in fein erwogener Beleuchtung gebraucht, zaubert er in
souveräner Beherrschung der Sprachmittel durch die lebhafteste Bezeichnung
des Bewegungsvorganges, welchem der eine Moment, den
das Bild allein aufzufassen vermag, als Mittelpunkt angehört, vor unser
geistiges Auge; ja, wo eine solche Bewegung fehlt, weiß er die ruhende
Situation
dennoch als das Resultat einer bewußten Energie des beseelten,
thätigen Waltens, als welches ihm überall die Naturerscheinungen
entgegentreten, aufzufassen und darzustellen. So, wenn es heißt: „Wie
ist Natur so hold und gut, die mich am Busen hält;“ „weiche Nebel
trinken rings die türmende Ferne;“ oder in „Willkommen und Abschied:
„Der Abend wiegte schon die Erde, und an den Bergen hing
die Nacht;“ „Schon stand im Nebelkleid die Eiche Ein aufgetürmter
Riese da, Wo Finsternis aus dem Gesträuche Mit hundert schwarzen
Augen sah;“ ebenso schon in dem ganz frühen Jugendliede „Die schöne
Nacht:
“ „Luna bricht durch Busch und Eichen, Zephyr meldet ihren
Lauf, Und die Birken streun mit Neigen Jhr den süßten Weihrauch
auf.“ Ein kontinuierliches Beispiel und ein wahres Kabinettstück dieser |#f0048 : 30|

Behandlung ist „Amor als Landschaftsmaler“, wo das erquickende
Gemälde einer reichen Landschaft, wie sie, da eben die Frühnebel weichen,
in dem frischen Tau des köstlichen Sommermorgens vor dem entzückten
Auge allmählich sich enthüllt, mit virtuoser Kunst als die successiv entstehende
Malerei des Liebesgottes auf dem ausgespannten grauen Nebeltuch
durch eine Reihe von Bewegungsvorgängen zur sinnlichsten Anschauung
und zur lebhaftesten Wirkung auf die Empfindung gebracht wird.


Nie und nirgends hat Goethe sich durch den Laokoon darin beirren
lassen, Körperliches in seinen Dichtungen zu malen, Koexistentes zu schildern,
und zwar keineswegs nur „andeutungsweise durch Handlungen“, sondern
geradezu und mit der recht eigentlichen Absicht zu malen und zu schildern.
Daß es ihm gelungen, diese von Lessing im Princip verurteilte poetische
Malerei und Schilderung überall so durchzuführen, daß sie den Erweis
ihrer Berechtigung in sich selber trägt, das liegt daran, daß die
Technik, mit welcher er die dazu erforderlichen Mittel zu den höchsten
Wirkungen zu nutzen weiß, eben nicht ein bloß äußerliches Kunstmittel
ist, sondern daß sie ihrem innersten Wesen nach aus den eigentlichen
Grundgesetzen der Poesie organisch und mit Notwendigkeit hervorgeht.


Wo liegen nun die tieferen Gründe, welche jene Technik als eine
dem wesentlichsten Princip der Dichtung entsprossene kennzeichnen?


Lessing begründet seine Regel, der Dichter solle das Koexistente in
ein Successives umwandeln, lediglich durch die Berufung auf die successive
Natur der Sprache, des poetischen „Mittels“; er bestreitet zwar
nicht, daß diese Beschaffenheit an sich wohl die Beschreibung und malende
Schilderung zulasse, doch behauptet er als einen Erfahrungssatz,
daß ein solches Schildern niemals den Grad der Anschaulichkeit erreichen
könne, welcher in der Poesie als ein Haupterfordernis der Körperschilderung
verlangt werden müsse.


Selbst die Richtigkeit dieses Grundes zugegeben, so ist es doch ein
fundamentaler Unterschied, ob der Poesie als ihr ausschließliches Gebiet
Handlungen zugewiesen werden und Darstellungen des Körperlichen nur
beiläufig und andeutungsweise durch jenen Kunstgriff, oder ob unter
den Gebieten, welche die Poesie beherrscht, die Körperwelt einen ebenbürtigen
Platz einnimmt als eines der wichtigsten Mittel zur Erreichung
ihrer Zwecke. Solch einen Rang behauptet sie bei Goethe, dessen Gedichte
überall das malerisch auf das vollkommenste geübte Auge des
Dichters erkennen lassen, dessen Schilderungen als malerisch gedachte,
mit malerischem Geschick komponierte, weit ausgespannte Gesamtbilder
einheitlich sich überschauen lassen und wirken. Lessings principielle
Forderung, der Dichter solle nicht malen, wird durch Goethe auf jeder |#f0049 : 31|

Seite widerlegt; wir lernen von ihm, er kann malen, also soll er
malen!


Nur ein starkes Beispiel aus Goethes spätester Zeit, aus dem
Jahr 1827! Es ist das achte Lied aus den „Chinesisch=deutschen Jahres=
und Tageszeiten“:


Dämmrung senkte sich von oben,
Schon ist alle Nähe fern,
Doch zuerst emporgehoben
Holden Lichts der Abendstern.
Alles schwankt ins Ungewisse,
Nebel schleichen in die Höh';
Schwarzvertiefte Finsternisse
Wiederspiegelnd, ruht der See.

Nun am östlichen Bereiche
Ahn' ich Mondenglanz und =Glut,
Schlanker Weiden Haargezweige
Scherzen auf der nächsten Flut.
Durch bewegter Schatten Spiele
Zittert Luna's Zauberschein,
Und durchs Auge schleicht die Kühle
Sänftigend ins Herz hinein.


Man möchte das Lied für die genau sich anschließende Beschreibung
eines Landschaftsgemäldes halten, wüßten wir nicht, daß die „ganze
Scenerie der Oertlichkeit konkret entnommen ist,“ der Aussicht über
Garten, Park und Wiesen, die sich dem Dichter von seinem Gartenhause
aus darbot (vgl. die Anmerkung von Loeper, Hemp. Ausg. III, S. 156).


So bleibt nur die technische Forderung Lessings: das Ruhende,
Gleichzeitige durch Verwandlung in ein Bewegtes, Fortschreitendes der
lebhaften Anschauung fähig zu machen, die in der Dichtung ─ weil die
Wahrnehmung die in der Wortfolge nacheinander namhaft gemachten
Teile eines komplizierteren Ganzen erfahrungsmäßig nicht zu einer übersichtlichen
Gesamtheit zu vereinigen vermöge ─ auf keine andere Weise
erreicht werden könne.


Für die nähere Untersuchung ergeben sich hier also zwei Fragen:
gibt es außer der Erfahrung innere, im Wesen der poetischen
Kunst liegende Gründe dafür, daß die Darstellung der
Bewegung und des Fortschreitenden lebendiger wirkt als
die einfache Beschreibung?


Und: in welchen Fällen und auf welche Weise wird demgemäß
eine solche Umwandlung der Beschreibung in Darstellung
des Bewegten möglich sein?

|#f0050 : 32|


Die Beantwortung dieser Fragen kann nur gefunden werden auf
dem Boden der im Obigen gewonnenen Resultate, daß weder „Handlungen“
noch „Körper“ die Gegenstände der Künste sind, sondern
beides nur Mittel, die eigentlichen Gegenstände nachahmend zu verkörpern;
daß diese Gegenstände, die der Poesie und Malerei gemeinsam
sein können, dem innern Seelenleben angehörig, psychologisch=ethischer
Natur sind und darum an sich selbst weder nach dem Princip der
Koexistenz noch nach dem der Succession zu unterscheiden, sondern daß
diesen Principien nur die Mittel ihrer Nachahmung durch diese oder jene
Kunst unterworfen sind.


Umgekehrt wird die Untersuchung nach der innern Begründung
jenes technischen Haupterfahrungssatzes für das verschiedene Verfahren
der Poesie und der bildenden Kunst geeignet sein, die Erkenntnis der
eigentlichen Gegenstände der künstlerischen Nachahmung von einer neuen
Seite noch klarer ins Licht zu setzen. ──────


IV.


„Es sei Fabel oder Geschichte, daß die Liebe den ersten Versuch in
den bildenden Künsten gemacht habe: soviel ist gewiß, daß sie den
großen alten Meistern die Hand zu führen nicht müde geworden.“ Aus
diesem Lessingschen Satze läßt sich ein weiter gehender Schluß ziehen als
der, welchen er selbst daraus folgerte: „der weise Grieche hatte die bildende
Kunst bloß auf die Nachahmung schöner Körper eingeschränkt.“ Die
unbekannte Größe des Begriffs der Schönheit, der doch erst als das
Resultat einer Rechnung sich uns ergibt, deren Faktoren zunächst festzustellen
sind, hemmt auch hier den Fortgang der Untersuchung.


Wenn wir mit Aristoteles annehmen, daß die ersten Anfänge des
Kunsttriebes aus der Freude an der Nachahmung entstanden sind, wie
wir dieselbe an den Kindern noch täglich beobachten können, so ergibt
sich sogleich, daß, da naturgemäß diese ersten, rohesten Nachahmungsversuche
sich solchen Gegenständen und Vorgängen zuwandten, die durch
ein irgendwie beschaffenes Jnteresse die Seele zur Thätigkeit erregten,
in den fortgesetzten, ausgeführteren Versuchen mit der zum frei
wählenden Können gesteigerten Technik sich der Kreis der die Nachahmung
auf sich ziehenden Gegenstände mehr und mehr auf dasjenige einschränken
mußte, was die Seele stark und in erwünschter Weise bewegte,
was sie zu lebhafter, von Lust gefühl begleiteter, Thätigkeit
erhöhte.
Daraus folgt aber weiter, und gleichfalls schon auf |#f0051 : 33|

Grund jener aristotelischen Analogie, daß es ein ganz uneigentlicher Ausdruck
ist, wenn man in beiden Fällen von der Nachahmung der Naturobjekte
selbst
spricht. Nicht diese, nicht die wirklichen Vorgänge
sind der eigentliche Gegenstand der im Spiele thätigen Kinderphantasie
oder der primitiven Kunstübung der Naturvölker; was sie bei ihrer Nachbildung
als unbewußt wirkender Antrieb leitet, ist vielmehr: diejenigen
Seelenbewegungen, welche sie als Wirkungen der sie interessierenden
Naturobjekte und Vorgänge erfahren haben,
durch die eigene Thätigkeit aufs neue hervorzubringen,
und zwar zunächst in sich selbst, auf einer höheren Stufe,
dann auch bei andern.
Wir sehen diese Art von nachahmender
Produktion als ihrer Mittel sich denn auch keineswegs einer getreuen
oder irgendwie vollständigen Wiederholung der sie erregenden Objekte
bedienen; das kleinste Bruchstück davon, ja sehr abweichende Formen und
Prozeduren können ihr völlig genügen, sofern sie nur geeignet sind, den
aus der Wirklichkeit erfahrenen Seelenvorgang in selbständiger Erneuerung
wieder anzuregen, die einmal erklungene Saite zu demselben Ton wieder
in Schwingung zu setzen. Die Erfahrung zeigt sogar, daß die äußerlich
getreue und vollständige Nachahmung der Wirklichkeit ─ bei den
Kindern wie bei den Naturvölkern ─ der Erreichung dieses einzig und
allein wesentlichen Hauptzweckes oft mehr hinderlich als förderlich ist;
weit stärker und sicherer wirkt bei ihnen die einseitigste Wiederholung
und die dadurch bedingte Hervorhebung des einzigen Zuges oder Momentes,
an welche der interessierende Seelenvorgang sich knüpfte. Dieser
Umstand ist es, auf welchem die Symbolik der Märchenwelt recht
eigentlich sich aufbaut, und auf dessen Grunde sie sich zuweilen zu einer
einfachen Großartigkeit zu erheben vermag, die der tiefsten Weisheit und
dem feinsten Kunstsinn in gleicher Weise Genüge leistet wie dem naiven
Kinderverstande.


Was aber hier als unbewußter Zweck die primitive Kunstübung
erzeugt, das ist das bewußte Ziel der eigentlichen Kunst, bei der es sich
überall nur um das Eine handelt, daß sie dasjenige nachahmend hervorbringt,
was in der ganzen Welt allein uns sowohl wahrhaft zu interessieren
vermag als auch allein uns dauernd interessieren soll: die
Wirkungen, welche die Dinge, Personen, Begebenheiten in unserer
Seele
hervorbringen. Und zwar nicht alle solche Seelenbewegungen,
sondern diejenigen, die ihrer Natur nach als die rechten Platz
greifen sollen, auf denen das gesunde Leben der Seele beruht, so daß
sie in solcher Bewegung und Thätigkeit des Wahrnehmens und Empfindens
die ihr zuerteilte Natur und Bestimmung erfüllt, zugleich aber mit der |#f0052 : 34|

solchergestalt erweckten Seelenenergie als Begleitung und Krönung derselben
jenes Lust gefühl (ἡδονή) entsteht, welches der Seele den höchsten
Genuß ihrer selbst verleiht, während es die angeregten Kräfte noch steigert
und ihnen die Dauer gewährt!


Wie entstehen nun aber diese Seelenbewegungen, die zunächst hier
mit einem allgemeinen Namen als psychische Empfindungen bezeichnet
sein mögen, im gewöhnlichen Leben? Wie vermag demgemäß die
Kunst sie nachzuahmen?


Ueberall, wo die Empfindungen über das bloße physische Behagen
oder Unbehagen, über die sinnliche Lust und Unlust hinausgehen, überall
also, wo unsere Seele bewegt wird und wir im Stande sind diese Bewegungen
deutlicher zu analysieren, entsprechen dieselben entweder direkt
der Einwirkung einer fremden psychischen Energie auf unsre Seele oder
sie entstehen, indem wir, bewußt oder unbewußt, ein Analogon solcher
Einwirkung annehmen. Für Handlungen und ebenso für die bloße Erscheinung
von Menschen und auch von Tieren bedarf dieser Satz keines
Beweises;1 er gilt aber nicht weniger für die unbelebte Natur. Ganz
direkt findet er seine Anwendung, sofern die Natur uns von Menschenhand
und =Sinn modifiziert entgegentritt, mögen sie nun ordnend oder
zerstörend auf sie eingewirkt haben; sie ist da gewissermaßen eine Zeichensprache,
durch welche seelische Kräfte sich uns kundthun. Wo wir aber
der unberührten Natur und ihren Gewalten gegenüberstehen und sie nicht
etwa zum Gegenstand unserer wissenschaftlichen Erkenntnis machen, sondern
uns dem Eindrucke überlassen, den sie in unserm Empfinden hervorbringt,
da werden diese Eindrücke um so deutlicher und stärker sein,
je mehr wir geneigt und imstande sind, in unserer Vorstellung dieselben
als Analoga von Wirkungen bewußter Energien und beseelter Jndividualitäten
aufzufassen. Jn der Religionsgeschichte aller Völker ist diese
Naturanschauung einer der mächtigsten Faktoren, und dem lebhaft empfindenden
Menschen ist sie heute wie ehedem, unbeschadet aller Aufklärung
des Verstandes, unabweisbar; mag er nun in der Natur die
Gottheit schauen oder das Naturganze selbst als Wirksamkeit erfassen,
immer wird er, je empfänglicher sein Empfinden ist, auch im einzelnen
dazu vorschreiten, sich Himmel und Meer, Berg und Wald, bis hinab
zum Baum und zur Blume, je mehr im liebevollen Beobachten und Verkehren
ihm das Einzelne vertraut geworden, jedes für sich mit einer
Art geheimnisvoller Persönlichkeit begabt, mit einer Analogie von
Wollen und Empfinden ausgestattet zu denken und so zu ihm in seelische

1
Vgl. Jakob Grimm, Kleine Schriften: „Ueber das Wesen der Tierfabel.“
|#f0053 : 35|

Beziehung zu treten. Die wahrgenommenen Eigenschaften, Bewegungen
und Veränderungen übersetzen wir uns mit mehr oder weniger Kraft
der angeborenen Phantasie in Lebensäußerungen einer der unseren ähnlich
gearteten Seele, und so werden auch bei uns die entsprechenden
Seelen bewegungen erweckt. Die Sprache selbst liefert den Beweis,
die gar keine anderen Mittel besitzt, Natureindrücke darzustellen, als welche
sie dieser Fiktion entnimmt; die freundliche Landschaft, das friedliche
Thal, das erhabene Gebirge, der heitere oder drohende Himmel, die
majestätische See und der wütende Sturm, die stolze Eiche und die altehrwürdige
Linde bis hinab zu dem bescheiden versteckten Veilchen, sie
alle und noch unzählige andere Wendungen geben Zeugnis, daß auch die
Sprache des gewöhnlichen Lebens, sobald sie nur einigermaßen durch
den Ausdruck der Empfindung sich färbt, den Satz bestätigt: nur
seelisches Leben erweckt auch unsere Seele zu Leben und
Be=
wegung; die bloßen Naturobjekte vermögen das an sich zunächst
noch nicht! Sie werden dazu erst dadurch befähigt,
daß wir ihnen ein Analogon jener seelischen Energien beilegen
oder doch die Vorstellung davon unmittelbar mit ihnen
verknüpfen.


Wenn schon die Umgangssprache auf diesem Gebiete so mit poetischen
Keimen erfüllt ist, wie muß es erst die Sache des Dichters sein, diese
Keime zu voller Entwickelung zu bringen! Das Materielle an den
Naturdingen wird er überall nur insoweit darzustellen haben, als es
dazu dient, das zu vergegenwärtigen oder schließen zu lassen, was allein
die Seelen bewegt und daher der eine Gegenstand aller Kunst ist: Leben
und Wirksamkeit.


Von diesem Gesichtspunkte aus zeigt sich auch am deutlichsten der
Grund, warum die Vorstellungen der griechischen Mythologie so unwiderstehlich
in unsre Poesie und in unsre gesamte Kunst eingedrungen sind.
Die Antwort, weil sie eine Fülle schöner Gebilde enthält, ist auch hier
nicht ausreichend; die unvergleichliche und unvergängliche poetische Kraft
dieser Schöpfungen beruht vielmehr darin, daß das geborene Künstlervolk
der Griechen die Fähigkeit, welche allen Völkern in ihrem dichtenden
Kindesalter eigen ist, zur höchsten Vollendung brachte: in allem, was ihre
Seele bedeutend erregte, die wirkende Energie aufzufassen, diese zu objektivieren
und ihr eine psychisch und physisch entsprechend ausgebildete,
ganz selbständige Jndividualität zu verleihen, mit der sie sich fortan
auseinanderzusetzen hatten. So verfuhren sie nicht allein den Naturdingen
gegenüber, den Elementen und ihrer Kraft, sondern auch Zeit
und Schicksal mit ihren wechselnden Verhängnissen erschienen ihnen in |#f0054 : 36|

solcher Verdichtung zu plastisch=objektivierten Persönlichkeiten.1 Ueberall
tritt durch diese Fiktionen an die Stelle der toten Schilderung des
Materiellen die unmittelbar die Seele bewegende Darstellung des lebensvoll
Wirkenden, und das ist der Grund, der sie der Kunst so wert macht,
weil er mit dem Grundprincip aller Kunst zusammenfällt.
Es ist einer der größten Züge Goethescher Lyrik, daß er es verstanden
hat, hier den Spuren der Griechen nachzugehen und mit gewaltig schaffender
Kraft, in der Natur wie im Reiche des Geistes, Dinge, Erscheinungen
und Begriffe zu lebensvollen Wesen zu gestalten. Man denke an Gesänge
wie „Meine Göttin“ oder „Schwager Kronos“; und, speciell für
die dichterische Erhöhung und Verklärung der Natureindrücke, an solche
wie der „Gesang der Geister über den Wassern“, an das ganze Heer
seiner Lieder, und, um zwei klassische Beispiele zu nennen, in denen das
höchste dieser Gattung erreicht ist, an die ganze erste Scene im zweiten
Teile des Faust („Anmutige Gegend.“ „Faust auf blumigen Rasen
gebettet u. s. w.“) und an den Dithyrambus „Ganymed“. Aus
jeder Strophe, aus jedem Verse für sich läßt sich hier die im Obigen
ausgesprochene Theorie ablesen und entwickeln; und wie viel bewegt sich
hier der Dichter in reiner Schilderung, freilich nie ohne den übergeordneten
Zweck, in solcher Schilderung die malenden Züge wie die
Strahlen in einem Brennspiegel zu versammeln und den Brennpunkt
uns in die Seele zu werfen, um mit unfehlbarer Wirkung dort die von
ihm gewollte Empfindung zu entzünden. So in der Schilderung
der Nacht, mit ihrer heiligen Zauberkraft, Vergessenheit zu gewähren
von „des Herzens grimmem Strauß“ und „des Vorwurfs glühend
bittern Pfeilen“ und Erquickung zu erneuter Hoffnung und rasch entschlossenen
Thaten:


Wenn sich lau die Lüfte füllen
Um den grünumschränkten Plan,
Süße Düfte, Nebelhüllen
Senkt die Dämmerung heran;
Lispelt leise süßen Frieden,
Wiegt das Herz in Kindesruh,
Und den Augen dieses Müden
Schließt des Tages Pforte zu.

Nacht ist schon hereingesunken,
Schließt sich heilig Stern an Stern;
Große Lichter, kleine Funken
Glitzern nah und glänzen fern;
1
Vgl. hierzu: LehrsPopuläre Aufsätze aus dem Altertum“, 2. Aufl.,
Leipzig 1875; namentlich die Aufsätze: „Die Nymphen“, „Die Horen“, „Naturreligion“.
|#f0055 : 37|

Glitzern hier im See sich spiegelnd,
Glänzen droben klarer Nacht;
Tiefsten Ruhens Glück besiegelnd,
Herrscht des Mondes volle Pracht.


Eine völlig malerische Strophe und poetisch wie malerisch gleich
vollkommen! Und nicht minder folgende Stelle aus Fausts Monolog:


Jn Dämmerschein liegt schon die Welt erschlossen,
Der Wald ertönt von tausendstimm'gem Leben,
Thal aus, Thal ein ist Nebelstreif ergossen;
Doch senkt sich Himmelsklarheit in die Tiefen,
Und Zweig' und Aeste, frisch erquickt, entsprossen
Dem duft'gen Abgrund, wo versenkt sie schliefen;
Auch Farb' an Farbe klärt sich los vom Grunde,
Wo Blum' und Blatt von Zitterperle triefen,
Ein Paradies wird um mich her die Runde.
Hinaufgeschaut! ─ Der Berge Gipfelriesen
Verkünden schon die feierlichste Stunde;
Sie dürfen früh des ew'gen Lichts genießen,
Das später sich zu uns hernieder wendet.
Jetzt zu der Alpe grüngesenkten Wiesen
Wird neuer Glanz und Deutlichkeit gespendet,
Und stufenweis herab ist es gelungen; ─
Sie tritt hervor! ─ und, leider schon geblendet,
Kehr' ich mich weg, vom Augenschmerz durchdrungen.


Mit einem Wort läßt sich so die Frage nach der Berechtigung der
„Landschaftspoesie“ entscheiden, welche Schiller in der Abhandlung
„Ueber Matthissons Gedichte“ aufwirft. Er hat vollkommen recht, wenn
er dort sagt: „Das Reich bestimmter Formen geht über den
tierischen Körper und das menschliche Herz nicht hinaus; daher
nur in diesen beiden ein Jdeal kann aufgestellt werden. Ueber dem
Menschen (als Erscheinung) gibt es kein Objekt für die Kunst mehr, obgleich
für die Wissenschaft; denn das Gebiet der Einbildungskraft ist
hier zu Ende. Unter dem Menschen gibt es kein Objekt für die schöne
Kunst mehr, obgleich für die angenehme, denn das Reich der Notwendigkeit
ist hier geschlossen.“ Allein der Beweis, daß, ungeachtet „bei
den weisen Alten die Poesie sowohl als die bildende Kunst nur im Kreise
der Menschheit sich aufhielten“, dennoch die moderne Landschaftsmalerei
und Landschaftsdichtung ihr volles Bürgerrecht in der Kunst haben,
kann, unmittelbar aus den oben aufgestellten Prämissen, weit kürzer
und klarer geführt werden, als es dort mit Berufung auf die Kantsche
Lehre von den „ästhetischen Jdeen“ geschieht.


Alle lediglich materielle Schilderung und Darstellung ist tot |#f0056 : 38|

─ oder doch, im besten Falle, nur matt, insofern ja freilich auch schon
mit der bloßen Reminiscenz bei der Aufzählung von gewissen Naturgegenständen,
und noch mehr mit dem Anblick ihrer Nachbildung, sich
Regungen wohlgefälliger Empfindung, und zwar mitunter in ganz bestimmter
Ausprägung, verknüpfen können.1 Ein höchst anmutiges Beispiel
derart ist Uhlands „Lob des Frühlings“:


Saatengrün, Veilchenduft,
Lerchenwirbel, Amselschlag,
Sommerregen, linde Luft!
Wenn ich solche Worte singe,
Braucht es dann noch großer Dinge,
Dich zu preisen, Frühlingstag?


Jst hier auch freilich durch die zweite Strophe der Empfindung
noch bestimmter die Richtung angewiesen, so entsteht doch das eigentlich
sie erregende Bild durch die bloße, rhythmisch geschmückte Aufzählung einfacher
Naturdinge.


Aber ihre eigentliche und höchste Wirksamkeit erhält die künstlerische
Naturdarstellung doch nur, sobald sie psychisches Leben atmet,
d. h. also, sobald sie dem Dichter lediglich das Mittel für den Empfindungsausdruck
ist; je gesunder und reicher diese Empfindung
ist, und je bestimmter er sie nachahmend zu erwecken weiß, desto vollkommener
ist sein Gedicht. Das erreicht er, indem er den Naturgegenständen
die Analogie des Empfindens, Wollens und Handelns leiht,
wodurch er sie in unmittelbaren Rapport mit dem ganzen Reich unsers
eigenen seelischen Lebens setzt, und sie eben damit in jene menschliche
„des Jdeals fähige“ Sphäre erhebt.


Und hiermit wäre der gesuchte tiefere Grund gefunden, warum
der Dichter, sobald er den Zweck seiner Nachahmung durch das Mittel
der Körperdarstellung erreichen will, sich nicht begnügen darf, an
die einzelnen äußeren Züge der Gestalten uns zu erinnern,

die bei ihm die Sprache nicht sprechen, die sie der Maler zu uns reden
zu lassen vermag, sondern ihnen jene beseelte Bewegung erteilen
muß, die, von innen heraus wirkend und unser
Jnneres wiederum bewegend, gleichsam
─ wenigstens unserem
Empfinden nach, das eben dadurch erst ein poetisches Empfinden ist ─
jene äußeren Züge geschaffen hat, welche der Maler uns sehen

1
„Eine Rose und ein Mondschein erregen immer eine angenehme Empfindung
und was vermag nicht eine Palme.“ Vgl. Lehrs a. a. O. in dem Aufsatz: „Die
Nymphen“.
|#f0057 : 39|

läßt und durch welche er seinerseits allein die Nachahmung jener
erreichen kann.


Auch der Maler wird dazu noch nicht in den Stand gesetzt selbst
durch das treueste Studium der Natur, durch welches er ihre Erscheinungen
bis in die kleinsten Züge kennen lernen muß, ohne doch den
Blick für das Ganze dadurch zu verlieren. Das allein würde ihn
doch nur zum Kopisten machen, der bei der bloßen Virtuosität in der
Hervorbringung der Kunstmittel stehen bliebe: zum Künstler wird er
erst dadurch, daß er durch die sicherste Beobachtung der Wirkung
jedes der tausend Züge des großen Antlitzes der Natur auf das eigene
Jnnere es nun versteht, in absichtsvoller Komposition dieselben zu dem
einheitlichen Ausdruck eines selbst erfahrenen Seelenvorganges oder =Zustandes
zu gestalten; zu einer Nachahmung desselben, die eben darum
auch unfehlbar denselben Vorgang bei ihm ähnlich Gearteten hervorbringen
muß. Der große Künstler aber ist der, dessen Empfinden zugleich das
stärkste und reichste und das gesundeste ist, deshalb für die ganze Gattung
gültig, einen Jeden bewegend und sein individuelles Empfinden erweiternd,
läuternd und zu dem allgemein menschlichen erhebend.


Das Gesetz also ist ein und dasselbe für die Poesie wie für
die bildenden Künste:


Das Materielle der Körperwelt ist nicht Gegenstand der
künstlerischen Nachahmung, sondern Mittel.


Jhr Gegenstand ist geistiger Natur und einheitlich, mag
sie sich nun des Mittels der Körperwelt bedienen oder
anderer, die ihr zu Gebot stehen, seien es Handlungen oder
Bewegungen oder Töne oder ganz frei erfundene Formen.


Alle Kunst hat die Aufgabe, seelische Vorgänge im weitesten
Sinne darstellend hervorzubringen oder, wie die Alten sagten, sie nachzuahmen.
Was das Leben erfüllt als sein wesentlichster Jnhalt in
allen seinen Vorgängen und Erscheinungen, das reproduziert die
Kunst selbständig,
sie stellt es dar, dem Leben folgend, diesen seinen
wesentlichen Jnhalt nachahmend mit den Mitteln, die sie jedesmal aufzuwenden
hat: ὕλῃ καὶ τρόποις μιμήσεως διαφέρουσιν, τέλος δ'ἅπασιν
\̔εν ὑπόκειται.


So ist es denn auch ganz unberechtigt, obwohl es überall geschieht,
des Aristoteles Theorie der Mimesis damit bekämpfen zu wollen, daß
man sagt: Mag also die Poesie Handlungen, die Plastik Körper nachahmen,
welche Naturobjekte liegen denn aber der Musik oder der Architektur
zu Grunde? Damit meint man die Nachahmungstheorie kurzer
Hand beseitigt zu haben und an ihre Stelle tritt der unbestimmte Be= |#f0058 : 40|

griff des „Jdeals in der Seele des Genies“. Nein! alle Künste ahmen,
jede auf ihre Weise, dasselbe nach: die Seelenvorgänge, von denen doch
zuletzt alles uns Menschen faß- und darstellbare Leben ausgeht! Aber
diese Einheit umfaßt eine unendliche Mannigfaltigkeit, die es
gilt nach ihren Hauptgattungen zu zerlegen und im einzelnen genau zu
bestimmen. So ergibt sich mit der präcisen Bestimmung des Nachahmungs
objektes zugleich auch die eben so bestimmte Feststellung des
dadurch zu erreichenden Zweckes, woraus dann weiter die dazu anzuwendenden
Mittel und die Art und Weise ihrer Verwendung mit Sicherheit
abgeleitet werden können. Einzig und allein auf diese Weise kann
ein fester und zuverlässiger Maßstab für die Beurteilung ästhetischer
Fragen gewonnen werden; das einzige Gebiet, auf welchem dieser Maßstab
eine konsequent durchgeführte Anwendung gefunden hat, ist zugleich
das einzige, für das wir ein in den Grundzügen völlig ausgearbeitetes
Gesetzbuch besitzen, die Tragödie und ihre Gesetzgebung in der aristotelischen
Poetik!


Die Untersuchung gelangt also hier zu demselben Endziel, zu welchem
sie auch in betreff der poetischen Nachahmung von Handlungen führte.
Wie der Poesie die Darstellung der äußeren Handlung, der Vorgänge
und Begebenheiten nur ein Mittel ist das geistige Moment der eigentlichen
inneren Handlung zur Erscheinung zu bringen, diese also das
Objekt der Nachahmung, jene die Art und Weise derselben (τρόπος
μιμήσεως) ist, so ist auch die Schilderung der Körperwelt ihr nur
eines von den Mitteln, das zweite Hauptobjekt ihrer Nachahmung, Empfindungen,
darzustellen, also auch nur eine von den Arten und Weisen
der Mimesis. Wenn die Poesie dabei mit Vorliebe die Körper durch
zeitliche Succession in fortschreitender Bewegung zu veranschaulichen sucht,
so liegt das allerdings an ihrem Material (ὕλη), der Sprache; der
Grund dieser Vorliebe liegt aber nicht in dem äußeren Umstande, daß
in der Sprache die Worte zeitlich aufeinander folgen, sondern in der
innersten Natur dieser Art von Nachahmung, welche um ihren Zweck zu
erreichen keineswegs der Vollständigkeit des koexistierenden
Materials
bei den von ihr als Mittel benützten Körpern bedarf,
sondern nur der Hervorhebung der einzelnen die Empfindung
erregenden Züge;
das geschieht am sichersten und wirksamsten,
wenn ihnen als den Resultaten bewußten Seins, Wollens und Bewegens
durch die Poesie ein der Empfindung homogenes, psychisches
Leben
geliehen wird.


Daß es aber Fälle geben kann, wo die bloße Erwähnung der einzelnen
Züge, die bloße Aufzählung der Körperobjekte für die poetische Schilde= |#f0059 : 41|

rung ausreichen kann, wurde schon oben erwähnt. Die Erwägung, wann
und wie das geschehen kann, gehört schon in die Beantwortung der
zweiten, am Schlusse des vorigen Abschnittes gestellten Fragen: wie
und in welchen Fällen ist es der Poesie möglich, die ruhende Körperwelt
nach den im Obigen aufgestellten Gesichtspunkten als künstlerisches
Mittel sich dienstbar zu machen?


Zu einem Teile ist die Antwort darauf in dem Gesagten schon
enthalten. Ueberall, wo es angeht, die Veränderungen in der unbelebten
Körperwelt oder auch die ruhenden Erscheinungen selbst als die Resultate
von Vorgängen aufzufassen, denen eine Verwandtschaft mit seelischen Bewegungen
und Willensakten supponiert werden kann, da sind sie zu den
wirksamsten Gegenständen der Dichtung zu rechnen; ebenso auch der
bildenden Kunst, sofern dieselbe durch die dargestellten Formen jene
Supposition deutlich wahrnehmbar machen kann.


Es gibt aber zahlreiche Fälle in der poetischen und vollends unzählige
in der bildnerischen Darstellung, in denen jene Operation fast
unmerklich angewandt oder in denen sie gar nicht vorhanden ist,
sondern wo die bloße Erwähnung und Aufzählung oder die einfache
Nachbildung von Naturobjekten dem künstlerischen Zwecke vollkommen
genügt. Wie sind diese mit dem oben ausgesprochenen allgemein gültigen
Gesetze zu vereinigen?


Es wird auch hier auf die inneren Gründe der Sache zurückzugehen
sein.


Bisher war von den deutlicher analysierbaren Empfindungen
als den Gegenständen der Nachahmung die Rede; gewissermaßen als das
Gegenstück derselben sind im Gemüte eine Reihe von Zuständen und Vorgängen
zu unterscheiden, welche hier vornehmlich in Betracht kommen.


Noch vor den aus bestimmten Anlässen entstehenden Empfindungsvorgängen
(πάθη) können in der Seele entsprechende, aber ihrer Natur
nach weit unbestimmtere Bewegungen ganz spontan auch ohne den Eindruck
oder die Vorstellung einer erregenden Energie stattfinden. Wie das
Licht zwar nur deutlich wahrgenommen wird, wenn es auf Objekte trifft
und von diesen reflektiert wird, aber doch auch ohne das vorhanden
ist und leuchtet, so können jene Seelenbewegungen vorhanden sein, ohne
daß wir an bestimmten Objekten uns ihrer deutlich bewußt werden und
durch die mehr oder minder vollkommene Erkenntnis jener Objekte in
den Stand gesetzt werden, uns von diesen Lebensäußerungen unserer
Seele genauere Rechenschaft zu geben. Es macht sich da eben nur die
Anlage, Neigung oder zeitweilig vorwaltende Gesamthaltung und Verfassung
der Seele kund. Der Sprachgebrauch hat diese Thatsachen keines= |#f0060 : 42|

wegs unbeachtet gelassen; wir sprechen von Liebesdrang und Liebesbedürfnis,
in dem Sinne dunkler Liebesempfindungen, die sich geltend
machen ohne die Richtung auf einen bestimmten Gegenstand, ebenso
von solcher Disposition für die Freundschaft; ganz ähnliche Gefühlserscheinungen
treten der Natur gegenüber auf, oder auf religiösem Gebiete,
und zwar nicht nur als bestimmten Lebensaltern vorzugsweise eigen,
sondern auch als gewisse Epochen, ja ganze Zeitalter kennzeichnend. Nach
allen diesen Richtungen liefern die Jugendoden Klopstocks sehr hervorragende
Beispiele. Eben dahin gehört aber auch ehrgeiziger Thatendrang,
der noch ganz ohne Ziel ist, Kraft- und Mutgefühl ohne Gelegenheit
der Bethätigung, gegenstandloses Trauern, Wehmut ohne Anlaß und
Sehnsucht ohne bestimmte Richtung, allgemeiner Enthusiasmus ohne inhaltlich
bestimmte Form; kurz alle Empfindungen haben, ehe sie, so zu
sagen, bei wirklichen Anlässen sich ereignen, in den dazu besonders
gestimmten Seelen eine dunkle Präexistenz, ein undeutlicheres Abbild
ihrer selbst, welches als bloße Kraft, bloßes Vermögen ─ δύναμις
nennt es die aristotelische Ethik ─ dauernd vorhanden ist. Kommen
nun gewisse äußere Anstöße hinzu, so geraten diese mehr oder weniger
latenten Seelenkräfte oder Empfindungsvermögen auf einmal in die lebhafteste
Thätigkeit.1 Ein angegebener Rhythmus, ein zufälliger Klang,
eine Farbenerscheinung, z. B. ein so oder so bewölkter oder gefärbter
Himmel, der bloße Anblick oder die bloße Erwähnung gewisser Gegenstände
sind hinreichend einen ganzen Sturm von Empfindungen in solchergestalt
disponierten Seelen hervorzurufen. Auf diese Weise können Gehörs=
und Gesichtseindrücke von lediglich sinnlicher Natur ganz zufällig
schon unser Empfindungsleben modifizieren;2 um wie viel mehr, wenn sie
einem höheren Zwecke unterthan gemacht, von einem ordnenden bewußten
Willen zusammengestellt werden. Sie können dann dazu verwandt werden,
geradezu den Zustand und das gegenseitige Verhältnis von solchen Empfindungsvermögen
und =Dispositionen ─ δυνάμεις ─, wie sie bei den
Komponierenden vorhanden sind, nachahmend darzustellen und so wiederum
bei andern zu erregen (in der Poesie wie in der Malerei und ganz
besonders in der Musik und der Kunst des Tanzes); zumeist natürlich
bei ähnlich Gestimmten, bis zu einem gewissen Grade jedoch bei allen,
sofern nämlich die bei dem Einzelnen stark und übermächtig sich äußernde

1
Jn solcher Weise hat man sich unzweifelhaft den „Enthusiasmus“ vorzustellen,
von dessen kathartischer Heilung durch die Olympuslieder Aristoteles in der bekannten
Stelle der Politik handelt. (Vgl. hierüber Polit. III, c. 7. 1341b. 32. ─ 1342a. 12.)
2
Jn derartigen Eindrücken hat die gesamte Mantik ihren natürlichen Grund
und Ursprung.
|#f0061 : 43|

Disposition nicht abnorm ist, sondern der Gattung angehörig, oder gar
wenn darin, was zu dem echten Kunstwerk erfordert wird, die Bestimmung
der Gattung nach irgend einer Richtung hin sich erfüllt.


Es liegt dieser unmittelbaren Wirkung, die keines Dazwischentretens
psychischer Vorstellungen bedarf, ein Zusammenhang zu Grunde, der gerade
in seinen mächtigsten Aeußerungen wohl immer ein Geheimnis bleiben
wird, zwischen Figuren, Farben und Tönen samt ihren Veränderungen
und den Bewegungen unserer Seele. Diese dunkle Gewalt, die sich schon
bloß sinnlich kundgibt, ist nun aber dem freien Gebrauch des künstlerischen
Willens anheimgegeben. Jhren Ursprung kennt auch der
Künstler nicht, aber weil jener Zusammenhang ein natürlicher ist,
kann er souverän über sie verfügen. Sie wird mißbraucht, wenn sie
verwandt wird eben nur aufzuregen, zu frivolem Spiel oder zu chaotischem
Wirbel; aber sie vermag den höchsten Zwecken der Kunst zu dienen,
wenn sie gleichsam die Elementarkräfte großer und reicher Seelen uns
abspiegelt und unmittelbar mit analogen Bewegungen uns durchdringt.


Für den echten Dichter ist somit die Verwendung der Naturobjekte,
welche bei dem Stümper zu äußerlichem Dekorationswerk herabsinkt,
eines der wirksamsten Mittel der Seelenmalerei, mag er nun dieselben
in lebendiger Bewegung vorführen oder auch durch ihre bloße Erwähnung
seine Wirkung zu erreichen suchen, wie namentlich die Romantik und die
gesamte modernere Richtung der leidenschaftlich erregten sentimentalen
und weltschmerzlichen Poesie es liebt.


Es darf, um diese Kunst in ihrer Vollendung zu zeigen, nur an
Goethes Werther erinnert werden und an die Meisterschaft, mit der
dort überall die Naturdinge als das wirksamste Material für die Nachahmung
der verhängnisvollen Elementargewalt behandelt sind, mit welcher
die dunkleren Empfindungskräfte (δυνάμεις τῶν παθῶν), noch ungeklärt
und ungesondert, die Seele bestürmen.1 Oder es mögen, um ein anderes

1
Vgl. Buch II. Brief an W., 12. Dezember (cf. Hempel, B. XIV, S. 103).
„Jch bin in einem Zustande, in dem jene Unglücklichen gewesen sein müssen, von denen
man glaubte, sie würden von einem bösen Geiste umhergetrieben. Manchmal ergreift
mich's; es ist nicht Angst, nicht Begier ─ es ist ein inneres, unbekanntes Toben, das
meine Brust zu zerreißen droht, das mir die Gurgel zupreßt! Wehe, wehe! Und
dann schweife ich umher in den furchtbaren nächtlichen Scenen dieser menschenfeindlichen
Jahreszeit.“
„Gestern Abend mußte ich hinaus. Es war plötzlich Tauwetter eingefallen; ich
hatte gehört, der Fluß sei übergetreten, alle Bäche geschwollen, und von Wahlheim
herunter mein liebes Thal überschwemmt! Nachts nach Elfe rannte ich hinaus. Ein
fürchterliches Schauspiel, vom Fels herunter die wühlenden Fluten in dem Mondlichte
wirbeln zu sehen, über Aecker und Wiesen und Hecken und Alles und das weite Thal
|#f0062 : 44|

klassisches Beispiel vor Augen zu stellen, hier einige Stanzen aus Byrons
Harold“ stehen. Jn seinem Munde erreicht jenes specifisch moderne
Naturgefühl, welches die vertrauten Wechselbeziehungen zu der Natur
weit über den Umgang mit den Menschen stellt, den höchst gesteigerten
Ausdruck; so namentlich in der folgenden Strophe des dritten Gesanges
von „Harolds Pilgerfahrt“:1


Nicht in mir selber leb' ich; nein, ich werde
Ein Teil der Welt umher. Gebirg' und Flur
Sind mir Gefühl, die Städte dieser Erde
Sind Folter mir. Jch find' in der Natur
Nichts, was mir widrig ist, als eines nur,
Des Fleisches Kette, die auch mich umflicht,
Jndes die Seele flieh'n kann zum Azur,
Zum Berg, zum Ocean, zum Sternenlicht,
Und sich versenkt ins All ─ und, o, vergebens nicht!

oder der folgenden:


Sind nicht die Himmel, Meer' und Berg' ein Stück
Von meiner Seele, wie von ihnen ich?
Jst sie zu lieben nicht mein reinstes Glück?
Und alles, was ich ihnen je verglich,
Sollt' ich es nicht verachten? Soll ich mich
Aus Furcht vor Schmerzen dieser Lieb' entschlagen?
Soll dieses Herz in stummes Phlegma sich
Weltlich versenken, wie die Feigen, Zagen,
Die stets zu Boden schau'n und zu erglüh'n nicht wagen?


Diesem selben heißen, leidenschaftlichen Verschmelzen mit der Natur
zu unauflöslichem Bunde entströmen auch die hinreißenden Stanzen,
die schönsten, die je zu ihrem Lobe gesungen sind, ─ in denen er die
zauberische Schönheit des Genfer Sees schildert oder die grandiosen
Schrecken der umgebenden Alpenwelt (vgl. Ges. III, St. 85 ff.); nur zwei
daraus mögen hier noch folgen:


hinauf und hinab. Eine stürmende See im Sausen des Windes! Und wenn dann
der Mond wieder hervortrat und über der schwarzen Wolke ruhte, und vor mir hinaus
die Flut in fürchterlich=herrlichem Wiederschein rollte und klang, da überfiel mich ein
Schauer und wieder ein Sehnen! Ach, mit offenen Armen stand ich gegen den Abgrund
und atmete hinab! hinab! und verlor mich in der Wonne, meine Qualen, meine
Leiden da hinabzustürmen! dahinzubrausen wie die Wellen. Oh! ─ ..... Wie gerne
hätte ich mein Menschsein drum gegegeben, mit jenem Sturmwinde die Wolken zu zerreißen,
die Fluten zu fassen! Ha! Und wird nicht vielleicht dem Eingekerkerten einmal
diese Wonne zu teil? ─“
1
Vgl. Übersetzung von O. Gildemeister, Bd II. Harold, Ges. III, St. 72, 75.
|#f0063 : 45|

Himmel und Erd' ist still, doch schlafend nicht,
Nur atemlos wie tiefste Wonn' und Qual,
Wann allzuvoll das Herz nicht seufzt noch spricht.
Himmel und Erd' ist still, ─ der Sterne Zahl,
Der eingelullte See, Gebirg und Thal,
All in ein einzig lebend Eins verfließt,
Darinnen jedes Lüftchen, Blatt und Strahl
Anteil am Dasein hat und mitgenießt,
Was schaffend all' erzeugt und schirmend all' umschließt.

Und weiter unten:


Himmel, Gebirge, Strom, See, Blitz und Winde
Und Nacht und Donner und der Wolken Schwall!
Dazu ein Geist, der alles dies empfinde,
Wohl mag ich wachen! Euer ferner Hall
Jm Scheiden tönt mir wie Sturmglockenschall
Dessen, was schlaflos ist in meiner Rast.
Und du, o Sturm, wo ist dein Ziel im All?
Gleichst du dem Sturm im Herzen? Oder hast
Du Adlern gleich ein Nest im hohen Bergpalast?


Bei Byron finden sich alle Methoden, deren sich der Dichter bedienen
kann, um körperliche Formen und Situationen, Naturdinge und
Erscheinungen in voller Anschaulichkeit vor unser geistiges Auge zu
bringen; von jener Art, die Natur als ein Ganzes und in jeder ihrer
Kundgebungen zu beseelen bis zu dem Verfahren, sie mit dem eigenen
Seelenleben völlig zu durchdringen, ja zu identifizieren und bis zu jener
andern Art, den elementaren Bewegungen des Gemütes gewissermaßen
einen Ausweg zu verschaffen in der Vergegenwärtigung wahlverwandter
Naturscenen und =Gegenstände.


Jn allen Fällen aber, in denen körperliche Gegenstände als dichterisches
Darstellungsmittel verwendet werden, und bei allen Methoden dieser Verwendung
ist das Charakteristische des Verfahrens nicht die Umsetzung
in Handlung, die Verwandlung des Koexistenten in ein Successives,
sondern die durch das oberste Princip aller Kunst, psychische Vorgänge
nachzuahmen, gebotene Erfassung des Gegenständlichen als eines
Beseelten oder doch unmittelbar auf Gemüts- und Seelenkräfte
Wirkenden.
Dabei wird das in der Praxis einzuschlagende
technische Verfahren in der großen Mehrzahl der Fälle, wie sich aus der
Natur der Nachahmung des Geistigen ergibt, die Darstellung von
Leben und Bewegung, also Succession
sein; aber jenes bloß
äußerliche Verfahren, die Teile eines Gegenstandes, statt sie nebeneinander
zu stellen, aufeinander folgen zu lassen, ist an sich weder ein |#f0064 : 46|

obligatorisch für alle Fälle geltendes Gesetz, noch würde jener
Handgriff an und für sich im entferntesten genügen, die Anforderungen
des echten poetischen Kunstwerkes zu erfüllen,

weil das Wesentlichste derselben darin noch gar nicht enthalten ist.


Das lediglich materielle, unbeseelte der Körperwelt, mag
es nun in Koexistenz oder in einer durch eine äußerliche, mechanische
„Handlung“ erfolgenden Succession seiner Teile vorgeführt werden, ist
und bleibt tot und darum unkünstlerisch, unpoetisch!


Solche Beispiele, wie sie Lessing im XVI. Abschnitt des Laokoon
anführt, von dem Wagen der Juno oder der Bekleidung des Agamemnon,
sind an und für sich gar sehr geeignet, irre zu führen. Die Beschreibung
oder Malerei solcher Gegenstände hat poetisch an und für sich gar
keinen Wert,
mag sie nun mit minutiöser Kleinmalerei erfolgen oder
nach der Vorschrift einer Umwandlung des Koexistenten in ein Successives.
Umgekehrt, führt der Dichter sie ein unter dem einzigen Gesichtspunkt,
von welchem aus sie dichterischen und überhaupt künstlerischen Wert erhalten,
nämlich insofern sie ein seiner Natur nach ethisches Moment,
das darum auch wiederum eine psychische Regung bewirkt, nachahmend
darstellen, so stehen auch dem Dichter beide Darstellungsarten
zu Gebote
und er ist keineswegs an die Befolgung des Gesetzes
von der Umwandlung in Succession gebunden.


Als Beleg diene die sehr umständliche Beschreibung von Kleidung
und Putz in der 15. Romanze des ersten Cyklus von Herders Cid.
Die poetische Grundstimmung, der „ethische“ Nachahmungszweck dieses
ganzen, räumlich bedeutendsten Teiles der betreffenden Romanze ist in
der dritten Strophe angegeben:


Herrlich ging am Hochzeittage
Auf die Sonne. Don Rodrigo,
Abgelegt die Waffenrüstung,
Kleidet sich mit seinen Brüdern
Hochzeitlich und fröhlich an.

Und nun folgt in sieben, sehr ausgedehnten, Strophen die sehr genaue
Schilderung des Hochzeitsanzuges des Cid und der Donna Ximene, und
zwar so, daß von dem durch Lessing vorgeschriebenen dichterischen Mittel,
statt der Beschreibung der Kleidung die Handlung des Ankleidens zu
erzählen, nur ganz beiläufig im Beginne Gebrauch gemacht ist; der bei
weitem überwiegende Teil der Beschreibung erfolgt dann lediglich als
Schilderung des Koexistenten. Nichtsdestoweniger wird niemand bezweifeln,
daß der poetische Nachahmungszweck, in der Pracht der Zurüstungen
die „hochzeitlich=fröhliche“ Feststimmung verbunden mit der |#f0065 : 47|

echt adeligen Grandezza und der durch alle, im besten Sinne vornehmen,
Vorzüge geschmückten Art und Haltung der Gefeierten lebendig zum Bewußtsein
zu bringen, mit anschaulichster Wirkung erreicht ist:


Ächt walloner Pantalone,
Mit Scharlach gezackte Schuhe,
Fein an Leder; zween Stifte
Hefteten sie fest und enge
An den kleinen, netten Fuß.

Jetzo zog er an die Weste,
Eng anliegend, ohne Borten;
Dann die schwarze Atlasjacke,
Wohlgepufft, mit weiten Ärmeln
(Wenig hatte sie sein Vater
Nur getragen). Auf den Atlas
Fiel von ausgezacktem Leder,
Breit, anständig, das Kollett.

Und ein Netz von goldnen Fäden,
Eingewirkt in grüne Seide,
Schloß sein Haar ein. Auf dem Hute
Von Cortrayer feinem Tuche
Hob sich eine Hahnenfeder
Wunderbarlich hoch und rot.

Schön befranzt bis auf die Hüfte
Reichet ihm die Jazerine,
Und um seine Schultern spielet
Ausgeplüscht ein Hermelin.

Und der unverzagte Degen,
Tizonada war sein Name,
Er, der Schrecken aller Mauren,
Hängt in schwarzen Sammetbändern
An dem festen, tapfern Gurt.
Ausgezackt, gefaßt mit Silber
War der Gurt; ein feines Schnupftuch
Wohlgefaltet hing an ihm.

Und weiter dann:


Sittsam stand sie da, Ximene;
Von elastisch feiner Leinwand
Puffte ihre Flügelhaube;
Von dem feinsten Londner Tuche
Wohl garniert, war ihre Kleidung,
|#f0066 : 48|

Die von Schultern zu den Füßen
Barg und zeigte ihren Wuchs.
Auf zwei rosigen Pantoffeln
Stand als Königin sie da.
Jhren Hals umschlang ein Halsband;
An ihm hingen acht Medaillen,
Einer Stadt an Werte gleich;
Und die reichste unter ihnen,
Den Sankt Michael darstellend,
Schwer von Perlen und Juwelen,
Hing Ximenen an der Brust.


Ob der Hörer nach diesen Strophen imstande ist, sich ein vollständiges
und richtiges Bild der Toilette des Paares zu machen, ist eine
untergeordnete Frage; worauf es ankommt, und was ohne Zweifel erreicht
ist, das ist der Eindruck der durch die Erscheinung des Seltenen,
Außerordentlichen, hervorgerufenen gespannten Erregung, den solche Zurüstungen
auch in der Wirklichkeit zum Zwecke haben, und welche hier
überall die Vorstellung von höchstem Verdienst, ausgezeichneter Sitte und
altangestammtem und persönlichem Adel erwecken.


Dagegen wird durch den Umstand, daß die Regel des Laokoon,
die koexistenten einzelnen Züge in eine Succession einzelner Handlungen
aufzulösen, in der That ganz konsequent beobachtet ist, eine
Schilderung wie die folgende Dan. Kasp. von Lohensteins nicht um ein Haar
über das tiefe Niveau des übrigen Schwulstes der Schlesier gehoben:1


Jetzt liebt die gantze welt! des Titans glut wird mächtig
Die erde zu vermählen, der himmel machet trächtig
Mit regen ihren schooß ....
.... der blumen sommer=haar
Bekleidet allbereits die unbelaubten wipfel:
...........
Ja selbst die zeit wird braut, die blumengöttin schmücket
Jhr selbst das braut=gewand, und ihre kunst=hand stücket
Der Tellus grünen Rock mit frischem rosen=schnee
Und weißen liljen aus. Hier wächset fetter klee
Auff Kyblens marmor=brust; dort bücken die narcissen
Sich zu den tulpen hin, einander recht zu küssen.
.........
Jndessen feuchtet dort mit den bethauten flügeln
Der zuckersüße west die wiese, die fast lechst.
Das weiß=beperlte graß, das in den thälern wächst,
Bekränzt der sternen=thau u. s. w. u. s. w.
1
Vgl. Hoffmannswaldaus und anderer Deutschen auserlesene Gedichte. Leipzig
1695, S. 240. „Venus“ von D. C. V. L.
|#f0067 : 49|


So geht es fort durch fast zweitausend Alexandriner ohne eine
Spur von Poesie; die aufeinander gehäuften Massen der Materie bleiben
tot trotz des erlogenen Scheines von Leben. ──────


V.


Es bleibt dabei: der Gegenstand der Poesie wie aller Kunst ist
die Nachahmung psychischer Zustände und Vorgänge; doch ist der Kreis
derselben durch die Handlungen, in dem strengeren Sinne von inneren
Entschließungen, und Empfindungen, von welchen bisher die Rede
war, noch nicht erschöpft. Wie oben1 schon erwähnt, kommt eine dritte
Hauptgattung
hinzu, welche dort unter dem Begriffe des griechischen
Ethos“ zusammengefaßt wurde und die noch eine gesonderte Betrachtung
verlangt.


Wenn ein großer Teil der Lyrik mit dem Satze, Handlungen seien
ihr Gegenstand, sich auf keine Weise vereinen läßt, so nimmt doch
unter den Mitteln, die ihr zu Gebote stehen, um ihren Zweck, Nachahmung
von Empfindungen, zu erreichen, die Erzählung oder auch die
bloße Andeutung einer Handlung den weitaus bedeutendsten Rang ein.
Gerade die hervorragendsten Lyriker bedienen sich dieses Mittels am
meisten und sie folgen darin dem unverwerflichen Muster des Volksliedes,
welches fast immer irgend einen kleinen Vorgang, eine, wenn
auch noch so flüchtig skizzirte, Handlung entrollt.


Daß hier allenthalben die Handlung nur einem höheren Zwecke
dient und nirgends um ihrer selbst willen erzählt wird, bedarf keines
Beweises; wie ist aber das Verhältnis bei der Ballade, die, auf der
Grenze der Epik und Lyrik stehend, der Handlung gar nicht entraten
kann? Die Untersuchung dieses Verhältnisses muß für die Grenzbestimmung
der beiden Gebiete sehr förderlich sein.


Wie oben festgestellt, sind die als Mittel der Nachahmung von
Handlungen angewandten „Folgen von Veränderungen“ keineswegs auch
immer Nachahmungen von Handlungen selbst; für diese ist das geistige
Moment der produzierenden Entschließung allein maßgebend, welches den
Namen der Thätigkeit weit eigentlicher verdient als das äußere Thun.
Es kann jemand eine zusammenhängende, eine Einheit bildende Gruppe
von Veränderungen, also eine äußere Handlung bewirken, ganz ohne
den Prozeß des eigentlichen Handelns, den inneren Willensakt, in sich
erfahren zu haben; umgekehrt kann die höchste Thätigkeit sich ohne alle

1
Vgl. oben S. 22.
|#f0068 : 50|

Veränderungen in der Körperwelt, etwa durch ein einziges Wort, vollziehen.
Gerade solche Handlungen aber, gleichviel ob sie in einem Moment
oder in einer beliebig langen Reihe von Veränderungen sich vollziehen,
sind erforderlich, wenn sie um ihrer selbst willen der Gegenstand der
künstlerischen Nachahmung werden sollen; im andern Falle sind sie nur
Mittel derselben. Denn jene bringen durch ihr Bild unmittelbar die
Seele des Wahrnehmenden in dieselbe Bewegung, welcher sie selbst entstammen,
während diese zunächst nur ein buntes Vorstellungsmaterial zu
erzeugen vermögen, welches erst durch die Kunst die Kraft erlangt, verwandte
psychische Bewegungen mittelbar nachahmend zu bewirken; jene
sind entschieden epischen Charakters, diese ein Hauptmittel der lyrischen
Dichtung. Es sind Fälle denkbar, wo die Grenze zwischen beiden
fast unkenntlich wird, in der weit überwiegenden Mehrheit der Fälle
aber werden sie scharf voneinander zu unterscheiden sein.


Es mag an einer Reihe von Dichtungen, die man gewöhnlich als
Balladen“ bezeichnet, die Probe gemacht werden.


Ueberall, wo in einem solchen Gedicht eine eigentliche Handlung
dargestellt wird, läßt sich das Moment der entscheidenden, bewußten
Willensäußerung als ihr Gipfelpunkt in ein Wort zusammenfassen; man
darf den betreffenden Vers nur citieren, um die Summe der Handlung
zu ziehen. So z. B. „Da setzt' ihn der Graf auf sein ritterlich Pferd“;
„Hier bin ich, für den er gebürget“; „Da treibt's ihn den köstlichen
Preis zu erwerben“; „Still legt er von sich das Gewand“; „Und er
wirft ihr den Handschuh ins Gesicht“; „Dem Zöllner werd' euer Geld
zu teil“; „Er wirft sein Schwert, das blitzend des Jünglings Brust
durchdringt“; die Beispiele lassen sich beliebig vermehren.


Hier überall ist entschieden epischer Charakter; alle diese Gedichte
enthalten die Nachahmung wirklicher Handlung.


Nun aber versuche man dasselbe Verfahren bei der echten Volks=
Ballade,
oder man stelle die Goetheschen Balladen auf dieselbe
Probe!


Jst in Goethes „Fischer“ der erzählte Vorgang der Gegenstand,
der um seiner selbst willen, wie die Handlungen der vorerwähnten Gedichte,
nachgeahmt wird, oder ist es nicht vielmehr die vermittelst
desselben hervorgebrachte, ganz bewegungslose, κατ' ἐξοχήν stationäre
Stimmung des ohne alle bestimmte Empfindung, ganz gedankenbefreit
dem träumerisch wiegenden Wohlgefühl des Elementes Hingegebenen?
Und ist es mit dem „Erlkönig“ etwa anders? Auch hier tritt das
gegenständliche Jnteresse des Vorganges an und für sich völlig
zurück hinter dem eigentlichen Zweck ─ τέλος ─ des Gedichtes, ver= |#f0069 : 51|

mittelst dieses Vorganges die Nachahmung einer Stimmung zu erreichen.
Sowie man diesen Schwerpunkt verrückt und als den „Gegenstand“
der Nachahmung den Handlungsgehalt selbst ansieht ─ wie man das
z. B. in den Schillerschen sogenannten Balladen durchweg thun muß
so ist man mitten in der philiströsesten Plattheit. Dort handelt es sich
in der That um die Selbstüberwindung des Johanniter-Ritters, die
einen schwereren Kampf verlangt als den Kampf mit dem Drachen, um
die durch Ehre und Liebesgewalt bis aufs höchste gesteigerte Kühnheit,
welche den äußersten, kaum überwundenen Schrecken todverachtenden
Trotz bietet, um die felsenfeste Treue, die, in der Gefahr die heilige Verpflichtung
nicht einlösen zu können, die erschöpften Kräfte bis ins Wunderbare
zu erhöhen vermag ─; dieselbe Betrachtungsweise auf den
„Erlkönig“ angewendet läßt als einzigen Jnhalt das Verderbliche übrig,
mit einem zart nervösen Kinde nachts bei starkem Winde durch den
Wald zu reiten. Seinen Sinn und seine mächtige Wirkung hat das
Gedicht schlechterdings nur als die vermittelst eines zu diesem Zweck
erfundenen äußeren Vorganges verkörperte Nachahmung psychischer
Stimmungsgewalt. Das gleiche findet beim „Hochzeitslied des
Grafen
“ statt; hat dort das geheimnisvolle Grausen des nächtlichen
Waldes einen dämonischen Ausdruck gefunden, so ist hier das gemütlich
liebevolle Behagen an der altererbten, durch die Tradition geheiligten
häuslichen Heimat zu freundlich=heiterer Fiktion verdichtet. Derselbe
Nachweis läßt sich ebenso für die „wandelnde Glocke“ führen und für
den „Zauberlehrling“, diese klassische Darstellung der Ruhe und Erfolgssicherheit,
mit der das seiner Kraftfülle sich bewußte Genie gegenüber
dem Fiasko der pfuschenden Lehrjungengeschäftigkeit in seine Rechte tritt;
und so die ganze Reihe der Goetheschen Balladen durch.


Vollends der Volksgesang! Wo er irgend sich rein erhalten hat,
da tritt die Nachahmung der Handlung, die Erzählung des Vorganges
völlig zurück, ja sie wird fast verflüchtigt zu Gunsten des Sanges= und
Liedeszweckes, die ganz und gar nach einer einzigen Richtung hin
bewegten Gemütskräfte auf das eindringlichste darzustellen. Die wirkliche
epische Erzählung hat außer dem Jnteresse der Handlung selbst noch
hundert anderen Forderungen zu genügen: alle wichtigen näheren Umstände
müssen gekannt werden, der Schauplatz soll lebhaft vors Auge
gebracht werden, die Motive, aus denen die Thaten nicht allein der
Hauptpersonen, sondern auch der mittelbar Beteiligten entstehen, verlangen
mehr oder minder eingehenden, charakterisierenden Bericht. Hier
wird breiter Fluß und Vollständigkeit der Erzählung erfordert und das
sich unabweisbar herzudrängende dekorative Element nimmt einen |#f0070 : 52|

großen Raum ein; wo immer der Volksgesang durch die Kunstpoesie
verfälscht oder gar ganz verdrängt ist, sind dies die Kennzeichen der
Entartung. Dagegen dort an Stelle der Vollständigkeit der Handlung
die sprung- und lückenhafteste Skizze des Verlaufs, anstatt sorgfältiger
psychologischer Charakteristik die schroffste Einseitigkeit und die grellste
Betonung immer nur des einzigen Motivs und zwar bis zu einem Grade
der Herbigkeit und äußerster Uebertreibung, welcher in der Erzählung,
und mag sie immerhin das Reich des Wunderbaren umschließen, niemals
ertragen wird, weil dadurch das Jnteresse und damit ihr Zweck
vernichtet würde, sondern der einzig und allein als ein Mittel die
Stimmungsgewalt nachzuahmen verstanden und ertragen werden kann.
Endlich die Dekorationsmalerei, worin die Kunstballade luxuriert, kennt
die Volksballade gar nicht.


Man vergleiche auf alle diese Kennzeichen hin nicht allein Stücke
wie „Herr Oloff“, „Wassermann“, „Ulrich und Aennchen“, sondern auch
solche wie „Das nußbraune Mädchen“, „Das Lied vom jungen Grafen“,
„Die Nonne“, „Vom eifersüchtigen Knaben“, oder „Das Lied vom Pfalzgrafen
oder dem grausamen Bruder“, „Graf Friedrich“ und unzählige
andere, während solche wie „Albertus Magnus“ oder „Die Herzogin
von Orlamunt“ in ihrer Breite und Umständlichkeit und freilich auch in
ihrer ganzen sonstigen Haltung schon die deutlichen Spuren einer ihres
Zieles nicht mehr gewissen Kunstrichtung tragen.1 Ein sehr interessantes
Beispiel ist Bürgers „dem Altenglischen nachgedichtete“ Ballade „Graf
Walter
“, welche zwar alle Merkzeichen der echten Volksballade an sich
trägt, aber durch die übel angebrachte Sorgfalt des alle Gelegenheit zum
Effekt ausnutzenden Dichters allenthalben in epische Breite gewandelt und
mit störendem Detail belastet.


Eben wegen seiner Anlehnung an den alt=englischen Volksgesang
ist Bürger in einigen seiner Dichtungen der echten Balladen nahe gekommen,
doch bleiben auch diese auf der Grenze stehen. Der „wilde
Jäger“ ist solch ein Stück; wie die Sage jener fürchterlichen Ausartung
der Jagdlust entsprungen ist, die unter all seinen unerträglichen Lasten
den mittelalterlichen Bauernstand am heftigsten empörte, so ist es dem
Dichter in der That gelungen, jenen bis zum grausigen Wahnwitz erhitzten,
wildesten Frevelmut in ergreifender Nachahmung darzustellen, aber
doch nur an einzelnen Stellen. Statt nach dieser einzigen Richtung auf
sein Ziel loszugehen, hierzu alle stärksten Züge, in kürzester Andeutung

1
Vgl. Herder: „Stimmen der Völker in Liedern“ und „Des Knaben
Wunderhorn
“, bearbeitet von Birlinger und Crecelius.
|#f0071 : 53|

zusammengedrängt, zu vereinigen, alles andere ganz fortzuwerfen oder
höchstens durch ein Wort dem Hörer ins Gefühl zu rufen, bringt
er neben der ausgeführten Haupthandlung noch eine ganze Reihe von
Nebenhandlungen in nachdrücklich eingehendstem Vortrage vors Auge
und zerstreut damit das Jnteresse nach den verschiedensten Gesichtspunkten,
so daß in solchem Zusammenhange der breit moralisierende
Schluß freilich nichts Auffallendes mehr hat, so sehr er dem Wesen der
Ballade widerspricht.


Auch die „Lenore“ verdankt ihre weit hervorragende Stellung dem
vorwiegend lyrischen Stimmungscharakter und Sangeston des Ganzen,
dessen schattenhafte Vorgänge, ganz ohne eigentliche (innere) Handlung,
nur Seelenzustände zu vergegenwärtigen dienen sollen. Will man recht
klar erkennen, was das bedeutet, so vergleiche man mit diesen Gesängen
Stücke wie die „Entführung“ („Knapp', sattle mir mein Dänenroß“)
oder „Des Pfarrers Tochter zu Taubenhain,“ oder „Das Lied von
Treue,“ in welchen in der That Handlung, und zwar um ihrer eigenen
epischen Bedeutung willen, bei dem letztgenannten vielleicht wegen der
anekdotenhaften Schlußwendung, nachgeahmt ist. Aber dennoch! wie
weit steht auch Bürgers „Lenore“ von der alt=schottischen Ballade ab,
welche einen ähnlichen Jnhalt, die todbringende Gewalt bis ins Grab
getreuer Liebe, unendlich viel reiner, tiefer und wahrer ausdrückt. Es
ist das schöne Lied „Wilhelms Geist“ in Herders „Stimmen der
Völker“, das achte im dritten Buche:


Da kam ein Geist zu Gretchens Thür
Mit manchem Weh und Ach!
Und drückt' am Schloß und kehrt' am Schloß
Und ächzte traurig nach.

„Jst dies mein Vater Philipp?
Oder ist's mein Bruder Johann?
Oder ist's mein Treulieb Wilhelm,
Aus Schottland kommen an.“

„Jst nicht dein Vater Philipp,
Jst nicht dein Bruder Johann!
Es ist dein Treulieb Wilhelm,
Aus Schottland kommen an.

„O Gretchen süß, o Gretchen lieb,
Jch bitt' dich, sprich zu mir;
Gieb, Gretchen, mir mein Wort und Treu',
Das ich gegeben dir!“
|#f0072 : 54|

„Dein Wort und Treu' geb' ich dir nicht,
Geb's nimmer wieder dir,
Bis du in meine Kammer kommst
Mit Liebeskuß zu mir.“

„Wenn ich soll kommen in deine Kammer ─
Jch bin kein Erdenmann,
Und küssen deinen Rosenmund,
So küss' ich Tod dir an.

„O Gretchen süß, o Gretchen lieb,
Jch bitt' dich, sprich zu mir;
Gieb, Gretchen, mir mein Wort und Treu',
Das ich gegeben dir!“

„Dein Wort und Treu' geb' ich dir nicht,
Geb's nimmer wieder dir,
Bis du mich führst zum Kirchhof hin
Mit Bräut'gamsring dafür.“

„Und auf dem Kirchhof lieg' ich schon
Fernweg, hin über'm Meer!
Es ist mein Geist nur, Gretchen,
Der hier kommt zu dir her.“

Ausstreckt sie ihre Lilienhand,
Streckt eilig sie ihm zu:
„Da nimm dein Treuwort, Wilhelm,
Und geh und geh zur Ruh!“

Nun hat sie geworfen die Kleider an,
Ein Stück hin unter das Knie,
Und all die lange Winternacht
Ging nach dem Geiste sie.

„Jst Raum noch, Wilhelm, dir zu Haupt
Oder Raum zu Füßen dir?
Oder Raum noch, Wilhelm, dir zur Seit',
Daß ein ich schlüpf' zu dir?“

„Kein Raum ist, Gretchen, mir zu Haupt,
Zu Füßen und überall,
Kein Raum zur Seit' mir, Gretchen,
Mein Sarg ist eng und schmal.“

Da kräht der Hahn, da schlug die Uhr,
Da brach der Morgen für:
„Jst Zeit, ist Zeit nun, Gretchen,
Zu scheiden weg von dir!“
|#f0073 : 55|

Nicht mehr der Geist zu Gretchen sprach,
Und ächzend tief darein,
Schwand er in Nacht und Nebel hin
Und ließ sie stehn allein.

„O bleib', mein ein Treulieber, bleib',
Dein Gretchen ruft dir nach“ ─
Die Wange blaß, ersank ihr Leib
Und sanft ihr Auge brach.

Nicht allein, daß hier vermieden ist, was in Bürgers „Lenore“ so sehr
verletzt: die Roheit des Ausdrucks und die maßlose Heftigkeit in den
Aeußerungen des Schmerzes, welche statt den Seelenadel starker Empfindungen
zu bekunden, vielmehr die Vorstellung der Ungebärdigkeit
einer vulgären Natur hervorrufen; der Grund, warum die alte schottische
Ballade so hoch über der modernen deutschen steht, liegt tiefer. Jn jener
ist, wie in allen den herrlichen alten Stücken derart, die visionäre
Handlung wie die Schilderung der Körperwelt auf das strengste und
diskreteste lediglich nur als Darstellungsmittel des überwältigenden Gemütszustandes
verwendet; daher hält sich beides so glücklich und sicher
in den Grenzen der einfachen Wahrheit und Natur. Man kann die
Dichtung als eine symbolische auffassen, wenn man, im Goetheschen
Sinne, darunter eben nur versteht, daß ein Höheres, Allgemeines,
Abstraktes durch ein Einzelnes, Konkretes vergegenwärtigt wird; ein jeder
Zug der im Liede verwandten Handlung erweist sich unter diesem Gesichtspunkte
als von dem Liedeszweck gefordert und für denselben bedeutsam,
keiner ist überflüssig oder durch irgend ein anderes Jnteresse
eingegeben und bedingt. Ganz ist der Vorgang in die Seele des
liebenden Mädchens gelegt;
von seiten des toten Geliebten geschieht
nichts, als was eben nur die Konsequenzen des Faktums seines
Todes versinnlicht. Jn der Nacht erscheint sein Geist der sehnenden
Braut, durch seinen Tod ist das Band der Treue gelöst, er fordert das
Wort zurück, das er nicht einlösen kann; doch will sie von der Treue
nicht lassen, und das Wort, das sie endlich dem irrenden Geiste, um
ihm die Ruhe im Grabe zu gewähren, zurückgibt, behält für sie selbst
die bindende Kraft; der Tote weigert ihr die Vereinigung und mit dem
Morgengrauen schwindet die Erscheinung dahin; die Sehnsucht nach dem
einzig und für immer Erwählten raubt auch ihr das Leben: „O bleib',
mein ein Treulieber, bleib', dein Gretchen ruft dir nach“ ─ „Die Wange
blaß, ersank ihr Leib, Und sanft ihr Auge brach.“


Und nun vergleiche man damit, wie die „Lenore“ überall den Nachahmer
zeigt, und zwar den Nachahmer der bloßen Manier, der in den |#f0074 : 56|

Nebendingen seine Stärke sucht und darüber den Hauptzweck aus dem
Auge verliert! Was das Gedicht so berühmt gemacht hat, ist die Virtuosität
in der Behandlung des dekorativen Beiwerks. Und um dieser
spukhaften Scenerie, um jenes Todesgrauens willen, das in der schottischen
Ballade sich nur mit leisem Anklang in die äußere Darstellung
mischt, aber ganz ohne die Seele der handelnden Hauptperson
zu berühren,
ist bei Bürger die Handlung in eine Breite ausgesponnen,
mit einem Detail ausgestattet, welche schon allein mit ihrem Charakter
als Darstellungsmittel im Widerspruch stehen. Aber weil ihm das
Bewußtsein dieser Bestimmung der Handlung fehlt und er sie daher
ganz als Selbstzweck betrachtet, geht ihr auch jener enge, symbolische
Anschluß an die zugrunde liegenden Gemütszustände und =Vorgänge verloren,
sie büßt mit der Einfachheit auch die Wahrheit ein. Statt durch
getreue Nachahmung ergreifenden Seelenlebens zu bewegen, beschränkt
sich die Dichtung darauf, durch eine effektvoll vorgetragene Spukgeschichte
rein äußerliche Sensation hervorzurufen!


Bürger stellt den Gegenstand unter einem veränderten Gesichtspunkt
dar; die Uebergewalt der Liebe kehrt sich über den Verlust des Geliebten
in Verzweiflung, die mit Gott und der Vorsehung hadert, die Entführung
durch den Geist des Bräutigams und der Tod Lenorens erscheinen dann
gewissermaßen als göttliches Strafgericht. Darauf deutet der moralisierende
Schlußgesang, den das im Mondenschein tanzende Geistergesindel
als Hochzeitslied „heult“: „Geduld! Geduld! wenn's Herz auch bricht!
Mit Gott im Himmel hadre nicht! Des Leibes bist du ledig; Gott sei
der Seele gnädig!“ Und doch hat es der Dichter nicht vermocht den
Sturm in der Seele seiner Heldin in der Handlung selbst zu verkörpern,
sondern er greift zu dem poetisch weit unwirksameren Mittel ihn geradehin
zu beschreiben, wobei die Mattigkeit des Verfahrens durch das Excessive
des Ausdrucks aufgewogen werden soll. Die Handlung selbst aber
behält, trotz der Dekorationskunst, die darauf gewandt ist das Zwielicht des
Geisterreiches herzustellen, den Charakter eines von außen hereinbrechenden
Ereignisses, bei welchem die innerlich allein Beteiligte sich passiv, ja
zögernd und halb widerwillig verhält, während der Vollzug der Aktion
ganz ohne innere Motivierung dem Gespenste des toten Bräutigams
und dem gräulich spukhaften Geistergesindel von Kirchhof und Hochgericht
zufällt. Soll darin eine Symbolik gefunden werden ─ und wie anders
erhält der ganze Vorgang überhaupt irgend eine Bedeutung? ─ so kann
es nur diese sein: die tötliche Wirkung des „in Gehirn und Adern
wütenden“ Fieberparoxysmus; ein singulärer und noch dazu häßlich
pathologischer Vorgang, statt, wie in „Wilhelms Geist,“ der Offenbarung |#f0075 : 57|

kraftvollster und zugleich zartester Gemütsart, die, obwohl im einzelnen
Falle vergegenwärtigt, doch in typischer Allgemeinheit die Macht der
Kräfte verkündet, deren das menschliche Herz fähig ist.


Nicht die Liebesempfindung selbst ist in der schönen Ballade dargestellt,
sondern die Gesamthaltung des Gemütes und Charakters
gegenüber
dieser Empfindung ist ihr Gegenstand; wie in den unzähligen
Balladen, in denen von Liebesverhältnissen gesungen wird, es sich in
gleicher Weise nirgends um den bloßen Empfindungsausdruck handelt,
der die Sache des lyrischen Liedes ist, sondern überall um die Nachahmung
des so vielfach unterschiedenen „ethischen“ Verhaltens gegen
jene Leidenschaft, von Treue und Untreue, Eifersucht und felsenfestem
Vertrauen, Ernst und Leichtfertigkeit, selbstvergessener Demut und stolzester
Strenge, grenzenloser Hingebung und heroischem Entsagen und wie die
zahllos wechselnden Zustände des menschlichen Geistes und Herzens alle
benannt werden mögen.


Das also ist jenes Dritte, womit neben den „Handlungen
und „Empfindungen“ der Kreis der für die Künste vorhandenen
Gegenstände sich schließt: Stimmungen, Gemütsarten, aber auch zugleich
Gemütszustände, ja Charakterbeschaffenheiten. Wie schon oben bemerkt, die
deutsche Sprache hat keine scharf begrenzte, alle diese verwandten Begriffe
unter einer klar bestimmten logischen Kategorie versammelnde Bezeichnung
ausgeprägt, aber die griechische besitzt eine solche in dem Begriff des
Ethos“, welcher alle jene Aeußerungen der Seelenthätigkeit umfaßt.


Als die Gegenstände der Mimesis durch die Kunst bezeichnet
Aristoteles diese drei: πάθος, ἦθος, πρᾶξις ─ Empfindung, Ethos,
Handlung.


Ein kurzer Nachweis wird genügen um zu zeigen, wie viel klarer
und philosophisch bestimmter der griechische Sprachgebrauch auf diesem
Gebiete ist, als die schwankende deutsche Ausdrucksweise. Vor allem freilich
ist von vornherein das Mißverständnis fernzuhalten, als ob unter
„Ethos“ Sittlichkeit zu verstehen sei, und als ob mit der Erzielung
ethischer Wirkungen die Vorstellung moralischer Besserung verbunden
werden müßte. Etwas ganz anderes ist es, daß allerdings auf
dem Gebiete des Ethos die Elemente liegen, aus denen die sittliche Beschaffenheit
sich konstituiert, aber eben nach allen Seiten hin. Die ethischen
Vorgänge (ἤθη) an sich sind von selbständiger Bedeutung und in dieser
Beziehung den einfachen Empfindungen (πάθη) gleichgestellt, welche ja
auch an sich absoluter Natur sind; die Relation auf das Sittlich=
Gute
erhalten beide erst durch die hemmende oder anfeuernde Oberleitung
der Vernunft (νοῦς).

|#f0076 : 58|


Unter sich sind sie nun aber sehr verschieden. Es ist etwas ganz
anderes, ob durch einen bewegenden Anlaß die einfachen Empfindungen,
wie Liebe, Haß, Furcht, Mitleid, Zorn, Neid u. s. w., in der Seele hervorgerufen
werden, sei es, daß sie durch besonders starke Erschütterung
plötzlich hervorbrechen, sei es, daß die Neigung und das Vermögen dazu
(δύναμις) durch individuelle Anlage in der Seele schon vorhanden ist,
oder ob durch öfters wiederholtes Gewährenlassen oder Zügeln einer
einzelnen solchen Empfindung oder mehrerer ihrer Natur nach leicht zu
einem Komplex sich vereinender, sich eine mehr oder minder dauernde
Gewöhnung herausbildet, welche dem Jndividuum ein eigenartiges Gepräge
verleiht. Für „Ethos“ in diesem Sinne, für die Bezeichnung also
der dem Einzelnen sowohl als ganzen Nationen eigenen, besonders hervorstechenden,
Gemütsbeschaffenheit lieben wir Modernen den andern
griechischen Ausdruck „Charakter“ anzuwenden; so sprechen wir von der
leidenschaftlichen Empfindungsenergie des altjüdischen Volkes, die seine
religiöse Lyrik auszeichnet, von dem Schönheitssinn der Griechen und
dem nüchtern scharfsinnigen Realismus der Römer, von der Kampfesfreudigkeit
der alten Deutschen und der Ruhmsucht der Gallier, vom
Phlegma des Holländers und der phantastischen Hitzköpfigkeit des Jren.
Ueberall aber handelt es sich dabei keineswegs um ein Urteil über die
moralische Handlungsweise der Nationen, sondern um eine in Volksart,
Wohnplätzen, Klima und Geschichte begründete, typisch ausgeprägte Art
sich geistig zu verhalten ─ ein Ethos!


Ebenso jedoch bedeutet Ethos diejenige Empfindungsweise oder
Seelenhaltung, welche sich nach einer bestimmten Richtung hin, einem
bestimmten Anlaß gegenüber, temporär, aber nicht zufällig, sondern
wieder der Anlage und Gewöhnung der Seele gemäß geltend macht.
Aus dem gewohnheitsmäßigen Vorherrschen nicht nur einer einzelnen
Empfindung, sondern ganzer koordinierter Gruppen, aus dem gleichzeitigen
Zurücktreten anderer, geht eine stationäre allgemeine Seelenhaltung und
=Stimmung hervor, welche latent, ihrer Möglichkeit nach, bei dem Jndividuum
dauernd vorhanden ist, um dann bei jedem dazu gearteten Anlaß
zeitweilig in die Erscheinung zu treten. So sind Andacht, Frömmigkeit,
Pietät (womit wir im Deutschen ja noch einen engeren Sinn
verbinden) als Ethos zu bezeichnen, nicht als einfache Empfindungen,
ebenso Frohsinn, Freudigkeit und ihr Gegenteil, Schwermut, Verzagtheit;
ferner Uebermut oder Besonnenheit, Zuversicht und Kleinmut, Zufriedenheit,
Glück und Seligkeit oder Ungenügsamkeit, Reue und Verzweiflung,
und so fort, wofür wir im Deutschen vorzugsweise den Ausdruck
Stimmung gebrauchen.

|#f0077 : 59|


Aus den verschiedenartigen Kombinationen charakteristischer Eigenart
des Empfindens und vorwaltender Stimmungen ergeben sich ferner
Gefühlsweisen und =Richtungen, wie sie ganze Epochen, sie vor allen
andern kennzeichnend, beherrschen. Auch diese fallen unter den Begriff des
Ethos: so das Romantische, das Naive und Sentimentale, Jdyllische und
Heroische, Satire und Jronie, künstlerischer oder religiöser Enthusiasmus,
Fanatismus, Askese und wieder auf der andern Seite Skepsis und Rationalismus
und vieles ähnliche, sofern nämlich alles dieses außer in dem
Verstande auch im Gemüte seinen Sitz hat und als Gesinnung sich äußert.


Die Menge dieser gesamten unter den Begriff des Ethos zu rechnenden
Gemütsvorgänge mit allen ihren verschiedenen Graden, Färbungen,
Ausartungen nach der einen und der andern Seite hin, die unendliche
Zahl der hier möglichen und vorhandenen Erscheinungsformen, hat bei
weitem nicht die entsprechende Anzahl von Bezeichnungen in den Sprachen
gefunden, vieles ist „anonym“ geblieben, unnennbar oder doch unbenannt,
obwohl die Sprachen, je nach dem verschiedenen Genius der Nationen, auf
diesem Gebiete sich ergänzen. Um nur ein Beispiel hervorzuheben: man
denke an die große Mannigfaltigkeit der Gestaltungen, welche das eine Ethos
der Andacht anzunehmen fähig ist, wie verschieden es bei Juden, Griechen
und Römern erscheint und bezeichnet wird, wie wechselvoll in seiner Entwickelung,
Entartung und Wiedererweckung bei den modernen Völkern!


Wie unendlich weit ist das Gebiet, welches in diesem dritten
Gegenstande der Nachahmung für alle Künste offen steht! Und wenn
es dem Künstler gelingt mit den Mitteln, welche ihm seine specielle Kunst
gewährt, das ihn selbst erfüllende Ethos nachahmend darzustellen, so
muß es wenigstens vorübergehend bei jedem irgend Empfänglichen durch
seine Darstellung erweckt werden, stärker natürlich bei den ohnehin schon
entsprechend disponierten, um so sicherer aber und um so bedeutender in
seiner Wirkung bei allen, je höher geartet es ist und je mehr in Uebereinstimmung
mit der vollkommensten Ausgestaltung des seelischen Lebens.


Es ist klar, daß der Poesie das ganze weite Feld der Nachahmung
sowohl von Handlungen als von Empfindungen und
Ethos jeder Art zugehört; dagegen werden die bildenden Künste ihre
Hauptstärke in der Nachahmung der beiden letzteren haben und nur bedingungsweise
auch die ersten umfassen können, während die Musik
vorzugsweise Ethos nachzuahmen und erst unter gewissen Bedingungen
auch die Empfindungen in ihren Bereich zu ziehen vermag.1

1
Die Musik an und für sich, μουσικὴ ψιλή, bloße Musik, also die instrumentale
oder auch die vokale, sofern dieselbe selbständig, ohne Worte, auftritt, vermag
|#f0078 : 60|

Die Kunst aber, welche ganz und gar mit ihren Mitteln auf die nachahmende
Erweckung des Ethos gewiesen ist, und welche hier ihre ganze
Stärke entfaltet, ist die Architektur.


„Und in Poseidons Fichtenhain tritt er mit frommem Schauder
ein“: es ist ein Ethos, welches hier bezeichnet wird, wie es ein Ethos


freilich Empfindungen zunächst nicht nachzuahmen, weil der Empfindungsvorgang
jedesmal ein einzelner und demgemäß an bestimmte einzelne Umstände
geknüpft ist, welche der Musik schlechthin undarstellbar sind. Dagegen hat sie die Nachahmung
des Ethos völlig in ihrer Macht. Während die einfache Empfindung eines
bestimmten, in einer fest begrenzten Situation befindlichen oder doch gedachten, Objektes
bedarf, um sich zu verwirklichen, ist das Ethos an und für sich dauernd vorhanden,
und statt daß die ihm entsprechenden Seelenvorgänge der Objekte bedürften, um in
Thätigkeit zu gelangen, sind sie vielmehr imstande, durch ihre eigene Kraft
jene in der Vorstellung hervorzubringen!
Hier genügt also jene oben erwähnte
geheimnisvolle Analogie zwischen den äußeren Bewegungen, Rhythmen und
Klängen vollauf um die Nachahmung zu erreichen, und so entfaltet die Musik auf diesem
unbegrenzten Gebiete ihre ganze, gewaltige Macht, unendlich weit hinaus über das,
was Worte vermögen, die Stimmungen und Gemütszustände zu erregen, zu erhöhen,
sie gegenseitig sich bekämpfen, sich komplicieren, sich ausgleichen und verschmelzen, mit
einem Worte sich voll ausleben zu lassen mit einer Kraft und Tiefe, Mannigfaltigkeit
und Fülle, und wieder mit einer Zartheit und Verfeinerung, welche nicht allein den
Worten, sondern auch den Begriffen unerreichbar und unfaßbar sind.
Hier zeigt es sich nun aber, wie das, was vorhin in betreff der Nachahmung von
Empfindungen aufgegeben werden mußte, nun zu einem höchst wesentlichen Teile wieder
einzuholen ist. Es wurde oben (vgl. S. 42 ff.) von dem auf bestimmten Anlaß sich
ereignenden Empfindungsvorgang die in der Seele dazu als Kraft, Vermögen vorhandene
präexistierende Disposition (δύναμις) unterschieden; diese bloße Dynamis des
betreffenden Pathos bedarf nun keineswegs der Erzählung eines Vorganges oder der
Darstellung einer Situation, welche die individuell begrenzte Erregungsursache abgeben,
sondern sie kann, genau wie das Ethos, dauernd vorhanden sein und vermag aus
sich heraus die Vorstellung der ihr entsprechenden Objekte anzuregen. Solche Empfindungsdispositionen
(δυνάμεις) kann daher die Musik, vermöge jener erwähnten
Analogie der Rhythmen und Klänge mit den Seelenbewegungen, ganz unmittelbar
und in höchster Jntensität, wie keine andere Kunst, weil dies ihr eigentliches
Gebiet ist (οἰκεῖον ἔργον), nachahmen und durch die Nachahmung bei dem Hörer
wiederum erwecken. So bringt also die Musik, wie das Materielle und „praktisch“
Geschehene für sie ja völlig undarstellbar ist, die Empfindungs=Dispositionen ganz
unsubstanziiert hervor; der Hörer kann es dabei bewenden lassen und den künstlerischen
Genuß, die Hedone, in dieser allgemeinen Energie seines Wahrnehmungs=
und Empfindungsvermögens (τῆς αἰσθήσεως) finden: es ist ihm aber
unbenommen, diese allgemeine Disposition, welche durch die Nachahmung der Musik in
ihm hervorgebracht wird, zu substanziieren, in einer nach seinen individuellen Verhältnissen
ins Einzelne gehenden Weise in Thätigkeit zu setzen, d. h. also zu einer nun
erst bestimmt modifizierten Empfindung werden
zu lassen. Das wird um
so mehr geschehen, je mehr Zeit, Umgebung, Umstände, Anlässe ihn direkt darauf hin=
|#f0079 : 61|

ist, was den Germanen in seinen Wäldern überkommt, ein anderes im
Eichenwald, im Buchenhain und in der Kiefernheide, wie es wieder ein
anderes ist unter Palmen oder Cedern des Libanon! Was die Kunst
so im Leben findet, macht sie nun ihrem plan- und gesetzmäßigen Verfahren
dienstbar, und wieder wirkt hier jener unmittelbare Zusammenhang
der Formen und ihrer Komposition mit dem Bewegungsleben der Seele.
Jn Hainen und Wäldern verehrte der Grieche wie der Germane seine
Götter, aber das Ethos frommer Scheu und andachtsvollen Schauders
ist ein anderes bei diesem wie bei jenem; und als sie dem, was sie empfanden,
in bewußten Schöpfungen Ausdruck gaben, erzeugte die verschieden
beschaffene ethische Haltung sehr verschiedene Baustile. Was
aber ist an diesen das innerlich Verschiedene, also künstlerisch Wesent=

weisen, wie z. B. in Kultus, Festfeier, beim Drama (als Ouvertüre, Zwischenmusik)
u. s. w. Es ist diese Operation zum vollen Genuß der „reinen“ Musik keineswegs
erforderlich;
auch wäre es ein Mißverständnis zu glauben, daß mit dieser Einschränkung
der musikalischen Wirkung auf die allgemeinen Gefühls=Dispositionen
ihre Bedeutung herabgesetzt würde. Ganz im Gegenteil ist jene Operation etwas
Accidentielles, die Wesenheit der Musik liegt nicht auf diesem Gebiet: die
Musik leistet das Höchste der Kunst, wenn sie mit ihren Mitteln, und also nach ihren
eigenen autonomen Gesetzen, in und mit der Nachahmung einer solchen „Empfindungsdisposition“
der Seele nach der betreffenden Richtung den Genuß
ihrer höchsten Kraft und die reichste und doch zugleich gesetzmäßige
Bewegung verleiht,
sei diese Bewegung nun eine einheitliche oder in Streit und
Sieg, Gegensatz und Ausgleich sich vollziehende. Ob daraus nun im wirklichen Leben
auch für den gegebenen Anlaß ein erhöhtes Empfinden und weiter ein entsprechendes
Handeln hervorgeht, ist nicht die Sache der Musik, wie überhaupt nicht die der Kunst,
die überall nur imstande ist, was sie auch allein nur will, die Seele mit dem Genuß
und dem Bewußtsein eines Maximums ihres Vermögens zu erfüllen.
Wenn nun aber die reine Musik doch die Möglichkeit gewährt, die nachgeahmte
Empfindungsdisposition individuell zu substanziieren, so erklärt sich daraus die
Fähigkeit und die Neigung der Musik sich dem Worte zu gesellen. Freilich
liegt darin offenbar eine Beschränkung, die um so größer ist, je singulärer die im
Texte ausgesprochene Empfindung ist, woraus weiter folgt, daß die edelste Vokalmusik
sich gerade an die Texte vom allgemeinsten Empfindungsgehalt anschließen wird, wie
z. B. die Kirchenmusik. Je specieller der Text ist, desto mehr verengert sich das unbegrenzte
Gebiet der Dynamis des betreffenden Pathos, das alle Fälle ihrer Möglichkeit
nach umfaßt, auf einen besondern Bezirk oder gar nur einen einzelnen Fall.
Umgekehrt erklärt sich hieraus der weite Spielraum in der sogenannten Deutung der
reinen Musik! Es sind aber viele solche „Deutungen“, oder richtiger individuelle
Substanziierungen durchaus zulässig, sofern sie nur derselben allgemeineren Empfindungs=
Disposition angehören, was bei scheinbar höchst verschiedenen Deutungen sehr wohl der
Fall sein kann. Freilich kommt dabei der ganz unberechenbare Faktor der in jedem
Falle urteilenden Jndividualität ins Spiel.
|#f0080 : 62|

liche, wenn nicht der verschiedene Bewegungsvorgang, den sie beide in
der Seele erzeugen? Was ahmen sie nach als diesen? Und gilt nicht
dasselbe wie von den übrigen kirchlichen Baustilen so auch von der gesamten
weltlichen Architektur, sofern sie nur künstlerisch frei behandelt
wird, also von Monumenten, Palästen, Burgen und Schlössern, ja von
Zimmereinrichtungen, Möbeln und Geräten? Welche bunte Menge
ethischer Stimmungen kann sich hier verkörpern, von der erhabenen
Majestät und ihren Ausartungen, dem Sinn für Ceremoniell und Etikette,
bis zur heiteren Prachtliebe oder dem Behagen an Ordnung und Wohlanständigkeit,
oder von abenteuerlichem Trotz, stolzer Kühnheit und von
romantischer Phantastik bis zu idyllischem Genügen und maßvoller Freude
an harmonischem Dasein.


Jst das Reich der Poesie ein innerlich viel weiteres, ja universelles,
so ist die Wirkung der Architektur dafür desto unmittelbarer,
weil sie ganz sinnlich ist, während jene sich an die Vorstellungskraft
wenden muß. Mit stiller Gewalt bemächtigt sie sich der Seele des willig
hingegebenen Beschauers und in ihren größten Hervorbringungen hat sie
die Macht ihn ungeteilt mit dem einen Ethos zu erfüllen, das sie in
unvermischter Reinheit darstellt, oder doch, wo sie sich geringere Ziele
steckt, vermag sie unmerklich das gesamte Fühlen und Sinnen in den Bann
der durch sie verkörperten ethischen Haltung zu ziehen.


Auch hier kann die Poesie nachfolgen; wie sie malerische Formen
sich dienstbar zu machen vermag, so kann sie auch architektonische Gebilde
in ihren Bereich ziehen, freilich nur Vorstellungen davon, welche
immer der Kraft sinnlicher Wirkungen nachstehen werden. Aber was
hier verloren gegeben werden muß, weiß der Dichter durch den richtigen
Gebrauch seiner Mittel auf einer anderen Seite einzubringen. Der
bildende Künstler hängt mit seiner Wirkung ganz von der Empfänglichkeit
des Beschauers ab, dieser muß die stummen Züge in sich lebendig
werden lassen, sie reden die Sprache, die er aus ihnen zu vernehmen
vermag; der Dichter hingegen begleitet die Vorstellungen, die er hervorruft,
mit dem beredtesten Ausdruck der Empfindung, des Ethos, die ihn
selbst beleben; ihre ganze Kraft, ihren ganzen Reichtum, die ganze Gedankenwelt,
die, an tausend Fäden sich anknüpfend, um den durch sie
gegebenen Mittelpunkt aufsteigt, überträgt er durch die Zaubermacht des
dichterischen Wortes in die Seelen der Hörer, die durch ihn zu erhöhtem
Leben erweckt, nun auch der Natur selbst und den Werken der bildenden
Künste mit aufgeschlossenem Sinn, mit bereiterem Empfangen gegenübertreten.
Ein unvergleichliches Beispiel derart ist Goethes „Wanderer“.


Doch das sind Nebenwirkungen der Poesie; ihr Hauptmittel |#f0081 : 63|

für die Nachahmung des Ethos, wo sie dasselbe nicht geradehin sich aussprechen
läßt, wie etwa im Monolog des Dramas, ist immer die Handlung.
Und im Drama ist der erregende Anlaß ja durch die Gesamthandlung
des Stückes gegeben; jedoch die poetische Nachahmung tiefgreifender
ethischer Gemütszustände an und für sich wird immer
die Skizzierung eines äußeren, anstoßgebenden Vorganges zur Voraussetzung
haben müssen, wenn dieselbe auch nur flüchtig und in den äußersten
Umrissen gegeben wird. So verfährt die Ballade, und in den weitaus
meisten Fällen genügt dies Verfahren für ihren Zweck; nur wo es etwa
gilt die charakteristische Art und Stimmung eines ganzen Volksstammes,
die Signatur einer ganzen Epoche kenntlich zu machen, wo also das
nachzuahmende Ethos nicht in einer Hauptfigur vorhanden ist, sondern
erst in einer Menge von Personen kollektiv zur Erscheinung kommt,
wird eine etwas breitere Ausführung erfolgen müssen.


Zwei der hervorragendsten Balladen aus Herders „Stimmen der
Völker“ ─ im dritten Buche die sechzehnte und siebzehnte ─ können
als typische Beispiele für die eine und die andere Gattung gelten. Jn
der denkbar kürzesten Weise ist die Situation in der altschottischen Ballade
Edward“ („Dein Schwert, wie ist's von Blut so rot“) gezeichnet;
aber der Sturm angstvoller Reue, wilder, hoffnungsloser Verzweiflung
in dem Herzen des Vatermörders kann markerschütternder nicht vorgegestellt
werden, als es in diesem schaurigen Liede geschehen ist.


Die andre Ballade ist das aus zwei Liedern bestehende, scheinbar
so ganz epische Stück „Die Chevy-Jagd“, von welchem Herder in
den vorangeschickten „Zeugnissen über Volkslieder“ das Wort Philipp
Sidneys anführt: „Nie hörte ich den alten Gesang: ‚Percy und
Douglas
‘, ohne daß ich mein Herz von mehr als Trompetenklang gerührt
fand.“ Obwohl darin von Anfang bis zu Ende erzählt wird, so ist
die Erzählung doch von Anfang bis zu Ende ausschließlich durch den
Liedeszweck bestimmt und diesem untergeordnet; nirgends will sie für
sich selbst gelten, wie im Epos durchweg. Demgemäß verfährt sie auch
nur andeutend, gleichsam alles von sich wegweisend, was nicht dazu
dient die doppelte Stimmung, die den Sänger beherrscht, den Zuhörern
mitzuteilen: die unbezähmbar vordrängende Lust am Streit und Kampf
der von uralters her feindlichen Grenznachbarn, „wie das Necken Zorn
ward“, und dann die tieftraurige Klage über das geschehene Unheil,
diese das Ganze durchdringend und beherrschend. Daher ganz konsequent
auch die Darstellung in zwei „Sätzen“, wie man in Analogie der musikalischen
Form fast sagen möchte. Jn dem ersten die ungeduldig und ungestüm
hervorbrechende altenglisch=schottische Streitlust und Kampfbegier, doch |#f0082 : 64|

schon hier der Vordersatz des Hauptthemas: „Das Kind wehklagt's noch
ungebor'n! Es ward sehr jammrig noch“; in dem zweiten Liede dann
die entfesselte Wut des Wechselmordens und die Trauer über das nutzlos
vergossene edle Blut: „Sie hoben einander auf, und stehen konnt
mancher, mancher nicht.“ „Das Kind wehklagt's noch ungebor'n, die
Jammerklaggeschicht'!“ Es geschieht ja in dieser Ballade sehr viel, aber
der springende Punkt des Darstellungsinteresses (das τέλος μιμήσεως)
liegt nicht in der Mitteilung des historischen Ereignisses ─ wie in den
Homerischen Gesängen Thaten und Kämpfe um ihrer selbst willen und
um des Anteils der einzelnen Helden willen vorgetragen werden ─,
sondern in der Verkörperung der Sinnesart, die der Epoche den Charakter
verlieh und die in der Geschichte der feindlichen Nachbarvölker
eine so verhängnisvolle Rolle spielt. Alles einzelne und individuelle
hat die Sage und der Volksgesang diesem ethischen Jnteresse ─ dem
Liedeszwecke ─ mit wahrhaft staunenswerter Kunst entweder ganz geopfert
oder doch dienstbar gemacht. ──────


VI.


Wenn eine bestimmte Begrenzung des Wesens der Ballade sonst
vermißt wird, so würde auf der Grundlage der obigen Voraussetzungen
sich die Definition derselben in folgender Weise herstellen:


Die Ballade ist eine Dichtung, welche den Zweck hat ein
Ethos nachahmend darzustellen und zwar vermittelst der
Erzählung eines Vorganges oder einer Handlung.
Sie gehört
also ihrem Wesen nach der lyrischen Gattung an und nur ihren
äußeren Mitteln nach der epischen; eben darum aber ─ da das
Mittel nie den Zweck verdrängen oder auch nur verdunkeln soll ─ darf
die Erzählung niemals epischen Charakter annehmen, sondern muß
dem lyrischen Hauptzweck dienen und also auf die bloße Andeutung
der Vorgänge und Handlungen sich einschränken. Eben daher ist ihre
Haltung liedartig und es gehört zu ihrem Wesen, daß sie sangbar
ist,1 wie denn auch alle Volks-Balladen gesungene Lieder sind.


Damit wäre zugleich erklärt, warum die Ballade mit Vorliebe auf
dem Boden mythischer und historischer Sage sich bewegt, weil dort

1
Hierin liegt ein untrügliches Merkmal der Unterscheidung der echten Ballade
von der Pseudo-Ballade; die Schillerschen poetischen Erzählungen, die als Balladen
gelten, widerstreben dem Gesange fast ausnahmslos eben so sehr, als die Goethe=
schen dazu auffordern.
|#f0083 : 65|

am reichsten die Verkörperungen den Einzelnen oder die Gesamtheit bewegender
Sinnesweisen und Gemütsvorgänge gefunden werden; liegt ja
doch umgekehrt gerade in dem ethischen Jnteresse die stärkste mythen=
und sagenbildende Kraft. Freilich hat ein reicher Sagenschatz nicht bei
allen Völkern zur Balladendichtung geführt; es möchte für die obige
Definition der Ballade sprechen, wenn von ihr aus unmittelbar die auffallende
Thatsache zu erklären wäre, daß ein poetisch so hoch begabtes
Volk wie die Griechen die Ballade nicht kannte, ja daß die Vorstellung
derselben mit dem Wesen der griechischen Dichtung sich gar nicht vereinigen
läßt. Der Grund liegt in dem ausgeprägten Formensinn des
griechischen Volkes, in dem unabweisbaren Bedürfnis die Gebilde seiner
Phantasie in plastischer Rundung auszugestalten und in voller Klarheit
anzuschauen. Diese Neigung oder diese zwingende Anlage gestattet es
nicht eine irgendwie bedeutende Handlung zum bloßen Mittel für die
Darstellung eines Gemütsinhaltes gewissermaßen zu verflüchtigen, sondern
sie verlangt für die Handlung an sich, als alleinigen Gegenstand, die
hellste Beleuchtung und ungeteiltes Jnteresse. Wie anders die nordischen
Völker, denen umgekehrt der lebhafteste Anteil an den Gemütsvorgängen
im Vordergrunde steht, und denen darüber leicht die Gestalten und Ereignisse
in nebelhafte Umrisse sich verlieren! Was liegt in so zahlreichen
Gesängen, wie sie von den griechischen Aöden jahrhundertelang umhergetragen
sind, dem Stoffe nach an sich hinderndes, daß sie die
Balladenform nicht hätten annehmen können; man denke allein an das
Tantalidenhaus, an die Niobidensage? Wenn es nicht ganz unmöglich
wäre, diese Gestalten in solcher Behandlung sich zu denken! Es ist
als ob schon allein die unvergleichliche Anlage für die Plastik bei den
Griechen das Organ für die Balladendichtung ausschließen mußte! Diese
lichten Formen, hell beschienen von der leuchtenderen Sonne des griechischen
Himmels, sie treten uns überall wieder entgegen, im Götter= und
Heroenmythus, in der historischen Sage, im Epos. Wo wir diese Schar
von Göttern und Halbgöttern, von Nymphen und Satyrn, von Sängern
und Helden erblicken, da zieht ihre bloße Erscheinung unsre ganze
Aufmerksamkeit auf sich, ihre Schicksale und ihr Handeln nehmen um
ihrer selbst
willen bis in die kleinsten Züge unsre ganze Teilnahme
gefangen. So hat die griechische Dichtung das Mittel der Erzählung
nicht anders angewandt als um wirkliche innere Handlung darzustellen,
im Epos und im Jdyll.1

1
Eine scheinbare Ausnahme bilden nur die „erzählenden“ Partieen in der
Pindarschen Ode und im Chorliede; aber in Wirklichkeit hat man hier nicht
|#f0084 : 66|


Selbst wo die moderne deutsche Dichtung es unternommen hat
antike Stoffe balladenmäßig zu behandeln, kann dieser Versuch nicht als
geglückt angesehen werden, und zwar aus den eben entwickelten Gründen.
Selbst Schillers Genius hat es nicht vermocht die widerstrebenden
Stoffe in ihrem innersten Wesen so völlig umzugestalten. Gedichte wie
„Die Bürgschaft“, „Der Ring des Polykrates“, Schlegels „Arion“ oder
selbst „Die Kraniche des Jbykus“ tragen den Charakter einer, freilich
poetisch geschmückten, aber doch lediglich epischen Erzählung; Gegenständlichkeit,
thatsächliches Jnteresse zeichnet sie aus; was die Ballade macht,
die Sangesweise, die einzig und allein den Liedcharakter konstituierende
lyrisch=ethische Tendenz, fehlt ihnen.


Nur Goethe scheint auch hier eine Ausnahme zu machen; aber
der Stoff der „Braut von Korinth“ ist nichts weniger als antik im
eigentlichen Sinne, und durch die Behandlung vollends ist er ganz und
gar Goethesches Eigentum; wie er das Motiv ja auch Jahrzehnte hindurch
„lebendig und wirksam im Jnnern erhalten“ hatte, bis es „der
Darstellung entgegengereift“ war. Und dennoch trotz der meisterhaften
Beherrschung „der gewaltig belebenden Kunstform, die jeden Stoff veredelt
und verwandelt“, womit er das gegenständliche Jnteresse der Erzählung
in ein ethisches umzusetzen bestrebt ist, bleibt das erstere überwiegend
und die reine Wirkung der echten Ballade kommt nicht völlig
zustande. Aber die Ursache liegt nicht darin, daß der Stoff antiker
Herkunft ist, sondern in seiner komplizierten und ganz singulären Beschaffenheit,
welche es dem Dichter nicht gestattete das rein Menschliche,
allgemein Verständliche für sich selbst sprechen zu lassen, sondern kunstreiche
Exposition der im Kampf befindlichen heterogenen Weltanschauungen
und symbolische Darstellung der in diesem Konflikt beleidigten und
sich rächenden Natur erforderte. Das pathologisch wirkende und bloß
stoffliche Jnteresse dieses Gegenstandes wird durch keine Kunst soweit
überwunden, daß die beabsichtigte ethische Wirkung rein, einfach und
unmittelbar empfunden werden könnte; der einzelne Fall fesselt uns zu
stark, als daß wir, völlig befreit, uns zum Allgemeinen erhoben fühlten.


Mit welcher Kunst aber Goethe auch heimisch vertraute Stoffe, um
sie der Balladenform zu fügen, umzuwandeln und neu zu gestalten pflegte,
davon gibt die „Ballade vom vertriebenen und zurückkehrenden
Grafen
“ ein merkwürdiges Zeugnis. Er nennt diese Behandlung
eine „mysteriöse“, in dem Sinne, daß die dargestellten Vorgänge an


Erzählung vor sich, sondern die bloße Erwähnung von Fakten, welche zu der rein
lyrischen Nachahmung eines Pathos oder Ethos erneuten Anstoß geben.
|#f0085 : 67|

Deutlichkeit und Vollständigkeit ein Beträchtliches einbüßen müßten; in
dem vorliegenden Gedichte ist er darin soweit gegangen, daß er, wie in
der hinzugefügten Erklärung wohl zu weit gehend von ihm gesagt wird,
„der Auffassungskraft selbst geistreich=gewandter Personen durch prosaische
Darstellung zu Hülfe zu kommen“ für erforderlich hielt.


Die allgemeine Betrachtung, welche er dabei einleitend vorausschickt,
steht, wenn auch keineswegs in ihrer Formulierung, so doch dem Sinne
nach völlig im Einklang mit der im Obigen entwickelten Theorie; dieses
bestätigende Zeugnis mag daher hier folgen:


„Die Ballade hat etwas Mysteriöses, ohne mystisch zu sein; diese
letzte Eigenschaft eines Gedichtes liegt im Stoff, jene in der Behandlung.
Das Geheimnisvolle der Ballade entspringt aus der Vortragsweise. Der
Sänger nämlich hat seinen prägnanten Gegenstand, seine Figuren, deren
Thaten und Bewegungen, so tief im Sinne, daß er nicht weiß,
wie er ihn ans Tageslicht fördern soll. Er bedient sich daher
aller drei Grundarten der Poesie, um zunächst auszudrücken,
was die Einbildungskraft erregen, den Geist beschäftigen
soll;
er kann lyrisch, episch, dramatisch beginnen und, nach Belieben die
Formen wechselnd, fortfahren, zum Ende hineilen oder es weit hinausschieben.
Der Refrain, das Wiederkehren eben desselben Schlußklanges,
gibt dieser Dichtungsart den entschieden lyrischen Charakter.


„Hat man sich mit ihr vollkommen befreundet, wie es bei uns
Deutschen wohl der Fall ist, so sind die Balladen aller Völker verständlich,
weil die Geister in gewissen Zeitaltern, entweder kontemporan oder successiv,
bei gleichem Geschäft immer gleichartig verfahren. Uebrigens ließe
sich an einer Auswahl solcher Gedichte die ganze Poetik gar wohl vortragen,
weil hier die Elemente noch nicht getrennt, sondern wie in einem
lebendigen Urei zusammen sind, das nur bebrütet werden darf, um als
herrlichstes Phänomen auf Goldflügeln in die Lüfte zu steigen.“


Jn mehr als einer Hinsicht enthalten diese Goetheschen Worte die
Bestätigung der obigen Darlegung. Zunächst heben sie auf das Bestimmteste
„den entschieden lyrischen Charakter“ der Ballade hervor; sodann
aber, was kann der unbestimmt gefaßte Satz: „der Sänger hat
seinen prägnanten Gegenstand, seine Figuren, deren Thaten und Bewegung,
so tief im Sinne, daß er nicht weiß, wie er ihn ans Tageslicht
fördern soll“, anders bedeuten, als daß nicht jene Gegenstände,
Figuren, Thaten der wesentlichste Jnhalt der Ballade sind, sondern der
ihnen innewohnende Stimmungsgehalt, der den Sänger im tiefsten
Jnnern ergriffen hat und nach Gestaltung verlangend ihn bewegt, also
eben das, was im Obigen das Ethos des Stoffes genannt wurde? |#f0086 : 68|

Nur noch stärkere Bekräftigung erhält diese Auffassung durch die jenem
Satze hinzugefügte Schlußfolgerung, daß der Sänger „nach Belieben die
Formen wechselnd“ „sich aller drei Grundarten der Poesie bedienen“
könne, „um zunächst auszudrücken, was die Einbildungskraft erregen,
den Geist beschäftigen soll“; damit ist deutlich ausgesprochen, daß sowohl
der lyrische Ausdruck einzelner Empfindungen als die epische oder dramatische
Darstellung äußerer Handlungen in der Ballade nur als Mittel
verwandt werden, um etwas Drittes, „was der Sänger tief im Sinne
hat“, und was er auch bei den Zuhörern nachahmend hervorbringen
will, darzustellen: das Ethos, womit sein Stoff ihn erfüllt.


Was die Volksballade mit naiver Sicherheit überall leistet, die Verflüchtigung
des stofflichen Jnteresses der Handlung zu Gunsten des
ethischen, erfordert also von seiten des Dichters die Aufbietung seiner
höchsten Kunst. So ist denn auch die Zahl der in diesem Sinne als
den Forderungen der Gattung völlig entsprechend zu bezeichnenden
Dichtungen eine sehr kleine; in manchen Fällen wird es freilich schwer
sein die Grenze mit Sicherheit zu bestimmen, wo der Balladencharakter
aufhört und dafür der der poetischen Erzählung eintritt, denn daß auch
in dieser eine einheitliche Stimmung festgehalten werden kann, ist unbestreitbar.
Nur hüte man sich den moralischen Gehalt eines
solchen Stückes mit dem ethischen Jnhalte desselben zu verwechseln!
Der Unterschied ist groß und in die Augen springend, und so günstig
dieser dem Sangestone ist, so unverträglich mit demselben ist die moralische
Tendenz, auch wenn sie durchaus nicht etwa nur äußerlich der
Erzählung angefügt ist, sondern selbst dann, wenn sie als die Seele der
Handlung die Erzählung leitend bestimmt. Man halte Gedichte wie
Goethes Lied „Vom vertriebenen Grafen“ oder „Der untreue Knabe“
neben die „Bürgschaft“ oder den „Ring des Polykrates“, und das Urteil
kann für niemanden zweifelhaft sein. Strophen wie diese:


„Und ist es zu spät, und kann ich ihm nicht,
Ein Retter, willkommen erscheinen,
So soll mich der Tod ihm vereinen.
Deß rühme der blut'ge Tyrann sich nicht,
Daß der Freund dem Freunde gebrochen die Pflicht,
Er schlachte der Opfer zweie
Und glaube an Liebe und Treue.“

und dann die Schlußstrophe:


Und zum Könige bringt man die Wundermär',
Der fühlt ein menschliches Rühren,
Läßt schnell vor den Thron sie führen.
|#f0087 : 69|

Und blicket sie lange verwundert an;
Drauf spricht er: „Es ist euch gelungen,
Jhr habt das Herz mir bezwungen;
Und die Treue, sie ist doch kein leerer Wahn;
So nehmet auch mich zum Genossen an!
Jch sei, gewährt mir die Bitte,
Jn eurem Bunde der dritte.“

Diese, wie die entsprechenden im „Ring des Polykrates“ oder im „Kampf
mit dem Drachen“, sie zerstören den Sangescharakter nicht allein durch
ihre Reflektiertheit und moralisierende Absichtlichkeit, sondern noch mehr
dadurch, daß sie die Träger des Ganzen sind, auf welche die Handlung
gebaut ist. Statt der Nachahmung des Ethos und der poetischen unmittelbaren
Wirkung derselben in unserm Gemüte haben wir in allen
diesen Stücken die Erzählung, die gewissermaßen in einem moralischen
Beispiel den Erweis vor Augen stellt, was für Wirkungen nicht dieses
Ethos selbst, sondern eine durch dasselbe bestimmte Entschließung auf
die Entschließung eines Andern hervorbringen mußte. Nicht jenes Ethos,
sondern diese innere Handlung ist der Gegenstand der Nachahmung:
die Stücke sind nicht lyrisch, sondern episch.


Aber dies ist nicht die einzige Klippe, die dem Gelingen der echten
Ballade gefährlich ist. An einer andern ist, ungeachtetet aller hohen
Vortrefflichkeit, doch auch Schillers „Taucher“ gescheitert. Hier enthält
die eigentliche Handlung ohne alle Frage einen höchst balladenmäßigen
Kern: das plötzliche Aufflammen der Liebesglut, das den Jüngling in
die Todesgefahr treibt, deren Schrecken er kaum entronnen, ist ein
Ethos,
geeignet der schönsten Ballade den Ursprung zu geben. Jst
dieses nun aber das Gefühl, das aus Schillers Gedicht als das Ganze
beherrschend den Hörer ergreift, um ihn ganz in Besitz zu nehmen? Oder
wird der Eindruck davon, den wir allerdings zum Schlusse auch noch
empfangen, nicht weit überwogen von dem Hauptinteresse, das wir an
der meisterhaften Schilderung des Meeresstrudels mit den Schrecknissen
seiner Tiefe und der Erprobung seiner Gefahren nehmen, also doch an
der äußerlichen, lediglich als Mittel dienenden, Handlung? Jmmerhin
eine Schilderung von hervorragender Schönheit, aber statt der tief innerlichen
Bewegung von Herz und Gemüt doch ein vorwiegend sensationelles
Schauspiel! Wie hätte Goethe diesen Stoff im Jnnern zubereitet, bis
er das Mittel gefunden hätte ihm die volle ethische Wirkungskraft zu
erteilen! Die ganze Vorhandlung nur sprungweise angedeutet, aber im
Vorgefühl des tragischen Ausganges die verderblichen Schrecknisse der
Tiefe durch einzelne malerische Züge vom stärksten Nachdruck in mehr= |#f0088 : 70|

facher Wiederholung zu ängstigendem Bewußsein gebracht, endlich auf
den ethisch bedeutsamsten Teil der Handlung das hellste Licht geworfen
und hier die höchste lyrische Kraft entfaltet! Nur der Schluß hätte unverändert
aus dem Schillerschen Gedicht übernommen werden können:


Da bückt sich's hinunter mit liebendem Blick,
Es kommen, es kommen die Wasser all',
Sie rauschen herauf, sie rauschen nieder,
Den Jüngling bringt keines wieder.


Eine andere Ausartung der Ballade entsteht, wenn das Jnteresse
der Handlung auf dem historischen Charakter der Episode oder Anekdote
beruht, die mitgeteilt wird; ob das in der trockensten Weise geschieht
oder mit hochpoetischem Schmuck, ändert nichts daran, daß der Balladenzweck
damit von vornherein verfehlt ist.


Unter diesem Mißgriff leidet Schillers „Graf von Habsburg“.
Unvergänglich bleibt dessenungeachtet das Gedicht durch seine einzelnen
Schönheiten,
aber die höchste eine Schönheit, durch Einheit des
Kunstzweckes als ein Maximum innerhalb der Gattung die Forderungen
derselben ganz zu erfüllen, entgeht ihm. Sehr unterrichtend ist die Feststellung,
worin denn nun jene einzelnen Schönheiten bestehen: es ist
der Hoch- und Edelsinn des Kaisers, den die Dichtung uns vorführt,
seine echt fürstliche und echt menschliche Liebe zur Kunst und jenes köstliche
Anerkenntnis ihrer göttlichen Würde und unantastbaren Freiheit;
es ist ferner die Verherrlichung seiner frommen und echt bescheidenen
Gesinnung. Was der Dichtung ihre Schönheit verleiht, ist also durchweg
die Verkörperung einzelner ethischer Züge, welche sich ja wohl auch
zu dem Gesamtbilde eines weisen, frommen und freundlichen Fürsten
vereinigen: nur daß die Gesamthandlung nun auf etwas ganz Anderes
hinausläuft, auf den äußerlichen Zufall, daß der Sänger des Krönungsfestes
aus eigenster Erfahrung von der kirchlichen Ergebenheit, oder sagen
wir auch von der frommen Demut, des ehemaligen Grafen Zeugnis abzulegen
imstande ist; eine überraschende und erfreuende Wendung, die
aber weder die erschütternde Wirkung auf den Hörer ausüben kann, mit
der sie den zunächst Beteiligten ergreift, noch ihm die Ueberzeugung von
dem mystischen Zusammenhange des Ereignisses mit der Kaiserwahl mitzuteilen
vermag, welchen das Gedicht am Schlusse dunkel ahnen läßt.


Noch ferner ab liegen die anekdotenhaften Erzählungen, welche etwa
auf ein epigrammatisches Wort oder auf eine Pointe hinauslaufen. Doch
wenn es hier nahe liegt, etwa wieder an ein Schillersches Beispiel „Der
Handschuh
“ zu denken, so führt die Betrachtung dieses Gedichtes in
einen ganz neuen Kreis.

|#f0089 : 71|


Die Romanze, obwohl der Ballade nahe verwandt, ist doch auf
ein ganz bestimmt begrenztes Gebiet gewiesen, wodurch sich ihre Gesetzgebung
wesentlich modifiziert.


Das Liederartige, Lyrische muß auch hier in der Haltung des
Ganzen überwiegen, die erzählte äußere Handlung nur das Mittel sein;
ihr Zweck, also der Gegenstand der Nachahmung, ein Ethos. Soweit
wäre also die Romanze der Ballade völlig gleichgeartet; nun aber der
spezifische Unterschied! Der Ballade gehört das ganze, unermeßlich weite
Gebiet der rein menschlichen Ethe ─ die Anwendung des Plurals ist
hier geboten ─ zu; verschiedenartig gefärbt erscheinen dieselben nur je
nach der charakteristischen Eigenart der Nationen. Alles aber, was
darüber hinaus als besondere Beschaffenheit der Zeitumstände und als
Singularität der Epoche die Handlung bedingt, das schließt die Ballade
entweder ganz aus oder sie weiß es so abzuklären und derart auf
seinen allgemein menschlichen Kern zurückzuführen, daß die unmittelbare
Verständlichkeit nicht darunter leidet. Daher hat die echte Ballade ungeachtet
ihrer nur andeutenden Erzählungsweise
eine unbegrenzte
Wirkungskraft, welche sowohl die Schranken der Zeit als die
der Nation überspringt.


Jm Gegensatz zu diesem universellen Charakter der Ballade ist
die Romanze auf ein der Zeit und dem Schauplatze nach enge begrenztes
Gebiet eingeschränkt, auf die Nachahmung einer erst aus ganz
bestimmten Voraussetzungen erklärlichen und verständlichen Auffassungs=
und Gefühlsweise. Es ist die Gesinnung und die Art zu empfinden
und die daraus hervorgehende, völlig eigentümliche Sonderart des
Handelns, welche gegen das Ende des Mittelalters, vom elften bis zum
fünfzehnten Jahrhundert, vorzüglich aber im zwölften und dreizehnten
unter den romanischen Nationen entstanden war und auch den übrigen
abendländischen Völkern sich mitteilte, und zwar nicht sowohl die Gesamtheit
beherrschend als vornehmlich bei einem exklusiven Stande, der
ritterlichen Gesellschaft, darüber hinaus nur etwa durch ihre Ausstrahlungen
sich erstreckend; ferner doch auch so, daß sie bei weitem nicht
in dem Grade dem wirklichen Leben angehörte, als vielmehr recht
eigentlich ihren Ursprung und Sitz in einer sehr starken Erregung des
Phantasielebens hatte, welche gleichmäßig durch die kirchlichen,
politischen und socialen Zustände jener Zeit hervorgebracht und erhalten
wurde. Es war somit eine von Hause aus ihrem innersten Wesen nach
der dichterischen Stimmung verwandte Gefühlsweise, welche einem jeden
Gedanken, einer jeden Empfindung, jedem Entschließungsakte in jener
Epoche einen Stempel aufdrückte, der sie von der Denk=, Gefühls= und |#f0090 : 72|

Handlungsweise aller andern Zeiten beim ersten Blicke auf das Schärfste
unterscheidet. Als der spezifische Ausdruck derselben bildete sich die eigenartige
Dichtung der Troubadours heraus mit ihrem tausendfach
variierten Thema von Fehde, Kampf und ritterlichem Waffenspiel, von
Frauendienst und galantem Liebeswerben, von „Ruhm und Tapferkeit,
von Lust und Anmut und Höflichkeit, von Sinn und Kunst und Ehren!“1
Liebe und Waffenwerk sind hier nicht nur die Würze, sondern der Jnhalt
des Lebens, ohne den es nicht zu denken ist; so heißt es bei
Bernard von Ventadour:2


Tot ist der Mensch, dem der Genuß
Der Liebe nicht das Herz beseelt,
Ein Leben, dem die Liebe fehlt,
Gereicht der Welt nur zum Verdruß.
Nie sei ich Gott so sehr verhaßt,
Daß er mir läng're Frist verleiht,
Wenn ich mit Liebe mich entzweit
Und aller Welt nur bin zur Last!

Oder in einem Bertran de Born zugeschriebenen Sirventes:3


Nicht solche Wonne flößt mir ein
Schlaf, Speis' und Trank, als wenn es schallt
Von beiden Seiten: drauf, hinein!
Und leerer Pferde Wiehern hallt
Laut aus des Waldes Schatten,
Und Hülferuf die Freunde weckt,
Und Groß und Klein schon dicht bedeckt
Des Grabens grüne Matten,
Und mancher liegt dahin gestreckt,
Dem noch der Schaft im Busen steckt.
1
Vgl. in dem Liede des Guiraut Riquier die zweite Strophe (Fr. Dietz,
Leben und Werke der Troubadours, 2. Aufl., von Karl Bartsch, 1822, S. 415,
und E. Brinkmeier: Die provenzalischen Troubadours, 1822, S. 57):
Quar dompneys, pretz e valors,
Joys e gratz e cortezia
Sens e sabers et honors,
Belhs parlars, bella paria,
E largueza et amors,
Connoyssensa e cundia,
Troban mantenh e cundia
En Cataluenha a tria
Entre 'ls Catalas valens
E las donas avinens.
2
Vgl. Fr. Dietz a. a. O. S. 33.
3
Vgl. Fr. Dietz a. a. O. S. 156.
|#f0091 : 73|


Es steckt ja in allen den Jngredienzien, aus denen sich das romantische
Element zusammensetzt, ein Kern, wodurch sie dem allgemein Menschlichen
angehörig und eben deshalb auch allen Zeiten verständlich sind; aber
was der Mischung die ganz singuläre Färbung gibt, das ist einmal die
excessive Qualität und sodann die Ausschließlichkeit, womit sie darin
vorherrschen. Nur ganz vereinzelten Dichtern der gesamten romantischen
Periode und auch diesen nur in seltenen glücklichen Momenten war es
gegeben sich hiervon frei zu machen und in ihren besten Leistungen sich
zu dem rein Menschlichen und daher Unvergänglichen ─ dem Klassischen
─ zu erheben; im Uebrigen steht uns die Sinnesart jener Zeit als eine
exceptionelle, uns fremde gegenüber. Das gilt in unserer deutschen
Litteratur ebenso in betreff des romantisch=ritterlichen Epos als des
Minnegesanges, mit Ausnahme der besten Lieder Walthers; das deutsche
Volksepos freilich nimmt seinem Kern und Wesen nach eine ganz andere
Stellung ein.


Die in liedartiger Haltung vermittelst der Andeutung
eines Vorganges, der Umrisse einer Handlung erfolgte
Nachahmung jenes romantischen Ethos wäre also eine Romanze.

Je mehr dieser Zweck durch die bloß skizzenhafte Behandlung
der äußeren Geschehnisse erreicht wird, diese also nur als Mittel verwendet
sind, je mehr demgemäß der Liedescharakter der Dichtung zur
Geltung kommt, desto vollkommener ist die Romanze. Doch ergibt sich
hier eine weitere wesentliche Verschiedenheit der Romanze von der Ballade:
jene höchste Forderung konnte nur erfüllt werden, solange die Romanze
noch der lebendige Ausdruck des bestehenden Gesellschaftszustandes war,
und selbst da nur annähernd, weil sie ihrem Jnhalte nach das phantastisch
Gekünstelte dieses Zustandes naturgemäß noch überbieten mußte.
Dazu bedurfte sie fester gezeichneter Konturen, einer ausgeführten Erzählung
der Handlung; um wie viel mußte dieses Bedürfnis sich aber
steigern, wenn in den modernen Nachbildungen der Romanze der ganze
Kreis, der dem romantischen Ethos als Voraussetzung dienenden besondern
Umstände und exceptionellen Verhältnisse erst durch die Erzählung in der
Anschauung hervorzubringen war! Es ist der Boden des Abenteuerlichen,
auf welchem die Romanzenstimmung erwächst, deshalb wird die
Romanze, wie sie nicht vermögend ist die mächtige lyrische Wirkungskraft
der Grundaffekte des menschlichen Gemütes in sich aufzunehmen, sondern
dieselben immer nur unter einer künstlichen Beleuchtung zeigen kann,
auch niemals die großartige Einfachheit der Ballade erreichen können,
und was ihr an Allgemeinheit und Tiefe der lyrischen Wirkung abgeht,
durch das glänzende Kolorit der äußeren Erzählung zu ersetzen suchen. |#f0092 : 74|

Gewissermaßen zur Entschädigung jedoch sind ihr Gebiete geöffnet, welche
der Ballade fast ganz verschlossen sind. Das Sonderbare, Anekdotenhafte,
die witzige Pointe und sogar die Jronie haben in der Romanzendichtung
eine entschiedene Berechtigung, da sie insgesamt sehr wohl dazu
dienen die Seltsamkeit und damit das innere Wesen der die romantische
Gesellschaft kennzeichnenden „ethischen“ Stimmungen nachahmend zu veranschaulichen.
Alle diese Merkmale finden sich bei den Mustern der
Gattung, in der provençalischen und spanischen Romanzenlitteratur und
so auch bei denjenigen unsrer modernen deutschen Dichter, welche diesen
Mustern am engsten sich angeschlossen haben: in Herders Umdichtungen
der Cid-Romanzen und in Uhlands an die französischen Vorbilder
sich haltenden Romanzen, wie „Bertran de Born“, „Rudello“, „der
Kastellan von Couci
“, „Don Massias“, „Taillefer“, ferner
in der ganze Reihe seiner Rolands= und König Karls =Lieder. Man
darf mit diesen Uhlandschen Romanzen nur Gedichte wie Schillers
Kampf mit dem Drachen“ und „Handschuh“ zusammenhalten,
welche ja auch entschieden romantische Stoffe behandeln, um sofort die
Grenze zwischen der liedartigen und sangbaren Romanze und der bloßen
poetischen Erzählung zu erkennen, mag sie auch mit dem besten romantischen
Apparate geschmückt sein. Der epische Charakter ist in den letzteren
entschieden an die Stelle des lyrischen getreten. Die einzelne Handlung
interessiert durch sich und um ihrer selbst willen, sie ist keineswegs
nur dem Stimmungscharakter dienstbar und zu seinen Gunsten gewissermaßen
verflüchtigt.


Es wäre ein nur scheinbarer Einwand, wenn man für die vermeintlich
epische Grundanlange der Romanze den Umstand ins Feld
führen wollte, daß sie die Tendenz hat zu einem Cyklus sich zu erweitern,
und wenn man einen solchen Romanzen-Cyklus als ein
Epos ansehen wollte.


Jene Tendenz der Romanze erklärt sich nicht allein aus ihrem
Wesen, sondern sie ist als eine sich daraus mit Notwendigkeit ergebende
Konsequenz zu betrachten. Wenn es der Jnhalt jeder einzelnen Romanze
ist, irgend eine Seite des, sozusagen, romantischen Gesamtethos nachzuahmen,
so konnte das Bestreben nicht ausbleiben, diese Gesamtheit
nun auch in einer Reihe einzelner Gesänge, von denen jeder für sich gesonderten
Bestand hat, zum Ausdruck zu bringen. Die Einheit für diese
Reihe mußte sich ganz von selbst darbieten, da überall die Sage geschäftig
war, die Summe der den Zeitcharakter erfüllenden Eigenschaften
und Gesinnungen in einem Helden als ihrem Typus zusammenzutragen.
Nur die Person dieses Helden und der Faden des |#f0093 : 75|

äußerlichen Zusammenhanges der Begebenheiten bildet die
poetische Einheit des Romanzen-Cyklus, dessen Jnhalt es ist die Gesinnungs=,
Denk- und Handlungsweise dieses Einzelnen nachahmend zur Darstellung
zu bringen und damit zugleich die Gesellschaft, der er angehört und durch
deren Konventionscodex er seine ethische Existenz hat, ebenso die historischen
Verhältnisse, in denen er lebt, alle zusammen durch ein und dasselbe
Gewebe phantastisch=konventioneller Fiktion eng miteinander verbunden
und gegenseitig auf das Schärfste bedingt. So entsteht aus einer
Summe völlig selbständiger Einzelgesänge ein Ganzes von relativer Vollständigkeit,
insofern die unter diesem Gesichtspunkt vereinigten Lieder
vermittelst all der in ihnen erzählten Begebenheiten und Handlungen
jenes Gesamtethos in seiner Totalität darstellen. Je nachdem dasselbe
dem Urbilde menschlichen Denkens und Handelns näher steht oder
sich weiter davon entfernt, bestimmt sich sein mehr oder minder bleibender
Wert, aber nur in der Nachahmung jener Totalität beruht seine
Bedeutung. Das weit hervorragende Beispiel dafür ist der spanische
Cid, und selbst die Herdersche Bearbeitung trägt diese Züge. Aber
nimmermehr kann auf solche Weise ein Epos entstehen, und
nimmermehr kann ein solches sich mit der bloßen Einheit des
Helden und des äußeren Laufes der Ereignisse begnügen!

Dergleichen kann für die viel höher geartete Gattung des Epos nur
den Rohstoff abgeben, den der Dichter daraufhin untersucht, ob er
seinen Absichten sich fügen möchte. Diese Absicht des epischen Dichters
geht darauf hin, aus jenem Material einen solchen, in sich fest zusammenhängenden
und unter diesem Gesichtspunkte vollständigen Verlauf
von Handlung auszulesen, daß der darin sich kundgebende Schicksalsverlauf,
ähnlich wie auch die Tragödie, ganz fest zu bestimmende Empfindungen
der Hörer in gesetzmäßiger Weise errege und modifiziere.
Wie gesagt: ein höher gearteter Kunstzweck, welcher eine weit schwierigere
und planvollere Anordnung erheischt und von welchem den einzelnen
Romanzen des Cyklus wohl hier und dort etwas innewohnen kann, weil
alle Poesie jenem höchsten Ziele zustrebt, aber der weder das Ganze eines
solchen bestimmt, noch das Verhältnis seiner Teile zueinander regelt.


Daher: einen Balladen-Cyklus hat es nie gegeben! Hier waltet
jener einseitige Gesichtspunkt, der die Romanzen zum Cyklus verbindet,
nicht ob; jede Nachahmung erschöpft sich in sich selbst, höchstens treten
zwei bis drei Lieder zusammen, wo ein Ethos das andere komplementär
ergänzt. Noch viel weniger also ist es denkbar, daß aus einzelnen
balladenartigen Gesängen jemals der zusammenhängende Bau eines Epos
hat entstehen können. Der Balladensänger kann aus dem vollen Strome |#f0094 : 76|

der Heldensage wohl auch für sich schöpfen, aber immer nur um den
Liedeszweck, der ihm im Sinne liegt, zu erfüllen; damit ist sein Werk
abgeschlossen. Die einzelnen Gesänge der großen Volksepen
dagegen setzen immer voraus, daß die Handlung selbst Zweck
τέλος ─ der Mimesis ist und in ununterbrochenem Strome ihrem
Endziele zueilt; die Gesamtwirkung der Gesamthandlung ist es, durch
welche der Verlauf im Ganzen sowie in allen kleinsten Teilen einzig und
allein bestimmt wird und welche wiederum als dessen Ergebnis überall
hervortritt. Jene Gesänge müssen ja natürlich einzeln vorgetragen sein
─ wie hätte das ausgedehnte Ganze anders mitgeteilt werden können ─,
aber doch erst nachdem das Ganze zuvor vorhanden war; die Kenntnis
des Gesamtverlaufes war schnell verbreitet und konnte von da ab von
den Aöden, Rhapsoden, fahrenden Leuten allenthalben als allen völlig
vertraut bei ihren Einzelvorträgen vorausgesetzt werden.


Dasjenige jedoch, was bei einem sehr großen Teile der modernen
Balladen- und Romanzendichtung an die Stelle der echten Muster dieser
Gattungen getreten ist, erfüllt weder deren Forderungen, noch ist andrerseits
darin eine Spur jenes großen epischen Stiles; jenes Schwierigste
der Kunst des Balladen- und Romanzensängers, die materielle Handlung
möglichst in der Darstellung zu verflüchtigen, damit das Lyrisch-Liedgemäße
─ die Mimesis des Ethos ─ mit um so mächtigerer Wirkung den Gesang
erfülle, macht dem weit leichteren Bestreben Platz, mit virtuoser
Beherrschung des Effektes eine interessante Geschichte vorzutragen, wobei
je nach der Natur des Dichters bald der moralische Kern der Handlung,
bald die bloße Tendenz möglichst heftiger sensationeller Erregung die
Gesamthaltung beherrscht.


Wie aber, in Analogie mit Lessings Grenzbestimmung im Laokoon,
die bloße poetische Beschreibung, auch wenn sie meisterhaft durchgeführt
ist, immer ein untergeordnetes Kunstwerk abgibt, weil sie bestimmt
ist als Mittel zu dienen und niemals Selbstzweck werden
soll, so kann auch die bloße poetische Erzählung, und wenn es die
gelungenste ist, nur einen geringeren Rang behaupten neben der echten
Ballade
und Romanze, in denen sie dem höheren Zwecke ethischer
Mimesis
dienstbar gemacht ist. ──────


VII.


Eben hier scheint sich auch der Gesichtspunkt zu entdecken, unter
welchem die Stellung und der poetische Gehalt eines andern Gebietes |#f0095 : 77|

der Dichtung, dessen Definition und Grenzen sehr unsicher und schwankend
sind, mit größerer Sicherheit zu bestimmen sein dürften: der didaktischen
Poesie
und der sogenannten Reflexionsdichtung.


Wie sehr der Vortrag von Lehrsätzen, positiven, systematisch geordneten
Kenntnissen und abstrakten Gedanken dem Wesen der Poesie
widersprechend ist, hat Lessing erwiesen; wie andrerseits durch die Vorführung
selbst der schwierigsten Gedankenreihen die höchsten dichterischen
Zwecke erreicht werden können, das liegt in einem Kreise der wundervollsten
Schillerschen Gedichte vor aller Augen klar zu Tage.


Noch weniger aber als auf irgend einem andern Gebiete kann
man hier mit Lessings Satze auskommen: die Poesie stellt Handlungen
dar, d. h. Gegenstände, die eine Folge bilden.


Wie anders, wenn man die im Obigen entwickelte Theorie auf
diese Gattung der Poesie anwendet. Es ergibt sich dann sofort, daß,
wie die Erzählung von äußeren Handlungen und wie die Vorführung
des Körperlichen, so auch die Darstellung von Gedanken, die Bezugnahme
auf Lehren und Begriffszusammenhänge nur eines von den
Mitteln sein kann, deren sich die Poesie zu ihren ewig identischen
Zwecken bedient, niemals aber Selbstzweck.


Es würde sich dann weiter fragen, welches der Nachahmungsobjekte
das diesem Mittel verwandte und also durch dasselbe darstellbar
sei, und es möchte ein abermaliges Zeugnis für jene Theorie sein, wenn
die Antwort darauf sich einfach und mit Notwendigkeit aus derselben
ergäbe.


So weit getrennt die Thätigkeit des reinen Denkens von den
übrigen Bethätigungen des Geistes ist, wie Phantasie und Empfindung,
und so scharf gesondert sie auf ihrem Wege sich von jenen und von jeder
Beeinflussung durch die wechselnden Gemütszustände in eifersüchtigster
Selbständigkeit halten muß, so gilt doch auch für sie das unverbrüchliche
Gesetz des Geistes, welches Einheit und Totalität für alle seine
Aeußerungen fordert und welches ungestraft niemals verletzt werden kann.
Die Punkte, wo auch für die reine Denkthätigkeit ─ διάνοια ─ jene
Einheit vorhanden ist oder sich wiederherstellt, sind genau zu bestimmen;
sie liegen an ihrem Anfang und an ihrem Ende, dazwischen liegt der
Weg, den sie gesondert zurückzulegen hat. Auf jenem Wege gehört der
Gedanke allein der Wissenschaft, an jenem Anfangs- und Endpunkte
kann sich die Kunst seiner bemächtigen.


Von den tausend Sinneseindrücken, die unaufhörlich von allen
Seiten auf die Seele eindringen, sind es einzelne, welche vermöge der
Vorgänge, welche sie in der Empfindung ─ den πάθη ─ hervorbringen, |#f0096 : 78|

oder vermöge der Gemütszustände ─ ήθη ─ die sie anregen, ein durch
beide oder durch eines von beiden beeinflußtes und fest bestimmtes,
bleibendes Bild in dem Wahrnehmungsvermögen erzeugen, die ästhetische
Wahrnehmung
─ αἴσθησις ─. Hier tritt nun sofort und
unmittelbar die Denkthätigkeit beobachtend und kontrollierend hinzu und
stellt die Merkmale, welche jenes Bild kennzeichnen und seine Wirkung
auf die Empfindung (welche hier im weitesten Sinne die ästhetische
zu nennen ist) bedingen, zu einem zweiten Abbilde des erregenden Objektes
zusammen, der geistigen Wahrnehmung ─ νόησις. Beide
vereinigt, die Sinnes- und Gefühlswahrnehmung und die geistige Wahrnehmung
─ die ästhetische und die noetische ─ setzen dann die
Phantasie in den Stand, nicht allein die Bilder solcher Dinge selbstthätig
zu wiederholen,
sondern auch, indem die erstere die Formen
überliefert, die andre das Gesetz ihrer Bildung und Verbindung
hinzubringt, solche Bilder neu zu schaffen. So ist in den schöpferischen
Gebilden der Phantasie der Keim des Gedankens, gewissermaßen das
Material zu den Begriffen, schon enthalten, und zwar zu um so höheren
Gedanken und zu um so reineren Begriffen, je schöner diese Gebilde
sind. Diese innige und unlösliche Verbindung der Thätigkeit der Erkenntnis=
und Empfindungskräfte, die bei der Hervorbringung des Schönen
ebensowohl obwaltet als bei dem Genießen desselben, bildet das Grundthema
von SchillersKünstlern“, welchem er namentlich in dem ersten
Teile dieser Dichtung einen äußerst prägnanten Ausdruck gegeben hat; am
meisten in den folgenden beiden Strophen:


Nur durch das Morgenthor des Schönen
Drangst du in der Erkenntnis Land.
An höhern Glanz sich zu gewöhnen,
Uebt sich am Reize der Verstand.
Was bei dem Saitenklang der Musen
Mit süßem Beben dich durchdrang,
Erzog die Kraft in deinem Busen,
Die sich dereinst znm Weltgeist schwang.

Was erst, nachdem Jahrtausende verflossen,
Die alternde Vernunft erfand,
Lag im Symbol des Schönen und des Großen
Voraus geoffenbart dem kindischen Verstand.
Jhr holdes Bild hieß uns die Tugend lieben,
Ein zarter Sinn hat vor dem Laster sich gesträubt,
Eh' noch ein Solon das Gesetz geschrieben,
Das matte Blüten langsam treibt.
Eh' vor des Denkers Geist der kühne
|#f0097 : 79|

Begriff des ew'gen Raumes stand,
Wer sah hinauf zur Sternenbühne,
Der ihn nicht ahnend schon empfand?


Freilich, sobald der solchergestalt empfangene Gedanke nun selbständig
hervortritt, geht er fortan seine eigenen Wege und entwickelt sich streng
nach seinen eigenen Gesetzen. Hier hat die Kunst nichts mit ihm zu
schaffen; doch es kommt ein Moment, wo jene gestörte Gemeinschaft sich
wiederherstellt. Wenn der Gedanke seine erste Entstehung der Anregung
durch die Empfindung verdankt, so bewirkt er, sobald seine Arbeit gethan
und er zur vollen Reife gelangt ist, nun wiederum eine Erregung des
Gefühles: und hier ist es, wo ihm die Kunst aufs Neue begegnet.


Nach des Aristoteles erhabener Lehre begegnen sich alle Energien,
deren die menschlichen Kräfte fähig sind, darin, daß sie, zur Vollendung
gelangt, d. h. in der vollkommensten Weise an den vollkommensten Objekten
ausgeübt, die Seele mit dem reinen Gefühle der Lust, der Hedone,
erfüllen. Aber nicht von jenem einen, allgemeinen Gefühl der Freude,
das jede angestrengte und erfolgreiche Bethätigung des Denkvermögens
begleitet, ist hier die Rede, sondern von den zahllos verschiedenen Empfindungen
und Gemütsstimmungen, mit denen die Errungenschaften des
Denkens, wie ebensoviel Erlebnisse oder Ereignisse des äußeren Lebens,
die intellektuell gebildete Seele bewegen. Denn der Gedanke, wie er
ursprünglich aus den gestalt- und farbenreichen Bildern des Lebens
empfangen und abstrahiert ist, so erweckt er, zur Klarheit und Festigkeit hindurchgedrungen,
sogleich wieder das lebensvolle Bild seiner Verkörperung.
Dieses volle Anschauen der Verwirklichung seiner kühnsten Gedanken ist
es, welches den schöpferischen Geist zu seinen Thaten treibt; solche
Bilder, in solchem Anschauen nun auch den Andern vor Augen gestellt,
entzünden auch in ihnen den gleichen Gedanken und treiben auch sie
zur That; oder, falls der Gegenstand oder ihre Kräfte das nicht zulassen,
sie stellen sie auf die Höhe der Empfindung, sie erfüllen sie mit dem
edlen Ethos, mit welchem die Klarheit des Gedankens jenen durchdrang.
Die wissenschaftliche Mitteilung des Weges, den die Denkthätigkeit bei
ihrer Operation eingeschlagen hat, vermag das zunächst noch nicht; sie
vermag nur die Möglichkeit, die Bereitschaft dazu hervorzubringen; ob
jener dieselbe begleitende Aufschwung des erregten Gefühles nun auch
eintritt, bleibt ungewiß. Das Umgekehrte findet hier statt: nur die
Resultate des Denkens werden mitgeteilt, ihre Herleitung bleibt verschwiegen,
somit kann auch eigentliche Kenntnis dadurch nicht weiter
getragen werden; diese Mitteilung ist ferner keine direkte, sondern
sie erfolgt durch die Darstellung jener Vorstellungsreihe, welche der ge= |#f0098 : 80|

reifte Gedanke im Verein mit dem durch ihn erhöhten Empfinden
sich erzeugt hat. Dieses letztere aber ist es, was aus der Aufnahme
jener Vorstellungen unmittelbar und mit Gewißheit auf alle Empfangenden
übergeht; nicht also Kenntnisse kann und will der Dichter
verbreiten, sondern mit dem Ethos des Denkers erfüllt er seine
Hörer, welches von höherem Werte ist als das einzelne Wissen, weil es
den Samen ausstreut, aus welchem der Trieb des Erkennens erwächst.


Solche Dichtungen bezeichneten die Alten mit dem Namen der
gnomischen, und ein großer Teil der griechischen Elegie trägt
genau diesen Charakter. Der Gegenstand der Nachahmung darin
ist, abgesehen von vereinzelten Fällen, in denen die Vorführung von Gedanken
dazu benutzt ist, um für bestimmte Situationen bestimmte einzelne
Empfindungen hervorzubringen, das den Dichter bewegende Ethos; als
Mittel dazu dient ihm die Darstellung seines Denkens, aber nicht
die abstrakte Darstellung des reinen Denkens, welche der Anschauung
unfaßbar sein und das Gemüt nicht erregen würde, sondern die Mitteilung
desselben durch die Vorstellungswelt, die es sich erschafft, und
in der es darum sich wiederspiegelt.


Diese Dichtungsart kann also bald sich dem rein lyrischen
Charakter nähern, bald kann sie eine entschieden paränetische Färbung
annehmen, immer aber wird das weitaus darin Ueberwiegende die Nachahmung
jener stillen, aber darum nicht minder mächtigen ethischen
Stimmungen sein, die für den Denker selbst das höchste Glück und der
schönste Lohn seiner Mühen sind.


Das Bedürfnis, solchen Stimmungen und Gemütszuständen vollen
Ausdruck zu geben, liegt zu tief in der menschlichen Natur begründet,
als daß zu irgend einer Zeit, in der überhaupt die Dichtung zu ihrem
Rechte gelangte, diese poetische Gattung zum Schweigen verurteilt gewesen
wäre; als Beispiel mögen, vom Altertum abgesehen, die Sirventes
der Provençalen und die Spruchdichtungen des deutschen Mittelalters
dienen. Aber zu ihrer vollsten Blüte gelangte sie doch erst zu der Zeit
der höchsten Entfaltung intellektuellen Lebens, als im achtzehnten Jahrhundert
bei den Führern des deutschen Klassizismus mit der höchsten
Geistesbildung sich die höchste dichterische Anlage verband; am schönsten
bei Schiller, dessen überragende Größe hierin zumeist ihr Fundament
hat. Jn dem Schlußgedanken seiner „Künstler“ hat er dieser Anschauungsweise
den schwungvollsten dichterischen Ausdruck verliehen:


Wenn auf des Denkens freigegebnen Bahnen
Der Forscher jetzt mit kühnem Glücke schweift
Und, trunken von siegrufenden Päanen,
|#f0099 : 81|

Mit rascher Hand schon nach der Krone greift;
Wenn er mit niederm Söldnerslohne
Den edlen Führer zu entlassen glaubt
Und neben dem geträumten Throne
Der Kunst den ersten Sklavenplatz erlaubt: ─
Verzeiht ihm ─ der Vollendung Krone
Schwebt glänzend über eurem Haupt.
Mit euch, des Frühlings erster Pflanze,
Begann die seelenbildende Natur;
Mit euch, dem freud'gen Erntekranze,
Schließt die vollendende Natur.

Die von dem Thon, dem Stein bescheiden aufgestiegen,
Die schöpferische Kunst, umschließt mit stillen Siegen
Des Geistes unermess'nes Reich.
Was in des Wissens Land Entdecker nur ersiegen,
Entdecken sie, ersiegen sie für euch.
Der Schätze, die der Denker aufgehäufet,
Wird er in euren Armen erst sich freun,
Wenn seine Wissenschaft, der Schönheit zugereifet,
Zum Kunstwerk wird geadelt sein ─
Wenn er auf einen Hügel mit euch steiget,
Und seinem Auge sich, in mildem Abendschein,
Das malerische Thal auf einmal zeiget.
Je reicher ihr den schnellen Blick vergnüget,
Je höh're, schön're Ordnungen der Geist
Jn einem Zauberbund durchflieget,
Jn einem schwelgenden Genuß umkreist;
Je weiter sich Gedanken und Gefühle
Dem üppigeren Harmonieenspiele,
Dem reichern Strom der Schönheit aufgethan ─
Je schön're Glieder aus dem Weltenplan,
Die jetzt verstümmelt seine Schöpfung schänden,
Sieht er die hohen Formen dann vollenden,
Je schön're Rätsel treten aus der Nacht,
Je reicher wird die Welt, die er umschließet,
Je breiter strömt das Meer, mit dem er fließet,
Je schwächer wird des Schicksals blinde Macht,
Je höher streben seine Triebe,
Je kleiner wird er selbst, je größer seine Liebe.


Niemand hat so wie Schiller es verstanden, die Resultate der
intensivsten Gedankenarbeit als Mittel echt dichterischer Wirkung zu verwenden,
während umgekehrt jeder Versuch die Belehrung zum Zwecke
der Dichtung zu machen, die künstlerische Wirkung völlig aufhebt. Das
Lehrgedicht scheitert somit an derselben Klippe wie auch die sogenannte
Schilderungspoesie oder die bloße gereimte Erzählung, wie |#f0100 : 82|

das Mittelalter sie so massenhaft hervorgebracht hat, und welche Chaucer
in seinen Canterbury-Tales so geistreich verspottet;1 sie alle machen
das Mittel zum Zweck und verfehlen damit den Zweck der Nachahmung.


Aber freilich, das technische Gesetz, dem alle poetische Darstellung
unterworfen ist, herrscht nun auch über die Anwendung dieses Mittels.
Dieses Gesetz besteht darin, daß nur die Aeußerung psychischen Lebens,
oder doch, was als solche dargestellt und aufgefaßt werden kann, imstande
ist wiederum psychische Bewegungen, welche der künstlerischen Nachahmung
würdig sind, zu erzeugen. Daß hierzu Berichte von Zuständen
und Begebnissen des bewegten Lebens, Erzählungen von Handlungen
und Situationen beseelter oder als beseelt vorgestellter Wesen technisch
am geeignetsten sind, ist schon oben hervorgehoben worden; ebenso aber
auch, daß die Poesie in diese Grenzen keineswegs mit Notwendigkeit
eingeschränkt ist. Dasselbe Verhältnis zeigt sich auch hier auf dem Gebiete
der Gedanken- oder Reflexionsdichtung, die am allerwenigsten mit
der Vorschrift, Handlungen sollen ihr Gegenstand sein, sich vertragen
kann. Man untersuche daraufhin Gedichte wie Schillers „Die Worte
des Glaubens,“ „Die Worte des Wahns,“ „Sprüche des Confucius,“
„Der Genius,“ „Natur und Schule,“ „An die Freunde,“ ja selbst solche
wie „Das Jdeal und das Leben,“ „Das Glück“ und viele ähnliche, in
denen auch nicht eine Spur von Handlung oder selbst zeitlicher Succession
des Objektes der Darstellung sich nachweisen läßt. Sie enthalten
vielfach den Ausdruck des Gedankens ganz geradehin und unmittelbar,
nur getragen durch das Ethos hocherhobener Begeisterung, welche er erweckt,
so daß er gleichsam aufgelöst ist in Stimmung und ganz übergegangen
in das lyrische Element. Gerade solche Strophen sind die populärsten
geworden, wie z. B. in den „Worten des Glaubens“:


Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei,
Und wär' er in Ketten geboren,
Laßt euch nicht irren des Pöbels Geschrei,
Nicht den Mißbrauch rasender Thoren!
Vor dem Sklaven, wenn er die Kette bricht,
Vor dem freien Menschen erzittert nicht!

Oder die Schlußstrophe des herrlichen Liedes: „An die Freunde“:


Größ'res mag sich anderswo begeben,
Als bei uns in unserm kleinen Leben;
Neues ─ hat die Sonne nie gesehn.
1
Vgl. „Das Reimgedicht vom Herrn Thopas“: Geoffrey Chaucers
Canterbury-Geschichten, übers. von W. Hertzberg. (Hildburghausen 1866.) S. 463 ff.
|#f0101 : 83|

Sahn wir doch das Große aller Zeiten
Auf den Brettern, die die Welt bedeuten,
Sinnvoll still an uns vorübergehn.
Alles wiederholt sich nur im Leben,
Ewig jung ist nur die Phantasie;
Was sich nie und nirgends hat begeben,
Das allein veraltet nie!

und viele ähnliche.


Oder aber es wird dem ausgesprochenen Gedanken sogleich das Bild
beigesellt, welches die erregte Phantasie für ihn geschaffen, weniger um
dem Gedanken die Klarheit zu geben, als um die ethische Stimmung um
so gewisser zu erwecken, die er erzeugt. So, wenn es heißt:


Zürne der Schönheit nicht, daß sie schön ist, daß sie verdienstlos,
Wie der Lilie Kelch prangt durch der Venus Geschenk.
Laß sie die Glückliche sein! du schaust sie, du bist der Beglückte!
Wie sie ohne Verdienst glänzt, so entzücket sie dich.

oder am Schlusse desselben Gedichtes, „Das Glück“:


Alles Menschliche muß erst werden und wachsen und reifen,
Und von Gestalt zu Gestalt führt es die bildende Zeit;
Aber das Glückliche siehest du nicht, das Schöne nicht werden,
Fertig von Ewigkeit her steht es vollendet vor dir.
Jede irdische Venus ersteht, wie die erste des Himmels,
Eine dunkle Geburt, aus dem unendlichen Meer;
Wie die erste Minerva, so tritt, mit der Aegis gerüstet,
Aus des Donnerers Haupt jeder Gedanke des Lichts.


Dieses letztere Verfahren ist bei Schiller weitaus das bevorzugteste;
seltener nur, und nur in kürzeren Gedichten ist ein einzelnes Bild
beibehalten und durchgeführt, wie in „Die Führer des Lebens,“ „Der
philosophische Egoist,“ „Nänie,“ „Der spielende Knabe.“


Oder endlich er verbindet eine Reihe von Strophen, von denen jede
in einem für sich ausgeführten Bilde in farbigem Lichte einen Gedanken
wiederstrahlt, zu einem organisch zusammenhängenden Ganzen; so im „Reich
der Schatten“ („Jdeal und Leben“), welches in naher Anlehnung an die
poetisierende Jdeenlehre Platos, an dessen dichterische Gleichnisse dieses
ganze Verfahren ja lebhaft erinnert, den Lieblingsgedanken Schillers
und ein Hauptthema seiner ästhetischen Philosophie der entzückten Anschauung
vorführt.


Auf diesem Felde ist Schiller ohne Nebenbuhler; bei Goethe finden
sich in den Epochen seiner lyrischen Vollkraft derartige Dichtungen
überhaupt gar nicht, sie treten erst in seiner späteren Zeit auf, vom ersten |#f0102 : 84|

Jahrzehnt unsers Jahrhunderts ab und namentlich im zweiten und
dritten. Jn seinen Jugendjahren kleidete sich, bei seiner starken Abneigung
gegen alle Jdeologie, eine jede Reflexion ihm fast unwillkürlich
in Bild, Gleichnis, Erzählung; jetzt erst beginnt er die reichen Schätze
seiner Erkenntnisse über die Kunst, „Gott und Natur“ und über die
höhere Einheit, in der sie ihm erschienen, auch geradehin, in eigentlich
so zu nennender Reflexionspoesie auszugeben. Man möchte den wiederkehrenden
Grundgedanken derselben in der dritten Strophe des im
Jahre 1816 entstandenen „Künstlerliedes“ ausgesprochen finden:


Wie Natur im Vielgebilde
Einen Gott nur offenbart,
So im weiten Kunstgefilde
Webt ein Sinn der ew'gen Art;
Dieses ist der Sinn der Wahrheit,
Der sich nur mit Schönem schmückt
Und getrost der höchsten Klarheit
Hellsten Tags entgegen blickt.


Jmmer aber sehen wir ihn auch hier, nach seiner alten Weise, fast
immer dem einzelnen Anlaß sich anschließen, die einzelne Anschauung
bezeichnen, die ihn zur Abstraktion leitete, während umgekehrt Schiller
fast überall vom Gedanken selbst die dichterische Anregung empfängt.
Freilich geschieht es Goethe nun im Alter mitunter, daß ihn bei dem
Aufbau dessen, was man den materiellen Unterbau seines Gedichtes
nennen möchte, die poetische Kraft im Stiche läßt und er, namentlich
wo es sich um seine wissenschaftlichen Liebhabereien handelt, in diesem
Teile
einer befremdlichen Trockenheit verfällt. Jmmer aber um sofort
wieder zur höchsten dichterischen Wirkung sich zu erheben,

sobald der krönende Gedanke das dem Ganzen als Seele innewohnende
Ethos zur Geltung bringt; zum deutlichen Zeichen, daß hierin das bewegende
Agens liegt, ohne welches das Uebrige tot ist. Sehr auffallend
tritt diese Beobachtung an den beiden Gedichten: „Die Metamorphose
der Pflanzen“ und „Metamorphose der Tiere“ hervor. Selbst das erstere,
obwohl viel früher entstanden (wahrscheinlich um 1790) und viel wärmer
empfunden und phantasievoller durchgeführt, ist von dem oben bezeichneten
Fehler wohl nicht ganz freizusprechen, wenn man Stellen wie die folgende
für sich betrachtet:


Gleich darauf ein folgender Trieb, sich erhebend, erneuet
Knoten auf Knoten getürmt, immer das erste Gebild,
Zwar nicht immer das Gleiche, denn mannigfaltig erzeugt sich,
Ansgebildet, du siehst's, immer das folgende Blatt,
|#f0103 : 85|

Ausgedehnter, gekerbter, getrennter in Spitzen und Teile,
Die verwachsen vorher ruhten im untern Organ u. s. f.


Aber bei weitem stärker tritt dieser Mangel in dem zweiten, viel
späteren Gedichte hervor, wenn es dort heißt:


So ist jeglicher Mund geschickt, die Speise zu fassen,
Welche dem Körper gebührt; es sei nun schwächlich und zahnlos
Oder mächtig der Kiefer gezahnt, in jeglichem Falle
Fördert ein schicklich Organ den übrigen Gliedern die Nahrung:
Auch bewegt sich jeglicher Fuß, der lange, der kurze,
Ganz harmonisch zum Sinne des Tiers und seinem Bedürfnis.


Oder weiter unten:


Denn so hat kein Tier, dem sämtliche Zähne den obern
Kiefer umzäunen, ein Horn auf seiner Stirne getragen,
Und daher ist den Löwen gehörnt der ewigen Mutter
Ganz unmöglich zu bilden, und böte sie alle Gewalt auf;
Denn sie hat nicht Masse genug, die Reihen der Zähne
Völlig zu pflanzen und auch Geweih und Hörner zu treiben.


Das ist metrische Prosa und es ist, immer nur die einzelne Stelle
angesehen und in allem Uebrigen ohne Vergleichung, kein Grund, warum
man derartige Verse nicht einem erneuerten Brockes zuschreiben sollte.
Aber nun der ungeheure Unterschied! Während jenes bänderreiche Reimereien
immer nur auf ein und denselben mattherzigen und gedankenarmen,
teleologischen Schluß hinauslaufen, dient bei Goethe die nüchterne Betrachtung
nur als Grundlage fürs erste einer tiefsinnigen Hypothese und
dann, indem vom Einzelnen immer ins Ganze und Allgemeine fortgeschritten
wird, eines Gesamtaufschwunges, bei welchem die ganze Macht
jenes universellen Gedankens über die ethischen Stimmungen der Seele
zur Entfaltung gelangt. Erst hierin liegt die künstlerische Berechtigung
jener Stoffe. Diese poetische Beseelung der Anschauungen und des
Denkens tritt mit erhöhter Wärme und Wirkungskraft in der „Metamorphose
der Pflanzen“ auf, wo, nach echt Goethescher Weise, von Anfang
bis zu Ende eine innige persönliche Beziehung obwaltet, während
das Fehlen dieses wesentlichen Momentes in der „Metamorphose der
Tiere“ die unleugbare Mattheit dieser Dichtung offenbar mit verschuldet.
Auch in der äußeren Form tritt dieser Unterschied der beiden Gedichte
hervor; es ist kein Zufall, daß jenes in dem belebteren elegischen
Maße sich bewegt, und dieses mit dem gleichförmigen Hexameter sich
begnügte.


So möchte man sagen, daß auf diesem einen Gebiete der Reflexionsdichtung
Goethe bei weitem zurückstehen müsse, am meisten gegen Schiller, |#f0104 : 86|

den unbestrittenen Meister derselben. Und dennoch bleibt Goethe der
gedankenreichste unter allen deutschen Dichtern, ja vielleicht unter den
Dichtern aller Zeiten und Völker! Aber er war nicht nur der gedankenreichste,
er war auch der größte Dichter!


Und hier zeigt sich abermals die Geltung des Lessingschen Gesetzes,
sobald man es nur als ein rein technisches, formales
auffaßt und dem entsprechend modifiziert: Handlung und
Bewegung sind nicht Gegenstand
der Poesie, wohl aber unter allen
Mitteln,
die ihr zu Gebote stehen, das der Natur ihres Gegenstandes,
also dem Zwecke der Nachahmung am meisten entsprechende. Wohl
vermochte es demgemäß Schiller, kraft des ihm eigenen feurigen Jdealismus,
auch das bloße Ethos des Gedankens dichterisch auszusprechen,
und Goethe ist ihm darin nicht gleichgekommen; aber diese Gedichte wenden
sich doch nur an den kleinen Kreis der intellektuell so weit entwickelten
Geister, daß sie entweder schon zuvor in dem Schillerschen Gedankenkreise
heimisch geworden sind oder doch anderweitig die Fähigkeit erworben
haben in denselben einzutreten. Seine größten und vor allem
weit verbreitetsten, im vollen Sinne populären Wirkungen erreicht Schiller
doch nur da, wo es ihm gelang seine Gedanken rückwärts wieder in die
lebendige Welt der Situationen und Vorgänge zu übertragen, der sie
ursprünglich entstammen, und durch die Vermittelung der Darstellung
aller derjenigen Züge darin, welche Empfindung und Ethos leicht erregen,
mit diesen zugleich und aus ihnen heraus nun auch den Gedanken
in Thätigkeit zu setzen: so also mittelst desselben Prozesses die
kunstgemäße Nachahmung der mit der Denkthätigkeit verbundenen ethischen
Zustände hervorzubringen, durch den die Mannigfaltigkeit der wirklichen
Erlebnisse dieselben in den bevorzugtesten Seelen anzuregen imstande
war. Solche Gedichte sind „Die Glocke“ und „Der Spaziergang“;
und nirgends hat Schiller diese Methode konsequenter und ebenmäßiger
durchgeführt als in dem letzteren, es ist darum als das Muster der
ganzen Gattung der Reflexionspoesie anzuerkennen. Der Satz, daß Nachahmung
eines Ethos der Gegenstand der Nachahmung für diese Art von
Poesie ist, daß ferner die Darstellung von äußeren Situationen und
Vorgängen und der durch diese angeregten Gedanken die dazu aufgewendeten
Mittel sind, kann in keinem Beispiele überzeugender zu Tage treten
als in dieser in jedem Betracht die ganze Gattung überragenden Dichtung.
Für die aufgewandten Mittel liegt dies so klar vor Augen, daß jeder
Nachweis überflüssig ist; ein Mißverstand könnte nur über den Zweck
des Ganzen obwalten. Wer aber, nach einer beliebten Manier, in dem
„Spaziergang“ etwa den „Nachweis“ des „Satzes“ erblicken wollte, daß, |#f0105 : 87|

entgegen der bekannten Rousseauschen Behauptung, die Civilisation kein
Uebel sei, sondern ihre Jrrgänge nur unvermeidliche Etappen eines Entwickelungsganges
zur Einheit von Kultur und Natur, der würde das
Gedicht doch nur halb verstanden und noch weniger empfunden haben.
Was das Gedicht nachahmt, oder, um in der gewöhnlichen Ausdrucksweise
zu sprechen, was es verkündet und wodurch es ergreift und entzückt,
ist vor allem die Begeisterung eines rein und natürlich gestimmten
Gemütes für die reinsten und unmittelbarsten Aeußerungen der
Natur, es ist ferner die jubelnde Freude einer thatkräftig strebenden
Seele an der hellen Erkenntnis des sichern Fortschreitens, in welchem
der große Gang der Geschichte dem gesunden Auge alle die reichen von
der Natur dem Menschen verliehenen Kräfte in ihrem Streite und in
ihrem Bunde zeigt, es ist die schwere Beängstigung, daß eine wild
und drangvoll bewegte Gegenwart die Sicherheit jener Erkenntnis zu
erschüttern droht, es ist endlich die hochgemute Tröstung und die
unerschütterliche Zuversicht, welche der edle Sinn in der Gewißheit
seiner selbst und in dem treuen Festhalten an der Natur, dem liebevollen
Anschluß an sie, für den Glauben an den Wert und den Erfolg
des Strebens der menschlichen Gattung zurückgewinnt. Alles das aber
sind keine „Sätze“ oder „Jdeen“, es sind Zustände des Gemütes,
wie sie durch jene erst entwickelt werden ─ Ethe!


Je mehr es dem Dichter gelingt selbst solches durch Jdeen erzeugte
Ethos vermittelst der Darstellung bewegten Lebens nachzuahmen,
desto gewisser erreicht er seinen Zweck und in um so schönerer Art löst
er seine Aufgabe. Hierin ist nun aber Goethe der unerreichte und
ganz unerreichbare Meister. Sieht man hierauf hin nun noch einmal
seine Gedichte durch, so erscheint, während jene direkte Reflexionsdichtung
sich nur in seinem späteren Alter und auch da nur spärlich zeigte,
auf einmal eine gedrängte Fülle der herrlichsten Schöpfungen, welche
durchaus dieser Gattung zuzurechnen sind. Und zwar von seiner frühen
Jugend an erweist sich diese echte Reflexions=Poesie als eine von ihm
ganz besonders bevorzugte Lieblingsgattung, von jenem „Sturmlied
des seine Schwingen in ungestümem Flügelschlag entfaltenden Genius
an bis zu seinen reifsten Kundgebungen, der „Zueignung“, den „Geheimnissen
oder dem „deutschen Parnaß“. Das Gemeinsame bei
ihnen allen ist, daß nicht der Gedanke selbst, sondern das von ihm getragene
Ethos zum Ausdruck gelangt und zwar überall durch das Mittel
lebensvoll dargestellter Bilder, wenn nicht, wie meistens, durch einen
einzelnen, in sich zusammenhängenden Vorgang.


Wenn es ihn drängt seine Vorstellung des „Göttlichen“ aus= |#f0106 : 88|

zusprechen, oder der „Grenzen der Menschheit“ jenem gegenüber, so
lautet das nicht, wie bei Schiller:


Und ein Gott ist, ein heiliger Wille lebt,
Wie auch der menschliche wanke;
Hoch über der Zeit und dem Raume webt
Lebendig der höchste Gedanke,
Und ob alles in ewigem Wechsel kreist,
Es beharret im Wechsel ein ruhiger Geist ─

sondern der lebendige Punkt, aus welchem sein Lied quillt, ist die Bezeichnung
derjenigen Regung des menschlichen Gemütes, aus welcher
jedes Gottesbewußtsein und jeder Glaube an Göttliches allein seinen Ursprung
hat.


Denn unfühlend
Jst die Natur:
Es leuchtet die Sonne
Ueber Bös' und Gute,
Und dem Verbrecher
Glänzen wie dem Besten
Der Mond und die Sterne.


Aus der bloßen Beobachtung der Natur stammt die Gottesidee
nicht, denn wie sie wahllos allen ihre Gaben austeilt, so treffen
Schrecken und Vernichtung aus ihrer Hand ohne Unterschied und denkbare
Ursache:


Wind und Ströme,
Donner und Hagel
Rauschen ihren Weg
Und ergreifen
Vorübereilend
Einen um den Andern.


Und ist etwa in den Verschlingnngen des Waltens der Naturkräfte
und der menschlichen Thaten, in dem, was wir das Schicksal nennen,
die Gewißheit eines planvollen göttlichen Entscheidens irgendwo unmittelbar
zu erkennen? Vielmehr erscheint nichts launischer und regelloser
als das Schalten des Glückes:


Auch so das Glück
Tappt unter die Menge,
Faßt bald des Knaben
Lockige Unschuld,
Bald auch den kahlen
Schuldigen Scheitel.
|#f0107 : 89|


Da ist nirgends etwas anderes zu erkennen, als kalte, eiserne
Notwendigkeit, unerbittlicher Zusammenhang von Ursache und Wirkung:


Nach ewigen, ehernen,
Großen Gesetzen
Müssen wir alle
Unseres Daseins
Kreise vollenden.


Wo thut sich denn nun die Ahnung auf eines Willens, der in
diesem zermalmenden Getriebe die Freiheit bewahrt, der durch das eine
Moment der aus eigener Kraft gefaßten Entschließung eine neue Bestimmung
von unendlicher Wirkung innerhalb jenes Spieles der blinden
Mächte aufzustellen vermag?


Nur allein der Mensch
Vermag das Unmögliche;
Er unterscheidet,
Wählet und richtet;
Er kann dem Augenblick
Dauer verleihen.
Er allein darf
Den Guten lohnen,
Den Bösen strafen,
Heilen und retten,
Alles Jrrende, Schweifende
Nützlich verbinden.


Dieses Gefühl, das hohe Bewußtsein der Fähigkeit aus freiem
Antriebe das Gute, das Edle wollen zu können, der freudige Stolz
durch das Vermögen planvoll hülfreichen Handelns allen Wesen, selbst
den Naturmächten überlegen zu sein, die aus solchem Selbstbewußtsein
entspringende frohe Glaubensahnung, daß es in dem großen Ganzen
einen solchen edlen Willen geben müsse, von welchem das beste menschliche
Wollen doch nur ein beschränktes Abbild sein kann, der daraus geschöpfte
feste Muth zu solchem Willen, das ist das Ethos dieses
Gedichtes, mit dessen Ausdruck es beginnt und schließt:


Edel sei der Mensch,
Hülfreich und gut!
Denn das allein
Unterscheidet ihn
Von allen Wesen,
Die wir kennen.
|#f0108 : 90|

Heil den unbekannten
Höheren Wesen,
Die wir ahnen!
Sein Beispiel lehr' uns
Jene glauben!


Und am Schluß:


Und wir verehren
Die Unsterblichen,
Als wären sie Menschen,
Thäten im Großen,
Was der Beste im Kleinen
Thut oder möchte.
Der edle Mensch
Sei hülfreich und gut!
Unermüdet schaff' er
Das Nützliche, Rechte,
Sei uns ein Vorbild
Jener geahneten Wesen!


Dem gegenüber in den „Grenzen der Menschheit“ das Ethos
der Sophrosyne, der frommen Scheu, welches vor jeder Art der Ueberhebung
bewahrt, wie es der Mensch aus dem Bewußtsein der engen
Schranken seines Wirkens, der kurzen Begrenzung seines Lebens schöpft,
und, dem zufolge, aus dem kindlichen Schauer vor der göttlichen Allmacht
und der bescheidenen Anerkennung der überlegenen, rings
sein Leben bedingenden Naturkräfte.


Aber, wie schon gesagt, mehr entspricht es Goethes Art, statt wie
hier die einzelnen poetischen Vorstellungen jedesmal in entsprechenden
einzelnen Bildern bewegter Vorgänge wiederzuspiegeln, in einem einzigen
Vorgange den Zusammenhang des Ganzen vor die Anschauung zu bringen.


Hierbei werden jedoch zwei verschiedene Methoden von ihm angewendet,
die als die dramatische und als die allegorische bezeichnet
werden können.


Jm Drama bietet die Situation den hinreichenden Anlaß, um dem
monologischen Erguß der Reflexion und ethischen Stimmung die bestimmte
Beziehung auf den einzelnen Vorgang und damit die unmittelbare,
lebendige Wirkung zu verleihen; mitunter ist diese Beziehung aber
schon an sich so deutlich, daß die bloße Ueberschrift genügt, um ein
solches Stück auch außerhalb seines Zusammenhanges völlig verständlich
zu machen. So ist der „Prometheus“ beschaffen, welcher, ob er nun
ursprünglich dem dritten Akte des Fragmentes angehörte oder, schon
vorher selbständig geschaffen, diesem erst zugeteilt wurde, mit Recht, als |#f0109 : 91|

sich selbst genugsam erklärend, von Goethe unter seine Gedichte aufgenommen
werden konnte. Ganz denselben Charakter tragen jedoch solche
Stücke, in denen der Dichter in eigener Person spricht ─ wie dieselbe
im Grunde auch im „Prometheus“ unter der Maske zu erkennen ist ─,
und wo er mit der Kunst des Meisters die Anlaß und Erklärung gebende
Situation mitten in dem ihr entspringenden Strom der Gedanken und
Gefühle durch vollauf genügende Andeutung darzustellen weiß; so in
Wandrers Sturmlied,“ „Schwager Kronos,“ dem so ganz
individuellen Liede „Harzreise im Winter“. So willkommen uns die
authentische Angabe des Dichters über die veranlassenden historischen
Momente zu dem letzten Gedichte sind, so bedarf es, um verstanden und
genossen zu werden, derselben doch nicht, weil das Einzelne in die Sphäre
des Allgemeinen gehoben ist; wie auch „Wandrers Sturmlied,“ bei dem
ein solcher ins Einzelne gehender, authentischer Kommentar fehlt, sich mit
völliger Deutlichkeit selbst erklärt.


Den Uebergang zu der allegorischen Gattung bilden solche Gedichte,
in welchen entweder ein Gleichnis angedeutet ist, wie in „Meine
Göttin,
“ oder vollständig durchgeführt, wie in dem „Gesang der
Geister über dem Wasser
“.


Nun aber die eigentlich allegorischen Gedichte! Jn schroffem
Gegensatze gegen die beliebte Theorie, daß jede Allegorie aus der Kunst
absolut zu verbannen sei, sind es gerade die vollendetsten unter den der
reflektierenden Gattung zugehörigen Dichtungen Goethes, welche entschiedene
und mit strengster Konsequenz durchgeführte Allegorie enthalten.
Zum Beweise mögen die folgenden drei Gedichte dienen, welche sicherlich
ein jeder wenigstens zu den schönsten zählen wird: „Mahomets Gesang,
Seefahrt“ und „Adler und Taube“.


Nach der Quinctilianischen Erklärung ist die Allegorie eine
Redeweise, welche etwas Anderes sagt und etwas Anderes bedeutet;
Lessing fügt dazu die sehr notwendige Einschränkung, daß dieses andre
dem, was es bedeuten soll, ähnlich sein müsse. Aber auch diese Einschränkung
genügt noch nicht, wenigstens nicht für diejenige Art der
Allegorie, welcher das Bürgerrecht in der Kunst gebührt.


Jedes Kunstmittel, welches nicht einem höheren Zwecke in solcher
Weise dient, daß derselbe auf anderem Wege nicht erreicht werden kann,
ist in der Kunst nicht allein überflüssig, sondern als unnützes Spielwerk
ihrer unwürdig. Wenn also nicht schon in dem Wesen der Allegorie
ihre Unentbehrlichkeit für die Zwecke der Kunst nachgewiesen werden
kann, und ebenso aus ihrer Definition nicht schon von vornherein erkennbar
ist, in welchem Falle sie denselben widerspricht, so müßte sie |#f0110 : 92|

freilich aus der Kunst ausgeschlossen werden. Beides aber läßt sich sehr
wohl vereinigt erreichen.


Es bedarf keines erneuten Beweises, daß der reine Gedanke und
vollends die Verbindung einer Reihe von Gedanken für jede Kunst
schlechthin undarstellbar ist.


Selbst die Poesie, welche in dem Besitz des Mittels ist, durch welches
allein der Gedanke ausgedrückt werden kann, des Wortes, vermag denselben
direkt nur so zu verwenden, daß ihr eigentlicher Gegenstand vielmehr
das begleitende Ethos ist und der Gedanke selbst als die dasselbe
erregende Ursache nur angedeutet wird.


Wie aber im Vorstehenden nachgewiesen wurde: sicherer und besser
erreicht die Poesie ihren Zweck, wenn sie, statt den Gedanken direkt anzudeuten
oder auszusprechen, indirekt diejenigen konkreten Dinge, Verhältnisse
und Vorgänge darstellt, aus welchen die Gedanken und ihre
Verknüpfung zu abstrahieren sind, und zwar jene Dinge und Vorgänge
in solcher Auswahl und Zusammenstellung vorführt, daß die Selbstthätigkeit
mit Notwendigkeit zu dieser Abstraktion veranlaßt wird; wenn
also der Dichter mit künstlerischer Auswahl und Absicht dasjenige Stück
Leben zu seiner Nachahmung verwendet, welches in ihm selbst das Ethos
hervorbrachte.


Nach der Ansicht, welche die ganze Entwickelung der deutschen Poetik
beherrscht hat und welche auch noch heute die allgemein verbreitete ist,
wäre diese Nachahmung der Natur und Wirklichkeit, sobald sie
nur in künstlerischer Auswahl und Modifikation, der sogenannten Jdealisierung,
geschehe, der Gegenstand der Dichtung; während doch diese
so hoch gepriesene und so eifrig angestrebte Nachahmung der Natur und
des Lebens, so gut wie Schilderung, Erzählung, Gedankenausdruck, nur
als Darstellungsmaterial dem höheren Nachahmungszweck, dem
eigentlichen Gegenstande der Kunst, dienstbar ist. Der Verwechselung
dieses Grundverhältnisses sind von jeher die meisten und verderblichsten
Verirrungen der Kunst entsprungen.


Natürlich kann in dem so bezeichneten Verhältnis, wo Gedankendarstellung
durch Darstellung von Dingen und Vorgängen vermittelt
wird, von Allegorie keine Rede sein, denn das dargestellte Konkrete,
Einzelne, ist dem Abstrakten, Allgemeinen, das dadurch der Jntelligenz
zugeführt wird, was es also bedeuten soll, nicht ähnlich, sondern
dieses ist in jenem enthalten.1

1
Vgl. dazu die betreffenden Ausführungen in LessingsAbhandlungen
über die Fabel
“.
|#f0111 : 93|


Nun gibt es aber einen dritten Fall, und dieser ist es, welcher
hier in Betracht kommt.


Es ist jemand von einem bedeutenden Ethos mächtig ergriffen, dem
er einen auch die andern stark bewegenden Ausdruck verleihen will. Der
Anlaß für ihn zu jenem Ethos ist eine Reihe wichtiger Gedanken, tiefgreifender
Reflexionen gewesen, mit denen er zu einem ihn beruhigenden
und erhebenden Abschluß gelangt ist. Der Philosoph führt dieselben
unmittelbar vor und wendet sich damit an jene kleine Zahl der Mitstrebenden,
die ihm zu folgen geneigt sind. Der Redner bringt die zu
jenen Reflexionen den Anlaß gebenden Umstände und Verhältnisse in
ausführlicher, für seinen Zweck angeordneter Darstellung vor die Augen
seiner Zuhörer und erreicht damit seinen Zweck, die von ihm gewollte
Ueberzeugung herzustellen bei der Gruppe, welche schon zuvor an jenen
Verhältnissen einen durch ihr Jnteresse hervorgerufenen Anteil nahm. Der
Dichter,
den sein Ethos zum Reden zwingt, hat einen weiteren Kreis
im Auge, als der Philosoph und der Redner, er wendet sich an die
ganze Menschheit, und anders wie jene, setzt er das Jnteresse für seinen
Gegenstand nicht voraus, sondern er will es hervorbringen auch bei den
Gleichgültigen und selbst bei den Widerwilligen. Dazu bedarf er nun
aber anderer Mittel, und dieselben sind von so starker Wirkungskraft,
daß der Philosoph und der Redner nicht selten sie ihm abborgen, gerade
da, wo es ihnen nicht nur auf die Ueberzeugung, sondern zugleich auf
eine Beeinflussung der Gemütskräfte und des Willens ankommt. Für
den Dichter ist das argumentierende Verfahren jener beiden andern ausgeschlossen;
nun liegt aber der Fall so, daß die konkreten Verhältnisse,
die der Reflexion und dem Ethos den Ursprung geben, viel zu ausgebreiteter
und weitverzweigter Art und viel zu sehr der Einheit ermangelnd
sind, als daß an ihre Verwendung als Darstellungsmittel im
Gedichte gedacht werden könnte. Hier bedient sich nun die Kunst jenes
unentbehrlichen Auskunftsmittels: an die Stelle der jenen abstrakten
Reflexionen und jenen ethischen Zuständen in der Wirklichkeit entsprechenden
und zu Grunde liegenden konkreten Verhältnisse und
Vorgänge
setzt sie andre, jenen ähnliche konkrete Verhältnisse
und Vorgänge,
welche eben durch diese Aehnlichkeitsmomente die Kraft
haben dieselben Reflexionen und ethischen Zustände hervorzurufen, die
aber vor ihren der Wirklichkeit angehörigen Vorbildern den Vorzug der
Uebersichtlichkeit und Einheit haben. Es ist derselbe Weg, den
auch der Mythus in solchem Falle mit Vorliebe einschlägt: es sei
an das Urteil des Paris erinnert, oder an Herkules am Scheidewege
oder an Christus und den Versucher, der ihm vom Felsen |#f0112 : 94|

aus die Herrlichkeit der Welt zeigt. Wollte ein Dichter die Verhältnisse,
Zustände und Entwickelungen, die Reflexionen und ethischen Bewegungen,
welche hier in einen einzigen, schnell sich entscheidenden
und leicht zu erfassenden Vorgang zusammengefaßt sind, mit den gewöhnlichen
Mitteln poetischer Nachahmung darstellen, statt durch das
Mittel der Allegorie, so würde dazu jedesmal ein eigenes, in
größerem Maßstabe und auf breiter Grundlage komponiertes Werk
erforderlich sein. Denn hier ist nun in der That Allegorie vorhanden;
die Aehnlichkeit waltet hier nicht ob zwischen dem Darstellungsmittel
und dem Dargestellten (wie fälschlich wohl oft angenommen
wird), nicht also zwischen dem abstrakten Allgemeinen und dem
konkreten Einzelnen ─ was ein Unding wäre ─, sondern zwischen
zwei gesonderten konkreten Einzelnen,
welche jedoch darin
einander ähnlich sind, daß sie beide die Kraft besitzen jenes eine
abstrakte Allgemeine
zu vertreten; zwischen diesen beiden aber ist
die Aehnlichkeit selbstverständlich möglich. Jedoch wird der Künstler sich
des allegorischen Darstellungsmittels nur dann bedienen, wenn die
reale, poetische Darstellungsweise unmöglich ist, oder doch an Kürze,
Faßlichkeit und daher auch an Wirkungskraft von jener weit überboten
wird; dann aber ist es ein dem Künstler ganz unentbehrliches Verfahren,
das Geistige, was ihn erfüllt, nicht vermittelst desjenigen Konkreten
nachahmend darzustellen, an welches es ursprünglich geknüpft ist, sondern
durch ein anderes, ähnliches Konkretes, welchem die Fähigkeit beiwohnt
oder erteilt werden kann, auf jenes Urbild hinzudeuten.
Hierin liegt schon mit völliger Deutlichkeit die Bestimmung der Grenzen,
innerhalb deren allein die Allegorie ihren künstlerischen Charakter bewahrt.
Der allegorische Gegenstand oder Vorgang muß, entweder schon
durch sich selbst oder doch durch die Belebung und ethische Beseelung,
deren ihn der Dichter fähig zu machen weiß, imstande sein, auch ganz
ohne die Vergleichung mit seinem realen Gegenbilde, an und für sich
das Ethos zu erzeugen, dessen Nachahmung der Zweck des Gedichtes ist.
Dann ist die Allegorie schön; denn sie erfüllt die Aufgabe der Kunst
schon durch sich selbst, und, indem sie durch die ihr innewohnende Aehnlichkeit
nun obendrein noch die Vorstellung des weit ausgedehnteren
und vielumfassenden realen Urbildes erweckt, wird sie jener Aufgabe
noch in einem ungleich höheren Grade gerecht. Aber jene erste Wirkung
wird gänzlich aufgehoben und damit auch die Möglichkeit der zweiten
von vornherein vernichtet, sobald die Allegorie den ethischen Gehalt
nicht selbständig oder doch nur unvollständig besitzt, sondern ihn erst
durch den äußeren Hinweis auf die Realität, für welche sie eintritt, er= |#f0113 : 95|

halten soll; dann ist sie zugleich unzulänglich, überflüssig und unschön
und aus jeder Kunst unbedingt zu verstoßen.1


Nach alledem muß die Definition der poetischen Allegorie folgendermaßen
lauten:


Sie ist die Nachahmung eines Gedankenethos durch die
Darstellung nicht der dasselbe hervorrufenden konkreten
Realität, sondern eines andern Konkreten, welches dasselbe
in gedrängterer und einheitlicherer Form enthält,
und eben dadurch einen solchen Grad der Aehnlichkeit mit
jener Realität erlangt, daß es sowohl im Ganzen als in
seinen Teilen auf dieselbe hinzuweisen vermag.


Eine solche allegorische Darstellung entspricht völlig der Natur der
Poesie, da sie zunächst auch ohne den Gedanken an das Allgemeine durch
die bloße Darstellung des Besonderen ihre Wirkung thut. Wer jedoch
dieses Besondere lebendig erfaßt, erhält zugleich das Allgemeine mit, sogar
vielleicht ohne es zunächst gewahr zu werden. Erschließt sich nun
rückwärts aus diesem Allgemeinen noch weiter die Aussicht auf ein verwandtes
aber höher geartetes und reicheres Besonderes, so steigert sich
damit die Wirkung ins Unendliche.2


Es bleibt noch übrig an den oben als hervorragende Beispiele für
die allegorische Darstellung des Reflexions-Ethos citierten Gedichten die
Probe zu machen.


Der Genius ist zum Vollgefühl seiner Kraft und zu der freudigstolzen
Erkenntnis seines Wesens erwacht! Jn der Gewißheit des
mächtigen Vermögens, das er in immer gesteigertem Gelingen erprobt

1
Als eine Sammlung von Musterbeispielen solcher gänzlich fehlerhaften Allegorie
kann z. B. der „Theuerdank“ gelten; ebenso aber auch die Allegorieen, wie sie von
Boileau und Pope angewandt wurden und von ihren deutschen Nachahmern, z. B.
von Zachariä.
2
Genau das hier Gesagte scheint mir Goethe in einem seiner Sprüche in Prosa
im Auge gehabt zu haben, nur daß er den Ausdruck Allegorie in jenem engeren
Sinne der fehlerhaften Allegorie
versteht: „Es ist ein großer Unterschied,“ sagt
er, „ob der Dichter zum Allgemeinen das Besondere sucht, oder im Besonderen das
Allgemeine schaut. Aus jener Art entsteht Allegorie, wo das Besondere nur als Beispiel,
als Exempel des Allgemeinen gilt; die letztere aber ist eigentlich die Natur der
Poesie; sie spricht ein Besonderes aus, ohne ans Allgemeine zu denken oder darauf
hinzuweisen. Wer nun dieses Besondere lebendig faßt, erhält zugleich das Allgemeine
mit, ohne es gewahr zu werden, oder spät.“ Vgl. hierzu meine parallelen Ausführungen
über diesen Gegenstand in der Schrift: „Goethes Märchen, ein politisch=nationales
Glaubensbekenntnis des Dichters
“ (Königsberg bei Hartung 1875),
S. 8 ff.
|#f0114 : 96|

hat, erscheint ihm seine Laufbahn, die Gegenwart, die Vergangenheit und
die Zukunft, als eine herrliche Einheit, welche in ihrer folgerichtigen
Entfaltung durch nichts aufgehalten werden kann. Von dem Gipfel
des errungenen Vertrauens in sich selbst entdeckt sich nun in plötzlich
verbreitetem Lichte dem Genius sein eigenes Werden, welches ihm bis
dahin ein Geheimnis war; von Anbeginn liegt nun sein Lauf vor ihm,
und in triumphierender Zuversicht sieht er diesen Lauf mit der Gewalt
und Notwendigkeit einer Naturkraft sich bis zu seinem glorreichen Ende
fortsetzen. Dieses Ethos ist es, welches die von titanischen Entwürfen
geschwellte Brust des Dichters des Götz und Werther erfüllt, und das
nach einer Form des Ausdrucks verlangt. Für dieses „sublimi feriam
sidera vertice“ gibt es aber schwerlich irgend eine Form des Ausdrucks,
welche so angemessen und zugleich so hochpoetisch wäre als die Allegorie,
denn hierbei bleibt erstlich die Person des Dichters ganz aus
dem Spiele und das Ethos kommt rein und objektiv zur Darstellung,
und sodann wird es statt abstrakt beschrieben zu werden, durch die Anschauung
Herz und Gemüt erhebender und bewegender Bilder und Vorgänge
vermittelt. Eine solche Wirkung hat von jeher der Anblick eines
mächtigen Stromes, in allen Teilen seines Laufes von der Quelle bis
zum Meere, auf alle Beschauer ausgeübt. Den Alten verkörperte sich
dieses Ethos in den Mythen von ihren Flußgöttern; der moderne Dichter
ist von demselben schöpferischen Geiste getrieben, indem er überall der
körperlichen Erscheinung eine Seele leiht und die Bewegungen der Materie
als Willensakte vorstellt. So bleibt er vor allem dem poetischen
Grundgesetze
getreu, in die Schilderung der körperlichen Natur und
ihrer Bewegung nur einzutreten, insofern sie psychische und ethische Vorgänge
zu erwecken imstande ist, und insofern sie durch sich selbst dazu
fähig ist; was von außen her willkürlich hinzugethan wird um diese
Fähigkeit zu erhöhen, fördert die Wirkung nicht, sondern hebt sie auf.
Gelingt es nun hier dem Dichter, daß, indem er der Natur seines Objektes
durchaus treu bleibt, er zugleich doch eine solche Reihe von Momenten
in der Darstellung desselben hervorhebt, welche durch eine
schlagende Aehnlichkeit an jene ganz persönlichen und doch zugleich typischallgemeinen
Verhältnisse erinnern, die ursprünglich in ihm das treibende
Ethos entzündeten, so ist er der höchsten Wirkung sicher.


So geschieht es in dem vorliegenden Gedicht:


Seht den Felsenquell,
Freudehell
Wie ein Sternenblick;
Ueber Wolken
|#f0115 : 97|

Nährten seine Jugend
Gute Geister
Zwischen Klippen im Gebüsch.


Die sonnigen Kindertage des begünstigten Genius ─ und warum
nicht des Dichters eigene? ─ und zugleich der Hinweis auf seinen geheimnisvollen
Ursprung, von welchem dem menschlichen Auge denn doch
soviel sich entdeckt, daß besondere und durch Generationen vererbte
Güte und Trefflichkeit um seine Wiege stehen und „seine Jugend
nähren“ mußte!


Jünglingfrisch
Tanzt er aus der Wolke
Auf die Marmorfelsen nieder,
Jauchzet wieder
Nach dem Himmel.
Durch die Gipfelgänge
Jagt er bunten Kieseln nach,
Und mit frühem Führertritt
Reißt er seine Bruderquellen
Mit sich fort.


Jn den Knabenspielen überall die freudig emporstrebende Flamme
einer üppig reichen, aber immer dem Höchsten zugewandten Phantasie
und damit die angeborene Führerschaft über die Genossen, in denen er
ähnliche Bestrebungen weckt, die ohne ihn doch kraftlos stocken und versiegen
würden!


Drunten werden in dem Thal
Unter seinem Fußtritt Blumen,
Und die Wiese
Lebt von seinem Hauch.


Es klingt wie die Signatur seiner poesievollen Jünglingsjahre, der
Leipziger, Frankfurter und ersten Straßburger Zeit! Nun ist er in das
breitere Leben getreten, und wie ist da jede, auch nur flüchtige Beziehung,
in die er eintrat, bezeichnet durch das Emporsprießen der reizvollsten
Blüten der Poesie, die „unter seinem Fußtritt wurden“, und
wie „lebt“ alles, was er damals berührte, unsterblich fort, durch seinen
Hauch geadelt!


Doch ihn hält kein Schattenthal,
Keine Blumen,
Die ihm seine Knie umschlingen,
Jhm mit Liebesaugen schmeicheln;
Nach der Eb'ne dringt sein Lauf
Schlangenwandelnd.
|#f0116 : 98|


Die liebliche Jdylle, welche ihn mit dem Schönsten umgab, was
das in beschränktem Kreise Genüge findende Herz sich ersehnen kann,
und die er selbst mit dem Köstlichsten geschmückt hat, was er in sich
hatte, vermag ihn nicht aufzuhalten. Zugleich ist die innere Fülle übermächtig
angeschwollen und durch mannigfaltige neue Entwickelungen, die
ihn bald von seiner Bahn ablenken, bald mit desto größerer Kraft zu
ihr zurückführen, drängt es ihn vorwärts der immer weiter verbreiteten,
ihm bestimmten, großen Wirksamkeit zu: „nach der Eb'ne dringt sein
Lauf, schlangenwandelnd!“


Bäche schmiegen
Sich gesellig an. Nun tritt er
Jn die Eb'ne silberprangend,
Und die Eb'ne prangt mit ihm,
Und die Flüsse von der Eb'ne
Und die Bäche von den Bergen
Jauchzen ihm und rufen: Bruder!
Bruder, nimm die Brüder mit,
Mit zu deinem alten Vater,
Zu dem ew'gen Ocean,
Der mit ausgespannten Armen
Unser wartet,
Die sich, ach! vergebens öffnen,
Seine Sehnenden zu fassen;
Denn uns frißt in öder Wüste
Gier'ger Sand; die Sonne droben
Saugt an unserm Blut; ein Hügel
Hemmet uns zum Teiche. Bruder,
Nimm die Brüder von der Eb'ne,
Nimm die Brüder von den Bergen
Mit, zu deinem Vater, mit!


Jetzt beginnt er seine Sendung zu erfüllen: zuerst folgen nur die
zunächst ihn Umgebenden seiner fortreißenden Führung; bald aber erweckt
sein leuchtendes Beispiel von überallher die geringeren Talente, sich
dem gleichen Streben mit ihm zu weihen. Wie lange hatten die Kräfte
sich vergebens gemüht das klassische Jdeal iu der Poesie zu erreichen!
Jn der angeerbten Furchtsamkeit vor den engen Schranken der Konvenienz
waren sie erlahmt und verkümmert, falsch verstandene Regeln
hatten ihnen die Bahn versperrt. Nun riß sie dieser mächtige Genius
mit sich fort, der mit zaubergewaltiger Sprache gleichsam die Natur
seinem Zeitalter erschloß und aller zartesten und stärksten Empfindung
freie Bahn schuf.


Kommt ihr alle! ─
|#f0117 : 99|


Wie fluteten damals im Sturm und Drange die Gewässer in das
eröffnete Bett! Dennoch hat die folgende Zeit das stolze Bild des
Triumphes, das in prophetischem Gesichte sich ihm zeigte, zur Wahrheit
gemacht. Noch lag mehr als ein halbes Jahrhundert seiner Laufbahn
vor ihm, und welch eine Fülle der herrlichsten Schöpfungen hinterließ
dieses unvergleichliche Leben, jede nicht nur ein stolzes nationales Denkmal,
sondern ein fortwirkender lebendiger Organismus, ausgestattet mit
der Kraft, unaufhörlich weiter die Nation zu erziehen, zu veredeln, neue
geistige Wirksamkeit in ihr zu erwecken!


Und nun schwillt er
Herrlicher; ein ganz Geschlechte
Trägt den Fürsten hoch empor,
Und im rollenden Triumphe
Giebt er Ländern Namen, Städte
Werden unter seinem Fuß.


Wie schön auch das Anerkenntnis, daß selbst das größte Genie
zu seinem höchsten Vermögen erst gelangt, indem es bereitwillig jeden
Zuwachs aus den Leistungen der Mitstrebenden in sich aufnimmt! Er
allein aber vermag es, bis zum Ziele vorzudringen, zu dem er die ganze
Epoche mit sich fortträgt.


Unaufhaltsam rauscht er weiter,
Läßt der Türme Flammengipfel,
Marmorhäuser, eine Schöpfung
Seiner Fülle, hinter sich.

Cedernhäuser trägt der Atlas
Auf den Riesenschultern; sausend
Wehen über seinem Haupte
Tausend Flaggen durch die Lüfte,
Zeugen seiner Herrlichkeit.

Und so trägt er seine Brüder,
Seine Schätze, seine Kinder
Dem erwartenden Erzeuger
Freudebrausend an das Herz.


Ganz genau derselbe Nachweis läßt sich für das Gedicht „Seefahrt
führen: eine Zug für Zug durchgeführte, allegorische Darstellung
von ethischen Zuständen, wie sie durch die ganz individuellen Lebensverhältnisse
des Dichters in ihm hervorgebracht waren. Das Gedicht entstammt
dem Herbste des Jahres 1776; noch war kein volles Jahr verflossen,
seitdem der Dichter sich dem gefährlichen Element des Hoflebens
an der Seite eines leidenschaftlichen jungen Fürsten anvertraut hatte. |#f0118 : 100|

Bis in die kleinsten Züge hat er nun in dem Bilde der Seefahrt die
Empfindungen und Gemütsverfassungen, mit denen jenes Verhältnis ihn
bewegte, wiederzuspiegeln gewußt. Die lange Zeit des vergeblichen Harrens,
nachdem nun definitiv die weimarische Einladung angenommen war, die
drängende Ungeduld der Freunde und die ungemessenen Hoffnungen,
deren schnelle Erfüllung sie von jener Reise erwarteten, endlich der von
ihren frohen und zuversichtlichen Segenswünschen begleitete Aufbruch:
alles das in dem ungezwungensten und belebtesten Bilde vereinigt. Und
vollends die folgenden Strophen: in gedrängtester Kürze meint man hier
einen getreuen Abriß von dem Verhalten vor Augen zu haben, wie es
Goethe in den stürmischen Tagen der Weimarer Geniezeit sich vorgezeichnet
hatte und wie er dasselbe in dem köstlichen Gedicht „Jlmenau“
später ausführlicher geschildert hat. Wie der kluge Schiffer gegen die
widrigen Winde kreuzt um vorwärts zu kommen, so scheint er dem
tollen Treiben „sich hinzugeben“, doch:


Strebet leise sie zu überlisten,
Treu dem Zweck auch auf dem schiefen Wege.


Aber heftiger schwillt das Wüten der Leidenschaft an, und auf
nutzlosen Widerstand verzichtend, gibt er das Schifflein eine Zeit lang
den stürmischen Wellen preis. Jst es nicht, als ob man den Chorus
der näher und ferner stehenden Freunde nun hörte, mit ihren Befürchtungen,
Warnungen, ihren mißtrauischen Klagen:


Und an jenem Ufer drüben stehen
Freund' und Lieben, beben auf dem Festen:
Ach, warum ist er nicht hier geblieben!
Ach, der Sturm! Verschlagen weg vom Glücke!
Soll der Gute so zu Grunde gehen?
Ach, er sollte, ach, er könnte! Götter!


Und endlich das Grundethos des Ganzen, der feste, freudige Lebensmut,
das unerschütterliche Vertrauen in sich selbst und in die Zukunft,
in den herrlichen Schlußversen:


Doch er stehet männlich an dem Steuer;
Mit dem Schiffe spielen Wind und Wellen,
Wind und Wellen nicht mit seinem Herzen;
Herrschend blickt er auf die grimme Tiefe
Und vertrauet scheiternd oder landend
Seinen Göttern.


Auf Widerspruch könnte es stoßen, wenn als ein drittes Beispiel
solcher allegorischen Dichtungsweise die Fabel „Adler und Taube“ an= |#f0119 : 101|

geführt wurde. Eine gute Fabel kann ja nach Lessing nicht allegorisch
sein. Gewiß nicht, sofern man die allegorische Aehnlichkeit zwischen der
Handlung der Fabel und ihrem allgemeingültigen abstrakten Jnhalt
sucht. Aber jene Aehnlichkeit besteht vielmehr zwischen dieser Handlung
und den eigenen Erlebnissen, die das Ethos der Fabel in dem Dichter
erweckten; und wenn sich hier die ganz speziell den Anlaß gebenden
Beziehungen auch nicht überzeugend nachweisen lassen, so liegt dafür die
Grundbeziehung um so klarer am Tage. Wir wissen, wie schwer der
Dichter an der hier dargestellten ethischen Gemütslage zu tragen hatte.
Für den mit der Goetheschen Dichtungsweise Vertrauten möchte es aber
nicht zweifelhaft sein, daß auch der spezielle Hergang der Handlung in
dem Gedichte nicht lediglich fiktiv ist, sondern den Hinweis auf eine bestimmte
erlebte Situation enthält. Eine Vermutung wird erlaubt sein,
durch welche sicherlich die Auffassung des Gedichtes an Lebendigkeit gewänne.
Man erinnert sich aus Goethes Lebensbeschreibung, wie tief ihn
die reumütige Erinnerung an die Sesenheimer Verlassene niederdrückte,
zu der zurückzukehren er gleichwohl durch einen übermächtigen Zug seiner
innersten Natur sich gehindert fühlte, wie er die schmerzliche Trauer damals
zeitweise als eine Lähmung aller seiner Kraft empfand:


Zuletzt heilt ihn
Allgegenwärt'ger Balsam
Allheilender Natur.


Es war nicht lange darnach, als er in Darmstadt ein häufiger
Augenzeuge des idyllischen und sentimental=zärtlichen Liebesgetändels
zwischen Herder und seiner Braut Karoline war; bei dem starken Hange
jener beiden zum Moralisieren und zu einer gewissen tugendstolzen Ueberhebung
wird es an ernsten Vorwürfen und wohlmeinenden Ratschlägen
an den Freund in Bezug auf das ohne Zweifel ihnen bekannte Sesenheimer
Verhältnis schwerlich gefehlt haben: die Empfindungen des Dichters
gegenüber solchen Anmahnungen, die stark ironisch gefärbte Darstellung
derselben, die treffende Abfertigung, nicht nur gegen jene gewandt, sondern
schwererwiegend die Rechtfertigung vor sich selbst, soweit eine solche
möglich, alles das ist vollständig, überzeugend und ergreifend in dem
Gedichte enthalten, welches daher mit vollem Rechte jener allegorischen
Gattung zuzurechnen ist.


Nun aber noch das Eine, was für diese Gattung, wie in seiner
Weise für jede andere gilt! Dichterisch empfunden und dargestellt würden
alle diese Gedichte sein, auch wenn sie nichts weiter enthielten als in
allegorischem Gewande das Ethos des Dichters, welches den individuellen |#f0120 : 102|

Reflexionen über seine eigene Lage und Verhältnisse entsprungen ist; viele
auch unter den bedeutenderen Dichtern sind hierbei stehen geblieben, es
seien nur die hervorragendsten genannt: Byron und Heine. Das
Zeichen einer wahrhaft großen Dichtung aber ist es, daß das Ethos,
welches die Jndividualität des Dichters bezeichnet, zugleich der höchsten
Vorstellung der menschlichen Gattung entspreche und so durch seine
typische Geltung zugleich die Allgemeinheit und die erhebende und
läuternde Kraft seiner Wirkung empfange. ──────


VIII.


Dehnt man die auf die gnomische Dichtung angewandte Betrachtungsweise
auf die satirisch=humoristische Poesie aus, so ergibt
sich, so unerwartet das sein mag, daß die Gesetze, unter denen sie steht,
der Gattung nach dieselben sind wie bei jener, und daß zwischen beiden
nur Art-Unterschiede stattfinden. Die satirisch=humoristische Poesie
erweist sich daher als eine Abzweigung der gnomischen.


Noch augenfälliger wie bei der gnomischen Dichtung tritt hier die
Mannigfaltigkeit der Darstellungsmittel hervor, welche zwischen dem
lyrischen und epischen Charakter zu schwanken und daher eine bestimmte
Klassifikation dieser Gattung zu erschweren scheinen. Denn wie jene
kann die satirisch=humoristische Dichtung bald schlechthin reflektierend sich
verhalten, bald eine Reihe sachlich unzusammenhängender, nur durch den
Faden der Betrachtung vereinigter, Bilder und Vorgänge verwenden,
bald sich der Darstellung einer einzigen und einheitlichen Handlung bedienen;
ganz wie jene ist sie der dramatischen Lebendigkeit fähig und
bedarf ebenso wie sie unter Umständen mit Notwendigkeit der allegorischen
Verkleidung.


Jn den Mustern der Gattung, den Horazischen Satiren, sind
diese Darstellungsweisen sämtlich verwendet; als Beispiele dienen ferner
Dichtungen wie SchillersJeremiade“, „Shakespeares Schatten“,
Teilung der Erde“, „Pegasus im Joche“, oder „Goethes Episteln
und der größte Teil der unter der Ueberschrift „Parabolisch
vereinigten Gedichte; es sei auch auf Schillers satirische Jugendgedichte
hingewiesen und auf Bürgers Versuche auf diesem Felde,
z. B. das Gedicht vom „Vogel Urselbst“.


Die beiden Hauptpunkte, in denen die generelle Aehnlichkeit der
satirisch=humoristischen Dichtung mit der gnomischen stattfindet, sind diese:
daß in jener wie in dieser der Gegenstand der Nachahmung die Hervor= |#f0121 : 103|

bringung eines Ethos ist, und daß in beiden dieses Ziel weder unmittelbar
erreicht wird, noch auch indirekt durch die Schilderung von
Dingen oder die Erzählung von Handlungen, wie in der Lyrik, sondern
immer erst durch das Mittel der Reflexion über dieselben; hier
wie dort können die Gedanken, welche das Ethos erzeugen, ebensowohl
allgemeiner Natur sein, als an einzelnen Fällen der Anschauung vorgegeführt
werden, oder endlich, vermittelst der zwischen solchen und gewissen
konkreten Dingen obwaltenden Analogien, allegorisch vertreten werden.
Mit der gnomischen Poesie gemeinsam also hat die Satire den Gedanken
als das die Nachahmung bewirkende Medium; der artbildende
Unterschied besteht darin, daß die erstere das nachzuahmende Ethos selbst
hervorbringt, die letztere dasselbe durch die ideelle Vorstellung seines
Widerspiels zu erzeugen strebt. Ein ganz ähnliches Grundverhältnis
findet bei der humoristischen Poesie statt.


Das Beste über den Gegenstand hat Schiller in der Abhandlung
„Ueber naive und sentimentalische Dichtung“ gesagt, und was sich dort
findet, stimmt dem Sinn nach vollkommen mit dem oben Entwickelten
überein. Dort heißt es:1 „Der sentimentalische Dichter reflektiert
über den Eindruck, den die Gegenstände auf ihn machen, und nur auf
jene Reflexion ist die Rührung gegründet, in die er selbst versetzt wird
und uns versetzt. Der Gegenstand wird hier auf eine Jdee bezogen
und nur auf dieser Beziehung beruht seine dichterische Kraft. Der sentimentalische
Dichter hat es daher immer mit zwei streitenden Vorstellungen
und Empfindungen, mit der Wirklichkeit als Grenze und mit seiner Jdee
als dem Unendlichen zu thun, und das gemischte Gefühl, das er erregt,
wird immer von dieser doppelten Quelle zeugen.“


Je nachdem nun das eine oder das andere Princip in der Empfindung
des Dichters überwiegen wird, „wird also seine Darstellung
entweder satirisch, oder sie wird (in einer weiteren Bedeutung dieses
Wortes) elegisch sein“.


„Satirisch ist der Dichter, wenn er die Entfernung von der Natur
und den Widerspruch der Wirklichkeit mit dem Jdeale (in der Wirkung
auf das Gemüt kommt beides auf eins hinaus) zu seinem Gegenstande
macht.“


Wenn aus diesen Sätzen hervorgeht, daß Schiller sich die satirische
Dichtung als auf dem Gedanken beruhend und in ihrer Wirkung durchaus
„auf Reflexion gegründet“ vorstellt, so beweist die ganze Haltung
des Folgenden, und zahlreiche Stellen sprechen es geradezu aus, daß er

1
Vgl. Hempelsche Ausgabe, Bd. 15, S. 497.
|#f0122 : 104|

sich diese Wirkung selbst als die Reproduktion eines bei dem Dichter
unumgänglich erforderlichen Gemütszustandes denkt, also als eben das,
was im Obigen Nachahmung eines Ethos genannt ist. So, wenn es
in betreff der strafenden oder pathetischen Satire heißt: „Bei der
Darstellung empörender Wirklichkeit kommt Alles darauf an, daß das
Notwendige der Grund sei, auf welchem der Dichter oder der Erzähler
das Wirkliche aufträgt, daß er unser Gemüt für Jdeen zu stimmen
wisse. Stehen wir nur hoch in der Beurteilung, so hat es nichts
zu sagen, wenn auch der Gegenstand tief und niedrig unter uns zurückbleibt
..... Die pathetische Satire muß also jederzeit aus einem
Gemüte fließen, welches von dem Jdeale lebhaft durchdrungen
ist.
“ Und weiterhin: „Die äußern und zufälligen Einflüsse, welche
immer einschränkend wirken, dürfen höchstens nur die Richtung bestimmen,
niemals den Jnhalt der Begeisterung hergeben. Dieser muß in allem
derselbe sein und, rein von jedem äußeren Bedürfnis, aus einem
glühenden Triebe für das Jdeal hervorfließen,
welcher durchaus
der einzig wahre Beruf zu dem satirischen wie überhaupt zu dem
sentimentalischen Dichter ist.“


„Wenn die pathetische Satire nur erhabene Seelen kleidet, so
kann die spottende Satire nur einem schönen Herzen gelingen .....“
„Nur dem schönen Herzen ist es verliehen, unabhängig von dem Gegenstand
seines Wirkens in jeder seiner Aeußerungen ein vollendetes Bild
von sich selbst abzuprägen. Der erhabene Charakter kann sich nur in
einzelnen Siegen über den Widerstand der Sinne, nur in gewissen Momenten
des Schwunges und einer augenblicklichen Anstrengung kundthun;
in der schönen Seele hingegen wirkt das Jdeal als Natur, also
gleichförmig, und kann mithin auch in einem Zustand der Ruhe sich
zeigen. Das tiefe Meer erscheint am erhabensten in seiner Bewegung,
der klare Bach am schönsten in seinem ruhigen Lauf.“


Es ist klar, daß, was Schiller hier Begeisterung, Trieb für das
Jdeal, erhabene Seele, schönes Herz oder schöne Seele nennt, samt und
sonders unter den Begriff des Ethos fällt, wie er im Obigem definiert
ist; an die Stelle jener verschiedenartigen und einer präcisen Feststellung
sich entziehenden Bezeichnungen tritt damit ein einheitlicher Begriff,
welcher den Vorzug besitzt, für jeden Fall sich mit einem klar und fest
zu bestimmenden Jnhalt erfüllen zu lassen und zudem auch für alle Fälle
anwendbar zu sein, während Schillers Räsonnement nur dem Jdeal der
satirischen Dichtung gilt und für alle tieferen Stufen derselben Ausnahmen
statuieren muß. Jenes klassische Jdeal, von welchem Schiller
handelt, würden diejenigen satirischen und humoristischen Dichtungen |#f0123 : 105|

erreichen, in denen das jedesmal nachgeahmte Ethos nicht ein lediglich
individuelles oder gar pathologisches wäre, sondern in seiner Art vorbildlich,
der Natur der Seele gemäß und der höchsten Vorstellung der
Menschlichkeit entsprechend; die minderwertige Beschaffenheit des durch
die Nachahmung reproduzierten Ethos würde der sichere Gradmesser für
den der einzelnen Dichtung anzuweisenden Rang bilden.


Demgemäß wäre also der Grundcharakter der Satire
nicht episch,
der Satz, daß Handlung der Gegenstand der poetischen
Nachahmung sei, träfe auch bei ihr nicht zu, wenn sie freilich auch der
Darstellung von Handlungen als eines Mittels unter anderen sich sehr
wohl bedienen kann. Das Wesentliche für diese Dichtungsart ist der
Ausdruck der Meinung des Dichters, sei es, daß er sich dazu der Darstellung
der bloßen Reflexion oder einer dieselbe zur Anschauung bringenden
Handlung bedient; künstlerisch aber und also im eigentlichen
Sinne poetisch wird solcher Meinungsausdruck erst insofern, als er, ein
Ethos des Dichters nachahmend, dasselbe wiederum in der Seele der
Hörer zu erregen vermögend ist; er erfüllt die höchste Aufgabe der Poesie,
sobald dieses Ethos geeignet ist den Adel und Reichtum der Seele zu
erhöhen.


Das Eigentümliche der Satire aber erwies sich darin, daß sie das
Ethos nicht direkt hervorbringt, wie die gnomische und die Reflexions=
Poesie, sondern indirekt, vermöge eines Vorganges in der Seele,
welcher als eine Art von Katharsis zu bezeichnen ist.


Alle echte Satire, und ebenso aller echte Humor, finden ihren
Gegenstand auf jenem Grenzgebiete zwischen dem Wahren und Falschen,
dem Guten und Schlechten, dem Nützlichen und Schädlichen, Geziemenden
und Ungeziemenden, Schönen und Häßlichen, und wie die Gegensätze
alle lauten mögen, wo durch die das Erscheinen der Gegenstände
und Ereignisse begleitenden und bedingenden Umstände das Urteil
schwankend gemacht und leicht oder doch häufig in verkehrte Richtung
gelenkt oder durch fehlerhafte Neigung und Gewohnheit überstimmt
wird. Das absolut Wahre und Gute, wie das absolut Böse und
Falsche stehen außerhalb des der Satire gehörigen Gebietes, nur wo es
durch ihm zugesellte entgegengesetzte Momente wenigstens teilweise aufgehoben
wird oder doch als thatsächlich so erscheinend vorausgesetzt werden
kann, ist es der satirischen oder humoristischen Behandlung fähig. Der
dialektische Prozeß freilich, auf Grund dessen die Entscheidung in jenen
Fällen des schwankenden Urteiles getroffen wird, gehört der theoretischen
Thätigkeit des wissenschaftlichen Denkens oder der beratenden des praktischen
Lebens an; für den Dichter muß sie als ein feststehendes Resultat |#f0124 : 106|

vorhanden sein, und was seiner Dichtung den Ursprung gibt und durch
dieselbe wiederum hervorgebracht werden soll, das ist eben die aus jener
Ueberzeugung quellende Gemütsbeschaffenheit und Seelenstimmung, das
der besondern Natur jener Ueberzeugung entsprechende Ethos. Durch
die Vorführung jener dieses hervorzurufen, ist also die Aufgabe, und
zwar, wie schon gesagt, durch indirekte Vorführung derselben.


Das kann auf zweierlei Weise geschehen:


Entweder, indem das Negative, seiner positiven Beimischung oder
des Scheines derselben entäußert, als das dargestellt wird, was es ist,
und durch diese Klarstellung das richtige Urteil über das, was als das
Positive Geltung verlangt, hervorgebracht wird.


Oder, indem umgekehrt das vorwiegend Positive von seiner negativen
Beimischung oder von dem Scheine derselben befreit und als das,
was es ist, dem Urteil kenntlich gemacht wird und zwar gerade dadurch,
daß es mit dieser negativen Beimischung auftritt, und das Unvermögen
derselben jenes Urteil zu beeinträchtigen augenscheinlich wird. Das erstere
Verfahren ist vorwiegend der Satire eigen, das letztere vorwiegend dem
Humor; doch kann weder dieser noch jene darauf verzichten, sich zugleich
auch des andern Verfahrens zu bedienen, ohne die Gefahr einseitig zu
bleiben.


Jede dieser beiden Verfahrungsweisen schließt nun aber in sich wieder
die Möglichkeit einer Umkehrung ein. Gegenüber der Austerität des Urteils,
welches an dem überwiegend Negativen nur dieses ins Auge faßt,
kann die Darstellung zu Gunsten der Gerechtigkeit und Billigkeit die
positive Beimischung hervorheben, und andrerseits gegenüber dem Optimismus,
der nichts als das Positive sehen will, zu Gunsten des Gleichgewichts
und vorurteilsloser Klarheit auf die anhaftenden negativen
Elemente hinweisen, ohne welche in der Welt der wirklichen Erscheinungen
auch dieses nicht zu denken ist. Hier werden die Rollen vertauscht sein:
das letztere ist vorwiegend das Werk der Satire, das erstere das des
Humors, jedoch so, daß sie, ganz wie im ersten Falle, einander wechselseitig
nicht entbehren können, ohne von ihrer vollen Wirkung ein Beträchtliches
einzubüßen.


Jn allen diesen Fällen handelt es sich also um einen Läuterungsprozeß,
welcher überall darin besteht, durch die Evidenz des falschen
Urteils das richtige zur Reinheit von den Trübungen herzustellen, die
es von beiden entgegengesetzten Seiten bedrohen. Es wurde aber schon
hervorgehoben, daß diese Katharsis nicht auf dem Gebiete und durch
die Mittel des logischen Denkens zu erfolgen hat, sondern daß ihr Schauplatz
das Gemüt ist, die Kräfte, durch welche sie sich vollzieht, Erregungen |#f0125 : 107|

der Empfindung und die Wirkungen, die sie erzielt, bestimmte Gemütsbeschaffenheiten,
Seelenzustände ─ Arten von Ethos. Diese Arten
von Ethos können sehr mannigfaltig sein, da sie von der Natur des
Gegenstandes abhängen, welcher in dem Dichter das ihn zur künstlerischen
Nachahmung treibende Ethos erregt. Nicht so jedoch ist es mit den
Empfindungsvorgängen beschaffen, vermittelst deren jene kathartische
Wirkung erreicht wird; diese sind vielmehr in allen Fällen der Anwendung
von Satire und Humor ein und dieselben, verschieden ist
nur das Stärkeverhältnis, in dem sie auftreten und sich miteinander
mischen.


Welches nun aber diese Empfindungsvorgänge sind, wird sich aus
der Natur der kathartischen Prozesse, bei denen sie in Wirksamkeit treten,
nachweisen lassen.


Alle vier oben entwickelten Fälle haben gemeinsam, daß sie das
Fehlerhafte, oder wie es dort allgemeiner bezeichnet wurde, Negatives,
darstellen; und zwar tritt entweder das Fehlerhafte dem Augenscheine
als das, was es ist, entgegen und erweckt dadurch die Kontrastvorstellung
des Richtigen, oder es wird als dem im Grunde Guten und Tüchtigen
anhaftend entdeckt und tritt so zu diesem selbst in Gegensatz. Jn diesen
beiden Fällen wird durch den augenfälligen Kontrast der mangelhaften
Erscheinung mit der durch dieselbe zugleich in der Vorstellung hervorgebrachten
Ueberzeugung vom Richtigen die Empfindung des Lächerlichen
erzeugt, zugleich mit ihr, aber schwächer als sie, das Wohlgefallen
an der Darstellung des Rechten.


Jn den beiden andern Fällen dagegen wird das dem Guten und
Tüchtigen anhaftende Mangelhafte zwar auch dargestellt, aber umgekehrt
so, daß trotz der erregten Kontrastvorstellung jenes rein zur Empfindung
gebracht und damit diese überwunden wird; oder die Darstellung führt
das Mangelhafte vor, aber so daß, indem es ihr gelingt daran Elemente
des Guten und Tüchtigen aufzufinden, sie den Kontrast desselben gegen
das Richtige teilweise aufhebt oder doch wenigstens mildert. Hier wird
beidemal die vorwiegende Empfindung des Wohlgefallens an der
vermittelst jener Kontrastwirkungen erweckten reineren Vorstellung des
Rechten hervorgebracht, zugleich aber mit ihr, wenn auch schwächer, die
Empfindung des Lächerlichen durch jene Kontrastvorstellungen selbst.


Beide Empfindungen sind also wirksam um die Läuterung derjenigen
Vorstellungen, Meinungen und Urteile zu vollziehen, durch deren Mitteilung
die Nachahmung des den Dichter erfüllenden Ethos geschieht.
Es ergibt sich ferner, daß die erste Gruppe, die satirischen Wirkungen,
und die zweite, die humoristischen, geeignet sind sich wechselsweise |#f0126 : 108|

zu ergänzen, und daß beide, sobald sie vereinzelt auftreten, notwendig
einseitig bleiben müssen. Die Satire für sich allein ist auf Tadel und
Vorwurf gerichtet und begünstigt die Schärfe und Schonungslosigkeit
des Urteils; der Humor für sich allein ist vom Wohlwollen eingegeben
und zur Milde geneigt, er verfällt daher leicht einer zu großen Weichheit
und einer zu starken Begünstigung des Rührenden: beide Extreme
können nur dadurch vermieden werden, daß der Satire sich genug von
dem mildernden Humor hinzugesellt, um sie vor tendenziöser Heftigkeit
zu bewahren und ihr so die künstlerische Freiheit zu erhalten, und dem
Humor genug von der schärfenden und klärenden Satire, um ihn vor
Zerflossenheit zu schützen und ihm so die künstlerische Würde zu bewahren.
Jn dem einen Falle wird damit die Empfindung des Lächerlichen,
in dem andern die des Wohlgefälligen eine Verstärkung erhalten,
immer aber werden beide zugleich in Thätigkeit gesetzt, so daß sie aneinander
einen reciproken Läuterungsprozeß vollziehen ─ eine Katharsis,
in ganz analoger Weise wie die der durch die Tragödie in Wirksamkeit
gesetzten Furcht- und Mitleidempfindungen. Was dadurch bewirkt wird,
ist die Herstellung eines wohlthuenden und heiteren Gleichmaßes der
Gemütskräfte, welches darauf beruht, daß die rechten Kräfte am rechten
Orte in der rechten Weise thätig sind ─ die Bedingung der echten
Freude, der Hedone, welche der letzte Zweck jeder Kunstwirkung ist.
Je nach der Natur des Gegenstandes der humoristisch=satirischen Dichtung
wirken dazu im höheren Maße die durch die dargestellten Mängel erregten
Empfindungen des Lächerlichen mit oder die trotz derselben obsiegenden
Empfindungen des Wohlgefallens. Das Mischungsverhältnis
beider ist also kein zufälliges oder willkürliches, sondern in einem jeden
Fall durch das Objekt einerseits und andrerseits durch die Stellung des
Subjektes zu demselben genau bestimmt. Hiervon hängt auch die Beschaffenheit
des Ethos ab, zu dessen Nachahmung die humoristisch=satirische
Dichtung sich der Wirkung jener beiden Empfindungen bedient. Eine
technische Frage aber ist es, ob es dem Dichter zweckmäßig erscheint, die
jene Empfindungen hervorrufenden Meinungen und Urteile geradehin vorzuführen
oder sie durch Erzählung einzelner Fälle anschaulich zu machen,
oder durch allegorische Analogien ihnen zur Evidenz zu verhelfen oder
endlich sich aller dieser Mittel abwechselnd zu bedienen.


Die Definition derjenigen in sich abgeschlossenen Dichtungsart, welche
man „Satire“ zu benennen pflegt, läßt sich demgemäß folgendermaßen
formulieren:


DieSatireist die Nachahmung eines Ethos vermittelst
der einander wechselsweise klärenden Empfindungen des
|#f0127 : 109|

Lächerlichen und des Wohlgefälligen, welche durch die Vorführung
des fehlerhaften Widerspieles der diesem Ethos zu
Grunde liegenden Gesinnungen, Meinungen oder Ueberzeugungen
erregt werden.


Diese Definition ist zugleich die der humoristisch=satirischen
Dichtung überhaupt,
deren vollkommenste Anwendung eben die im
engeren Sinne sogenannte „Satire“ ist, während je nach dem Vorwalten
der verschiedenen Eigentümlichkeiten der Gattung eine Menge
von Ab- und Unterarten sich neben der eigentlichen Satire als der
Hauptgattung zugehörig unterscheiden lassen.


Als Musterbeispiel möge von den Horazischen Satiren die vierte
des ersten Buches dienen („Eupolis atque Cratinus Aristophanesque
poetae“), um so mehr als hier der Charakter des Satiren schreibenden
Dichters selbst der Gegenstand des Gedichtes ist.


Der dichterische Jnhalt dieses mit vieler Feinheit ausgearbeiteten
und reich ausgestatteten Stückes, das also, was der Dichter aus dem
eigenen Jnnern dargestellt, um es nachahmend bei seinen Lesern zu erwecken,
ist das Bekenntnis des satirischen Dichters von der Gesinnungsweise,
mit der er dem Leben gegenübersteht und die ihn zum satirischen
Gedichte treibt; natürlich ist dieses Bekenntnis nicht ein lediglich individuelles,
sondern es ist die Darstellung des „Ethos“, mit welchen der
gerecht und billig Denkende, zugleich freimütig und freundlich Gesinnte
die Mängel der Freunde, die Fehler der Feinde, die Verkehrtheiten und
Verbrechen der Gesellschaft ansieht, und das die Klarheit des Urteils
darüber ihm zu einem Mittel der Sebsterkenntnis und Selbstzucht werden
läßt. Jn solcher Lebensanschauung fühlt er sich glücklich und heiter;
und wenn nun diese innere Klarheit und Harmonie ihn dazu drängt,
seinen Betrachtungen auch für Andere Gestalt zu geben, so geschieht das
mit ebensoviel Witz und Jronie in der satirischen Verspottung des Negativen,
als mit Anmut und schalkhaftem Humor in dem Hinweis auf die
auch dem entgegengesetzten Positiven anhaftenden Schwächen.


Mit der Berufung auf die Freiheit der alten griechischen und
römischen Satire beginnt er seine Verteidigung der von ihm so besonders
geliebten und seinem Geiste so verwandten Dichtungsart. Eine geschickte
Seitenwendung gibt ihm Gelegenheit zu einem witzigen Ausfall
gegen die Vielschreiber, denen er willig das Feld überläßt; selten nur
und wenig erhebt er seine Stimme, und selbst dies Wenige vermag sich
keine Gunst zu erwerben. Der Mehrzahl ist die Satire unbequem oder
gar verhaßt, weil sie, der eigenen Schuld bewußt, ihren Stachel fürchtet;
die Andern wollen von ihm als Dichter nichts wissen, weil sie in seinen |#f0128 : 110|

Satiren nichts erblicken als Schmähsucht und die Lust auf fremde Kosten
witzig zu erscheinen. Mit der feinsten Jronie fertigt er, indem er scheinbar
nur gegen diese sich verteidigt, zugleich eine andere Klasse von
Gegnern ab; indem er nämlich jenen entgegenhält, daß er auf den
Namen eines Dichters ja gar keinen Anspruch erheben könne, führt er
die Gründe, mit welchen die Beschränktheit dieser Andern ihm wohl den
Beruf dazu abzusprechen pflegte, scheinbar als seine eigenen an, so jedoch,
daß die Abgeschmacktheit derselben dem Einsichtigen sofort in die
Augen springt. Jhm fehlt das os magna sonaturum, und seine dem
Gesprächstone sich nähernde Rede bewegt sich nicht auf Schritt und Tritt
in stolz einherschreitenden Metaphern! Es gebe ja ebenso auch Leute,
welche der Komödie den Rang einer Dichtung abstreiten! Und warum?
Weil sie Dinge des gewöhnlichen Lebens in einer Form behandelt, die
doch einzig und allein denselben angemessen ist! Eine ebenso feine als
treffende Verspottung der am Aeußerlichen haftenden Kritik, welcher
das eigentliche Wesen der Poesie überhaupt ein Geheimnis ist, um wie
viel mehr die feine Sinnigkeit dieser reflektierenden Dichtungsweise, in
welcher Horaz Meister ist. Mit unübertrefflicher Schärfe kontrastiert er
dann gegen die heitere Geistesfreiheit seiner Satire das wirkliche Laster
trivialer Medisance, mißgünstiger Scheelsucht, welches in den vornehmen
Kreisen seines Roms, wie in der sogenannten guten Gesellschaft aller
Zeiten, als üppig emporgeschossene Saat geduldet und sogar gehegt wird,
in jenen klassischen Versen:


..... Absentem qui rodit amicum,
Qui non defendit alio culpante, solutos
Qui captat risus hominum famamque dicacis,
Fingere qui non visa potest, commissa tacere
Qui nequit: hic niger est, hunc tu, Romane, caveto.

und weiter in dem typischen Beispiel „freundschaftlicher Verteidigung,“
welche den liebreich in Schutz Genommenen mit dem Saft des Tintenfisches
färbt und ihn schlimmer trifft als der giftigste Haß:


Quod vitium procul afore chartis
Atque animo prius, ut si quid promittere de me
Possum aliud vere, promitto.


Mit wie liebenswürdigem Geschick führt er dann, als ob er ein
Stück seiner eigenen Jugenderziehung erzählte, das treffende Gleichnis
für die Weise seiner dichterischen Satire ein! Des Philosophen Sache
ist es die Gründe anzugeben, warum dieses zu meiden, jenes zu ergreifen
sei, der Dichter teilt seine Gesinnungen darüber mit wie ein |#f0129 : 111|

sorgsamer und kluger Vater, welcher den Sohn mit seinen Lebenserfahrungen
ausrüstet: exemplis vitiorum quaeque notando. Bald
mit scharfem Geißelschlag, bald mit dem hellen Schlaglicht des Witzes,
bald mit heiterem Spott bezeichnet er die Laster, die Verkehrtheiten, die
Jrrtümer und Schwächen in dem Treiben der Menschen rings um ihn
her, auch wohl bisweilen die er an sich selbst bemerkt, immer aber um
mit mildem Ernst und erquickendem Wohlgefallen bei dem zu verweilen,
was durch solche Betrachtung sich ihm als das Gute, Rechte, Verständige,
Tüchtige, als das Dauernde erweist. Wenn er zuvor ironisch den Namen
des Dichters von sich ablehnte, so wahrt er in dem scherzhaften Schluß
des Ganzen mit um so größerem Nachdruck sich sein gutes poetisches
Recht, wenn er auch in schalkhafter Bescheidenheit den satirischen Hang
sich als verzeihliche Schwäche anrechnen lassen will:


Hoc est mediocribus illis
Ex vitiis unum: cui si concedere nolis,
Multa poetarum veniet manus, auxilio quae
Sit mihi: nam multo plures sumus, ac veluti te
Judaei cogemus in hanc concedere turbam.


Am liebsten beobachtet Horaz das in dieser Satire angewendete
Verfahren: der Reflexion freien Zug zu lassen, indem nur hier und dort
durch Hinweis auf sachliche Zustände oder möglichst knappe Skizzierung
einzelner Fälle und Ereignisse ihr Anlehnung verschafft wird; doch finden
sich auch Stücke mit durchgeführter dialogischer, ja fast dramatisch
lebendiger Anlage, wie die siebente Satire des zweiten Buches und
namentlich die neunte des ersten, und auch von dem Mittel der Allegorie
kommt ausgedehnter Gebrauch vor, wie in der sechsten Satire des
zweiten Buches mit der entschieden allegorischen Verwendung der Fabel
von der Stadt- und Feldmaus.


Sehr nahe verwandt der Horazischen Satire, auch in der Anwendung
der Mittel, sind seine „Episteln“; sie bilden recht eigentlich das verbindende
Mittelglied zwischen der gnomischen und der satirischen Poesie,
insofern sie einerseits eine völlig ernste Haltung zu bewahren vermögen
und somit dem Dichter gestatten seine Reflexionen und damit sein Ethos
geradehin darzustellen, und insofern andrerseits ihm ebensowohl jene
indirekte Darstellungsweise vermittelst des Humors und der Satire zu
Gebote steht.


Ein vollkommenes Muster dieser Gattung sind die beiden „Episteln
von Goethe, welche zugleich in hohem Grade geeignet sind das Ganze
der im Obigen entwickelten Theorie zu bestätigen.


Wollte man sagen, der Dichter gäbe in diesen Episteln seine Meinung |#f0130 : 112|

ab über die Frage, ob und wie den schlimmen Wirkungen des schlechten
Teiles der poetischen Litteratur zu begegnen sei, so würde nicht allein
die hohe Anmut, der eigentliche Zauber dieser Dichtung dabei ganz verschwiegen
bleiben, es würde auch der rechte Sinn derselben ganz verkannt
werden. Jene Frage selbst, die er im Beginne aufwirft, und
Alles, was er in der Folge darüber sagt, ist ihm nur Mittel zu seinem
Zwecke.


Wir haben den Dichter uns gegenüber, die dichterische Gesinnung,
welche den grämlichen Tendenzen des eifernden Ernstes auf
Eindämmung und Begrenzung ihres Machtbereiches mit heiterem Antlitz
ihr Recht auf uneingeschränkte Freiheit erweist, indem sie einfach ihre
bezwingende Macht entfaltet. Jhre Gewalt zu verderben und zu veredeln
übt die Poesie aus, indem sie gefällt: so gebrauche man sie in
dieser heiteren Siegeszuversicht mit freudigem und hohem Sinne, und es
bedarf keiner weiteren ängstlichen Umschau nach Schutzvorrichtungen.
Dieses heitere Kraftbewußtsein des Meisters in dem Reiche der Phantasie
stellt sich vom ersten bis zum letzten Worte in der ersten Epistel dar,
und so wird denn auch diese Meinung derselben nicht in lehrhafter oder
polemischer Weise vorgetragen, sondern mit humoristischer Wendung tritt
dafür eine Erzählung ein, die an einem Beispiel mißbräuchlicher Anwendung,
wenn auch der denkbar harmlosesten, vor Augen führt, wie
dem Sänger, der den rechten Ton zu treffen weiß, Ohr und Herz seiner
Hörer willenlos folgen.


Dazu bringt die zweite Epistel in einem reizenden Bilde gesättigt
idyllischer Stimmung zum Gefühl, welch eine Kraft das stillbeglückte,
emsige häusliche Schaffen, namentlich im Gemüte der Frauen, den zufällig
von außen herantretenden Verführungen der Phantasie durch die
Auswüchse der Litteratur entgegensetzt.


Nach einer andern Seite verbreiten Beispiele wie Schillers „Jeremiade
und „Shakespeares Schatten“ ein helles Licht.


Jn der „Jeremiade“ ist, wie die Ueberschrift es ausspricht, der
Gegenstand der Nachahmung das Ethos elegischer Klage, welche die
litterarischen Vertreter der überwundenen Epoche über den Niedergang
ihrer goldenen Tage anstimmen. Die vortrefflich gelungene satirische
Wirkung wird dadurch erreicht, daß jedes Wort der diesen Klagen zu
Grunde gelegten Motivierung mit unübertrefflicher Schärfe so gestellt
ist, daß es auf das Entschiedenste den Widersinn erweckt und solchergestalt
mit der komischen Erscheinung des Verkehrten, Alten zugleich die
überwiegende Vorstellung des Neuen, Wahren hervorbringt.


Heftiger tritt die Satire in „Shakespeares Schatten“ auf. |#f0131 : 113|

Nachahmungsobjekt ist hier ein gemischtes Ethos: der großartige Sinn
für die echte, Herz und Geist läuternde, tragische Kunst und die ingrimmige
Verachtung ihrer vulgären Schändung; beide sprechen sich getrennt
in der Dichtung aus, das letztere durch den Mund des Berichterstatters,
das andre seinem Jnterlokutor, dem Schatten des großen
Briten, zuerteilt, in einer Reihe klassischer, zum großen Teil sprichwörtlich
gewordener Distichen. Jndem die einen einen getreuen Bericht von den
auf der entarteten Bühne herrschenden Zuständen, scheinbar ganz objektiv
und sogar völlig einverstanden damit, entwerfen, lassen sie zugleich deren
Fehler so grell hervortreten und bezeichnen ihre Verirrungen mit solcher
Prägnanz, daß sie ebensoviel dazu beitragen uns zu der wahren
Meinung und zu dem rechten Sinn hinzuweisen, als die wuchtigen Sentenzen
der andern, in denen dieselben uns unmittelbar entgegentreten.


Daß in betreff des Gebrauches der Allegorie alles, was darüber
für die Gattung der Reflexionspoesie ausgeführt ist, ebenso auch seine
Geltung für die humoristisch=satirische Gattung hat, bedarf keines weiteren
Beweises, und Gedichte wie Schillers „Teilung der Erde“ oder „Pegasus
im Joch“ bestätigen es vollauf. Beide zeigen die Mangelhaftigkeit der
Zustände und Verhältnisse, von denen sie handeln, nicht an diesen selbst,
sondern an ihnen ähnlichen Vorgängen auf und beide erreichen ihren
Zweck, das eine in der Form der Satire, das andre in der des Humors.
Jenes, welches uns das dichterische Flügelroß im unwürdigen Dienste
des bäuerischen Fuhrmannes vor Augen stellt, verweilt vorzüglich bei
der verächtlichen Schilderung des Mißbrauchs der poetischen Kraft in
der Knechtschaft ihr fremder, materieller Jnteressen und findet seine Freude
zunächst nur an der Augenfälligkeit der in der Allegorie aufs Grellste
zu Tage tretenden Widersinnigkeit desselben, bis am Schlusse die positive
Empfindung der triumphierenden Genugthuung über die volle Entfaltung
der ihrer wahren Bestimmung zurückgegebenen Kraft zur dauernden
Geltung gelangt.


Anders in der „Teilung der Erde“. Hier liegt der Schwerpunkt
auf der Kontrastierung des geschäftigen, hastig auf den eigenen Vorteil
bedachten Sinnes der Welt und der seiner selbst und der Erde vergessenen
Hingebung des Dichters an das Göttliche, Ewige. Trefflich
dient nun die Allegorie dazu, die Dissonanz sowie ihre Auflösung in
die Harmonie zur Empfindung zu bringen: es bleibt die Stimmung des
still beglückten Genügens überwiegend, aber die Forderung der Resignation
in den gezwungen Eintausch der olympischen Gemeinschaft gegen die
sämtlichen guten Dinge der Erde läßt die Empfindung des Mangelhaften
fortbestehen, so jedoch, daß, eben weil die positive Gesinnung |#f0132 : 114|

unbestrittene Siegerin ist, sie dadurch jene heiter=komische Beimischung
erhält, wodurch als Resultat die humoristische Stimmung entsteht.


Eine genaue Betrachtung der ganzen Gattung ─ schon die bei
Goethe unter der Ueberschrift „Parabolisch“ vereinigten Gedichte geben
reiche Gelegenheit dazu ─ würde ergeben, daß die beiden hier näher
bezeichneten Darstellungsweisen sich immer wiederholen, daß aber die
zuletzt besprochene die weiter umfassende und übergeordnete ist. Die
satirische Anschauungsweise behält bei aller Berechtigung, die sie besitzt,
und bei aller Lebhaftigkeit und Kraftentfaltung, deren sie fähig ist,
unter allen Umständen etwas Eingeschränktes, Einseitiges, vorwiegend
Jndividuelles, welches alles vor dem universellen Standpunkt, von dem
aus der Blick auf die Summe und die Allseitigkeit der Erscheinungen
gerichtet wird, und vor der zur Anerkennung und zur Würdigung des
Entwickelungsganges der Dinge gestimmten Sinnesart schwindet und
sich zu der milderen und positiveren Anschauungsweise des Humors
läutert.


Aus den im Obigen aufgestellten Determinationen möchten sich die
gangbaren Begriffsbestimmungen der Satire und des Humors unmittelbar
ableiten lassen. Es ergibt sich daraus die Fähigkeit der Satire sowohl
die in Blut getauchte Geißel des Hasses zu schwingen, sich zu
pathetischem Ernst zu erheben, als auch von den Waffen des Spottes
und Witzes schonungslosen Gebrauch zu machen und in leichtem Spiel
an dem unerschöpflichen Stoff der Narrheit sich zu ergötzen. Es läßt
sich daraus zeigen, wie in dem Reiche des Humors durch die tausendfachen
Mischungsverhältnisse des Ernsten und Komischen sich die Möglichkeit
des reichsten Farbenwechsels ergibt, wie ferner ihm die Eigentümlichkeit
gegeben ist, während er mit dem Tiefsten und Erhabensten
beschäftigt ist, zugleich den schärfsten Blick auf das Unbedeutendste und
Kleinste gerichtet zu halten und ebenso mit der Betrachtung des Geringsten
und Alltäglichsten den weitesten Ausblick auf das Größeste,
Dauernde und Ewige, unaufhörlich organisch zu verbinden. Es wäre
damit zugleich das Kriterium des falschen, erkünstelten Humors ausgesprochen,
der durch die bloße Nachahmung dieser äußern Kennzeichen
jene Verbindung und Versöhnung des Negativen und Positiven, des
Mangelhaften und wahrhaft Realen nur angeblich und scheinbar vollzieht,
während sie in der Sinnesart und Erkenntnis in Wahrheit nicht
vorhanden ist, wodurch dann aus dem herrlichsten Kunstmittel ein widerlich
abgeschmacktes Spielwerk wird.


Es folgt endlich aus alledem, daß selbst die glänzendste Entfaltung
des bloßen Witzes, der beredteste Erguß des Unwillens und der |#f0133 : 115|

flammende Ausbruch des Hasses noch nicht den satirischen Dichter
macht, sondern daß dem echten Dichter alles dieses nur als Mittel dienen
kann, um ─ was freilich zuerst in ihm selbst vorhanden sein muß ─
die Klarheit und Wahrheit, die Schönheit des alledem gegenüberstehenden
positiven Ethos in nachahmender Darstellnng lebendig zu verkörpern. ──────


IX.


Wenn im Vorstehenden Schillers Gedicht „Shakespeares Schatten“
eine Reihe einzelner Distichen genannt wurde, so trifft die Bezeichnung
mehr zu als es auf den ersten Blick scheinen möchte: in der That erschien
dies Gedicht, und ebenso auch die „Jeremiade“, im Xenienalmanach nicht
als ein Ganzes sondern aufgelöst in eine Folge einzelner Epigramme,
die sogar gesonderte Ueberschriften trugen.


Der Umstand ist geeignet auf das nahe Verwandtschaftsverhältnis
hinzuweisen, in welchem die Dichtungsart des Epigramms zu den
beiden zuletzt behandelten Gattungen der Poesie steht, der gnomischen
und der humoristisch=satirischen; beiden zu gleichen Teilen angehörend,
nimmt es zwischen ihnen eine verbindende Mittelstellung ein.


Mit beiden hat das Epigramm zunächst das Eine gemeinsam, daß
das Hauptmittel, durch welches es wirkt, der Gedanke ist, die Reflexion
über einen Gegenstand, einen Vorfall oder ein thatsächliches Verhältnis;
sodann aber das andre, daß es, wie jene, der Poesie nur insofern angehört,
als dieses Mittel nicht zum Zwecke gemacht wird, sondern daß
es im Dienste des unveränderlichen Hauptzweckes aller Poesie verwandt
wird eine Gesinnungsweise, eine Gemütsbeschaffenheit darzustellen, daß
es die Nachahmung eines Ethos enthalte. Das Unterscheidende des
Epigramms, wodurch seine Form sich bestimmt, liegt in dem besondern,
ihm allein eigentümlichen Verfahren jenes gemeinsame Mittel herzustellen
und ihm die der poetischen Absicht entsprechende Wirksamkeit zu
verleihen.


Ueber die Art, wie das geschieht, haben wir Aufschluß durch Lessing;
in seinen „Anmerkungen über das Epigramm“ (I) heißt es: „Das
Sinngedicht ist ein Gedicht, in welchem nach Art der eigentlichen
Aufschrift
unsre Aufmerksamkeit und Neugierde auf irgend einen
einzelnen Gegenstand erregt und mehr oder weniger hingehalten werden,
um sie mit Eins zu befriedigen.“ Dieses „nach Art der eigentlichen
Aufschrift“ schließt ein, daß die Rolle, welche in der Wirklichkeit der die
Aufschrift tragende Gegenstand spielt, im Gedichte durch den einen Haupt= |#f0134 : 116|

teil desselben übernommen werde, und so fährt nun Lessing fort: „Wenn
uns unvermutet ein beträchtliches Denkmal aufstößt, so vermenget sich
mit der angenehmen Ueberraschung, in welche wir durch die Größe oder
Schönheit des Denkmals geraten, sogleich eine Art von Verlegenheit
über die noch unbewußte Bestimmung desselben, welche so lange anhält,
bis wir uns dem Denkmal genugsam genähert haben und durch seine
Aufschrift aus unsrer Ungewißheit gesetzt werden; worauf das Vergnügen
der befriedigten Wißbegierde sich mit dem schmeichelhaften Eindruck
des schönen sinnlichen Gegenstandes verbindet und beide zusammen
in ein drittes angenehmes Gefühl zusammenschmelzen. ─ Diese Reihe
von Empfindungen, sage ich, ist das Sinngedicht bestimmt nachzuahmen;
und nur dieser Nachahmung wegen hat es in der Sprache der Erfinder
den Namen seines Urbildes, des eigentlichen Epigramms, behalten. Wie
aber kann es sie anders nachahmen, als wenn es nicht allein eben dieselben
Empfindungen, sondern auch eben dieselben Empfindungen nach
eben derselben Ordnung in seinen Teilen erwecket? Es muß über
irgend einen einzeln ungewöhnlichen Gegenstand, den es zu einer so viel
als möglich sinnlichen Klarheit zu erheben sucht, in Erwartung setzen
und durch einen unvorhergesehenen Aufschluß diese Erwartung mit Eins
befriedigen.“


„Am schicklichsten werden sich also auch die Teile des Epigramms
Erwartung und Aufschluß nennen lassen.“


Jn dieser Definition ist alles in bester Ordnung, bis auf einen
Umstand: es darf nicht übersehen werden, daß nur das technische
Verfahren
des Epigramms erklärt wird, daß aber sein eigentliches
Wesen,
vor allem seine Bestimmung undefiniert gelassen ist.
Zwar es könnte so scheinen, als ob gerade dies letztere geschehen sei
und sogar in der für die im Obigen aufgestellte Theorie erwünschtesten
Weise, wenn Lessing diese „Bestimmung“ in die „Nachahmung
einer Reihe von Empfindungen
“ setzt. Es ist immerhin eine
höchstwillkommene Bestätigung, auch nur dieser Wendung bei Lessing zu
begegnen, aber das Vergnügen daran wird doch gemindert, wenn es sich
zeigt, daß hier eine kleine Usurpation mit untergelaufen ist. Welche Reihe
von Empfindungen nachzuahmen wäre denn das Epigramm bestimmt?
Das Vergnügen der befriedigten Wißbegierde, das sich mit dem schmeichelhaften
Eindrucke des schönen Gegenstandes verbindet und das dritte
angenehme Gefühl, das aus der Verschmelzung jener beiden entsteht.
So wäre es ein wesentliches und unerläßliches Erfordernis des Epigramms,
daß der die Erwartung erregende Gegenstand an sich „schön
sei? Und wie, wenn dieser Gegenstand nun gerade ein häßlicher ist, |#f0135 : 117|

wie wohl in der überwiegenden Hälfte aller Epigramme, oder an und
für sich gleichgültig und erst durch den damit verbundenen Aufschluß
interessierend, wie bei dem größten Teile der übrigen? Wo bleibt der
schmeichelhafte Eindruck des schönen sinnlichen Gegenstandes“ und
wo „jenes dritte angenehme Gefühl“, das aus jenem und der
befriedigten Wißbegierde zusammenschmelzen soll? Man sieht, es bleibt
eben nur das letzte, die befriedigte Wißbegierde, übrig. Zwar vergißt
Lessing es nicht, dem entsprechend nun wieder eine Einschränkung hinzuzufügen,
wenn er abschließt: „das Epigramm muß über irgend einen
einzeln ungewöhnlichen Gegenstand, den es zu einer soviel als
möglich sinnlichen Klarheit zu erheben sucht, in Erwartung setzen und
durch einen unvorhergesehenen Aufschluß diese Erwartung mit Eins befriedigen“;
aber damit erscheint ja nun auch zuletzt jene Erwartung nur
als ein vorbereitendes Mittel um die einzige Wirkung des Epigramms,
die Befriedigung der Wißbegierde hervorzubringen, und es wird lediglich
das dem Epigramm eigentümliche Verfahren für die Erreichung
dieses Zweckes angegeben. Wo bleibt aber die Bestimmung seines Wesens?
wo der Nachweis seiner Zugehörigkeit zur Poesie als schöner Kunst? wo
endlich die Herleitung jenes Verfahrens als einer notwendigen Konsequenz
seiner Bestimmung?


Es kann kein Zweifel sein, daß sowohl das Vergnügen an dem die
Erwartung erregenden Gegenstande als das der befriedigten Wißbegier
an dem Aufschlusse sowie die Mischung aus beiden nur sekundäre
Wirkungen sind, die aus der Natur der aufgewendeten Mittel sich ergeben,
daß aber über allen diesen Annehmlichkeiten des Epigramms
diejenige durch dasselbe hervorgebrachte Freude steht, durch die es seinen
Rang in der schönen Kunst behauptet.


Auch Lessing weist diejenigen Dichter „aus dem Register der Epigrammatisten,“
welche „bloße allgemeine Sittensprüche,“ „erbauliche
Disticha“ geschrieben haben, und „noch weniger,“ fährt er fort, „werden
diejenigen darin aufzunehmen sein, welche andere scientifische Wahrheiten
in die engen Schranken des Epigramms zu bringen versucht
haben. Jhre Verse mögen gute Hülfsmittel des Gedächtnisses abgeben,
aber Sinngedichte sind sie gewiß nicht.“ Die Erklärung des Batteux,
„nach welcher das Epigramm ein interessanter Gedanke sein soll, der
glücklich und in wenig Worten vorgetragen worden,“ genügt ihm durchaus
nicht. „Denn sind z. E. die medizinischen Vorschriften der Schule
von Salerno nicht eines sehr interessanten Jnhalts? Und könnten sie
nicht gar wohl mit ebenso vieler Präcision und Zierlichkeit vorgetragen
sein, als sie es mit weniger sind? Und dennoch, wenn sie auch Lucrez |#f0136 : 118|

selbst abgefaßt hätte, würden sie nichts als ein Beispiel mehr sein, daß
die Erklärung des Batteux viel zu weitläuftig ist und gerade das vornehmste
Kennzeichen darin fehlt, welches das Sinngedicht von allen andern
kleinen Gedichten unterscheidet.“


Gewiß unbestreitbar richtig! Aber ist es der Beweisgrund Lessings
ebenso? Nur deswegen sind die bloß „scientifischen Wahrheiten“ von
dem Epigramm ausgeschlossen, weil sie nur den Aufschluß geben, ohne
die Erwartung zuvor erregt zu haben? Und wenn das nun geschähe,
wenn es sogar gelänge diese Erwartung durch die sinnlich anschauliche
Vorführung eines Gegenstandes oder Ereignisses rege zu machen, und
wenn nun die wissenschaftliche Erklärung hinzuträte, würde dann ein
wirkliches Epigramm entstanden sein? Nach der Lessingschen Erklärung
allerdings, und wenn auch nichts gegeben wäre als z. B. die kurz gefaßte
Erzählung von einer seltenen und schweren Erkrankung und die
Angabe eines neu gefundenen, souveränen Spezifikums dagegen, oder die
Darstellung eines wichtigen astronomischen oder kosmischen Vorganges
und seine Erklärung durch die präcis gefaßte Angabe des einfachen, ihm
zu Grunde liegenden Gesetzes.


Die Abweisung lediglich moralischer oder wissenschaftlicher Aufschlüsse
aus dem Epigramm, so unbedingt notwendig sie an sich ist, erfolgt bei
Lessing nur gelegentlich und unter falscher Legitimation, während sie aus
den im Wesen der Sache liegenden Gründen hergeleitet werden mußte.


Kehren wir zu dem Ausgangspunkt zurück, auf welchen der Name
des Epigramms hinweist und von dem Lessings Erklärung aussetzte.


Er betrachtet als das Grundverhältnis, aus welchem das Epigramm
entstanden und welches bei seiner ganzen Entwickelung immerfort maßgebend
geblieben ist, die durch ein Monument erregte Erwartung und
den durch dessen Aufschrift gegebenen Aufschluß: nun wohl! ist denn die
Bestimmung des Monumentes damit erfüllt, daß wir erfahren, was es
bedeutet? oder auch damit, daß wir uns veranlaßt fühlen nun weiter
darüber bei uns selbst Erwägungen anzustellen? Jst nicht vielmehr bei
jedem rechten Denkmal beides nur Vorbedingung und Mittel für seinen
eigentlichen Zweck, den Beschauer in eine Seelenstimmung, eine Gemütsverfassung
zu versetzen, für die der bildende Künstler alle seine Kraft
eingesetzt hat? Und das ist es, was auch allein dem Epigramm Leben
und Seele zu geben vermag: vermittelst der Erregung von Erwartung
und durch überraschenden Aufschluß ein Aperçü zu bewirken, einen Gedanken
zu wecken, eine Reflexion anzuregen, welche vermögend sind die
Gemütskräfte in Thätigkeit zu setzen, ein Seelenethos nachahmend zu
erzeugen. Für den Mangel desselben entschädigt kein Scharfsinn, |#f0137 : 119|

keine „scientifische“ Bedeutung, keine Verskunst, keine bloß rationale
Tendenz, sei sie moralisch, politisch oder religiös; wo diese Wirkung
fehlt, fehlt das wesentliche Erfordernis der Kunst.


Die Aufgabe ist also, einen einzigen Gedanken, eine einzige Beobachtung
ins Licht zu setzen und mit Aufbietung der stärksten dazu geeigneten
Mittel den Hörer zu veranlassen dabei zu verweilen, um durch
dies Verfahren in ihm denselben Gemütszustand hervorzubringen, mit
dem jener Gedanke, jene Beobachtung den Dichter erfüllte oder aus dem
sie bei ihm entstanden. Nur solche Gedanken, die dazu die Kraft haben,
sind also epigrammatisch verwendbar. Durch die Notwendigkeit sie ihnen
zu erhalten, ist nun das technische Verfahren für das Epigramm vorgezeichnet.
Der Gedanke darf sich nicht an den logischen Verstand
wenden, sondern er soll auf die Empfindungskräfte wirken: er muß also
womöglich durch unmittelbare Anschauung sich mitteilen. Es soll ferner
nur dieser eine Gedanke wirksam werden: es muß also alles sorgfältig
ausgeschlossen werden, was einen zweiten Gedanken, ja auch nur eine
Nebenbeziehung aufkommen lassen könnte. Auf einen einzigen Punkt
soll die Aufmerksamkeit gelenkt und hier festgehalten werden: es muß
also durch die stärkste sinnfällige Hervorhebung der Einseitigkeit der
Anschauung eine Spannung hervorgerufen und diese Spannung durch
möglichst vollständig befriedigenden Aufschluß gelöst werden. Daraus
ergeben sich alle Forderungen der Form des Epigramms: seine Zweiteiligkeit,
die in Erwartung und Aufschluß, Spannung und
Lösung zu bestehen hat, die sinnlich=gegenständliche Beschaffenheit
des ersten dieser Teile, endlich die unerläßliche Notwendigkeit der
höchstmöglichen Kürze. Ueber allen diesen Forderungen aber steht
als die höchste, daß das Epigramm die Mimesis eines Ethos sei,
sonst ist es trotz der sinnlichsten Vorführungen des die Spannung hervorrufenden
Gegenstandes, trotz der überraschendsten Lösung und trotz des
überzeugendsten Gedankens nimmermehr ein Gedicht.


So ist die Wahrheit des Gedankens in dem folgenden Herderschen
Epigramm unbestreitbar:


Wie der köstlichste Wein von seinem Boden Geschmack nimmt,
Saft und Farbe, so sind wir Gewächse der Zeit:
Dies kocht reifer die Sonne, dem gibt sie süßere Anmut,
Aber des Bodens Natur ändert nicht Sonne noch Zeit.


Doch das angebliche Gedicht begnügt sich diese Wahrheit und ihre
Aehnlichkeit mit dem erwähnten Naturverhältnis einfach zu konstatieren,
während die Empfindung leer ausgeht; daher ist der Eindruck der der |#f0138 : 120|

Trockenheit und Plattheit, weil die metrische Form mit dem verstandesmäßigen
Jnhalt im Widerspruch steht.


Ebenso in dem andern Herder'schen, welches „Der Abglanz
überschrieben ist:


Hinter Wolken die Sonne zu sehn, gibt trügliche Lichter;
Ohne Wolken sie sehn, blendet und stumpft das Gesicht.
Also schaue du sie hienieden im ruhigen Abglanz;
Thaten lehren uns mehr als ein bezaubernder Blick.


Jst es nicht, als ob man das matte, kahle Lemma läse zu dem
herrlichen Monologe im Beginne des zweiten Faust?


Hinaufgeschaut! ─ Der Berge Gipfelriesen
Verkünden schon die feierlichste Stunde;
............
Sie tritt hervor! ─ und leider schon geblendet
Kehr' ich mich weg, vom Augenschmerz durchdrungen.
............
So bleibe denn die Sonne mir im Rücken!
Der Wassersturz, das Felsenriff durchbrausend,
Jhn schau' ich an mit wachsendem Entzücken.
............
Allein wie herrlich, diesem Sturm ersprießend,
Wölbt sich des bunten Bogens Wechseldauer,
............
Der spiegelt ab das menschliche Bestreben.
Jhm sinne nach und du begreifst genauer:
Am farb'gen Abglanz haben wir das Leben.


Auch bei Goethe hat der Abschluß etwas Epigrammatisches; aber
das gesamte Bild und der daraus hervorspringende Gedanke ist für das
Epigramm unverwendbar, nicht weil ihm die Einheit fehlt ─ diese
ist im strengsten Sinne vorhanden ─ sondern weil durch die Einseitigkeit,
welche das Epigramm gebieterisch verlangt, seine ganze mächtige Wirkung
auf die Empfindung, durch die allein er poetisch ist, geraubt werden muß.


Freilich fehlt den beiden citierten Epigrammen noch mehr: sie ermangeln
zugleich in ihrem ersten Teile der Anschaulichkeit und Gegenwart
der sinnlichen Darstellung; aber auch wo diese in weit höherem
Maße gelungen ist, zeigt sich in Herder's Epigrammen jener entscheidende
Mangel oft genug. Als Beispiel diene das folgende:


Reformation.

„Wären der Teufel so viel auch als hier Stein' auf den Dächern,
Dennoch wagen wir es!“ Also sprach Luther und ging
|#f0139 : 121|

Vor den Kaiser. Gelang's? Jch zweifle. Der Teufel an Höfen
Waren mehrere, fein wie der apulische Sand.
Lehren bessertest du, nicht Sitten. Sitten zu bessern,
War der selber zu schwach, der auch die Teufel besiegt.


Der Gedanke des Aufschlusses ist schief; aber wenn er auch richtiger
wäre, er enthält lediglich verstandesmäßige Kritik, nichts von Ethos und
ist gänzlich unpoetisch.


Herder ist im Epigramm als Dichter entschieden unglücklich gewesen,
und auch als Kritiker ist es ihm nicht viel besser ergangen. Jn seinen
Anmerkungen über die Anthologie der Griechen“ versucht
er es Lessing zu bekämpfen, und es finden sich darin Stellen, welche
die Erwartung erregen, er werde gerade an dem Punkte die verbessernde
Hand anlegen, wo Lessing eine Lücke gelassen hatte. So wenn es im
ersten Abschnitt heißt: „Die Seele des griechischen Epigramms ist Mitempfindung,“
und wenn dieser Gedanke, zwar nicht logisch ausgeführt,
aber wortreich umschrieben wird. Aber gleich darauf folgen Aussprüche,
die von dem Verständnis des Epigramms weit abliegen: „Wie
leicht und bald kann eine Geschichte oder Fabel, die die Runde und
Kürze des Epigramms hat, auch der Gestalt nach ein solches werden!
Man darf die Geschichte nur etwa als Jnschrift auf den Ort der Begebenheit
beziehen und in ihr eine allgemeine Lehre anschaulich
machen,
so ist die Fabel Epigramm und das Epigramm eine
Fabel.
“ Darin liegt der doppelte, schwere Jrrtum, daß die Grenzen
zweier grundverschiedener Dichtungsarten verwirrt werden und
beiden fälschlich ein lehrhafter Jnhalt zugeschrieben ist. Derselbe Fehler
und dazu große Undeutlichkeit der Fassung ist in der am Schlusse von II,
1 gegebenen, vorläufigen Definition der „Aufschrift“ vorhanden: „Als
Aufschrift betrachtet wird also das Epigramm nichts als die poetische
Exposition
eines gegenwärtigen oder als gegenwärtig gedachten Gegenstandes
zu irgend einem genommenen Ziel der Lehre oder
der Empfindung.


Mit diesem Satze, daß das Epigramm in seiner Urgestalt, und
also in seinem Wesen (vgl II, 4) „einfach darstellender Gattung“
sei, „nur Exposition des Gegenstandes, der durch sich selbst
belehre oder rühre,
“ meint Herder an der entscheidenden Stelle
Lessings Lehre von der Zweiteiligkeit des Epigramms, das immer aus
Erwartung und Aufschluß sich zusammensetzen müsse, siegreich bestritten
zu haben. Seine ganze Lehre vom Epigramm und die ─ übrigens sehr
vage ─ Einteilung desselben wurzelt in dieser Theorie. Vier seiner
sieben Arten des Epigramms gehören der so von ihm definierten |#f0140 : 122|

Gattung an: 1) die genannte darstellende; 2) das Exempel-Epigramm,
welches derselben nur „eine schlichte Anwendung hinzufügt;“ 3) das
schildernde, welches „ein Kunstbild in und zu einem lichten Sehepunkt
ausmalt;“ 4) das leidenschaftliche, welches „einen Gegenstand der
Empfindung gleichfalls bis zu einem höchsten Punkt des anschauenden
Genusses oder der gegenwärtigen Situation erhöhen will.“


Alle diese vier Herderschen Arten des Epigramms sind nach
Lessing schlecht, d. h. überhaupt gar keine Epigramme; bei Herder
selbst sind sie sehr zahlreich; wenn er sie aber in der griechischen Anthologie
zu erkennen meinte, so hat er sich und andre getäuscht. Sechs
Beispiele aus derselben dienen ihm, die „Grundform“ und das
Wesen dieser Dichtung, also sein „darstellendes“ Epigramm zu erweisen:
sie alle zeigen das Gegenteil seiner Theorie!


Hören wir ihn: „So sind die Epigramme, die Geschenke an die
Götter begleiten, meistens simple Darstellungen dessen, was man dem
Gotte weiht; etwa mit einer Ursache, warum man's ihm weihte, oder
mit einem Wort des Dankes, des Wunsches, der Bitte, der Freude.
War dies nicht alles, was der Sterbliche dem Unsterblichen sagen
konnte?“


„„Diesen krummen Bogen und diesen Köcher hängt Promachus dem
Phöbus zum Geschenk auf. Des Köchers Pfeile flogen in der Schlacht
umher und trafen die Herzen der Krieger, ihnen ein bitteres Geschenk.““


„„Dem Glaukus und Nereus, der Jno und dem Melikertes, dem
Zeus der Fluten und den samothrakischen Göttern weiht Lucilius, im
Meere gerettet, sein Haupthaar hier. Weiteres hat er nichts mehr.““


„„Diese jugendlich=blühende Locke seines Hauptes und dies Milchhaar,
den Zeugen kommender männlicher Jahre, weiht Lykon dem
Phöbus, sein erstes Geschenk. Möge er ihm auch einst sein graues Haar
so weihen!““


„Was fehlt diesen Zuschriften an Kürze, Würde und rührender
Einfalt? Wem sie mit ihrer simpeln Exposition nichts sagen, was werden
sie ihm durch vieles Wortgepränge zu sagen vermögen?“


Diese sicherlich nichts mehr. Aber ebenso sicher sagen sie, so wie
sie in der That lauten, mehr und etwas ganz anderes als Herder nun
einmal in ihnen finden will, denn er hat hier wirklich zum Teil das
Offenbare nicht sehen wollen, zum Teil das ihm nicht Passende einfach
fortgelassen.

|#f0141 : 123|


Das erste Beispiel, dem Mnasalkas angehörig, lautet in der Anthologie
(ed. Dübner. VI, 9) folgendermaßen:


Σοὶ μὲν καμπύλα τόξα καὶ ἰοχέαιρα φαρέτρη,
δῶρα παρὰ Προμάχου, Φοῖβε, τάδε κρέμαται·
ἰοὺς δὲ πτερόεντας ἀνὰ κλόνον ἄνδρες ἔχουσιν
ἐν καρδίαις, ὀλοὰ ξείνια δυσμενέων.


Ein Epigramm im vollen Sinne Lessings, wenn es je eins gab!


Dir hat des Bogens Krümme, den Köcher, den pfeile=gewohnten,
Phöbus, als Weihegeschenk Promachus niedergelegt.

Nur den Bogen und seinen Köcher hat der Bogenschütze dem Fernhintreffer
geweiht? Und wo ließ er die Pfeile? Die Lösung sagt es uns,
nicht nur durch die unerwartete Wendung überraschend, sondern zugleich
von des Mannes Mut, Gesinnung und Kraft ein Zeugnis ablegend,
der hier sich dem Gotte genaht:


Aber die Pfeile selbst, die schlachtdurchsausenden, stecken
Männern im Herzen, ein Tod=bringend Geschenk für den Feind.

Und was hat Herder aus diesem eminent epigrammatischen Aufschluß
gemacht? „Des Köchers Pfeile flogen in der Schlacht umher
und trafen
die Herzen der Krieger, ihnen ein bittres Geschenk!“
Kann man durch eine angeblich wörtlich=genaue Uebersetzung ärger entstellen?



Noch schlimmer liegt die Sache bei dem dritten Epigramm; dieses
lautet (ibid. VI, 198):


Ὥριον ἀνθήσαντας ὑπὸ κροτάφοισιν ἰούλους
κειράμενος, γενύων ἄρσενας ἀγλα ΐας,
Φοίβῳ θῆκε Λύκων, πρῶτον γέρας· εὔξατο δ'οὕτως
καὶ πολιὴν λευκῶν κεῖραι ἀπὸ κροτάφων.
Τοίην άλλ' ἐπίνευε, τίθει δέ μιν. ὡς πρό γε τοὶον,
ὥς αὖτις πολιῷ γήραϊ νιφόμενον.


Hier hat Herder die ersten beiden Distichen zwar sehr ungenau, doch
dem Sinne nach richtig übersetzt: aber das dritte, den Aufschluß,
durch den das Epigramm erst entsteht, hat er einfach fortgelassen!
Die Schlußwendung ist sogar eine doppelte, und dieses Epigramm des
Antipater, statt von „rührender Einfalt“ und „simpler Kürze“ zu sein,
hat vielmehr den Fehler, daß der Ausdruck sowie der ganze Gedanke
gekünstelt ist, und statt daß es „bloße Exposition“ enthielte, ist offenbar
die Exposition nur um der zwiefachen Pointe willen da. Es möchte
wiederzugeben sein:

|#f0142 : 124|

Als dem Lykos zuerst entsproßt war unter den Schläfen
Jugendlich=männliche Zier, schor er den glänzenden Flaum,
Weihte als Erstlingsgeschenk ihn Phöbus und betete: „Lass' einst
Also mich weißes Gelock scheeren vom bleichenden Haupt!“
Solches gewähre: doch so, daß er jetzt dem Künftigen gleiche,
Daß er der Jetzige sei, künftig vom Alter beschneit.

Das zweite, dem Lucian angehörende Epigramm (VI, 164) ist zwar von
Herder vollständig wiedergegeben, auch dem Sinne nach richtig übersetzt,
aber wieder ungenau und gerade an der entscheidenden Stelle derart,
daß es matt und farblos geworden, und das epigrammatische Acumen
abgestumpft ist:


Γλαύκῳ καὶ Νηρῆϊ καὶ Ἰνώῳ Μελικέρτῃ,
καὶ βυθίῳ Κρονίδῃ καὶ Σαμόθρᾳξι θεοῖς,
σωθεὶς ἐκ πελάγους Λουκίλλιος ὧδε κέκαρμαι
τὰς τρίχας ἐκ κεφαλῆς· ἄλλο γὰρ οὐδὲν ἔχω.


„Euch .... weiht Lucillius, im Meere gerettet, sein Haupthaar hier?“
Damit ist freilich das Epigramm verwischt, das weit entfernt von der
„Würde eines einfachen, rührenden Denkmals“, vielmehr mit offenbarer
Jronie seine Pointe in dem komischen Gegensatz hat zwischen der pomphaft
gehäuften Anrufung so vieler Götter in dem ersten, die Erwartung
erregenden Teil und der Geringfügigkeit des ihnen dargebrachten Weihgeschenks,
von dem der Aufschluß berichtet. Der aus dem Schiffbruch
Gerettete hat nichts zu geben, als was ihm allein geblieben, die Haare
vom Kopfe:


Glaukos und Nereus und der Jno Sohn Melicertes
Und dem Kroniden der Flut und Samothraces Kabir'n
Schor Lucillius, ich, aus dem Meere gerettet, zur Weihe
Mir die Haare vom Kopf: anderes habe ich nichts.

Man kann außer diesem ironischen Gegensatz noch die weitere humoristische
Wendung darin entdecken: wenn ihr vielen und großen Schutzgötter
der Seefahrer mich nicht anders retten konntet, als indem ihr
mir alles nahmt bis auf die Haare auf dem Kopf, so nehmt denn auch
mit diesen vorlieb. Jn der Erwartung die Erfüllung des alten, frommen
Brauchs, als Aufschluß die harmlos spottende Lösung: wieder die genaueste
Bestätigung des Lessingschen Formgesetzes!


Ganz dasselbe gilt von den ersten drei Beispielen Herders, die alle
ebenso laut für Lessing als gegen Herder zeugen. Alle drei sind Grabschriften,
zwei angeblich der Sappho und die dritte die berühmte des
Simonides auf die bei den Thermopylen gefallenen Spartaner. Hier |#f0143 : 125|

hat Herder den Wortverstand richtig und genau wiedergegeben, aber die
epigrammatische Bedeutung dieser kleinen Gedichte ist ihm entgangen.


„Dies ist der Timas Asche. Vor der Hochzeit gestorben, ging sie
ins dunkle Brautbett der Proserpina hinunter. Alle Mädchen von
gleichem Alter schnitten, da sie tot war, sich die liebliche Locke des
Hauptes ab mit neugeschliffenem Stahl.“ Für Herder ist das einfache
Darstellung des Herganges: „das Grab der Braut“ setzt er hinzu, „wird
durch diese simple Exposition mehr gefeiert als durch lange Lobsprüche
von Sentenzen“. „Alle ihre Gespielinnen fühlen das Traurige dieses
Falles und weihen voll mitleidigen Schreckens ihrer toten Freundin den
Schmuck ihrer jungfräulichen Jugend. Statt sich zu ihrem Feste zu
krönen, liegt jetzt die Locke auf ihrem Grabe.“


So soll man also die Worte der Dichterin als bare Münze nehmen?
als die Erzählung eines wirklichen Vorfalls? Wo ist dergleichen jemals
vorgekommen oder denkbar gewesen? Es müßte denn die Verstorbene
eine Königstochter gewesen sein; aber dann müßten wir von diesem Umstande
erfahren, und der Vorfall würde dadurch eine ganz andre Färbung
erhalten, außerdem würde doch auch selbst dann nur von ihren Gespielinnen
die Rede sein können. Aber alle Gleichaltrigen brachten
dieses Opfer? Man mag die Sache hin und her wenden, man erhält
keinen poetischen Sinn: denn etwas handgreiflich Uebertriebenes, als
historische Wahrheit mitgeteilt, erweckt nicht die Empfindung, sondern
löscht sie aus.


Wie anders aber, wenn man die Verse als das auffaßt, was sie
sind, als epigrammatisches Gedicht! Sie sind gedacht als „Aufschrift“
auf dem Denkmal der Verstorbenen und nehmen den Vorgang,
der an dieser Grabstätte sich zutrug, zum Ausgangspunkt. Wem aber
tauchte, auch ohne daß er es mit Augen sähe, durch das Gedicht selbst
nicht sofort das Bild dieser Scene vor der Seele auf? Wir meinen
einige jugendlich blühende Mädchengestalten in trauernder Haltung zu
erblicken, im Begriff, vom Schmuck des Hauptes eine Locke zu trennen,
um sie der Verstorbenen zu weihen, der alten Sitte der Griechen gemäß
den verstorbenen Freund zu ehren. An diese unmittelbar ─ und dem
Griechen, der dergleichen täglich vor Augen hatte, ganz notwendig ─
sich darbietende Vorstellung knüpft das Epigramm der Sappho an,
indem es den Wert der so traurig Dahingerafften und den Schmerz
um ihren Verlust dadurch erhöhend darstellt, daß es der die Erwartung
erregenden Ankündigung ihres vorzeitigen Todes als Lösung die hyperbolische
Deutung
jenes die Bestattung begleitenden Vorganges hinzufügt,
als ob über solchen Raub des Todes das ganze Volk von Mit= |#f0144 : 126|

gefühl ergriffen sein müßte: nicht einzelne Gespielinnen, sondern alle
Altersgenossinnen
trennen mit hellgeschliffenem Stahl das liebliche
Haar vom Haupte und bringen es ihr dar (cf. VII, 489):


Τιμάδος ἄδε κόνις, τὰν δὴ πρὸ γάμοιο θανοῦσαν
δέξατο Περσεφόνας κυάνεος θάλαμος,
ἇς καὶ ἀποφθιμένας πᾶσαι νεοθᾶγι σιδάρῳ
ἅλικες ἱμερτὰν κρατὸς ἔθεντο κόμαν.


Aehnlich, wenn auch noch einfacher, ist das Verhältnis in dem
andern der Sappho beigelegten Epigramm (cf. VII, 505):


Τῷ γριπεῖ Πελάγωνι πατὴρ ἐπέθηκε Μενίσκος
κύρτον καὶ κώπαν, μνᾶμα κακοζο ΐας.


Der epigrammatische Gegensatz besteht hier zwischen der Dürftigkeit
und Geringfügigkeit des vorgestellten ─ nicht wirklich vorhandenen ─
Grabschmuckes, eine Reuse und ein Ruder, und der Jdee eines „Denkmales“;
dieses „Denkmal“ entspricht in seiner Unscheinbarkeit dem
Leben dessen, den es ehrt: μνᾶμα κακοζο ΐας ─. Dadurch aber wird
das Epigramm, über die Enge des erwähnten Falles hinaus, typisch für
jedes ähnliche Verhältnis.


Endlich, bei des Simonides (VII, 249):


Ὦ ξεῖν̓, ἄγγειλον Λακεδαιμονίοις ὅτι τῇδε
κείμεθα, τοῖς κείνων ῥήμασι πειθόμενοι.


spricht Herder selbst von dem „scharfsinnigen Schluß, der durch
jedes ausschmückende Beiwort entnervt werden würde“. Aber warum?
Weil die ganze Wucht des Epigramms hier in der nahen Zusammenrückung
und scharfen Gegenüberstellung der beiden Vorstellungen beruht:
der Tod und der Gesetzesgehorsam, bei einem Spartaner eins dem
andern eng verbunden, Erwartung und Aufschluß hier in die beiden
Hälften eines Pentameters zusammengedrängt.


Mit der Grundlage von Herders Argumentation fällt auch seine
ganze künstliche Einteilung des Epigramms; das von Lessing aufgestellte
Gesetz der epigrammatischen Form bleibt unantastbar bestehen.
Das dunkle Gefühl, daß mit diesem Formgesetz das innere Wesen der
Dichtungsart noch nicht ausgesprochen war, hat Herder zu seiner Polemik
dagegen getrieben, aber er verfehlte dabei von vornherein den für den
Angriff allein offenstehenden Weg.


Eine im Wesen der epigrammatischen Dichtung begründete Einteilung
ergibt sich aus ihrer oben bezeichneten Mittelstellung zwischen |#f0145 : 127|

der gnomischen und satirischen Gattung: sie kann sich sowohl der einen
als der andern vorzugsweise zuneigen. Die das Ethos erzeugende Reflexion
oder Beobachtung kann entweder direkt ausgesprochen sein,
als Lösung der nach der betreffenden Seite hin erregten Spannung:
dann entsteht der Sinnspruch, durch den das Epigramm der gnomischen
Dichtung verwandt ist. Oder der Gedanke wird indirekt durch
den komischen Kontrast zwischen Erwartung und Aufschluß hervorgerufen:
dann entsteht das satirisch=humoristische oder auch einfach
komische Epigramm. Weitere Verschiedenheiten möchte es im Epigramm
nicht geben, es sei denn, daß es seine Natur in wesentlichen
Stücken ändert und damit in andere Dichtungsarten überschlägt; von
solchen Pseudo-Epigrammen soll im Weiteren noch gehandelt werden.
Die übliche Einteilung nach dem Jnhalt, wie z. B. in der palatinischen
Anthologie, ist lediglich äußerlicher Natur; in jeder dieser Abteilungen,
seien es nun Grabschriften oder Dedikationen, Liebesepigramme oder
Trinksprüche, darstellende (epideictica) oder ermahnende (protreptica)
Epigramme, Aufschriften auf Statuen oder andere Kunstwerke, können
naturgemäß beide Hauptarten vertreten sein, und beide kommen thatsächlich
überall vor.


Nur insofern ist in der Behandlungsweise ein durchgehender Unterschied
vorhanden, als jener erste, die Erwartung erregende Teil des
Epigramms entweder die Erzählung eines wirklichen oder als wirklich
angenommenen Vorfalls, ebenso die Darstellung eines konkreten Dinges
enthalten oder auch die Reflexion durch die unmittelbare, abstrakte Bezeichnung
eines Spannung hervorrufenden Gedankens in Bewegung setzen
kann. Beide Arten des Verfahrens können sowohl in der gnomischen
als in der satirisch=humoristischen Gattung stattfinden: doch hat naturgemäß
in dieser jene erstere, in jener die letztere den Vorzug.


Jn allen Fällen aber wird der hauptsächlich durch das Epigramm
erzeugte geistige Vorgang, die zur Nachahmung des Ethos berufene Reflexion,
ein Werk der anschauenden Kraft sein müssen, eine durch den
Augenschein unmittelbar und fast spontan sich einstellende Ueberführung;
niemals darf sie als ein abstraktes Resultat logisch=dialektischer Schlußfolgerung
sich ergeben. Wie kann das geschehen auch bei abstrakter
Fassung der beiden Teile des Epigramms? Dadurch, daß es sich allenthalben
und ausnahmslos des Mittels der Vergleichung bedient: auf
dem Vergleich durch den Augenschein beruht überall jenes Grundverhältnis
von Erwartung und Aufschluß, und zwar so, daß entweder
in dem offenbar Unähnlichen das überraschend Aehnliche aufgezeigt
wird, oder in dem unzweifelhaft Aehnlichen handgreiflich |#f0146 : 128|

und unerwartet das völlig Verschiedene. Statt der allgemeinen
Begriffe des Aehnlichen und Unähnlichen können ebenso die engeren des
Zusammenstimmenden und Widersprechenden, des Passenden und Unpassenden
oder gleichartige, verwandte Gegensätze eintreten. Was für
ein weites Feld demzufolge in dieser Dichtungsart, gerade wie in der
gnomischen und satirischen, die Anwendung jeder Art von Bildern,
Symbolen
und allegorischen Einkleidungen haben muß, liegt auf
der Hand. Daß dies Verhältnis nicht immer gleich deutlich hervortritt,
liegt nur daran, daß die Sprache des täglichen Lebens selbst mit unzähligen
derartigen Elementen angefüllt ist, welche fast ohne alles Bewußtsein
von ihrer ursprünglich bildlich=allegorischen Natur fortwährend
gleich abstrakten Wendungen gebraucht werden. Durch geistreich=nachdrückliche
Anwendung restituiert ihnen der Dichter ihr ursprüngliches
Recht. Als Beleg mögen einige Beispiele dienen, die den Beweis überflüssig
machen. So die Schillerschen:


Jnneres und Aeußeres.

„Gott nur siehet das Herz.“ ─ Drum eben, weil Gott nur das Herz sieht,
Sorge, daß wir doch auch etwas Erträgliches sehn.

Die Uebereinstimmung.
Wahrheit suchen wir beide: du außen im Leben, ich innen
Jn dem Herzen, und so findet sie jeder gewiß.
Jst das Auge gesund, so begegnet es außen dem Schöpfer,
Jst es das Herz, dann gewiß spiegelt es innen die Welt.


Mitteilung.

Aus der schlechtesten Hand kann Wahrheit mächtig noch wirken;
Bei dem Schönen allein macht das Gefäß den Gehalt.


Das Belebende.

Nur an des Lebens Gipfel, der Blume, zündet sich Neues
Jn der organischen Welt, in der empfindenden an.


oder das Schiller-Goethesche:


Wie verfährt die Natur, um Hohes und Niedres im Menschen
Zu verbinden? Sie stellt Eitelkeit zwischen hinein.

und das folgende Goethesche, welches ganz auf den bedeutungsvollen
Unterschied zwischen dem im gewöhnlichen Leben ganz identisch gebrauchten,
rein abstrakten Ausdruck und dem entsprechenden Verbalbegriff
gebaut ist:

|#f0147 : 129|

Schadet ein Jrrtum wohl? Nicht immer, aber das Jrren,
Jmmer schadet's; wie sehr, sieht man am Ende des Wegs.


Allenthalben tritt in die Reflexion, sei es auch nur durch den Ausdruck,
die konkrete Welt und verleiht dem anzustellenden Vergleich die
Anschaulichkeit, bald in dem einen, bald im andern Hauptteile des Epigramms
das Bild eines Gegenstandes, eines Verhältnisses, einer Handlung
andeutend. So fast durchweg z. B. in den Schillerschen „Votivtafeln“,
aus denen die obigen Beispiele angeführt wurden; nur in
sehr wenigen ist Gedanke wie Ausdruck rein abstrakt geblieben, fast
ausschließlich nur da, wo der Dichter sich der ihm fast formelhaft zur
Gewohnheit gewordenen Wendungen aus dem Gedankenkreise seiner
philosophisch=ästhetischen Fortbildung Kantischer Begriffe bedient. So
z. B. im folgenden Epigramm, welches allerdings sich nur an die mit
jenem Vorstellungskreise Vertrauten wendet:


Die moralische Kraft.

Kannst du nicht schön empfinden, dir bleibt doch, vernünftig zu wollen
Und als ein Geist zu thun, was du als Mensch nicht vermagst.


Ebenso in diesem:


Aufgabe.

Allen gehört, was du denkst: dein eigen ist nur, was du fühlest;
Soll er dein Eigentum sein, fühle den Gott, den du denkst.


Aber für diese zwei finden sich sogleich beliebig viele, in denen
verwandte Gedanken durch den gegenständlich anschaulicheren Ausdruck
sich darstellen:


Wirke Gutes, du nährst der Menschheit göttliche Pflanze;
Bilde Schönes, du streust Keime der göttlichen aus.

Adel ist auch in der sittlichen Welt. Gemeine Naturen
Zahlen mit dem, was sie thun, edle mit dem, was sie sind.

Hast du etwas, so theile mir's mit, und ich zahle, was recht ist;
Bist du etwas, o dann tauschen die Seelen wir aus.

Jmmer treibe die Furcht den Sklaven mit eisernem Stabe;
Freude, führe du mich immer am rosigen Band!


Abgesehen von denen, welche die Andeutung oder die mehr oder
minder vollkommene Durchführung eines Bildes enthalten, gibt es eine
beträchtliche Zahl von Epigrammen, die gar nicht anders als allegorisch |#f0148 : 130|

genannt werden können. Hier ist die konkrete Darstellung eines Dinges,
Verhältnisses, Vorganges in der zweiteiligen Form des Epigramms gegeben,
aber so, daß die volle Wirkung von Erwartung und Aufschluß
sich erst ergibt, wenn man für die konkrete Darstellung die ihr entsprechende
abstrakte Gedankenkombination setzt. Goethe liebt diese allegorische
Art des Epigramms besonders; in den „vier Jahreszeiten
sind sie sehr zahlreich, die ganze Reihe der unter der Ueberschrift
Winter“ vereinigten ist fast durchweg so beschaffen:


Wasser ist Körper und Boden der Fluß, das neuste Theater
Thut in der Sonne Glanz zwischen den Ufern sich auf.

Eingefroren sahen wir so Jahrhunderte starren,
Menschengefühl und Vernunft schlich nur verborgen am Grund.

Nur die Fläche bestimmt die kreisenden Bahnen des Lebens;
Jst sie glatt, so vergißt jeder die nahe Gefahr.

Alle streben und eilen und suchen und fliehen einander,
Aber alle beschränkt freundlich die glättere Bahn.

Durcheinander gleiten sie her, die Schüler und Meister
Und das gewöhnliche Volk, das in der Mitte sich hält.

Lehrling, du schwankest und zauderst und scheuest die glättere Fläche.
Nur gelassen! Du wirst einst noch die Freude der Bahn.

Fallen ist der Sterblichen Los. So fällt hier der Schüler
Wie der Meister, doch stürzt dieser gefährlicher hin.

u. s. f. Natürlich gilt hier dasselbe Gesetz für die Anwendung der
Allegorie, welches schon oben entwickelt wurde: poetisch ist sie nur, wenn
sie auch als konkrete Darstellung an und für sich selbst Bestand hat;
von jeder andern konkreten Darstellung und auch von jedem derselben
eingefügten Bilde unterscheidet sie sich dadurch, daß sie einmal ein selbständiges,
abgeschlossenes Ganze bildet, sodann aber sowohl im ganzen
als in jedem einzelnen Teile durch die ihr innewohnende Kraft der
Aehnlichkeit entsprechende Gedanken und ihre Verbindung zu vergegenwärtigen
geeignet und bestimmt ist.


Mit Vorliebe bedient sich das satirische Epigramm der allegorischen
Darstellungsweise, indem es seinen eigentlichen Gegenstand gar nicht ausspricht,
sondern ihn ganz und gar durch das gewählte Bild vertreten
sein läßt; so Schiller, indem er das Verhältnis zwischen Kant und seinen
Auslegern im Sinne hat:


Wie doch ein einziger Reicher so viele Bettler in Nahrung
Setzt! Wenn die Könige bau'n, haben die Kärrner zu thun.
|#f0149 : 131|


oder Herder in dem Epigramm: „Die Trichternasen“ (der Name
einer Art von Vampyren):


Obskuranten fliegen umher. Mit gebreiteten Flügeln
Schweben bei Nacht sie hin, wo nur ein Lichtchen erscheint;
Gräßlich ist ihr Schatten; die Trichternasen, sie saugen
Schlafenden Menschen das Blut, Blut und die Seele mit aus.
Gar feinfühlend sind diese Gespenster; beraubet der Augen
Siehet das Nachtgeschöpf wie mit dem siebenten Sinn.
Jaget mit Stecken sie fort, laßt auf sie Katzen ─ o nein doch!
Lasset die Sonn' aufgehn, und sie sind alle verscheucht.

Auch hier ist es indessen strenges Erfordernis, daß die Allegorie alles
enthalte, um sowohl den dargestellten Gegenstand oder Vorgang als die
ihm entsprechende Bedeutung vollständig und klar erkennen zu lassen,
und nicht etwa um Geltung zu haben oder um überhaupt verstanden
zu werden, erst des in der Ueberschrift gegebenen Hinweises bedürfe.
Etwas Anderes ist es, wenn die Ueberschrift nur dazu dient, den an sich
in dem Gedichte vollständig gegebenen Jnhalt und die deutlich erkennbare
allgemeine Anwendung durch speziellen Hinweis auf einen einzelnen
bestimmten Fall zu individualisieren, wie in dem eben citierten Epigramm
auf Kant und in der Mehrzahl der Goethe-Schiller'schen „Xenien
geschehen ist. Wo dagegen die Ueberschrift einen unentbehrlichen Teil
des Gedichtes selbst ausmacht, da ist ein wesentliches Gesetz dieser
Dichtungsart verletzt, und man wird sich schwerlich täuschen, wenn man
in solchen Fällen von vornherein annimmt, daß es da auch zugleich mit
noch wichtigeren Erfordernissen, mit dem gewählten Bilde und mit dem
Gedanken selbst, nicht seine Richtigkeit hat. Man betrachte z. B. das
folgende Herdersche Epigramm:


O du Heiliger, bleibt dir immer dein trauriges Schicksal,
Zwischen Schächern gehängt, sterbend am Kreuze zu sein?
Und zu deinen Füßen erscheint das Wort des Propheten
Von der Ochsen und Farrn feisten geselligen Schar.
Heiliger, blick auf mich und sprich auch mir in die Seele:
„Vater, vergib! denn die wissen ja nie, was sie thun.“

Das Gedicht ist völlig unverständlich, und auch als Rätsel betrachtet
könnte es schwerlich jemals irgend einen Menschen auf die Meinung des
Verfassers bringen. Liest man nun die Ueberschrift: „An das Crucifix
im Konsistorium,
“ so ist freilich der satirische Sinn vollauf deutlich,
aber ebenso, daß es weder einen allgemein giltigen Gedanken enthält,
noch, was weit schlimmer ist, eine allgemein mitteilbare Stimmung
oder Empfindung. Was dem Epigramme zu Grunde liegt, sind indi= |#f0150 : 132|

viduelle Verstimmungen über persönliche Erfahrungen des Weimarer
General-Superintendenten, vielleicht auch berechtigte, aber um dichterisch
allgemein wirksam im Epigramm verwertet zu werden, dazu hätte im
ersten Teil die Erwartung rege gemacht werden müssen durch die Exposition
desjenigen speziellen Verfahrens oder derjenigen Denkungsweise
der so schlimm charakterisierten Konsistorialräte, welche für den vernichtenden
Aufschluß empfänglich zu machen geeignet wäre. Das Gedicht
würde dadurch nicht allein verständlich geworden sein, sondern es hätte
sich damit aus einer bloßen Gehässigkeit, die es jetzt ist, in ein wirkliches
Epigramm verwandelt, dessen satirische Uebertreibung als Stachel
des Witzes und nicht als Schmähung gewirkt hätte.


Denn das Epigramm will und soll seinen Gegenstand nur von
einer Seite betrachten; eben um dessentwillen ist die Kürze eine seiner
wesentlichen Eigenschaften; wo sich bei den ausgezeichnetsten Epigrammatisten
längere Epigramme finden, da fällt diese größere Ausdehnung
fast ausschließlich dem ersten Teile, der die „Erwartung“ rege macht,
zu und setzt sich in den bei weitem meisten Fällen aus einer Häufung
von Bezeichnungen zusammen, die sämtlich eine und dieselbe Seite der
Sache nur um so schärfer und ausschließlicher hervorkehren. Lessing hat
gezeigt, daß in einer Gattung von Epigrammen, die er die hyperbolische
nennt, sogar auf diese Ausführlichkeit alles ankommt; in den
beiden Beispielen aus dem Martial (XI, 18 und VIII, 33), die
er anführt, beruht die Wirkung auf der Vorstellung äußerster Kleinheit,
die in dem ersten Teil durch eine Reihe sich steigernder Hyperbeln hervorgebracht
wird und welche die kurze Lösung vorbereitet, durch die jetzt
erst das Epigramm seine ethische Färbung erhält. So schließt das erste
derselben, nachdem es sich in Metaphern der Winzigkeit des von Lupus
dem Dichter geschenkten Landgütchens erschöpft hat:


Errasti, Lupe, littera sed una:
Nam quo tempore praedium dedisti,
Mallem tu mihi prandium dedisses.

Und in ähnlicher Weise das andere:


Quid tibi cum phiala, ligulam cum mittere possis,
Mittere cum possis vel cochleare mihi?
Magna nimis loquimur, cochleam cum mittere possis;
Denique cum possis mittere, Paule, nihil.

Mit Recht hebt Lessing hervor, daß Martial sich mit der bloßen Hyperbel
nicht begnügt, sondern „fast immer von der Hyperbel noch zu einer
Betrachtung
fortgehet, die mehr hinter sich hat;“ diese Be= |#f0151 : 133|

trachtung und das Mehrere, was sie hinter sich hat, ist eben die ethische
Wendung, die, sei sie nun gnomisch oder satirisch gefaßt, das Epigramm
nicht entbehren kann.


Hier aber ist in Lessings Argumentation eine Lücke geblieben; es
entsteht eine Frage, welche durch seine Behandlung nicht erledigt wird,
und deren Beantwortung noch eine andre ganze Gattung des Epigramms
in ihrer Berechtigung erkennen läßt.


„Es haben,“ heißt es bei Lessing, „dergleichen hyperbolische Sinngedichte
ihre eigene Anmut. Nur müssen sie nicht auf die bloße Hyperbel
hinauslaufen, so wie dieses griechische (a. a. O. XI, 249):


Ἀγρὸν Μηνοφάνης ὠνήσατο, καὶ διὰ λιμὸν
ἐκ δρυὸς ἀλλοτρίας αὑτὸν ἀπηγχόνισεν.
Γῆν δ' αὐτῷ τεθνεῶτι βαλεῖν οὐκ ἔσχον ἄνωθεν,
ἀλλ' ἐτάφη μισθοῦ πρός τινα τῶν ομόρων.
Εἰ δ' ἔγνω τὸν ἀγρὸν τὸν Μηνοφάνους Ἐπίκουρος
πάντα γέμειν ἀγρῶν εἶπεν \̓αν, οὐκ ἀτόμων.


„„Menophanes hatte Feld gekauft, aber vor Hunger mußte er sich an
einer fremden Eiche hängen. Soviel Erde hatte er nicht, daß sein
Leichnam damit bedeckt werden konnte; man mußte ihm seine Grabstelle
auf benachbartem Grunde kaufen. Hätte Epikurus das Feld des Menophanes
gesehen, so würde er gesagt haben, daß alles voller Felder wäre,
nicht voller Atomen.““ „Denn ein solches Sinngedicht,“ fährt er fort,
„besteht offenbar aus nichts als Erwartung: anstatt des Aufschlusses
wird uns das äußerste Glied der Hyperbel untergeschoben, und alle
unsere Erwartung soll sich mit der Unmöglichkeit, etwas Größeres oder
Kleineres abzusehen, begnügen. Dergleichen Spiele des Witzes können
Lachen erregen, aber das Sinngedicht will etwas mehr. Die griechische
Anthologie ist davon voll, da sie hingegen bei dem Martial sehr sparsam
vorkommen.“


Sie sind auch bei Martial so selten nicht, als es scheint, und wenn
die griechische Anthologie und ebenso, kann man hinzufügen, die gesamte
neuere Epigrammen-Dichtung von ihnen voll ist, sollten sie dann schlechtweg
als mißraten auszuscheiden sein? Denn ein Epigramm, dem die
wesentliche Hälfte fehlte, wäre nicht mehr mit Recht ein Epigramm zu
nennen.


Doch so schlimm steht die Sache nicht; schon das Beispiel, welches
Lessing selbst für sich anführt, dürfte er schwerlich richtig beurteilt haben.
Es soll aus nichts als Erwartung bestehen, der Aufschluß soll fehlen,
statt seiner nur das letzte Glied der Hyperbel eintreten? Es darf nur |#f0152 : 134|

mit genauestem Anschluß an das Original übersetzt werden, um für sich
selbst zu sprechen:


Ein Landgut kaufte sich Menophanes und hing
Aus Hunger sich an eines andern Eiche auf.
Nicht soviel Erde fand man drauf ihn zuzudecken,
Begraben wurde er für Geld bei einem Nachbarn.
Hätt' Epikur das Gut des Menophanes gesehen,
Er ließ das All von Gütern wimmeln, nicht von Atomen.

Die Erwartung ist offenbar allein durch die beiden ersten Verse
erregt; Lessing übersetzt willkürlich, wenn er die beiden Sätze darin
mit „aber“ verbindet, sie hängen durch καὶ zusammen und zwar notwendig;
die Erwartung wird durch zwei nebeneinander gestellte Thatsachen
erregt: Menophanes kauft sich ein Landgut und hängt sich aus
Hunger auf, noch dazu auf fremdem Grund und Boden. Warum?
Die Lösung erfolgt in den übrigen vier Versen, und zwar dem Jnhalt
nach in den beiden nächsten, welche hyperbolisch die außergewöhnliche
Geringfügigkeit des erkauften Besitzes anzeigen. Der Form
nach wäre das Epigramm damit fertig, es gewinnt aber ungemein durch
das letzte Versepaar, welches durch kolossale Steigerung der Hyperbel
einen sehr komischen Kontrast hervorruft.


Untersucht man aber diese ganze Klasse der lediglichhyperbolischen
Epigramme, deren Wirkung in der That also auf nichts
weiter
beruht, als auf dem durch die Höhe der Steigerung hervorgerufenen
komischen Kontrast, und die nach Lessing „aus nichts als
Erwartung bestehen“ sollen, genauer, so zeigt sich, daß, sofern dieselben
einen größeren Umfang annehmen, derselbe wie in dem eben behandelten
Beispiele vielmehr durch die Erweiterung des zweiten Teiles, also gerade
des Aufschlusses, herbeigeführt wird; dagegen ist die „Erwartung“ auf
den kürzesten Ausdruck beschränkt, meistens ist ihr nur ein Vers, mitunter,
bei oft wiederholtem Thema, nur ein Teil desselben gewidmet.
So enthält in dem folgenden Epigramm der Anthologie nur die erste
Zeile die Exposition, alle andern bilden den Aufschluß, und nur innerhalb
dieses
findet die hyperbolische Steigerung statt (a. a. O. XI, 406):


Τοῦ γρυποῦ Νίκωνος ὁρῶ τὴν ρῖνα, Μένιππε ·
αὐτὸς δ'οὐ μακρὰν φαίνεται εἶναι ἔτι.
Πλὴν ἥξει, μείνωμεν ὅμως· εἰ γὰρ πολὺ, πέντε
τῆς ῥινὸς σταδίους, οἴομαι, οὐκ ἀπέχει.
Ἀλλ' αὐτὴ μὲν, ὁρᾷς, προπορεύεται· ἤν δ'ἐπὶ βουνὸν
ὑψηλὸν στῶμεν, καὐτὸν ἐσοψόμεθα.

|#f0153 : 135|

Sieh doch, Menippus, die Nase des geierschnäbligen Nikon;
Da kann er selbst so weit, sicherlich, schon nicht mehr sein.
Kommen wird er jedoch, wir warten; ist's sehr viel, so ist er
Ein Kilometer vielleicht hinter der Nase zurück.
Sie aber wandert voraus, wie du siehst; wenn wir dort jenen hohen
Hügel ersteigen, vielleicht glückt es ihn selbst zu erspähn.

Das Epigramm könnte mit dem zweiten Verse schließen; alle übrigen
sind nur eine Verschärfung der schon vorhandenen Pointe. Ganz ähnlich
ist das Verhältnis bei dem folgenden Beispiel; nur ist es noch kürzer
gefaßt und die hyperbolische Steigerung wird durch wiederholt erregte
Erwartung und Lösung bewirkt (a. a. O. XI, 268):


Οὐ δύναται τῇ χειρὶ Πρόκλος τὴν ῥῖν̓ ἀπομύσσειν·
τῆς ῥινὸς γὰρ ἔχει τὴν χέρα μικροτέραν·
οὐδὲ λέγει Ζεῦ σῶσον ἐὰν πταρῇ· οὐ γὰρ ἀκούει
τῆς ῥινὸς· πολὺ γὰρ τῆς ἀκοῆς ἀπέχει.


Nicht vermag Proklos mit der Hand seine Nase zu schneuzen:
Denn seine Hände, sie sind für seine Nase zu klein.
Auch kann er kein Gott helf, wenn er niest, zu sich sagen; denn niemals
Hört er von ihr; sie ist weit, weit von den Ohren entfernt.

Noch kürzer und mit genau demselben Verhältnis zwischen Erwartung
und Aufschluß hat Lessing denselben Gedanken in einem Jugend-Epigramm
behandelt:


O aller Nasen Nas'! Jch wollte schwören,
Das Ohr kann sie nicht schnauben hören.

Aber wer sieht nicht, daß der Reiz von dergleichen Kleinigkeiten gerade in
dem Scharfsinn und der Feinheit der weiteren Ausführung und in einer
gewissen übermütigen Freude an der Steigerung der Gegensätze ins
Kolossale liegt, daß aber, ob sie nun in äußerster Kürze oder in kunstvoll
ausgedehntester Erweiterung vorgetragen werden, ihr Wesen dasselbe
bleibt, eben jenes, welches Lessing so glücklich mit dem Namen der hyperbolischen
Gattung bezeichnet hat? Jn dem Lessingschen Epigramm genügen
für die Erwartung drei Worte: „O aller Nasen Nas'“, und so kann ein
einziges Beiwort mit kürzester Bezeichnung der Situation für die Exposition
genügen, z. B. wenn ein Epigramm der Anthologie „den kleinen
Menestratus
“ einführt, wie er um die Frühlingszeit sich eben „hingesetzt“
hat (XI, 407), ─ τὸν λεπτὸν θακεῦντα Μενέστρατον ─
eine Ameise kriecht hervor und schleppt ihn mit sich fort nach einer Erdritze,
eine vorüberfliegende Mücke raubt ihn und entführt ihn, wie der
Adler des Zeus den Ganymedes, er entfällt ihr, aber bleibt mit den |#f0154 : 136|

Augenbrauen in dem Netze einer Spinne hängen. Eines der in breiterer
Weise und zwar sehr geschickt und witzig durchgeführten Epigramme des
Martial (XII, 29) enthält als ganze Exposition im ersten Verse die
Bezeichnung des Hermogenes als des ärgsten Serviettendiebes, und der
„Aufschluß“ besteht in den durch zehn Distichen sich häufenden Hyperbeln
über die Ausübung der Manie, die alle nur die Schlußpointe vorbereiten:


At cenam Hermogenes mappam non attulit unquam,
A cena semper rettulit Hermogenes.

Zwischen diesem aber und dem folgenden des Martial (XII, 88) scheint
kein anderer Unterschied zu sein, als daß das letztere statt einer ganzen
Reihe von Hyperbeln nur eine einzige enthält:


Tongilianus habet nasum: scio, non nego Sed jam
Nil praeter nasum Tongilianus habet.

Gegen Epigramme wie dieses ist der Form nach nichts einzuwenden ─
und sie sind zahlreich genug ─ doch läßt sich nicht leugnen, daß sie
recht kahl sind und ungesalzen, wenn nicht eine Würze hinzugethan wird;
eine solche aber kann schon in der Drastik des angewendeten Vergleichs
liegen, wenn z. B. Logau dasselbe Thema folgendermaßen variiert:


Nasalus ist ein großer Herr, schickt ins Quartier und meldt sich an!
Lakay, Trompeter ist es nicht; wer denn? Die Nase kömmt voran.

Mitunter fehlt solche Würze bei Martial ganz, wie z. B. II, 35, wo
er einem Krummbeinigen anrät, seine Füße in einem Trinkhorn zu
waschen; oder sie wird durch das obscöne Element gegeben, wie in dem
widerwärtigen 36. des VI. Buches, nach dem von ihm selbst aufgestellten
und so emsig befolgten Gesetze (vgl. I, 35):


Lex haec carminibus data est jocosis,
Ne possint, nisi pruriant, juvare.


Was freilich das eben citierte Nasenepigramm auf den Tongilianus
angeht, so möchte den Martial hier der Vorwurf mit Unrecht treffen;
warum sollte es nicht über das bloße Spiel des Witzes hinaus den
tieferen, allegorischen Sinn haben, daß, wie auch wir metaphorisch von
einer „feinen Nase“ sprechen, das Geruchsorgan hier für die kritische
Befähigung
steht, und das Epigramm also sagen würde: „Ja, er
mag sie haben, ich weiß es und will es nicht leugnen; aber bei ihm ist
es so weit, daß er aus gar nichts anderm besteht, als aus Kritik.“ Die
Adresse des „Tongilianus“ mag, wenn auch der Name fingiert ist, durch
irgend eine notorische Beziehung den Lesern des Martial diesen Sinn |#f0155 : 137|

ganz nahe gelegt haben. Aber auch für uns gewinnt diese Auffassung
Gewißheit, wenn wir das zweite Epigramm des XIII. Buches vergleichen:


Nasutus sis usque licet, sis denique nasus,
Quantum noluerat ferre rogatus Atlas,
Et possis ipsum tu deridere Latinum:
Non potes in nugas dicere plura meas,
Ipse ego quam dixi. Quid dentem dente juvabit
Rodere? carne opus est, si satur esse velis.
Ne perdas operam: qui se mirantur, in illos
Virus habe, nos haec novimus esse nihil.
Non tamen hoc nimium nihil est, si candidus aure,
Nec matutina si mihi fronte venis.

Nichts ist gleich deiner Nase! Es sei, ja du seist ganz Nase,
Riesengroß, zu groß selbst für des Atlas Gesicht,
Ja, du könntest getrost Trotz bieten sogar dem Latinus:
Strenger verklagst du doch meine Gedichtchen mir nicht,
Als ich selbst es gethan. Was nützt es, den Zahn an dem Zahne
Wetzen? Suche dir Fleisch, wenn du dich sättigen willst.
Hier verlierst du die Müh': die sich selber bewundern, für jene
Spare dein Gift! Was sind meine Gedichte? Ein Nichts!
Und doch nicht so völlig ein Nichts, wenn du nur willigen Ohres
Nicht mit zartester Stirn unter den Hörern erscheinst!

Jmmer aber bleibt eine beträchtliche Zahl von Epigrammen übrig, in
denen es an einer solchen tieferen Beziehung fehlt. Wie steht es bei
diesen mit der im Obigen entwickelten Theorie, nach der das Epigramm
gleich der gnomisch=satirischen Dichtung die Nachahmung eines bei dem
Dichter vorhandenen Ethos enthalten muß? Die Theorie läßt uns auch
hier nicht im Stich. Um ein spezielles Ethos handelt es sich in diesen
rein komischen Epigrammen allerdings nicht; das Objekt der Mimesis
ist bei ihnen allen immer ein und dasselbe, es ist die heitere Stimmung,
wie sie jeder treffende Witz, jede glücklich erfundene Anekdote,
auch abgesehen von ihrem etwaigen gnomischen oder satirischen Jnhalt,
durch die bloße Kontrastwirkung erzeugt, und auch diese ist ein berechtigtes
Ethos. Es ist die harmlose Freude an dem völlig freien Spiel der
Phantasie, wie sie ebenso durch die groteske Karikatur, wo dieselbe sich
von Satire möglichst freihält, erzeugt wird; doch sind der Dichtung
hier unendlich weitere Grenzen gesteckt als den bildenden Künsten.
Während diese immer doch die Glaubwürdigkeit der realen Erscheinung
aufrecht erhalten müssen, erzielt jene Art von Dichtung ihre Wirkung
gerade damit, daß sie auf Grund eines einzigen festgehaltenen Aehnlichkeitsmomentes
nun in allem Uebrigen den Kontrast soweit als möglich |#f0156 : 138|

treibt und durch solches Phantasiespiel belustigt. Jmmerhin ist das
Genre beschränkt und bedarf besonderer Anmut der Form, um zu gefallen.


Ueberhaupt läßt sich für das Epigramm das Gesetz aussprechen,
daß die Bedeutuug seines ethischen Gehaltes und der Scharfsinn seiner
Gestaltung in Form von Erwartung und Aufschluß in umgekehrt proportionalem
Verhältnis stehen; was auf der einen Seite nachgelassen
wird, muß in um so höherem Grade auf der anderen geleistet werden.
Deshalb suchen wir bei einem Dichter, der den Schwerpunkt seiner Produktion
in diese poetische Gattung gelegt hat, vor allem in seinen Gedichten
die Abspiegelung seiner Gefühls- und Gemütsart, seiner Gesinnung; so
z. B. bei unserem Logau! Was ihn uns wert macht, ist sein charaktervolles
Ethos: sein echt deutsches Herz, seine Vaterlandsliebe, sein patriotischer
Zorn, sein gerader, unbestechlicher und kerniger Sinn, seine herzliche
Freude am Guten, Einfachen, Naturgemäßen, seine herbe Verachtung
alles Falschen, Unwahren, Gekünstelten und Widernatürlichen. Freilich
besitzt er auch den Witz, Scharfsinn und die spezifische Phantasie des
Epigrammatikers in hohem Grade; doch in einer großen Zahl seiner
Stücke, und sehr inhaltreichen, ist die epigrammatische Form nur wenig
ausgeprägt, mitunter so schwach, daß sie nur noch als Sinnsprüche zu
bezeichnen sind. So ist in den folgenden der Gedanke wenigstens noch
in gegensätzlicher Fassung ausgesprochen:


Wer seinem Willen lebt, lebt ohne Zweifel wohl;
Doch dann erst, wenn er will nicht anders, als er soll.

oder:


Witz, der nur auf Vorteil gehet, ist nicht Witz, er ist nur Tücke.
Rechter Witz übt nur was redlich, weiß von keinem krummen Stücke.

und:


Fang alles an mit Wohlbedacht; führ alles mit Bestand:
Was drüber dir begegnen mag, da nimm Geduld zur Hand.

Noch schwächer ist die Form von Erwartung und Aufschluß vorhanden
in Sprüchen wie diese:


Freunde muß man sich erwählen
Nur nach wägen, nicht nach zählen.

oder vollends:


Freude, Mäßigkeit und Ruh
Schließt dem Arzt die Thüre zu.

und:


Wer Sünde weiß zu scheuen,
Der darf sie nie bereuen.
|#f0157 : 139|

Aber selbst in ihnen ist jene Form, wenn auch fast verschwindend, wenigstens
noch zu erkennen. Umgekehrt hat die gnomisch=didaktische Spruchdichtung
die entschiedene Neigung, überall sich der epigrammatischen Form anzunähern,
dem Gedanken durch den Gegensatz von Erwartung und Aufschluß
Gestalt zu verleihen; sehr zahlreiche Stellen, z. B. in Freidanks
Bescheidenheit“, können geradezu für Epigramme gelten:


Suln ketzer, juden, heiden,
von Gote sîn gescheiden,
so hât der tiuwel daz groezer her,
ezn sî, daz uns genâde erner.

ebenso das unmittelbar folgende:


Eînes dinges hân ich grôzen nît,
daz Got gelîche weter gît
kristen, juden, heiden:
der keinz ist ûz gescheiden.

Mitunter bestehen ausgedehnte Stellen bei Freidank aus einer ununterbrochenen
Reihe einzelner Epigramme, so in dem Abschnitt: „Von Rôme“:


Swer lebet in des bâbstes gebote,
derst sünden ledic hin ze Gote.
Der bâbest ist ein irdisch Got,
Und ist doch dicke der Rômaer spot.
Ze Rôme ist sbâbstes êre kranc:
in vremediu lant gât sîn getwanc.
Sîn hof vil dicke wüeste stât,
sô er niht vremeder tôren hât.
Swenne alle krümbe werden sleht,
sô vindet man ze Rôme reht.

Und so fort! Auch die Form der priamel findet sich bei ihm, welche
im späteren Mittelalter durch einige Dichter und im Volksmunde zu
selbständiger Ausbildung gelangte; sie ist eine Variante der epigrammatischen
Gattung, bei welcher der erste Teil statt aus einem einzigen
Satz aus einer Häufung von die Erwartung spannenden, gleichartigen
Vordersätzen besteht, die alle ein und denselben, immer in äußerster Kürze
ausgesprochenen, Aufschluß finden, so daß mitunter ein jeder dieser
Vordersätze mit dem Schlußsatz verbunden ein Epigramm darstellen würde.
So in dem folgenden Beispiel aus dem fünfzehnten Jahrhundert:


Kommt kunst gegangen vor ein haus,
so sagt man ihr, der wirt sei aus;
kommt weisheit auch gezogen dafür,
so findt sie zugeschlossen die thür;
|#f0158 : 140|

kommt zucht und ehr derselben maas,
so müßen sie gehn dieselbe straße;
kommt lieb und treu, die wär gern ein,
so will niemand ihr thorwart sein;
kommt wahrheit und klopfet an,
so muß sie lang vor der thür stahn;
kommt gerechtigkeit auch vor das thor,
so findt sie ketten und riegel vor;
kommt aber der pfennig geloffen,
so findt er thür und thor offen.


Auf der einen Seite läuft also das Epigramm in die gnomische
Poesie aus, mitunter bis zum Verschwinden seiner eigentümlichen Form;
auf der andern bleibt diese Form, nicht selten bis zur Künstelei ausgeartet,
allein übrig, wenn über dem bloßen Vergnügen an komischem
Kontrast der Gemüts- und Empfindungsgehalt, das Ethos, daraus
verschwindet: in der Mitte liegen mit glücklicher Verbindung der Form
und des Jnhalts die Meisterwerke dieser Gattung.


Als eine Charakteristik des Besten dieser Gattung könnte das Lob
gelten, welches Körner in einem Briefe vom 11. Oktober 1796 den
Schiller-Goetheschen Xenien spendet: „Für mich ist es ein herrlicher Genuß,
eine solche Reihe von Kindern vor mir zu sehen, die Eure geistige Heirat
zur Welt gebracht hat. Eben aus der Verschiedenheit Eurer Naturen
sind die köstlichsten Mischungen entstanden: hier Klarheit bei tiefem Sinne,
dort Jnnigkeit bei froher Laune; hier üppige Kraft bei strenger Zucht,
dort zarte Empfänglichkeit für die Natur bei dem höchsten Streben nach
dem Jdeale. ─ Was ich bei diesen Produkten vorzüglich ehre, ist das
Spiel im höheren Sinne. Spielend behandelt Jhr die fruchtbarsten
Resultate des schärfsten Nachdenkens und der geprüftesten Erfahrung,
die lieblichsten Bilder der Phantasie, die süßesten Empfindungen, die
widerlichsten Albernheiten; und gleichwohl verliert der Gedanke nichts
an seinem Gehalt, der Stachel der Satire nichts an Schärfe.“


Sehr schön ist in diesem Urteile das Wesentliche hervorgehoben,
worauf die Vorzüglichkeit dieser Art Gedichte beruht: vor allem die
Trefflichkeit des Ethos, welches ihr Gegenstand ist, und sodann,
was sie freilich ebensowenig entbehren können, die Virtuosität in
der Behandlung ihrer spezifischen Form.
──────

|#f0159 : 141|

X.


Die Ausartung des Epigramms in den einfachen Sinn- und Denkspruch,
wobei außer der Kürze alle wesentlichen Eigenschaften seiner
Form geopfert sind, bildet nicht die einzige Klasse von Pseudo-Epigrammen:
abgesehen von den lediglich lehrhaften oder den ganz inhaltsleeren,
denen jede Spur von Ethos mangelt, gibt es eine, freilich nur
kleine Anzahl von Pseudo-Epigrammen, welche eben auch nur durch
ihre Kürze sich in diese Dichtungsgattung einzuschleichen suchen, in
Wahrheit aber einer ganz verschiedenen, der epischen Gattung angehören.



Nach der Herderschen Theorie freilich, welche die charakteristische
Form des Epigramms völlig zerstört, wäre dieser Uebergang in der
Natur der Sache liegend und legitim; wie schon oben citiert, sagt er
ausdrücklich: „Wie leicht und bald kann eine Geschichte oder Fabel, die
die Runde und Kürze des Epigramms hat, auch der Gestalt nach ein
solches werden! Man darf die Geschichte nur etwa als Jnschrift auf
den Ort der Begebenheit beziehen und in ihr eine allgemeine
Lehre anschaulich machen, so ist die Fabel Epigramm und
das Epigramm eine Fabel.
“ Dieser Satz folgt bei ihm ganz notwendig
aus dem Grundirrtum, in dem er sich sowohl in Bezug auf das
Epigramm als auf die Fabel befindet: daß nämlich jenes nichts als die
Exposition eines Gegenstandes zu sein brauche, und daß diese
eine in Handlung gesetzte Lehre sei (vgl. Adrastea „Fabel“ Hemp.
Bd. 14, S. 211). So vieles Herder an Lessings Fabeltheorie auszusetzen
findet, in diesem Punkte, in welchem gerade Lessing sich am weitesten
von der richtigen Auffassung der Fabel entfernt hat, ist er ihm treulich
gefolgt. Desto schärfer scheidet Lessing die Gattungen des Epigramms
und der Fabel voneinander, welche Herder an mehr als einer Stelle
gänzlich ineinander fließen läßt (vgl. auch Adrastea 14,221: „eine
Fabel, die Epigramm war,
ward bei den Griechen Epigramm in
elegischem Silbenmaße“). Man lese, wie sich Lessing („Ueber das Epigramm“
I, 2) über diesen Unterschied äußert:


„Das Gegenteil von den zu aller moralischen Anwendung ungeschickten,
kleinen Erzählungen sind diejenigen, welche zwar auch ohne alle
Betrachtung und Folgerung vorgetragen werden, aber an und für sich
selbst eine allgemeine Wahrheit so anschauend enthalten, daß es nur
Ueberfluß gewesen wäre, sie noch mit ausdrücklichen Worten hinzuzufügen.
Von dieser Art ist die folgende bei dem Ausonius:

|#f0160 : 142|

Thesauro invento, qui limina mortis inibat,
Liquit ovans laqueum, quo periturus erat.
At qui, quod terrae abdiderat, non reperit aurum,
Quem laqueum invenit, nexuit et periit:
1

wovon das griechische Original in der Anthologie zu finden. Oder aus
eben dieser Anthologie die von mehreren Dichtern daselbst vorgetragene
Geschichte vom Lahmen und Blinden:


Ἀνέρα τις λιπογύιον ὑπὲρ νώτοιο λιπαυγὴς
Ἦρε πόδας χρήσας, ὄμματα χρησάμενος.
2

Wer ist so blödsinnig, daß er die großen Wahrheiten, von welchen diese
Erzählungen Beispiele sind, nicht mit ihnen zugleich denke? Und was
auf eine so vorzügliche Art einen Sinn in sich schließt, das wird doch
wohl ein Sinngedicht heißen können?


„Doch auch das nicht. Und warum sollte es ein Sinngedicht
heißen, wenn es etwas weit Besseres heißen kann? Mit einem Worte:
es ist ein Apolog, eine wahre Äsopische Fabel; denn die gedrungene
Kürze, mit welcher sie vorgetragen ist, kann ihr Wesen nicht verändern,
sondern allenfalls nur lehren, wie die Griechen solcherlei Fabeln vorzutragen
liebten. Es kommen deren, außer den zwei angeführten, in
der Anthologie noch verschiedene vor; ─ ─ alle sind mit der äußersten
Präcision erzählt ─ ─ ─.


„Der wesentliche Unterschied, der sich zwischen dem Sinngedicht und
der Fabel findet, beruht aber darin, daß die Teile, welche in dem Sinngedichte
eines auf das andere folgen, in der Fabel in eins zusammenfallen
und daher nur in der Abstraktion Teile sind. Der einzelne Fall
der Fabel kann keine Erwartung erregen, weil man ihn nicht ausgehört
haben kann, ohne daß der Aufschluß zugleich mit da ist; sie
macht einen einzigen Eindruck und ist keiner Folge verschiedener Eindrücke
fähig. Das Sinngedicht hingegen enthält sich eben darum entweder
überhaupt solcher einzelnen Fälle, in welchen eine allgemeine Wahrheit
anschauend zu erkennen, oder läßt doch diese Wahrheit beiseite liegen,
und zieht unsere Aufmerksamkeit auf eine Folge, die weniger notwendig
daraus fließt. Und nur dadurch entsteht Erwartung, die dieses

1
'Nen Schatz fand einer, der sich eben hängen wollte,
Froh ließ er die Todesschlinge an dem Ort zurück.
Als aber jener das Gold nicht fand, der es vergraben,
Hing er in der gefund'nen Schlinge sich auf und starb.
2
Auf dem Rücken daher trug einen Gelähmten ein Blinder,
Brauchte die Beine für ihn, borgte von ihm das Gesicht.
|#f0161 : 143|

Namens wenig wert ist, wo wir das, was wir zu erwarten haben, schon
völlig voraussehen.“


Der wesentliche Unterschied liegt also nach Lessing darin, daß die
Fabel durch Erzählung eines einzelnen Falles eine allgemeine Wahrheit
unmittelbar „der Anschauung erkennbar“ macht, während das Epigramm
niemals eine solche Aufgabe sich stellen oder lösen kann, sondern selbst
da, wo es in seinem ersten Teile einen einzelnen Fall erzählt, durch
seinen zweiten Teil die Aufmerksamkeit auf einen Gedanken zu lenken
hat, der wider Erwarten sich darin entdecken läßt, auf eine Beobachtung,
welche ihrer Natur nach der bloßen Anschauung sich entziehen
müßte.


Aber der Unterschied ist noch weit größer und liegt noch tiefer im
Wesen der Sache begründet, als er von Lessings irrigem Standpunkte
in der Fabeltheorie wahrgenommen werden konnte.


Eine Dichtung, welche darauf ausginge, „allgemeine Wahrheiten
zur anschauenden Erkenntnis zu bringen“, oder gar, wie Herder will,
„eine Lehre darzustellen“, gibt es nicht. Selbst da, wo sie sich der Gedankendarstellung
als ihres Mittels bedient, ist das Ziel, auf das sie
hinausgeht, die Erweckung psychischer Vorgänge, ob dieselben nun in
das Gebiet des Pathos oder das des Ethos gehören. Dies sind die
immer sich gleichbleibenden, aber in ihrer Mannigfaltigkeit unerschöpflichen
Gegenstände der lyrischen Poesie mit allen ihren Nebenarten; daß
dieselbe zur Erreichung desselben Zweckes sich auch der Darstellung eines
Vorganges, einer Begebenheit, einer äußeren Handlung bedienen kann,
daß sie in manchen ihrer Arten sogar so verfahren muß, ist im Vorstehenden
verschiedentlich gezeigt worden: ebenso aber auch, daß in allen
diesen Fällen die Darstellung der Handlung nur als Mittel auftritt,
niemals an und für sich der Zweck der Nachahmung ist, und daß deshalb
ihre Erzählung auch nur andeutungsweise erfolgt oder doch ganz
und gar bestimmt durch den eigentlichen Zweck, der jedesmal für die
Nachahmung maßgebend ist.


Es gibt nun aber einen Fall, von welchem bisher noch gar nicht
die Rede gewesen ist, daß die Handlung nämlich zugleich das
Mittel und der Zweck der Darstellung ist,
daß sie selbst den
Gegenstand der Nachahmung
bildet: das dritte der drei Objekte,
in denen überhaupt sich alle Mimesis der Künste erschöpft, neben
Pathos und Ethos: die Handlung ─ πρᾶξις. Dies ist der Fall
in aller epischen Poesie.


Ehe aber die Anwendung dieses Satzes auf die hier gerade vorliegende
Erörterung der Theorie der Fabel gemacht werden kann, muß |#f0162 : 144|

hier zuvor die Untersuchung über die außerordentlich weit- und tiefgreifende
Bedeutung des Begriffes der Handlung ─ der πρᾶξις
─ erfolgen. Maßgebend dafür ist die Lehre, welche der klassische Erforscher
dieses ganzen Gebietes, Aristoteles, in seinen psychologischen
und ethischen Schriften entwickelt hat.


Vor allem ist die hier geltende Grundbedeutung festzustellen: in
Analogie mit den Begriffen des Pathos und Ethos hat πρᾶξις == Handlung
─ im Gegensatze zu dem gewöhnlich darunter verstandenen Begriff
der äußeren Handlung ─ für dieses ganze Gebiet zunächst die
Bedeutung eines seelischen Vorganges. So wird das Wort von
Aristoteles, wo es sich um psychologische und ethische Fragen handelt,
immer gebraucht. Es hat dann aber bei ihm noch zwei weitere Bedeutungen:
einmal bezeichnet es die jenem seelischen Vorgange entsprechende,
ihn verwirklichende That, sodann in noch weiterem
Umfange die Gesamtheit der dieselbe begleitenden, unmittelbar sie bedingenden
und durch sie hervorgerufenen, durch sie zu einem einheitlichen
und vollständigen Ganzen vereinigten äußeren
Umstände und Begebenheiten.
Jn allen diesen drei Bedeutungen
schließt sich der deutsche Sprachgebrauch des Wortes „Handlung“ dem
griechischen πρᾶξις genau an.


Für die beiden weiteren Bedeutungen bedarf das keines Beweises,
eher für jene engere Grundbedeutung von Handlung im inneren, geistigen
Sinne. Es ist hier ein näheres Eingehen erforderlich.


Nach Aristoteles sind die Empfindungen ─ die πάθη ─ an
und für sich
unmittelbare und unbewußte Aeußerungen der Lebensthätigkeit
der Seele, Veränderungsvorgänge, die entsprechend den äußeren
auf sie einwirkenden Dingen und Vorgängen naturgemäß, ihrer Anlage
und Beschaffenheit entsprechend, in ihr erfolgen. Sie gehören also an
und für sich
dem vernunftlosen Teile (ἄλογον) der Seele an. Es
kann geschehen, daß sie bei einem Menschen im Wesentlichen auch so
verbleiben: dann werden sie jedesmal, sobald sie durch starke erregende
Ursachen in höherem Grade in seiner Seele stattfinden, notwendigerweise
auch bestimmend sein für das, was er begehrt und wovor er zurückweicht
(δίωξις und φυγή); eben daraus werden bei ihm dann auch in
jedem Falle die Thatimpulse (ὀρέξεις) und Handlungen entstehen.
Von einem solchen Menschen sagt Aristoteles, daß er „nach seinen Empfindungen
lebt und handelt“ (κατὰ πάθος ζῆν und κατὰ πάθος
πράττειν). Ein solches Leben und Handeln steht nach ihm auf einer
sehr niederen Stufe, obwohl damit keineswegs gesagt ist, daß das letztere
im einzelnen Falle objektiv schlecht oder auch an sich objektiv unrichtig |#f0163 : 145|

sein müßte; es kann bei einer von Natur gemäßigt beanlagten Seele
und unter gleichmäßigen und günstigen Verhältnissen sogar in vielen
Fällen objektiv maßvoll und richtig sein: nur niemals gut, niemals bewußt
recht, und keinen Augenblick, weil ganz von den äußeren Einwirkungen
abhängig, vor den schlimmsten Abweichungen gesichert. Wo
aber die Empfindungsanlage einer Seele von Hause aus nach irgend
einer Richtung zu den Extremen des Zuviel oder Zuwenig neigt und
die Umstände diese Neigung noch verstärken, da sehen wir dann zügelloses
und leidenschaftliches Begehren, Wollen und dementsprechende
Handlungen (ἀκρατεῖς).


Nun sind aber die Veränderungsvorgänge der Seele, die wir Empfindungen
nennen, an und für sich zwar dem vernunftlosen Teile der
Seele angehörig, sie haben jedoch zugleich die Fähigkeit der Vernunft
Folge zu leisten, gleichsam der Stimme eines Vaters gehorsam (ὡς
ἐπιπειθὲς τῷ λόγῳ ... ὥσπερ πατρὸς ἀκουστικόν); durch die regulierende
Stimme der Vernunft kann es nun im einzelnen Falle geschehen,
daß entweder, wenn die Empfindungsregung von Natur die richtige
und in richtigem Maße vorhanden war, die Willensentscheidung
(προαίρεσις), welche für die Handlung maßgebend ist, nun auch mit
dem Bewußtsein des Rechten und aus den richtigen Gründen erfolgt,
oder daß zu starke Empfindungsregungen durch den Einfluß des vernünftigen
Willens die notwendige Herabminderung auf das richtige Maß
erfahren, den zu schwachen durch die von seiten der Vernunft erfolgende
Geltendmachung starker, berechtigter Beweggründe die erforderliche Steigerung
zum rechten Maße zu teil wird. Wie also richtige Handlungen
nicht zustande kommen können ohne die regelnde und entscheidende Mitwirkung
der Vernunft, so sind sie andrerseits auch nicht denkbar ohne
das Vorhandensein und die Mitwirkung zu Grunde liegender Empfindungen,
die im Verein mit jener die Willensentscheidungen bewirken; die Faktoren,
aus deren Vorhandensein und Zusammenwirken die richtigen Handlungen
hervorgehen, sind aber ebenso, wenn auch in den verschiedensten
Arten der Beschaffenheit und des gegenseitigen Verhältnisses, die notwendigen
Voraussetzungen aller menschlichen Handlungen, auch der
unrichtigen und der schlechten.


Zu diesen beiden gesellt sich nun noch ein dritter Faktor. Bei
jedem Menschen, welcher nicht durch schwere Krankheit oder sonstige bedeutend
hindernde Verhältnisse in seiner Entwickelung gewaltsam gestört
ist, finden doch irgend welche Einflüsse des bewußten Wollens auf den
bloß pathischen ─ empfindenden ─ Teil der Seele statt. Durch die
stetige Wiederholung dieser Einflüsse in nahezu sich gleichbleibender Weise |#f0164 : 146|

und Richtung bildet sich im Verlauf normaler Lebensdauer eine bestimmte,
stehende, im ganzen und großen dauernd mit sich selbst übereinstimmende
Beschaffenheit der so modifizierten Pathe ─ Empfindungen ─
heraus, ein bleibendes Verhalten also (ἕξις), welches ein Produkt
der Thätigkeit beider Teile der Seele, des vernunftlosen und vernünftigen
(ἄλογον und λόγον ἔχον) ist, somit also eine individuell verschiedene
Beschaffenheit der gesamten Seele.
Denn dieser Vorgang
findet nicht in Bezug auf nur eine oder mehrere Empfindungen
statt, sondern er betrifft ihre Gesamtheit, sowohl in ihrem gegenseitigen
Verhalten, wo der zu hohe Grad der einen oft den zu geringen der
andern bedingt, als auch in dem besondern Verhältnis einer jeden von
ihnen zu der regulierenden Vernunft. Dieser Gesamtzustand der Seele,
welcher je nach der Art seiner Zusammensetzung und, je nachdem er als
dauernder Zustand oder zeitweilig vorhanden ist ─ denn es können
durch Mitwirkung außergewöhnlicher Empfindungsweisen und damit sich
kombinierender Vernunftvorstellungen natürlich derartige Zustände auch
als vereinzelte und vorübergehende vorkommen1 ─, unendlich zahlreiche
Modifikationen aufweist, den wir daher im Deutschen bald Seelenbeschaffenheit,
bald Seelenzustand, Gemütsart, auch Seelenstimmung
nennen müssen, ist es, den die Griechen mit dem einen
Namen des „Ethos“ bezeichneten. Es geht aus der Natur dieses Begriffes
hervor, muß aber wegen eines eingebürgerten fälschlichen Gebrauches
dieses griechischen Terminus immer von neuem erinnert werden,
daß darunter keineswegs, wie es mit dem lateinischen Ausdruck Moral
geschieht, allein die sittlich richtige Beschaffenheit der Seele oder gar
des Handelns verstanden werde, sondern daß der Ausdruck jedwede
Gesamtbeschaffenheit der Seele, jedweden aus verschiedenen Empfindungskräften
kombinierten, in dieser oder jener Art, bedeutend oder auch
geringer durch Vernunfteinflüsse modifizierten, dauernden oder auch nur
vorübergehenden Seelenzustand bedeuten kann.


Welch einen großen und wichtigen Einfluß neben und mit dem
Pathos, das ja immer für den einzelnen Fall seine an und für sich

1
Man denke z. B. an das Ethos der Andacht, welches, seiner eigentlichen Natur
nach in allmählicher Entwickelung erwachsen, der Seele als dauernder Besitz angehört
und gleichwohl doch auch durch Erregung der Empfindungen und Vorführung der
Vernunftbegriffe, auf denen sie beruht, momentan, ja plötzlich hervorgerufen werden
kann; ebenso Großmut, Ehrfurcht, Hingebung u. s. f., sie können als Regungen
─ wie der deutsche Sprachgebrauch sie in diesem Falle bezeichnet ─ zeitweilig und
momentan auch in Gemütern auftreten, welche diesen ethischen Dispositionen
für gewöhnlich verschlossen sind.
|#f0165 : 147|

ihm zukommende Bedeutung behält, nun auf das Zustandekommen der
Willensentscheidung und der aus derselben hervorgehenden Handlung
die Beschaffenheit des jedesmal obwaltenden Ethos haben muß, liegt
auf der Hand; ebenso aber, daß dieser Einfluß auch umgekehrt stattfindet
und also ein wechselseitiger ist. Denn wer sieht nicht, daß
das Ethos, sei es nun ein vorübergehendes oder vollends dauernder
Natur, durch das Zusammenwirken der Empfindungskräfte und einzelner
oder in langer Reihe fortgesetzter, diesem gegenüber ausgeübter Willensentscheidungen
sich herausbildet, daß es also, wie es einerseits auf
die Handlungen mitbestimmend einwirkt, so andrerseits
wiederum selbst als ein Produkt von Empfindungen und
Handlungen anzusehen ist.


Danach ist also die Handlung in ihrer eigentlichen, engeren Bedeutung
als der wichtigste Vorgang des gesamten Seelenlebens aufzufassen,
gleichsam als seine Blüte oder auch als seine Frucht, der charakteristische
Ausdruck seiner gesamten Beschaffenheit. Als ihre Grundlage
können alle Arten von Empfindungen in ihr zur Geltung und Erscheinung
gelangen: Haß und Liebe, Freude und Schmerz, Furcht und
Mitleid, Zorn und Weichheit, Neid, Mißgunst, Eifersucht oder alle Arten
großmütiger, freigebiger, sorglos vertrauender Regungen; ebenso aber
auch durch die Einwirkungen des vernünftigen Willens auf jene oder
durch den Mangel derselben alle Arten von Ethos: fromme Scheu
oder Hybris, mutige Fassung und Standhaftigkeit oder Verzweiflung
und Schwachmütigkeit, Festigkeit und Leichtsinn, Hochsinn und Engherzigkeit,
Sanftmut und Unversöhnlichkeit, Treue und Wankelmut, Ungestüm
und Besonnenheit und wie die Gegensätze und ihre unzähligen Zwischenstufen
alle heißen, oder auch, ohne daß sie in der Sprache eine
Benennung erhalten haben, doch im Handeln sich als wirksam
erweisen mögen.


Aus alle dem geht klar hervor, wie es zu verstehen ist, wenn wir
bei Aristoteles Sätze finden wie diesen: τὰς δὲ πράξεις περὶ ψυχὴν
τίθεμεν (cf. Eth. Nicom. cap. 8. 1098b 15), „wir fassen die Handlungen
als Vorgänge auf, welche dem Gebiet der Seele angehören“;
die Handlung im engsten und zugleich prägnantesten Sinn ist in der
auf dem Grunde pathischer Vorgänge und ethischer Zustände erfolgenden
Willensentscheidung enthalten: in diesem an sich rein seelischen Vorgange
ist alles gegeben, was zur Beurteilung ihres Wesens, ihrer erklärenden
Ursachen und ihrer notwendigen Folgen erforderlich ist. Dieser an sich
rein psychische Vorgang kann also ebenso wie ein Pathos oder wie ein
Ethos durch Anwendung der dazu geeigneten Mittel nachgeahmt werden |#f0166 : 148|

und zwar so, daß durch die Nachahmung, gerade wie bei jenen, alle
Erfordernisse für die Möglichkeit vereinigt werden,
daß in
den Seelen derer, welche diese Nachahmung auf sich wirken lassen, das
Abbild dieses psychischen Vorganges sich wiederholt.


Es mag hier sogleich ausgesprochen werden, was freilich erst an
einer andern Stelle ausgeführt werden kann, daß sich aus diesem Grundverhältnis
unmittelbar der Maßstab dafür ergibt, welches denn nun die
rechten Nachahmungsobjekte für die Kunst seien, d. h. was in der
Kunst als schön gelten wird. Jn der bloßen Wahrheit, d. h. Richtigkeit
der Nachahmung an sich kann dieser Maßstab nicht gegeben sein,
obwohl dieselbe nicht in dem kleinsten Stücke entbehrt werden kann: er
kann nur in dem höchsten und endgültigen Ziele der Kunst (ihrem
τέλος τέλειον) gefunden werden, welches immer unveränderlich dasselbe
ist: daß nämlich, mögen die angewendeten Mittel und der eingeschlagene
Weg der Nachahmung noch so verschieden sein, ihre Auswahl im Beginn,
im Verlauf und in ihrem Abschlusse von der einen leitenden
Hauptabsicht bestimmt sei, daß durch ihre Gesamtheit in der Seele des
Empfangenden das richtige Bild des richtigen Pathos, des richtigen
Ethos, der richtigen Willensentscheidung hervorgebracht werde,
richtig nach ihrer Beschaffenheit, Stärke, ihren Gründen, nach dem
Zeitpunkte und der Stelle, an welcher sie auftreten. Der durchaus unbestimmte
und schwankende Begriff der Jdealität, welcher in der
modernen Aesthetik die Hauptrolle spielt ─ unbestimmt und schwankend
deshalb, weil er im einzelnen Falle für die Auswahl des Nachahmungs=
objektes sich unfruchtbar und sogar als irreleitend erweist ─ bekommt
damit einen greifbaren, für jeden Fall in einer jeden Dichtungsgattung
klar und mit Sicherheit zu bestimmenden Jnhalt. Es ist etwas
Grundverschiedenes, ob durch die Forderung „idealer Darstellung
eine Verschönerung des Gegenstandes derselben verlangt wird, mag sie
nun durch Verstärkung seiner Vollkommenheiten oder durch Fortlassung
seiner Unvollkommenheiten, oder durch beides zugleich erreicht werden:
oder ob für jeden einzelnen Fall von der künstlerischen Darstellung gefordert
wird, daß sie nur erfolgen dürfe, sofern ihr Gegenstand in der
Seele des Künstlers die richtige, die der Natur des Gegenstandes
entsprechende Bewegung erzeugte,
und er denselben also
in der Weise darstellte, daß die Nachahmung dieses Seelenvorganges
bei dem Empfangenden durch das Kunstwerk ebenso hervorgebracht
werde,
wie sie bei ihm selbst, durch die Vorstellung seines
Gegenstandes erregt, vorhanden war. Daß der Hörer eines Liedes also
von derselben Empfindung ergriffen werde, von welcher der Sänger des= |#f0167 : 149|

selben erfüllt war, und zwar, daß es gesunde, gute, edle, große,
berechtigte Empfindungen
seien; daß der Vortrag einer Ballade,
einer gnomischen oder satirischen Dichtung in derselben Weise, mit
dem gleichen Erfolge, ein ebenso geartetes Ethos nachzuahmen geeignet
sei; daß endlich die Erzählung einer Handlung, wieder unter genau
denselben Bedingungen, die Gesamtheit der in der Darstellungsweise
des Erzählers
derselben zu Grunde liegenden Seelenbewegungen und
=Thätigkeiten durch die Nachahmung so bei dem Zuhörer wiedererwecke,
daß er mit seinem Empfinden dieser Handlung ebenso gegenübersteht,
als der Dichter, d. i. also, daß er sie richtig aufzunehmen, hinsichtlich
der empfindenden Wahrnehmung
─ d. i. ästhetisch
in den Stand gesetzt werde. Die Art aber, wie in jedem dieser
Fälle die künstlerische Nachahmung zu verfahren hat, welche Objekte sie
also zu erwählen, von welcher Seite sie dieselben darzustellen, was daran
hervorzuheben, was fortzulassen, welche Form sie ihnen zu erteilen hat,
um die beabsichtigte Wirkung hervorzubringen, das alles ergibt sich jedesmal
von selbst und mit Notwendigkeit zu einem Teile aus dieser Absicht
an sich
und zum andern aus der Natur der dieselbe zugleich
veranlassenden und sich ihr darbietenden Gegenstände

und der für ihre Nachahmung zur Verwendung gelangenden Mittel.
Damit ist für jede Kunstgattung und für jede ihrer Arten die Möglichkeit
einer bestimmten technischen Gesetzgebung eröffnet; das unübertreffliche,
freilich einzig dastehende Muster dafür ist in der Aristotelischen
Lehre von der Tragödie vorhanden. Die Gewähr aber, daß im einzelnen
Falle jene höchste künstlerische Absicht erreicht ist, liegt darin, daß
den innerhalb und vermittelst der ästhetischen Wahrnehmung sich vollziehenden
psychischen Energien, sofern sie die richtigsten und besten sind,
unfehlbar als begleitende und sie gleichsam krönende Erscheinung (τελείωσις
τῇς ἐνεργείας) sich die Freude, das ästhetische Vergnügen ─ die
Hedone ─ zugesellt, und zwar in um so höherem Grade, je höher
geartet der Gegenstand dieser ästhetischen Seelenthätigkeit ist und in je
vollendeterer Weise diese selbst von statten geht.1

1
Ausführlich ist dieser Gegenstand vom Verf. behandelt in seinem Buche: „Aristoteles,
Lessing und Goethe
“, Leipzig, Teubner 1877, im Abschnitt V: „Des
Aristoteles Lehre von der Hedone und dem Kalon“. Die Hauptstelle, auf welche sich
die im Obigen angedeutete Theorie stützt, steht in der Nikomachischen Ethik des
Aristoteles, Buch X, Kap. 4 (1174b, 14─33): Αἰσθήσεως δὲ πάσης πρὸς τὸ αἰσθητὸν
ἐνεργούσης, τελείως δὲ τῆς εὖ διακειμένης πρὸς τὸ κάλλιστον τῶν ὑπὸ τὴν αἴσθησιν·
τοιοῦτον γὰρ μάλιστ̓ εἶναι δοκεῖ ἡ τελεία ἐνέργεια· αὐτὴν δὲ λέγειν ἐνεργεῖν, \̓η ἐν
ᾧ ἐστὶ, μηδὲν διαφερέτω· καθ' ἕκαστον δὲ βελτίστη ἐστὶν ἡ ἐέργεια τοῦ ἄριστα
|#f0168 : 150|


Ohne alle Frage ist also die nach jeder Richtung hin vollständige
Nachahmung einer Handlung der höchste Gegenstand, welchen sich die
Dichtung erwählen kann, denn er ist zugleich der reichste und wendet
sich am unmittelbarsten an das Organ, mit welchem wir alle künstlerische
Nachahmung aufnehmen, an die empfindende Wahrnehmung,
die Aisthesis. Hier trifft, wie schon oben gesagt, das Mittel der
Nachahmung mit ihrem Zwecke gewissermaßen zusammen, insofern beides
durch den Ausdruck Handlung bezeichnet wird, freilich das eine Mal
das Wort seinem engeren, inneren Sinne nach, das andere Mal im
weiteren Sinne verstanden. Denn wie anders kann die Nachahmung


διακειμένου πρὸς τὸ κράτιστον τῶν ὑφ' αὑτήν· αὕτη δ' \̓αν τελειοτάτη εἴη καὶ ἡδίστη·
κατὰ πᾶσαν γὰρ αἴσθησιν ἐστὶν ἡδονὴ, ὁμοίως δὲ καὶ διάνοιαν καὶ θεωρίαν,
ἡδίστη δ'ἡ τελειοτάτη, τελειοτάτη δ' ἡ τοῦ εὖ ἔχοντος πρὸς τὸ σπουδαιότατον
τῶν ὑφ' αὑτήν. τελειοῖ δὲ τὴν ἐνεργείαν ἡ ἡδονή .... καθ' ἑκάστην δ' αἴσθησιν
ὅτι γίγνεται ἡδονὴ δῆλον· φαμἐν γὰρ δράματα καὶ ἀκούσματα εἶναι ἡδέα. δῆλον
δἐ καὶ ὅτι μάλιστα, ἐπειδὰν ἥ τε αἴσθησις ᾖ κρατίστη καὶ πρὸς τοσοῦτον ἐνεργῇ.
τοιούτων δ'ὄντων τοῦ τε αἰσθητοῦ καὶ τοῦ αἰσθανομένου, ἀεὶ ἔσται ἡδονή ....
τελειοῖ δἐ τὴν ἐνέργειαν ἡ ἡδονὴ οὐχ ὡς ἡ ἕξις ἐνυπάρχουσα, ἀλλ' ὡς ἐπιγιγνόμενόν
τι τέλος, οἷον τοῖς ἀκμαίοις ἡ ὥρα. Zu Deutsch (cf. 1174b, 14─24): „Eine
jede Wahrnehmung wird wirksam in Bezug auf den wahrzunehmenden Gegenstand; in
höchster Vollendung aber geschieht das, wenn sie selbst am besten dazu angelegt ist und
wirksam wird in Bezug auf den schönsten der in ihren Bereich fallenden Gegenstände:
denn in den meisten Fällen scheint die höchstvollendete Wirksamkeit so geartet zu sein ─
ob sie nämlich selbst wirksam genannt wird oder derjenige, in welchem sie vorgeht, ist
gleichgültig ─, überall entsteht die vollkommenste Wirksamkeit so, daß der am vortrefflichsten
dazu Angelegte dieselbe ausübt in Bezug auf das Vollkommenste, was im Bereich
derselben vorhanden ist. Eine solche Wirksamkeit wäre die höchstvollendete und
zngleich auch mit dem höchsten Grad von Freude verbunden. Denn bei einer jeden
Wahrnehmung kann Freude entstehen, ebenso aber auch beim Denken und bei
der Erkenntnis, jedoch mit der höchsten Freude verbunden ist die höchstvollendete,
und die höchstvollendete bei dem, der mit der am besten dazu geeigneten Beschaffenheit
dem Würdigsten gegenübertritt, das in ihrem Bereich vorhanden ist. Es ist aber
die Freude die Vollendung der Wirksamkeit
...“ Wie diese Vollendung
der Energie durch die Hedone zu verstehen sei, führt Aristoteles an dem zunächst sich
darbietenden Beispiel der aus der Wahrnehmung resultierenden Hedone, also
dem ästhetischen Vergnügen“, aus (cf. 1174b 26─33); „denn daß bei jeder
Wahrnehmung Freude entstehen kann, ist klar; wir sprechen ja doch von der Freude
an Gesichts- und Gehörseindrücken; offenbar aber wird dieselbe den höchsten Grad erreichen,
sobald die Wahrnehmung die vorzüglichste ist und in Bezug auf ein eben solches
Objekt wirksam ist; wenn diese beiden so beschaffen sind, dann wird immer Freude entstehen
... Es vollendet aber die Freude die Wirksamkeit nicht wie eine
dieser natürlich innewohnende Beschaffenheit, sondern wie ein vollendender
Abschluß tritt sie zu ihr hinzu, wie zu der Jugendkraft die
Schönheitsblüte
.“
|#f0169 : 151|

der geistigen, innern Handlung erreicht werden, als durch die Erzählung
der ihr entsprechend in die äußere Erscheinung tretenden That,
und wie anders kann diese vollständig, d. h. mit allen für ihr völliges
Verständnis erforderlichen innern und äußern Umständen dargestellt
werden, als indem zugleich von der Gesamtheit der sie innerlich erklärenden
Empfindungen und Gemütszustände und der äußerlichen Verhältnisse
und Begebenheiten berichtet wird, welche sie bedingen? Und
wie könnte durch Anwendung aller dieser Mittel der Zweck, den eigentlichen
und entscheidenden Akt der innern Handlung mit allen ihm
vorausgehenden und ihn begleitenden Seelenbewegungen in der Seele
des Hörers sich reproduzieren zu lassen, besser erreicht werden, als indem
die Erzählung alles aufbietet, um die Hörer in möglichst genau dieselbe
Lage zu bringen, wie die dem ganzen Umfange der Handlung nach in
dieselbe eingeweihten Zeugen derselben? Daß also die Darstellung
nirgends für die theoretische Analyse der das Gute und Böse abwägenden
Vernunft oder für die dialektische Kritik des über das Rechte oder
Unrechte, das Nützliche oder Schädliche, das Kluge oder Thörichte entscheidenden
Verstandesurteils eingerichtet ist, sondern überall für das
Auge und die empfindende Wahrnehmung des Hörers, daß sie also
lediglich seiner ästhetischen Urteilskraft sich darbietet, deren Urteil
unmittelbar, ohne alle Dazwischenkunft logischer Jnstanzen, in den durch
die Darstellung in Bewegung gesetzten Seelenvorgängen gegeben ist, also
in den nachgeahmten Empfindungen, Seelenzuständen und innern Handlungen,
─ den Pathe, Ethe und Praxeis? Die Sphäre aber der
ästhetischen Urteilskraft ist die Entscheidung über das ästhetische
Vergnügen,
die Hedone; ihr Spruch kann nicht anders lauten als
wohlgefällig“ oder „mißfällig,“ alle andern Urteile, die in die
Sphäre der Vernunft oder des Verstandes fallen, können erst nachträglich
daraus abgeleitet werden. Daß dem aber so ist, daß dieses ästhetische
Urteil so unmittelbar und so ohne alles Bewußtsein von
Gründen gefällt wird, daß es außerdem, sofern es ein richtiges ist, in
notwendiger Uebereinstimmung mit jenen anderen Urteilen erfolgen
muß, das bedarf nach dem im Obigen Entwickelten keines Beweises,
sondern geht als einfachste Konsequenz daraus hervor. Denn wenn
dieses ästhetische Urteil, je richtiger und reicher begründet es ist, in um
so stärkerem Auftreten des ästhetischen Vergnügens sich äußert, wenn
aber im wirklichen Leben die Seelenthätigkeiten, die Pathe, Ethe und
Praxeis, je reicher und mannigfaltiger sie in Wirksamkeit gesetzt werden
und je mehr sie mit den wahren Gesetzen der Vernunft und des Verstandes
sich in Harmonie befinden, desto mehr von dem Gefühl der |#f0170 : 152|

wahren Freude begleitet sind, so ist es ja offenbar, daß die Erscheinung
dieser selben Freude, welche die Thätigkeit der empfindenden Wahrnehmung,
der Aisthesis, begleitet, sobald dieselbe durch die künstlerische
Nachahmung in den Stand gesetzt wird, jene Seelenthätigkeiten gleichsam
zu wiederholen, unter allen Umständen den sicheren Rückschluß auf die
Beschaffenheit jener Seelenthätigkeiten gestatten muß: das heißt mit
anderen Worten, daß in dem unmittelbar und ohne Bewußtsein
der Gründe gefällten Urteil über das Wohlgefällige
der Nachahmung ebenso auch die Urteile der Vernunft über
das Gute und die des Verstandes über das Richtige derselben
enthalten sein, daß sie alle drei zusammenstimmen
und daß die beiden letzten aus dem ersten sich entwickeln
lassen müssen.


Nachahmungen, welche die so beschriebene Wirkung haben, sind
schön: was dazu gehört, sie hervorzubringen, worin, mit andern
Worten, das Schöne besteht, kann also durch eine allgemeine Definition
nicht bestimmt werden, sondern auf der einen Seite freilich durch
die Gesetze über die Beschaffenheit der Nachahmungsobjekte, d. i. der
Seelenthätigkeiten und =Beschaffenheiten ─ und diese Gesetze sind allerdings
allgemeiner Natur ─, auf der andern aber, welche für die Ausführung
die entscheidende ist, einzig und allein durch die für jede
Kunstgattung und =Art verschiedenen Vorschriften darüber, welche Wahl
von einer jeden unter den Nachahmungsobjekten zu treffen ist und in
welcher Art dieselben, je nach der Beschaffenheit der zu Gebote
stehenden Mittel,
der empfindenden Wahrnehmung vorzuführen sind.
Das Ergebnis davon ist für jede Gattung und Art der Kunst die
Regel ihrer Form.


Der Satz, welchen Lessing als das Grundgesetz für die gesamte
Dichtung aufstellt: „Handlungen sind der Gegenstand der
Poesie
“, hat also seine Geltung nur für das eine Gebiet derselben,
die Epik in ihrem ganzen Umfange. Wo die Handlung sonst in der
Dichtung auftritt, dient sie derselben nur als Mittel, d. h. sie wird
nicht um ihrer selbst willen erzählt, sondern sie wird nach einer einseitigen
Richtung hin benutzt, um einen abgesonderten Nachahmungszweck
zu ereichen: einen anderen im Liede, einen anderen in der Ballade, in
in der gnomischen Dichtung oder im Epigramm.


Was Goethe in dem inhaltschweren Liede „Gefunden“ („Jch
ging im Walde so für mich hin“ u. s. w.) erzählt, erinnert freilich
den in die Lebensverhältnisse des Dichters Eingeweihten an eine Handlung,
die den Namen im eminentesten Sinne verdient, aber es fehlt ge= |#f0171 : 153|

waltig viel daran, daß sie als eine solche in dem Liede dargestellt wäre.
Ja, um für die reizende lyrische Verwendung überhaupt brauchbar zu
werden, mußte sie von dem Dichter nicht allein aller individuellen Beziehungen
entkleidet werden, sondern es mußte ihr Schwerpunkt aus dem
Spezifischen und Wesentlichen der Handlung als solcher, das in der
Natur und Entstehung der Willensentscheidung liegt, hinausgerückt werden,
um sie ganz und gar einer einzigen der sie begleitenden Empfindungen,
oder einer einzelnen Gruppe derselben, dienstbar zu machen. Wenn das
Bild, durch welches sie mitgeteilt wird, so gewählt wäre, daß im Vordergrunde
das Hauptmoment der eigentlichen Handlung stände:
aus zufällig=leichtsinniger Begegnung bildet sich der Entschluß zu einem
Bunde für das Leben heraus: so wäre die Dichtung als Lied unmöglich;
sie würde eingehende, novellistische Darstellung der Handlung unumgänglich
erfordern. Statt dessen hat der Dichter von allen Seelenvorgängen, mit
denen jene Handlung für ihn verbunden war, nur die eine Empfindung
festgehalten: die erhöhte, zart schonende und sorglich hegende
Liebe,
die wir einem unserer Herzensteilnahme würdigen Gegenstande
gerade dann erweisen, wenn wir zuvor im Begriff waren, ihn achtlos
zu verletzen. Um diese schöne und allgemein mitteilbare Empfindung,
wie sie für den Dichter die Erinnerung eines individuellen Erlebnisses
begleitete, den Gesamteindruck deselben bezeichnend, gleichsam wie der
Duft die Blume, nun nachahmend in allen Hörern entstehen zu lassen,
erfand er jenen kleinen Vorgang, der von der eigentlichen Handlung
weiter gar nichts enthält, als was ─ im strengsten Sinne genommen ─
geeignet war, die besondere Färbung, Jntensität und eigenartige Mischung
jener Empfindungsweise zu erwecken. Jmmerhin hat er dazu als Mittel
die Erzählung einer äußeren Handlung verwendet, aber Jnhalt und
Zweck des Gedichtes sind nicht auf die Beschäftigung derjenigen unserer
Seelenkräfte gerichtet, welche beim Handeln in Bewegung geraten, sondern
nur auf den einzelnen Teil derselben, welcher in eben jener Empfindung
beschlossen ist.


Es ist genau das Verfahren des Volksliedes. Mit welcher skrupulösen
Genauigkeit sich Goethe demselben angeschlossen hat, erkennt
man in überraschender Weise, wenn man beachtet, daß das eben besprochene
Lied bis in die allerkleinsten Züge das getreue Pendant zu jenem
Volksliede ist, welches der Dichter in seinen Jugendtagen sich zu eigen
machte: dem „Haidenröslein“. Hier der Jünglingssinn, dort die
Mannesweise; dem gereiften Sinn entdeckt sich der verborgene Wert,
das Jünglingsauge wird durch die Schönheit gelockt, dort zarte sorgende
Schonung, hier übermütig und rücksichtslos vordringende Leidenschaft; |#f0172 : 154|

ist dort Gesamtinhalt der Nachahmung: Dauer und beglückende Wärme
der befestigten Neigung, so hier: die verhängnisvolle Mischung von flüchtigem,
stürmischem Genießen und lange dauernden scharfen Schmerzen
in unbeständiger Jünglingsliebe. Die Mittel der Darstellung sind in
beiden Fällen sowohl in der Wahl des Bildes als bis in die Details
der Anordnung und des Ausdrucks genau dieselben.1


Um aber sich zu vergegenwärtigen, was denn nun, im Gegensatze
hierzu, darunter zu verstehen sei, wenn die Handlung selbst, d. h.
also diejenigen Seelenvorgänge, welche beim Handeln in Bewegung sind,
zum Zwecke der Nachahmung gemacht wird, genügt es schon, wenn man
die einfachste, kürzeste und daher am leichtesten zu überschauende Art
der epischen Gattung nach dieser Richtung genauer untersucht: die
Fabel.
──────


XI.


Wieder ist es Lessing, von dessen Definition der Fabel hier ausgegangen
werden muß. Nirgends hat Lessing dem seine Zeit beherrschenden
Jrrtum von der Lehrhaftigkeit der Dichtung und ihrer Bestimmung,
moralische Besserung zu bewirken, einen stärkeren Tribut entrichtet als
hier. Freilich weist er die Fabel mehr der Philosophie und Rhetorik
als der eigentlichen Poesie zu, aber immerhin betrachtet er sie doch als
„Gedicht“, insofern man „das Wesen eines solchen in die bloße Fiktion

1
Jn beiden Gedichten, soweit sie der Zeit nach auseinander liegen ─ 1771 und
1813 ─ genau dieselbe Form des Gespräches mit einer Blume, hier des Knaben mit
dem Haidenröslein, dort des Mannes mit dem Waldblümchen, und in völliger Uebereinstimmung
durchgeführt: „Sah ein Knab' ein Röslein stehn, Röslein auf der Haiden“,
und dort: „Jm Schatten sah ich ein Blümchen stehn“; dann die Schilderung: „War
so jung und morgenschön“, dort: „Wie Sterne leuchtend, wie Aeuglein schön“; aber
entsprechend dem grundverschiedenen Stimmungscharakter hier der sorglos daherstürmende,
begehrende Knabe: „Lief er schnell es nah zu sehn, Sah's mit vielen Freuden“; dort
die Achtlosigkeit des seiner Gedankenwelt hingegebenen, von Leidenschaften befreiten
Mannes: „Jch ging im Walde So für mich hin, Und nichts zu suchen, Das war
mein Sinn.“ Dem entsprechend weiter hier: „Jch breche dich“, und die Antwort:
„Jch steche dich, daß du ewig denkst an mich“; dort: „Jch wollt' es brechen, Da sagt
es fein: Soll ich zum Welken Gebrochen sein?“ Ebenso in beiden Fällen der Ausgang:
„Und der wilde Knabe brach's Röslein auf der Haiden; Röslein wehrte sich
und stach, Half ihm doch kein Weh und Ach, Mußt' es eben leiden“; dagegen dort:
„Jch grub's mit allen Den Würzlein aus, Zum Garten trug ich's Am hübschen
Haus. Und pflanzt' es wieder Am stillen Ort; Nun zweigt es immer Und blüht so
fort.“ Ein vollkommener, bis in die kleinste Einzelheit durchgeführter Parallelismus!
|#f0173 : 155|

setzt,“ und spricht ihr nur „als notwendige Eigenschaft“ den „poetischen“
Ausdruck und „ein gewisses Silbenmaß“ ab, während er auch dieses als
zulässig betrachtet, sofern beides mit solcher Meisterschaft gehandhabt
wird, daß dadurch weder der Kürze noch der strengsten innern Folgerichtigkeit
der Fadeldichtung Eintrag gethan wird.


Seine Definition lautet: „Wenn wir einen allgemeinen moralischen
Satz auf einen besonderen Fall zurückführen, diesem besonderen Fall die
Wirklichkeit erteilen und eine Geschichte daraus dichten, in welcher man
den allgemeinen Satz anschauend erkennt, so heißt diese Erdichtung eine
Fabel.“ Sie ist ihm also ihrem Ursprung und Zweck nach, wie er selbst
es ausdrückt, „ein Exempel der praktischen Sittenlehre“.


Aus diesem Gesichtspunkt faßt er nun folgerichtig auch alle Eigenschaften
der Fabeldichtung auf und erklärt also ihre Haupteigentümlichkeit,
die Anwendung der Tiere als handelnder Personen lediglich aus
der allgemein bekannten Bestandheit ihrer Charaktere“, deren
das Exempel der Sittenlehre bedürfe, um in möglichster Kürze, mit dem
stärksten Nachdruck und „ohne Erregung der Leidenschaften“, welche „die
Erkenntnis verdunkeln würden“, den moralischen Satz zur anschauenden
Erkenntnis zu bringen.


Schon zu seiner Zeit und sogar unmittelbar nach dem Erscheinen
seiner „Abhandlungen über die Fabel“ erregte er damit bei denen, welche
im Gegensatz zu der bisherigen philosophisch=spekulativen Methode in
der poetischen Theorie und Kritik das Wesen der Poesie in einem
unmittelbaren Schöpfungsakt der erregten Empfindung erblickten, bei
den theoretischen Verkündigern der anbrechenden Genie-Periode, den leidenschaftlichsten
Widerspruch. Kaum ist Lessing jemals wieder mit solcher
Heftigkeit ─ und zugleich mit so viel Berechtigung ─ angegriffen worden,
als es damals durch Hamann geschah, und nur der wunderlich verdeckten
Angriffsweise und der bis zur völligen Unverständlichkeit gehenden
Dunkelheit der Ausdrucksweise desselben ist es zuzuschreiben, daß
diese Thatsache sowohl damals als in der späteren litterarhistorischen
Kritik unbemerkt blieb.1

1
Die heftigste Ankündigung seines neuen Evangeliums ging recht eigentlich von
der Polemik gegen Lessing aus: es ist die „Aesthetica in nuce“, „eine Rhapsodie
in kabbalistischer Prose
“, die 1762 in den „Kreuzzügen des Philologen
erschien. Die Sprache der schwungvollsten Begeisterung wechselt darin unaufhörlich
mit der bittersten Jronie, und die heftigsten Sarkasmen brechen unvermutet
überall hervor. „Nicht Leyer! ─ noch Pinsel! ─ eine Wurfschaufel für meine Muse,
die Tenne heiliger Litteratur zu fegen!“ ─ so beginnt die Rhapsodie, und gleich darauf
folgen die berühmten, so oft citierten Worte: „Poesie ist die Muttersprache des
|#f0174 : 156|


Später hat dann Herder an demselben Punke eingesetzt, wie so
oft, mit starkem Gefühl für das Richtige, aber mit schwankender Dialektik
und vielfach entschieden unrichtigen Gründen.


Volle Klarheit hat erst Jakob Grimm in den Gegenstand gebracht,
indem er von der Höhe seiner litterarhistorischen Kenntnis der Ent=


menschlichen Geschlechts; wie der Gartenbau älter als der Ackerban: Malerey
als Schrift: Gesang ─ als Deklamation: Gleichnisse ─ als Schlüsse: Tausch ─
als Handel. Ein tieferer Schlaf war die Ruhe unserer Urahnen; und ihre Bewegung
ein taumelnder Tanz. Sieben Tage im Stillschweigen des Nachsinnens oder Erstaunens
saßen sie ─ ─ und thaten ihren Mund auf ─ zu geflügelten Sprüchen. ─ ─
Sinne und Leidenschaften reden und verstehen nichts als Bilder. Jn Bildern
besteht der ganze Schatz menschlicher Erkenntnis und Glückseligkeit. So geht
der begeisterte Ton noch eine Weile fort, von den barocksten Einfällen blitzartig durchzuckt.
Und gleich der erste sarkastische Ausfall des kabbalistischen Rhapsoden offenbart
unverkennbar die Adresse, an welche die ganze erbitterte satirische Polemik der Schrift
gerichtet ist. Mit welcher Wut wird der „mordlügnerischen Philosophie“ gedacht, welche
die Natur aus dem Wege geräumt, und nun fordere, daß sie nachgeahmt werde,
um sie zum zweitenmale zu morden, „nachdem sie durch ihre Abstraktionen sie zuvor
geschunden“. Sinne und Leidenschaften werden in die Schranken gerufen gegen die
Lehrbücher „voller Totenbeine, voller hypo=kritischer Untugend“, und gegen
die Philologengelehrsamkeit, welche den Geist durch das Gedächtnis bilden wolle.
Alle diese Ausfälle erweisen sich als mit gegen Lessing gerichtet, wenn man den
an die Spitze des Ganzen gestellten Angriff als ihn treffend erkennt, freilich den Lessing
nur, wie er in seiner Fabeltheorie sich darstellt. Gerade diese Abhandlungen aber
waren, als Hamann jene Schrift abfaßte, vor kurzem erschienen; ihr hervorstechendster
Jrrtum ist die Auffassung des poetischen Elementes der Tiersage als lediglich eines
praktischen Mittels, allgemeine Wahrheiten der anschauenden Erkenntnis
zugänglich zu machen, wozu, wie Lessing sich ausdrückt, die Tiere als handelnde Personen
wegen der allgemein bekannten Bestandheit ihrer Charaktere
besonders geeignet seien. Nun lese man die betreffende Stelle bei Hamann: „Die erste
Nahrung war aus dem Pflanzenreiche: die Milch der Alten der Wein; die älteste Dichtkunst
nennt ihr gelehrter Scholiast (der Fabel des Jothams und Joas zufolge) botanisch;
auch die erste Kleidung des Menschen war eine Rhapsodie von Feigenblättern. ─ ─
Aber Gott der Herr machte Röcke von Fellen und zog sie an ─ unsern Stammeltern,
denen die Erkenntnis des Guten und Bösen Scham gelehrt hatte. ─ Wenn die Notdurft
eine Erfinderin der Bequemlichkeiten und Künste ist, so hat man Ursache, sich mit
Goguet zu wundern, wie in den Morgenländern die Mode sich zu kleiden, und zwar
in Tierhäuten, hat entstehen können. Darf ich eine Vermutung wagen, die ich wenigstens
für sinnreich halte? ─ ─ Jch setze das Herkommen dieser Tracht in der dem
Adam durch den Umgang mit dem alten Dichter (der in der Sprache Kanaans Abaddon,
auf hellenistisch aber Apollyon heißt ─) bekannt gewordenen allgemeinen
Bestandheit tierischer Charaktere,
─ die den ersten Menschen bewog, unter dem
gelehnten Balg eine anschauende Erkenntnis vergangener und künftiger Begebenheiten
auf die Nachwelt fortzupflanzen ─ ─ ─“ Man hat die Stelle für Ernst
genommen und die Hypothese für doch etwas gewagt erklärt. Nichts kann klarer sein,
|#f0175 : 157|

wickelung der Poesie die Fabel als einen Teil der in sich zusammenhängenden
uralten epischen Dichtung erkannte.1


„Die Poesie, nicht zufrieden Schicksale, Handlungen und Gedanken
der Menschen zu umfassen, hat auch das verborgene Leben der Tiere
bewältigen und unter ihre Einflüsse und Gesetze bringen wollen.“


„Ersten Anlaß hierzu entdecken wir schon in der ganzen Natur der
für sich selbst betrachtet auf einer poetischen Grundanschauung beruhenden
Sprache. Jndem sie nicht umhin kann, allen lebendigen, ja unbelebten
Wesen ein Genus anzueignen, und eine stärker oder leiser daraus entfaltete
Persönlichkeit einzuräumen, muß sie sie am deutlichsten bei den
Tieren vorherrschen lassen, welche nicht an den Boden gebannt, neben
voller Freiheit der Bewegung, die Gewalt der Stimme haben, und zur
Seite des Menschen als mitthätige Geschöpfe in dem Stilleben einer
gleichsam leidenden Pflanzenwelt auftreten. Damit scheint der Ursprung,
fast die Notwendigkeit der Tierfabel gegeben.“


Nachdem dann die vielfachen Analogien und engen Beziehungen
zwischen dem Tier- und Menschenleben sehr beredt entwickelt sind, heißt
es weiter:


„Sobald einmal um diesen Zusammenhang des tierischen und
menschlichen Lebens her die vielgeschäftige Sage und die nährende Poesie
sich ausbreiteten, und ihn dann wieder in den Duft einer entlegenen
Vergangenheit zurückschoben; mußte sich da nicht eine eigentümliche Reihe
von Ueberlieferungen erzeugen und niedersetzen, welche die Grundlage
aller Tierfabeln abgegeben haben? Alle Volkspoesie sehen wir erfüllt
von Tieren, die sie in Bilder, Sprüche und Lieder einführt. Und konnte
sich die allbelebende Dichtung des letzten Schrittes enthalten, den Tieren,
die sie in menschlicher Sinnesart vorstellte, auch das unerläßliche Mittel
näherer Gemeinschaft, Teilnahme an menschlich gegliederter Rede beizulegen?“



Und dann der entscheidende Hauptsatz, welcher zu der Lessingschen
Theorie in den stärksten Widerspruch tritt:


„Die Tierfabel gründet sich also auf nichts Anderes als den
sicheren und dauerhaften Boden jedweder epischen Dichtung, auf uner=


als daß sie schon für sich allein betrachtet und vollends im Zusammenhange des Ganzen
ein flagranter Protest gegen die unberechtigte Einmischung kritischer Abstraktionen in das
Mysterium des poetischen Schaffens und Werdens ist, deren Hamann auch einen Kritiker
von dem Range Lessings schuldig glaubte.
Rede, daß ich dich sehe! ─ ─“ fährt er im Tone der höchsten Emphase fort.
1
„Wesen der Tierfabel“ in: „Reinhart Fuchs“ (1834). Erstes Kapitel. Vgl.:
„Auswahl aus den kleinen Schriften J. Grimms“. Berlin 1871. F. Dümmler. S. 348.
|#f0176 : 158|

denkliche, lang hingehaltene, zähe Ueberlieferung, die mächtig genug war,
sich in endlose Fäden auszuspinnen und diese dem wechselnden Laufe
der Zeiten anzuschmiegen. Gleich allem Epos, in nie still stehendem
Wachstum, setzt sie Ringe an, Stufen ihrer Entwickelung zu bezeichnen,
und weiß sich nach Ort, Gegend und den veränderlichen Verhältnissen
menschlicher Einrichtungen unermüdlich von neuem zu gestalten und
wieder zu gebären. Unter günstigem Luftstrich gedeiht sie und gewinnt
Formen; wo aber die Zeit ihrer Blüte ungenutzt verläuft, stirbt sie allmählich
aus und wird nur noch in bröckelhafter Volkssage dahingetragen.
Es ist eben so widerstrebend echte Tierfabeln zu ersinnen, als
ein anderes episches Gedicht. Alle Versuche scheitern, weil das Gelingen
gebunden ist an einen unerfundenen und unerfindbaren Stoff, über
den die Länge der Tradition gekommen sein muß, ihn zu weihen und
festigen.“1

1
Es kann hier nicht unerwähnt bleiben, daß die neuere Forschung diese Anschauungen
J. Grimms von dem Wesen und der Entstehung der Tierdichtung als überwunden
betrachtet. Jn dem schönen Buche W. Scherers über „J. Grimm“ (2. Aufl.
Berlin 1885) heißt es darüber S. 291 ff. folgendermaßen: „Eine Schöpfung bewußter
Kunstthätigkeit ward von ihm als ein Produkt der bewußtlos schaffenden Naturkraft
des Geistes angesehen und grauer unvordenklicher Ueberlieferung zugeschrieben, was vor
den Augen der bezeugten Geschichte in seiner Entstehung und Ausbildung offenlag.“
„Die ältesten Gedichte vom Wolf und Fuchs sind nicht älter als das zehnte Jahrhundert.
Sie sind von Klostergeistlichen verfaßt und stammen aus Flandern und
Lothringen. Jhre Nachahmung und Erweiterung, die Ausbreitung der poetischen Gattung,
welche sie begründeten, erstreckte sich während des Mittelalters von dort aus nicht
weiter als auf Nordfrankreich. Eine einzige Tierfabel wird bei Gothen und Baiern
schon in viel älterer Zeit erzählt, aber gerade bei ihr ist die Entlehnung aus griechischer
Fabel nicht nur möglich, sondern, wenn man die Chronologie ihres Auftretens verfolgt
und ihrer Umwandlung nachgeht, aus mehr als einem Grunde höchst wahrscheinlich.
Der alte skandinavische Norden, sonst der treueste Hüter der alten Schätze gemeinsamer
nationaler Poesie, weiß nichts von Reinhart und Jsengrim. Das neuere Skandinavien
teilt seine Tiermärchen mit den gar nicht verwandten Völkern der Lappen, Finnen und
Esthen.“
„Der feindliche Gegensatz zwischen Fuchs und Wolf war in griechischen Fabeln
schon gegeben, von denen sich lateinische Bearbeitungen früh im Mittelalter verbreiteten.
Jhn ergriffen die Verfasser jener mittelalterlichen Gedichte und bildeten ihn mit großem
Behagen weiter aus...“
„Zu dem aus Äsopischen Stoffen mit einem Zusatze von allegorischer Satire komponierten
Grundstocke flossen indische Tierfabeln, mit anderen novellistischen Produkten
in die abendländische Litteratur einströmend, hinzu. Die geschulte Gewandtheit der lateinischen
Klosterdichter, die geschickte Kunstübung der nordfranzösischen Poeten verlieh der
Dichtung jenen reizenden epischen Ueberfluß, welcher in Jakob Grimms Augen ihr
einen so hohen Vorrang vor der Äsopischen Fabel verlieh, und welchem ihre Einführung
aus der französischen in die deutsche und niederländische Nationallitteratur verdankt wird.“
|#f0177 : 159|


Aus dieser rein epischen Auffassung der Fabel ergibt sich für
Grimm die Anwendung der Tiere darin von selbst: „Sobald wir eingelassen
sind in das innere Gebiet der Fabel, beginnt der Zweifel an
dem wirklichen Geschehensein ihrer Ereignisse zu schwinden, wir fühlen
uns so von ihr angezogen und fortgerissen, daß wir den auftretenden
Tieren eine Teilnahme zuwenden, die wenig oder nichts nachgibt derjenigen,
die uns beim rein menschlichen Epos erfüllt. Wir vergessen,
daß die handelnden Personen Tiere sind, wir muten ihnen Pläne,
Schicksale und Gesinnungen der Menschen zu.“


Es ergeben sich daraus zwei wesentliche Merkmale der Tierfabel,
die in der Wirklichkeit zwar sich widerstreiten, aber deren Vereinbarung
die Tierfabel nicht entraten kann: „Einmal sie muß die Tiere darstellen
als seien sie begabt mit menschlicher Vernunft und in alle Gewohnheiten
und Zustände unseres Lebens eingeweiht, so daß ihre Aufführung gar


Die dieser Hypothese zu Grunde liegenden historischen Thatsachen waren ihrem
wesentlichen Bestande nach J. Grimm bekannt; allein der Umstand, daß einem völligen
Mangel schriftlicher Ueberlieferung aus dem neunten Jahrhundert im zehnten sehr spärliche
lateinische Reste von Tierdichtungen gegenüberstehen, worauf dann im zwölften und
dreizehnten auf einmal eine reiche Fülle solcher Stoffe erscheint, konnte seiner Hypothese
nicht hinderlich sein, sondern hat vielmehr mit dazu beigetragen, sie hervorzubringen.
Man darf nicht übersehen, daß solche negativen Resultate der Forschung, wie sie für
die Vorgeschichte der Tierdichtung vorliegen, mit Sicherheit doch nur erweisen, daß das
Material für die frühere Zeit eben nicht vorhanden ist, mag es nun verloren gegangen
sein oder mag eine feste poetische Tradition überhaupt sich nicht herausgebildet haben.
Dem gegenüber bleibt die Grimmsche Anschauung, die aus dem Wesen der Sache geschöpft
ist, um so mehr in ihrem Rechte, weil eben wegen jenes Mangels der Ueberlieferung
hier eine Hypothese erfordert wird; denn eine solche ist es doch auch nur,
wenn aus dem Grunde, daß die Kunde dieser Entwickelung eine so höchst mangelhafte
ist, der Schluß gezogen wird, die ganze ungeheure Bereicherung der Tiersage im dreizehnten
Jahrhundert sei der bewußten Kunstthätigkeit einzelner Dichter zu danken.
Stellt man sich vor, daß es doch nur Zufälligkeiten waren, die uns die äußerst geringen
Nachrichten über das Vorhandensein alter deutscher Heldenlieder erhalten haben,
und denen wir ferner die ebenfalls im Verhältnis zu dem Sagenmaterial des zwölften
und dreizehnten Jahrhunderts nur spärliche Kunde früherer Entwickelungsstadien desselben
verdanken, und nimmt man nun an, daß diese Zufälle nicht eingetreten wären:
zu welchen Schlüssen würde man dann z. B. in betreff unseres Nibelungenepos gelangen,
wenn man für das Bild, das man sich von dem Werden und Wachsen der
Sage und der Poesie in jenen frühen Zeiten entwirft, jene Methode der Schlußfolgerung,
des quod non est in actis non fuit in mundo, zum Princip erheben wollte!
Ja, man erwäge dafür auch nur einen Vorgang aus neuester Zeit, dessen zu gedenken
hier naheliegt und der sehr lehrreich in dieser Beziehung ist: hätten die Brüder Grimm
die Sammlung der deutschen Volksmärchen nicht unternommen, auf ein wie dürftiges
Maß würde schon heute die Kunde von diesem reichen poetischen Besitz unseres Volkes
reduciert sein
|#f0178 : 160|

nichts Befremdliches hat.“ ..... „Dann aber müssen daneben die Eigenheiten
der besonderen tierischen Natur ins Spiel gebracht und geltend
gemacht werden.“


Es versteht sich darnach von selbst, daß der Tierfabel ihrer Natur
nach weder satirische noch didaktische Tendenz beiwohnt. Höchst geistvoll
und treffend, zugleich von einer Tragweite, die sich über das gesamte
epische Gebiet hin erstreckt, ist, was Jakob Grimm über diesen
letzten Punkt, die vorgebliche Lehrhaftigkeit der Fabel, ausspricht:


„Lehrhaft nun ist die Fabel allerdings, doch mich dünkt ihr erster
Beginn nicht Lehre gewesen. Sie lehrt wie alles Epos, aber sie geht
nicht darauf aus zu lehren. Die Lehre mag aus ihr und dem Epos,
um eine Vergleichung zu brauchen, gezogen werden wie der Saft aus
der Traube, deren milde Süße, nicht schon den gekelterten Wein, sie
mit sich führen. Ueberall, wo uns das zur Moral vergorene Getränk
dargeboten wird, ist nicht mehr die frische epische Tierfabel, sondern
bereits ihr Niederschlag vorhanden. Daher quillt auch aus dem Epos
die Lehre eigentlich reichhaltiger nach vielen Seiten hervor, der späteren
Fabel wird eine bestimmte Affabulation entpreßt, die von kleinerem
Bereich in vielen Fällen ihren Stoff gar nicht erschöpft hat; es könnten
ihr noch ganz andere Lehren, als die gewählten, entnommen werden, ja
der nämlichen Fabel sehr verschiedene. Der echten Fabel Jnhalt läßt
eine Menge von Anwendungen zu, aus dem bloßen Epimythium aber
sich noch keine Fabel auferbauen.“


Und so gelangt denn auch, was den „Vortrag“ der Fabel betrifft,
Jakob Grimm zu dem entgegengesetzten Resultat wie Lessing: „Lessings
Jrrtum lag darin, daß er in den besten griechischen Stücken den Gipfel,
nicht in allen schon das Sinken und die sich zersetzende Kraft der alten
Tierfabel erblickte. Zu dieser können die Apologe, die er selbst gedichtet,
sich nicht anders verhalten als ein Epigramm in scharfzielender
Gedrungenheit zu der milden und sinnlichen, von dem
Geiste des Ganzen eingegebenen Dichtung des Altertums.

Das naive Element geht den Lessingschen Fabeln ab bis auf die leiseste
Ahnung. Zwar behaupten seine Tiere den natürlichen Charakter, aber
was sie thun, interessiert nicht mehr an sich, sondern durch
die Spannung auf die erwartete Moral.
Kürze ist ihm die Seele
der Fabel, und es soll in jeder nur ein sittlicher Begriff anschaulich
gemacht werden; man darf umgedreht behaupten, daß die Kürze der Tod
der Fabel ist und ihren sinnlichen Gehalt vernichtet.“


Die Fabel ist ihrem innersten Wesen nach episch, das ist
der Grundgedanke der Grimmschen Auffassung; alle die weiteren von |#f0179 : 161|

ihm gegebenen Bestimmungen sind aus diesem Gedanken mit Notwendigkeit
sich ergebende Konsequenzen.


Aufgabe der epischen Dichtung aber ist die Nachahmung einer
Handlung,
und zwar nicht um durch dieses Mittel irgend einen
anderen Zweck zu erreichen, sondern um ihrer selbst willen, so daß
die Nachahmung der äußeren Handlung die Kraft besitzt, den entsprechenden
Seelenvorgang der inneren Handlung, welcher jener äußeren Handlung
zu Grunde liegt, in der Seele des Wahrnehmenden sich wiederholen
zu lassen.


Dieser Gedanke ist es auch, welcher Herdern in seiner weitausgedehnten
Bestreitung der Lessingschen Fabeltheorie überall vorschwebt,
wenn auch stark verhüllt durch die irrtümlichen Grundanschauungen, von
denen er ausgeht.


Auch ihm ist die Fabel „die Darstellung einer in Handlung
gesetzten Lehre
1 und damit „der Grund aller Dichtkunst“. Aber
die auch von Lessing unumgänglich geforderte „Allgemeinheit“ dieser
Lehre ist nach Herders Meinung einzig und allein dadurch zu erreichen,
daß die dargestellte Handlung eine solche sei, in der „das Allgemeine,
das Unwiderstrebliche der Naturordnung und Naturfolge

nach ihren allgemeinen, dauernden Gesetzen“ sich kundgebe.2


Jmmerhin ist ihm, sowie die „dogmatische Poesie bloß eine mit
poetischem Schmuck gezierte Lehre,“ so die „Äsopische Fabel nichts als
eine moralisierte Dichtung“.3 Aber diese „Moral“ darf nur „aus
dem Kreise der Menschheit“ hergenommen sein, und der Ausdruck bedeutet
ihm nicht ein Pflichtgebot, sondern vielmehr „einen besondern,
praktischen Satz, eine Erfahrungslehre für eine bestimmte Situation des
Lebens.4 „Zu Bildung praktischer Klugheit erfand Äsop seine Fabeln,
nicht zum Behuf der Abstraktion einer allgemeinen moralischen Wahrheit.“5
Von diesen Voraussetzungen aus gelangt nun Herder zu der
folgenden Frage: „Wie muß die Handlung der Fabel beschaffen
sein?
Jst's genug, daß das Ganze, das sie erzählt, bloß eine Folge
von Veränderungen sei, deren jede dazu beiträgt, den moralischen
Lehrsatz der Fabel anschauend zu zeigen?
oder muß sie auch
in der Fabel wirkliche Handlung, d. i. eine Veränderung der

1
Vgl. Adrastea, „Über die Fabel“ (Hempelsche Ausg. Bd. 14, S. 211).
2
a. a. O. S. 211.
3
Vgl. Zerstreute Blätter: Über Bild, Dichtung und Fabel“ (Hempel Bd. 15,
S. 95 und 96).
4
a. a. O. S. 101 und 103.
5
a. a. O. S. 106.
|#f0180 : 162|

Seele mit Wahl und Absicht sein?“1 Herder entscheidet sich für das
letztere; eine bloße „Zusammenstellung einer Gedankenfolge, damit
eine feine Bemerkung Stelle und Ort finde,“ gewährt in seinen Augen
nicht Anspruch auf den Namen einer Fabel, sondern höchstens auf den
einer „sinnreichen Dichtung“.


Damit hat aber Herder gerade den Punkt bestritten, auf dessen
Festhaltung Lessing in seinen Abhandlungen über die Fabel den größten
Wert legt. „Eine Handlung,“ sagt Batteux, „ist eine Unternehmung,
die mit Wahl und Absicht geschieht. ─ Die Handlung setzet außer
dem Leben und der Wirksamkeit auch Wahl und Endzweck voraus und
kömmt nur vernünftigen Wesen zu.“2 Lessing will diese Definition für
den Begriff der Handlung im Epos und Drama allenfalls gelten lassen,
obwohl er nicht unterläßt, nachdrücklich daran zu erinnern, daß „auch
jeder innere Kampf von Leidenschaften, jede Folge von verschiedenen
Gedanken, wo eine die andere aufhebt, eine Handlung sei.“ Aber selbst
diese Erweiterung genügt ihm noch nicht für die Fabel: „neun Zehnteile
aller existierenden Fabeln, meint er, wären auszustreichen,“ wollte
man die Batteuxsche Erklärung als für sie maßgebend anerkennen. Jhm
ist der Begriff der Handlung erfüllt durch „eine bloße Folge von
Veränderungen,
“ und um allem Streit über diese weiteste, dem
Sprachgebrauch wenig entsprechende Fassung aus dem Wege zu gehen,
entschließt er sich den Ausdruck „Handlung“ in seiner Definition der
Fabel ganz fallen zu lassen und verlangt für sie nur die Darstellung
eines „einzelnen Falles,“ von welchem die Fabel gerade so viel,
und nicht mehr, zu erzählen habe, als hinreiche, den „allgemeinen
moralischen Satz,“ welchen sie enthalten solle, „anschauend erkennen
zu lassen.“


Man sieht, nach Lessing ist die Fabel nicht epischer Natur,
sondern sie wendet in ihrem letzten Zweck sich an unsere Erkenntnis,
sie ist lehrhaften Charakters; dieser fundamentale Jrrtum Lessings
beruht aber zu allermeist auf seiner falschen Ansicht über das Wesen
der Handlung.


Es ist nicht schwer zu zeigen, daß sein eigener Beweis sich gegen
ihn wendet. Er lautet folgendermaßen: „„Zwei Hähne kämpfen mit
einander. Der Besiegte verkriecht sich. Der Sieger fliegt auf ein Dach,
schlägt stolz mit den Flügeln und krähet. Plötzlich schießt ein Adler
auf den Sieger herab und zerfleischt ihn.““ „Jch habe das allezeit für

1
a. a. O. S. 107.
2
Vgl. Lessing, Abhandl. über die Fabel I (Hempel Bd. X, S. 43 u. ff.).
|#f0181 : 163|

eine sehr glückliche Fabel gehalten, und doch fehlt ihr nach dem Batteux
die Handlung, denn wo ist hier eine Unternehmung, die mit Wahl und
Absicht geschähe?“ Dieselbe ist allerdings vorhanden; ja nur durch
ihr Vorhandensein wird der erzählte Vorgang zu einer
Fabel!
Trotzdem das, was Lessing reproduziert, im Grunde nicht die
Fabel selbst ist, sondern nur die trockenste Jnhaltsangabe derselben, so
konnte doch selbst in dieser das eine Wort nicht unterdrückt werden, auf
das hier alles ankommt und durch dessen Fortlassung freilich die Fabel
in den einfachen Bericht eines wirklichen Vorganges verwandelt werden
würde, aus welchem höchstens durch Allegorie eine Nutzanwendung gezogen
werden könnte, also gerade durch das Verfahren, welches Lessing
am meisten verpönt. Aber indem selbst der Jnhaltsbericht in seiner
äußersten Kürze nicht vergißt zu erzählen: „der Sieger fliegt auf das
Dach, schlägt stolz mit den Flügeln und krähet,“ hat er das Benehmen
des siegreichen Hahnes aus einer Manifestation natürlichen Jnstinktes
zu einer bewußten Handlung erhoben, die mit freier „Wahl
gemäß einem unter dem Gesetz moralischer Verantwortlichkeit gedachten
Charakter erfolgt, zu einer vom Willen eingegebenen „Unternehmung,
welche in der „Absicht“ geschieht den Triumph des Sieges
in der Herausforderung der ihm gebührenden Bewunderung zu genießen.
Diese „mit Wahl und Absicht geschehende Unternehmung“ wird sein
Verderben, wie ganz ebenso eine ähnliche Thorheit etwa einem Feldherrn,
der statt seinen Sieg zu benutzen sich in Siegesfesten bläht, den Untergang
bereiten könnte. Dies ist die Handlung der Fabel, und dieselbe
wird um so besser erzählt sein, je mehr es gelingt, diese Handlung nach
der bezeichneten Richtung durch die ihr innewohnende Kraft wirksam zu
machen, d. h. je mehr die Fabel episch und je weniger sie didaktisch
ist. Jhr Zweck und ihre Kraft besteht dann darin, daß sie das innere
Handlungsmoment
nachahmend in der Seele des Hörers zu erwecken
vermögend ist. Um alle „Lehren“ und „Nutzanwendungen,“ die nach
der positiven und nach der negativen Seite daraus gezogen werden
können, kümmert sie sich weiter nicht. Aber je mehr die „Nachahmung
der Handlung
“ gelungen ist, d. h. je lebhafter der entsprechende
innere Vorgang angeregt ist, desto stärker wird von dieser Bewegung der
Seele aus, in welcher im Grunde der ganze Nachahmungszweck erreicht
ist, der Appell an das Denkvermögen ergehen, sich alle jene „Lehren“
zu eigen zu machen, welche nach J. Grimms schönem Ausdruck daraus
„hervorquellen“ und zwar nach allen Seiten, keineswegs erschöpft durch
„die Enge der Affabulation“.


Genau so steht es mit Lessings zweitem Beispiel: „„Der Hirsch |#f0182 : 164|

betrachtet sich in einer spiegelnden Quelle; er schämt sich seiner
dürren Läufte und freuet sich seines stolzen Geweihes. Aber nicht
lange! Hinter ihm ertönet die Jagd; seine dürren Läufte bringen ihn
glücklich ins Gehölze, da verstrickt ihn sein stolzes Geweih: er wird erreicht.““
Lessing fügt hinzu: „Auch hier sehe ich keine Unternehmung,
keine Absicht. Die Jagd ist zwar eine Unternehmung, und der fliehende
Hirsch hat die Absicht, sich zu retten; aber beide Umstände gehören
eigentlich nicht zur Fabel, weil man sie ohne Nachteil derselben weglassen
und verändern kann. Und dennoch fehlt es ihr nicht an Handlung.
Denn die Handlung liegt in dem falsch befundenen Urteile des
Hirsches. Der Hirsch urteilet falsch und lernet gleich darauf aus der
Erfahrung, daß er falsch geurteilet habe. Hier ist also eine Folge
von Veränderungen, die einen einzigen anschauenden Begriff
in mir erwecken.
─ Und das ist meine obige Erklärung der Handlung,
von der ich glaube, daß sie auf alle guten Fabeln passen wird.“ Nur
in dem „falschen Urteile“ des Hirsches soll die Handlung liegen? Dann
würde die Fabel weiter nichts zeigen, als daß ein jeder Jrrtum schädlich
ist, und im Grunde auch das nicht einmal, denn das Geweih würde
den Hirsch ebenso verstrickt haben, wenn er in betreff seiner richtig geurteilt
hätte. Lessing hat sich durch die dürre Kürze des Fabel-Lemmas
irreführen lassen; obwohl selbst dieses die Züge der eigentlichen Handlung,
gerade wie im ersten Falle, nicht unangedeutet lassen konnte. Jenes
„falsch befundene Urteil“ ist ja nur das begleitende Ergebnis einer
„Unternehmung“, welche ihrerseits völlig aus der freien „Wahl“ des
Hirsches hervorgeht und auch keineswegs ohne „Absicht“ geschieht; und
noch mehr, gerade diese „Unternehmung“ ist die vorzügliche Ursache, daß
jenes „falsche Urteil“ für den Hirsch verhängnisvoll wird. Er „betrachtet
sich in einer spiegelnden Quelle“: es ist etwas Anderes als ein
Zufall, es ist eine „Handlung“ der Eitelkeit und Selbstgefälligkeit,
welche ihn vor diesem Spiegel festhält und ihn zu dem falschen Urteil
über den Wert seiner äußeren Vorzüge und zu der Mißachtung seiner
wahren Kräfte verführt. Diese „Handlung“ wird sein Verderben, denn
sie läßt ihn die gewohnte Vorsicht vergessen, mit der er sonst den Feind
aus der Ferne wittert und sich beizeiten den verachteten „dürren
Läuften“ vertraut; nun ist es zu spät und bei der hastigen Flucht bringt
ihn gerade der Gegenstand seines eitlen Stolzes zu Fall.


Es ist für den Erzähler keineswegs gleichgiltig, ob er den Fabelstoff
so ansieht oder in der Weise, wie es von Phädrus und Lessing geschehen;
während hier die Darstellung, dürftig genug, auf nichts hinausläuft als
den kahlen „Erfahrungssatz“:

|#f0183 : 165|

Laudatis utiliora quae contemseris
Saepe inveniri,

nötigt die Auffassung des Fabelstoffs als „wirkliche Handlung
dazu, jene Momente des durch sich selbst bestimmten Willens und
charakteristischen Entschließens und Thuns mit ihren Folgen zu lebendiger
Wirksamkeit zu bringen, d. h. mit andern Worten: episch zu erzählen,
wobei dann jede äußerlich hinzugefügte Nutzanwendung überflüssig wird,
ja vom Uebel, da sie den Kreis der durch die „Handlung“ in Bewegung
gesetzten Gedanken auf einen einzigen Punkt einschränkt, sei derselbe auch
immerhin der wesentlichste.


Lessing selbst hat sich nicht enthalten können, seiner Theorie einen
Zusatz anzuhängen, welcher genau betrachtet den Keim ihrer Auflösung
enthält. „So viel ist wahr“, sagt er, „wenn aus einem Erfahrungssatz
unmittelbar eine Pflicht, etwas zu thun oder zu lassen, folget, so thut
der Dichter besser, wenn er die Pflicht, als wenn er den bloßen Erfahrungssatz
in seiner Fabel ausdrückt. ─ „„Groß sein ist nicht immer
ein Glück.““ ─ Diesen Erfahrungssatz in eine schöne Fabel zu bringen,
möchte kaum möglich sein. Die Fabel von dem Fischer, welcher nur
der größten Fische habhaft bleibet, indem die kleineren glücklich durch
das Netz durchschlupfen, ist in mehr als einer Betrachtung ein sehr mißlungener
Versuch. Aber wer heißt auch dem Dichter die Wahrheit von
dieser schielenden und unfruchtbaren Seite nehmen? Wenn groß sein
nicht immer ein Glück ist, so ist es oft ein Unglück, und wehe dem, der
wider seinen Willen groß ward (─ es mag gleich hier eingeschaltet
werden: also doch ohne seine „Wahl“ und wider seine „Absicht“ ─),
den das Glück ohne sein Zuthun (also ohne eine „Unternehmung
seinerseits) erhob, um ihn ohne sein Verschulden desto elender zu machen!
Die großen Fische mußten groß werden, es stand nicht bei ihnen, klein
zu bleiben. Jch danke dem Dichter für kein Bild, in welchem ebenso
viele ihr Unglück als ihr Glück erkennen. Er soll niemanden mit seinen
Umständen unzufrieden machen, und hier macht er doch, daß es die
Großen mit den ihrigen sein müssen. Nicht das Großsein, sondern die
eitle Begierde, groß zu werden (κενοδοξίαν) sollte er uns als eine
Quelle des Unglücks zeigen. Und das that jener Alte, der die Fabel
von den Mäusen und Wieseln erzählte. „„Die Mäuse glaubten, daß
sie nur deswegen in ihrem Kriege mit den Wieseln unglücklich wären,
weil sie keine Heerführer hätten, und beschlossen, dergleichen zu wählen.
Wie rang nicht diese und jene ehrgeizige Maus, es zu werden! Und
wie teuer kam ihr am Ende dieser Vorzug zu stehen! Die Eiteln
banden sich Hörner auf,

|#f0184 : 166|

─ ─ ─ ut conspicuum in praelio
Haberent signum, quod sequerentur milites,

und diese Hörner, als ihr Heer dennoch wieder geschlagen ward, hinderten
sie, sich in ihre engen Löcher zu retten;


Haesere in portis suntque capti ab hostibus;
Quos immolatos victor avidis dentibus
Capacis alvi mersit tartareo specu.““

„Diese Fabel ist ungleich schöner. Wodurch ist sie es aber anders geworden
als dadurch, daß der Dichter die Moral bestimmter und fruchtbarer
angenommen hat? Er hat das Bestreben nach einer eiteln
Größe und nicht die Größe überhaupt zu seinem Gegenstande gewählet;
und nur durch dieses Bestreben, durch diese eitle Größe ist natürlicherweise
auch in seine Fabel das Leben gekommen, das uns so sehr
in ihr gefällt.“


Aber ist es denn wahr, daß nun in dieser Fabel „eine Pflicht
ausgedrückt ist statt eines Erfahrungssatzes?“ Liegt die Sache
nicht vielmehr so, daß eine „Moral“, die Vorschrift einer „Pflicht
auch hier erst durch einen Akt unseres subjektiven Denkvermögens gefolgert
werden muß, und daß objektiv in der Erzählung nichts dergleichen
enthalten ist, sondern, ganz wie in der ersten, ein einfacher
Erfahrungssatz? Nur daß der erste auf die Beobachtung einer einfachen
Thatsache
sich gründet, der zweite auf die Beobachtung einer
Handlungsweise? Lessing hat sich, wie mehrfach in den Fabel=
Abhandlungen, dieser handgreiflichen Erkenntnis verschlossen, weil die
Ueberzeugung von der Unumstößlichkeit seiner irrigen Grundanschauung
zu fest in ihm war. Der Unterschied zwischen der sogenannten Fabel
von den Fischen und der echten Fabel von den Mäusen und Wieseln
ist der, daß die zweite wirkliche Handlung enthält, die erste nicht.
Und es ist überhaupt keine Fabel zu denken, welche nicht eine solche
echte und wirkliche Handlung zum Gegenstande ihrer Nachahmung
hätte. Die Holbergsche Fabel von den Ziegen, welche Lessing so treffend
verurteilt, ist, ganz abgesehen von der Absurdität der Erfindung, hauptsächlich
deshalb verfehlt, weil sie ganz und gar der Handlung entbehrt.
Die Ziegen „thun“ darin nichts, was diesen Namen im entferntesten
verdiente; es heißt zwar von ihnen: „Sie machten dem Teufel so viel
zu thun, daß er sie mit aller seiner Kunst und Geschicklichkeit nicht in
der Zucht halten konnte“, aber damit sind sie eben einfach bei den
Äußerungen ihres natürlichen Jnstinktes geblieben, es ist ihnen nichts
beigelegt, was „Wahl und Absicht“ verriete, sie „handeln“ nicht.

|#f0185 : 167|


Daraus geht auch hervor, daß Lessings Einteilung der Fabel falsch
ist: „vernünftige“ Fabeln, „deren Fall schlechterdings möglich
ist
“, kann es nicht geben, oder sie müssen von der Art der Holbergschen
sein. Mag immerhin der Vorgang, den die Fabel erzählt, möglich, ja
direkt der Wirklichkeit entnommen sein, die Art, wie der Fabeldichter ihn
einzig und allein brauchen kann, erhebt ihn in die Sphäre der Freiheit
des Handelns nach bestimmter Absicht und bewußter Wahl; damit „erhöht
der Fabeldichter die Eigenschaften seiner handelnden Personen
(sofern sie nämlich Tiere sind, und nur die Tierfabel trägt den
Namen der Fabel mit Recht) in jedem Falle, gleichviel ob er seine Tiere
reden läßt oder nicht, er legt ihnen immer Reflexionen und Beweggründe
nach dem Maßstabe menschlicher Vernunft und Ethik bei, was mehr ist
als äußere Sprache und ohne innere Sprache nicht zu denken. Nach
Lessing müßten daher wenigstens die Tierfabeln samt und sonders
zu der von ihm als „hyperphysisch“ bezeichneten Gattung gerechnet
werden. Mit wenigen Worten ließe sich der Beweis an den von Lessing
als „vernünftige“ Fabeln citierten Beispielen aus dem Äsop: „Der
Hund und der Gärtner“, „Der Schäfer und der Wolf“ ebenso führen,
wie er vorhin an der Fabel „Die zwei kämpfenden Hähne“ geführt ist;
überall würde die Fabel erst dadurch ihren Sinn erhalten, daß das darin
erzählte Bezeigen der Tiere zur „Handlung“ erhoben, d. h. als aus
freier Wahl und bewußter Absicht hervorgehend gedacht würde; die
beiden andern Beispiele, welche Lessing anführt: „Der Vogelsteller und
die Schlange“ und „Der Hund und der Koch“, sind gar keine Fabeln,
sondern lediglich „Histörchen“, bei denen dasjenige, was den Tieren
zugeschrieben wird, ebensogut durch irgend einen ganz mechanischen Zufall
geschehen könnte, und von denen das letzte obenein auf ein bloßes Wortspiel
hinausläuft.


Unter allen Fabeln Lessings ist nur eine einzige, welche nach
seiner Definition der „vernünftigen“ Fabeln dieser Gattung zuzurechnen
wäre: es ist „Der Falke“;1 sie war im ersten Teile seiner Schriften
1753 gedruckt, von ihm in die Sammlung seiner Fabeln aber nicht
aufgenommen. Jn der That ist die Erfindung derselben so kahl und
matt als der darin enthaltene „allgemeine Satz“: „des einen Glück ist
in der Welt des andern Unglück,“ zur „anschauenden Erkenntnis“ gebracht
durch den Vorgang, daß ein Falke, im Begriff, auf ein Taubenpaar
zu stoßen, unter demselben einen Hasen bemerkt und diesen statt
jenes zur Beute erwählt. Trotzdem der Dichter einiges hinzugethan hat,

1
Vgl. Ausg. Lachm.=Mal. Bd. I, S. 197; Anhang zu den Fabeln.
|#f0186 : 168|

was genau genommen die Darstellung schon über das einfach „vernünftige“
Niveau hinaushebt ─ das „unschuldige“ Taubenpaar wird in den „vertrautesten
Kennzeichen“ der „Liebe“ gestört, „schon gurrten sich die zärtlichen
Freunde ihren Abschied zu“ ─, so liegt doch das Wesentliche
des Vorganges nicht hier, sondern in dem Benehmen des Falken. Nun
fehlt es demselben zwar keineswegs an „Wahl und Absicht“, das Raubtier
zieht die größere Beute der kleineren vor, aber diese Handlung ist
so eng in die Grenzen des rein tierischen Jnstinkts eingeschlossen, daß
die poetische Nachahmung ihren Zweck, das innere Handlungsmoment
in einer der menschlichen Seele entsprechenden Weise lebendig in uns
zu erwecken, verfehlt. Diese Lessingsche Fabel ist ebenso schlecht wie
jene Hagedornsche, welche Lessing gleichwohl für seine Theorie als
Beispiel verwendete: „Ein Marder fraß den Auerhahn, den Marder
würgt' ein Fuchs, den Fuchs des Wolfes Zahn.“


Erst wenn die Handlungen der Tiere nach menschlicher Weise in
die Sphäre des Bewußtseins erhoben werden, sind sie ein Stoff für die
Dichtung. Wie anders nimmt sich der Grundgedanke der Hagedornschen
Pseudo-Fabel in der Behandlung des Burkhard Waldis aus, wo der
Hecht, der es unternimmt, die in seinem Binnengewässer unbestrittene
Schreckensherrschaft nun auf das weite Meer auszudehnen, an dem Hay
auf der Stelle seinen Meister findet, oder selbst in Pfeffels „Stufenleiter“,
die mit ihrem Refrain „du bist mein, denn ich bin groß und
du bist klein,“ der kahlen Thatsache, daß die schwächeren Tiere von
stärkeren gefressen werden, erst das Motiv einsetzt, wodurch die lediglich
allegorische Bedeutsamkeit in unmittelbare Wirksamkeit verwandelt
wird. Denn so unbestreitbar Lessing darin recht hat, daß der
Satz „Der Schwächere wird gemeiniglich ein Raub des Mächtigeren“
durch jene Hagedornsche Fabel nicht allegorisch, sondern direkt
ausgedrückt wird, so schief und schielend ist die Anwendung, welche er
von diesem Schlusse auf die Theorie der Fabel macht. Gewiß „hieße es
die Worte auf eine kindische Art mißbrauchen“, wollte man sagen,
daß dieser „einzelne Fall“ eine Allegorie „jenes allgemeinen Satzes“
sei; aber ebenso gewiß ist es ein kindischer Mißbrauch der Fabel ─ dessen
sich Lessing, wie oben gezeigt, auch nicht schuldig machen wollte ─ einen
Satz, den uns die Natur alle Tage und allenthalben und unmittelbar
vor Augen führt, nun noch durch eine Fabel, bei der also doch von
„Erfindung“ keine Rede sein kann, „zur anschauenden Erkenntnis“ bringen
zu wollen. Eine solche Fabel enthielte nichts weiter als die Darstellung
eines natürlichen Gesetzes in einem einzelnen Vorgange; wie wenn man
behaupten wollte eine Fabel gedichtet zu haben, wenn man den Satz: |#f0187 : 169|

Gelegenheit macht Diebe“ etwa in folgender Weise der Anschauung
vermittelte: „Ein Rabe flog zur Winterszeit durch die verödeten Gärten,
um sich seine kärgliche Nahrung mühselig hier und dort unter dem
Schnee und Eis hervorzukratzen. Da erblickte er im Hause des Gärtners
durch das geöffnete Fenster ein Stück fetten Käses auf dessen Tisch, welches
jenem zum Frühstück dienen sollte. Eilends flog er hinzu, ergriff es und
trug es in sein Nest.“ Die „Fabel“ ist aus, denn der allgemeine Satz
ist hinreichend illustriert; aber wer möchte solche Trivialitäten als Tierfabeln
anerkennen?


Es ist Lessings Beachtung entgangen, daß alle derartigen Vorgänge
aus dem Naturreiche, wie er selbst sie für die Fabel verwertet
wissen will, an und für sich einer moralischen Bedeutsamkeit
völlig entbehren, daß sie also direkt und unmittelbar jene „allgemeinen,
moralischen Sätze“ auch schlechterdings nicht anders veranschaulichen
können, als insofern dieselben den bloßen Verstand angehen,
d. h. insofern sie nichtmoralische“ Sätze sind, sondern rein wissenschaftliche
Gesetze und thatsächliche Beobachtungen. Ethische Bedeutsamkeit,
seelisches Jnteresse, Wirkung auf unsere Gemütskräfte können rein
tierische Vorgänge und Bezeigungen immer erst durch eine Übertragung
erhalten, welche auf Grund ihrer Ähnlichkeit mit moralischen Handlungen
vorgenommen wird, also durch Allegorisierung.


Wir gelangen also zu dem doppelten Schluß, daß eine sogenannte
vernünftige“ Fabel einen „moralischen“ Satz niemals direkt darstellen,
sondern immer nur allegorisch andeuten kann, daß sie also
unter allen Umständen eine schlechte Fabel sein muß, daß dagegen die
echte Tierfabel unter allen Umständen eine wirkliche Handlung enthalten
muß, und demgemäß die handelnden Tiere nicht anders als zu
wirklichen Personen, d. h. zu Wesen mit freiem Wollen und
bewußten Absichten, erhöht vorgestellt werden dürfen. Daraus ergibt
sich ferner, wie oben gezeigt, daß die echte Fabel nicht von einem allgemeinen
Satz ausgeht, zu dessen Erweis sie einen einzelnen Fall erdichtet,
und daß sie einer besonderen Affabulation nicht bedarf, sondern daß sie
von einem Vorgange der Tierwelt aussetzt, sei dieser Vorgang nun
ein wirklicher oder im Charakter individuellen Tierlebens erdacht, und
daß ihre Aufgabe darin beschlossen ist, denselben in der
Form einer Handlung zum Gegenstande der Nachahmung
zu machen.


Die Fabel ist also eine epische Dichtung, d. h. die Nachahmung
einer Handlung durch die Erzählung einer Handlung.

Damit wäre ihre Gattung bezeichnet: wodurch aber unter= |#f0188 : 170|

scheidet sie sich der Art nach von den übrigen der Epik
zugehörigen Dichtungen?


So sehr sich Lessing dagegen sträubt, so liegt der spezifische
Unterschied der Fabel dennoch darin, daß in ihr Tiere die handelnden
Personen
sind. Die Anwendung der Tiere in der Fabel ist
keineswegs nur ein Mittel, um dem Fabeldichter seine Aufgabe zu erleichtern,
auf welches er nach Gefallen auch Verzicht leisten darf, sondern
sie ist eine ihr durchaus wesentliche Eigentümlichkeit, ohne welche sie
nicht gedacht werden kann; und wenn Lessing als die Vorteile der
Verwendung der Tiere in der Fabel vor allem die „allgemein bekannte
Bestandheit ihrer Charaktere
“ anführt, wodurch umständliche
Berichterstattung vermieden und die eigentümliche, bezeichnende
Kürze dieser Gattung allein ermöglicht wird, ferner „das Vergnügen
der Vergleichung“ und endlich, daß dadurch die „Erregung der Leidenschaften“
ausgeschlossen werde, so trifft das Alles zwar zu, aber das
Wesen der Sache ist damit doch noch nicht ausgesprochen.


Die Beantwortung der Frage nach diesem „Wesen der Sache“,
d. h. die Angabe der inneren Gründe, warum die Fabel auf die epische
Nachahmung von Handlungen der Tiere eingeschränkt sein muß, wird
freilich hier noch nicht erledigt werden können. Sie ist nicht anders zu
lösen, als im Zusammenhange einer Erörterung der gesamten Mittel,
mit denen die Poesie an die Nachahmung von Handlungen überhaupt
heranzugehen vermag, und der verschiedenen Arten, wie sie dieselben
verwendet, sei es in Mythe, Sage, Märchen oder in den verschiedenen
Gattungen des Epos und des Dramas. Um die Darstellung nicht zu
unterbrechen, bleibt diese letzte Frage der Fabeltheorie einer späteren
Erörterung vorbehalten.1


Die Gesetze jedoch für die Form und Vortragsweise der Fabel
ergeben sich schon hier; zugleich die Gründe ihres in absteigender Linie
erfolgten Entwicklungsganges.


Der echten Tierfabel wohnt die Frische, Fülle und Wärme inne,
welche mit der relativen Vollständigkeit der Nachahmung innerer Handlung
notwendig verbunden ist; nun war aber eine allmähliche Entartung
dieser echten Tierfabel unvermeidlich. Wie nahe liegt die Umwandlung
des ästhetischen Urteils in ein Verstandesurteil, und wie natürlich mußte
sich die Anwendung einzelner Züge der Fabel auf Verhältnisse des
Lebens ergeben, um durch das darin enthaltene Beispiel praktische
Erfahrung und nützliche Lehre anschaulich zu machen und zur Erkenntnis

1
Vgl. den XIII. Abschnitt.
|#f0189 : 171|

zu bringen! Wie unmittelbar mußte aus solcher Nutzanwendung die
satirische Vergleichung der Tiere und ihres Treibens mit wirklichen
Verhältnissen und Personen folgen! Auf diese Weise erhielt die Fabel
eine neue Gestalt: sie wurde didaktischen und satirischen Zwecken unterthan
gemacht; und eine neue Verwendung: sie wurde ein wirksames
Kunstmittel der Rhetorik. Auf ihre äußere Form übte dieses neue Gestaltungsprincip
die Wirkung, daß aus der Nachahmung der Handlung
alles entfernt werden mußte, was nicht dem Erkenntniszweck des Erfahrungs=
oder Lehrsatzes dienstbar oder was nicht der satirischen Tendenz
förderlich war: sie mußte also in ungebundener Rede auftreten und auf
die knappste Kürze reduciert werden, da ohne Zweifel der Erkenntniszweck
am besten erreicht wird, wenn nichts als das für ihn Wesentliche mitgeteilt
wird.


Dies ist das Wesen und die Form der sogenannten äsopischen
Fabel. Für sie hat also die Lessingsche Definition eine gewisse Berechtigung;
aber man vergesse nicht, doch nur insofern, als diese
äsopische Fabel eben ihrer Form nach nicht mehr zur Poesie
gehört.
Jnsofern umgekehrt selbst dieser Form der echten Fabel unzerstörbar
ein poetischer Kern innewohnt ─ eben das Element der
inneren Handlung, in welchem ihr Wesen beruht ─ trifft die Lessingsche
Definition aber ebensowenig zu, als sie die poetische Form der Fabel
ahnen läßt. Diese Definition läßt sich allenfalls den vorhandenen guten
äsopischen Fabeln anpassen, aber ganz ebenso den allerschlechtesten, seichtesten
Erfindungen, sie trifft das Wesen der Sache so wenig, daß sie
diejenigen, welche sie zur Richtschnur nähmen, nicht vor den gröbsten
Mißgriffen schützen würde.


Überall steht in der Tierdichtung das epische Element, ihre eigentliche
Kraft, mit dem lehrhaften und satirischen in umgekehrtem Verhältnis.
Jn voller Frische und epischer Breite, in ihrer ganzen ursprünglichen
Naivetät und gegenständlichen Bestimmtheit hat sich die Tiersage nur
im Mittelalter ausgestaltet, vor allem in unserem deutschen „Reineke“;
die Satire hat hier nur in ganz geringem Maße und völlig episodisch
Eingang gefunden. Dagegen herrscht in den nachgeahmten Kunstdichtungen
des sechzehnten Jahrhunderts, eines Spangenberg und Rollenhagen,
schon das umgekehrte Verhältnis; das Ganze ist von lehrhaft allegorischer
Tendenz beherrscht und nicht selten überwuchert das gelehrte, didaktischsatirische
Beiwerk auch die epische Darstellung des Einzelnen. Jn der
eigentlich sogenannten Tierfabel ist die epische Haltung, die, im Mittelalter
z. B. bei Boner, für diese Dichtnngsart die herrschende ist, auch
noch im sechzehnten Jahrhundert bei einem Erasmus Alberus und |#f0190 : 172|

Burkhard Waldis anzutreffen. „Nach dem Mittelalter,“ so heißt
es in der schon mehrfach citierten Abhandlung von Jakob Grimm, „hörte
die Forterzeugung der echten Tierfabel auf, es blieben nur noch schwache,
in didaktische oder allegorische Form übergehende Nachbildungen des
alten Stoffes zurück. Jn dieser Hinsicht darf für eine schädliche Folge
der Bekanntschaft mit der klassischen Litteratur gelten, daß Äsop und
Phädrus allmählich die einheimische Fabel verdrängen konnten und auf
die Ansicht der Schrifsteller einwirkten.“ Für Frankreich und einen
großen Teil des achtzehnten Jahrhunderts hindurch auch für Deutschland
wurde in der Folge das Beispiel Lafontaines bestimmend. „Wenn
schalkhafter Witz, frivole Anspielung auf den Weltzustand, epigrammatische
Wendung in der Tierfabel an ihrer Stelle sind, so muß er ein trefflicher
Fabulist heißen. Aber selbst einzelne naive Züge, die ihm allerdings
noch zu Gebote stehen, können nicht die verlorene Einfalt des Ganzen
ersetzen; er ist ohne epischen Takt, und viel zu sehr mit sich beschäftigt,
als daß er bei der Entfaltung des alten Materials, welches er oft zu
Grunde richtet, verweilen wollte. Jene Eigenschaften thun daher nicht
selten eine widerwärtige, störende Wirkung, die sättigende Fülle der
wahren Tierfabel hat er nie erreicht. Seine leichte, gewandte Erzählungsgabe
soll nicht verkannt werden, aber von der äsopischen Natürlichkeit,
selbst der phädrischen Präcision ist er absichtlich gewichen, um in einem
freien und losen Versmaß die Arbeit nach dem Geschmack seiner Zeit
aufzuheitern (égayer l'ouvrage).“


Derjenige, welcher nach ihm den stärksten Einfluß auf die Gestaltung
der Fabel ausgeübt hat, ist Lessing. Trotzdem die Naivetät der
Erfindung seinen Fabeln fehlt und sie nach seiner ausgesprochenen Absicht
vor allem die Erkenntnis einer Wahrheit bewirken sollen, hat sich bei
ihnen das dichterische Vermögen ihres Erfinders stärker erwiesen als seine
Theorie: ganz im Widerspruche zu derselben enthalten nicht wenige von
ihnen ihrem Kerne nach das wesentliche Merkmal der epischen Poesie,
die unmittelbar auf die Empfindung einwirkende Handlung, wenn sie
auch nicht dichterisch, sondern rhetorisch von ihm gestaltet und vorgetragen
sind. Nichtsdestoweniger sind nur einzelne darunter, welche noch als
echte Tierfabeln gelten könnten, und diese sind ausschließlich in engster
Anlehnung an äsopische Muster entstanden. Die Mehrzahl entfernt sich
von dem Wesen der Fabel und bildet den Übergang zu einer andern
poetischen Gattung oder gehört derselben geradezu an.


Oft genug liegt in einem bloßen Ausspruch eine Handlung, und
Lessing irrt, wenn er die Fabel des Phädrus (lib. 1, 10) vom Affen
als Richter im Rechtsstreit des Wolfes und Fuchses als Beispiel für |#f0191 : 173|

den Beweis benutzt, daß die Fabel der vollständigen Handlung nicht
bedürfe. Die Handlung ist vollständig: sie liegt in dem Schiedsspruche
des Affen, daß Fuchs und Wolf gleiche Lügner und Spitzbuben seien,
also das Zeugnis des einen gegen den anderen nichts gelte:


Tu non videris perdidisse, quod petis;
Te credo surripuisse, quod pulchre negas.

Die Handlung ist ebenso abgeschlossen, wie in Pfeffels Fabel der Streit
des Ochsen und des Esels, „wer am meisten Weisheit hätte“, durch den
Richterspruch des Löwen: „Jhr seid alle beiden Narren“ sein Ende findet.
Aber die Handlung beruht in beiden Fällen keineswegs nur auf dem
„sinnreichen Einfall“ des Urteilenden, sondern zu ihrem wesentlichsten
Teile auf der Natur des Streites der handelnden Tiere, der zu demselben
die Veranlassung gibt.


Aber gerade das umgekehrte Verhältnis findet bei einem großen
Teil der Lessingschen Fabeln statt; sie enthalten eben nur einen sinnreichen
Ausspruch, der einem Tiere in den Mund gelegt ist, ohne daß
eine Handlung von Tieren oder mitunter auch überhaupt eine Handlung
als Anlaß vorliegt. So z. B. III, 15 „Die Eiche“. „Was für
ein Baum!“ ruft der Fuchs, da er die gestürzte Eiche ansieht und die
Verwüstungen, die sie im Falle angerichtet, „hätte ich doch nimmer gedacht,
daß er so groß gewesen wäre.“ Oder der Fuchs findet die Larve
eines Schauspielers (II, 14): „Welch ein Kopf! Ohne Gehirn und mit
einem offenen Munde! Sollte das nicht der Kopf eines Schwätzers gewesen
sein?“ Ebenso II, 17: „Der Fuchs sah, daß der Rabe die Altäre
der Götter beraubte und von ihren Opfern mitlebte. Da dachte er bei
sich selbst: Jch möchte wohl wissen, ob der Rabe Anteil an den Opfern
hat, weil er ein prophetischer Vogel ist, oder ob man ihn für einen
prophetischen Vogel hält, weil er frech genug ist, die Opfer mit den
Göttern zu teilen.“ Das gleiche Verhältnis oder doch das ähnliche, daß
einer an sich gleichgültigen Tierhandlung durch eine geistreiche Wendung
ein tiefer Sinn untergelegt wird, waltet sehr vielfach ob; so z. B. in
I, 16 „Die Wespen“, I, 17 „Die Sperlinge“, I, 18 „Der Strauß“,
I, 22 „Die Eule und der Schatzgräber“, I, 24 „Merops“, II, 25 „Der
wilde Apfelbaum“, II, 27 „Der Dornstrauch“, III, 2 „Die Nachtigall
und die Lerche“, III, 12 „Der Strauß“, III, 13, 14 „Die Wohlthaten“,
III, 23 „Die Maus“, III, 25 „Der Adler“, III, 26 „Der junge und
der alte Hirsch“, III, 29 „Der Adler und der Fuchs“, III, 30 „Der
Schäfer und die Nachtigall“.


Diese Beobachtung führt zu einem Resultat, welches, trotzdem es |#f0192 : 174|

durch die obigen Ausführungen vorbereitet ist, etwas Überraschendes
enthält: ein großer Teil der Lessingschen Fabeln beruht auf dem Element,
welches er selbst mit der größten Entschiedenheit aus der Theorie
der Fabel ausgewiesen hat, auf der Allegorie.


Niemand wird der sarkastischen Glosse des Fuchses über den an
den Opferspenden sich nährenden Raben (II, 17) einen selbständigen, in
dem Leben der Tiere miteinander begründeten, Sinn zuschreiben; ihre
Bedeutung erhält die angebliche Fabel schlechterdings erst durch die in
die Augen springende Ähnlichkeit des Raben mit einem sportelsüchtigen
Schwarzrock, auf den dann der satirische Zweifel des Fuchses ohne weiteres
Anwendung findet. Handgreiflich liegt die Sache ebenso in III, 15 „Die
Eiche“ und II, 14 „Der Fuchs und die Larve“. Lessing irrt sich in
der Fragestellung, wenn er es einen kindischen Mißbrauch der Sprache
nennt, die allegorische Ähnlichkeit darin finden zu wollen, daß
man einmal ein begriffliches Verhältnis an einem einzelnen Falle beobachtet
und das andere Mal es allgemein und abstrakt erkennt. So
verfährt man freilich bei jedem Gleichnis, jeder Allegorie, jeder Parabel.
Und doch beruhen sie alle auf vorhandener Ähnlichkeit der Subjekte
und ihrer Prädikate, an und in denen das begriffliche Verhältnis sich
manifestiert. Das Entscheidende für die Allegorie ist, daß durch diese
Ähnlichkeit eine konkrete Darstellung geeignet wird an die Stelle einer
anderen oder einer Begriffsdarstellung zu treten, so daß sie für sich
allein noch nicht volle Geltung hat, sondern dieselbe in dem ganzen
Umfange, der ihr zukommt, erst durch die hinzutretende Deutung erlangt.
Die Bezeichnung der Larve als Kopf ohne Gehirn mit offenem
Munde ist die einfache Allegorisierung eines Schwätzers; daß ein Fuchs
die Larve findet und die Allegorie ausspricht, macht aus der Allegorie
keine Fabel. Ebenso ist auch die Geschichte vom Fuchs und der Eiche
nur scheinbar eine Fabel, obwohl hier doch wenigstens dem Charakter
des Fuchses ein Anteil an der Handlung zufällt; dennoch würde auch
diese Erfindung ohne die allegorische Deutung, welcher man beim ersten
Hören sofort inne wird, gänzlich unbedeutend sein. Desto vortrefflicher
ist sie als Allegorie, sie spricht für sich selbst und so that Lessing recht,
die in den „Schriften“ hinzugefügte Deutung wegzulassen:


Jhr, die ihr, vom Geschick erhöht,
Weit über uns erhaben steht,
Wie groß ihr wirklich seid, zu wissen,
Wird euch das Glück erst stürzen müssen.


Die beiden Schemata, wie das eine im ersten und zweiten Beispiele
vorliegt, das andere im dritten, wiederholen sich sehr vielfach: die Alle= |#f0193 : 175|

gorie wird entweder geradezu, sei es als Monolog, sei es als Gespräch,
irgend welchen einigermaßen dazu qualifizierten Tieren, mitunter auch
unbelebten Dingen in den Mund gelegt, oder sie wird durch dieselben
gewissermaßen als lebendes Bild oder auch als kleine Scene vorgeführt.
Merops, „mit dem Schwanz voraus, den Kopf gegen die Erde gekehrt,
in die Luft steigend“ ─ eine Allegorie „des Menschen, der gar zu gern
den Himmel erfliegen möchte, ohne die Erde auch nur einen Augenblick
aus dem Gesichte zu verlieren“: das Bild beschreibt ein Adler, ein Uhu
gibt die Deutung (I, 24). Eine Allegorie auf „die heutigen Jtaliener,
die sich nichts Geringeres als Abkömmlinge der alten unsterblichen Römer
zu sein einbilden, weil sie auf ihren Gräbern geboren wurden“, wird
durch einen Wespenschwarm in Scene gesetzt, der aus einem verwesten
Rosse hervordringt und sich seines hohen Ursprungs rühmt (I, 16). Der
mit ausgespannten Fittigen am Boden dahinlaufende Strauß: „Ein
poetisches Bild jener unpoetischen Köpfe, die in den ersten Zeilen ihrer
ungeheuren Oden mit stolzen Schwingen prahlen, sich über Wolken und
Sterne zu erheben drohen und dem Staube doch immer getreu bleiben“
(I, 18).


Eine Reihe vortrefflicher Allegorien, aber keine Fabeln! Vortrefflicher
Allegorien! Das will sagen, lebensvoller Erfindungen, nicht toter
Schildereien. Auch die Allegorie ist eine poetische Darstellung, und zwar
ihrem Namen entsprechend durch das Mittel der Erzählung; selten
hat es Lessing versäumt ─ freilich immer im Widerspruch zu seiner
Theorie ─ durch Erdichtung innerer Handlung seinen Allegorien das
poetische Leben zu verleihen. Mit welcher skrupulösen Sorgfalt, mit
welchem meisterlichen Geschick ist er überall zu Werke gegangen! Der
mit ausgespannten Flügeln laufende Strauß wäre freilich nur ein Bild
gewesen, aber Lessing gibt dem Bilde das innere Leben, indem er seinen
Strauß handeln läßt: er leiht ihm die Absicht zu fliegen und läßt
ihn diese Absicht feierlich und wiederholt ankündigen ─ „das ganze
Volk der Vögel stand in ernster Erwartung um ihn versammelt“ ─
und er läßt ihn dann „gleich einem Schiff mit ausgespannten Segeln
auf dem Boden dahinschießen, ohne ihn mit einem Tritt zu verlieren“.
Eine treffende und höchst lebendige Allegorie, aber alles Leben der Handlung
ist auf Veranlassung der vorschwebenden Deutung in sie hineingelegt:
eigenes, episches Leben, wodurch die tierische Handlung durch
sich selbst ergriffe, besitzt sie keines.


Die Allegorie vermag in den unscheinbarsten Vorgang den tiefsten
Sinn zu legen. Eine alte Kirche wird ausgebessert, die Sperlinge finden
ihre Nester vermauert und fliegen davon: durch die Gesinnungsweise, |#f0194 : 176|

die er ihnen dabei unterlegt, macht der Dichter daraus eine unübertreffliche
Satire auf jede Art der kleinlichen Jnteressiertheit und des
engherzigen Partikularismus: „Zu was, schrieen sie, „taugt denn nun
das große Gebäude? Kommt, verlaßt den unbrauchbaren Steinhaufen!“


So erweckt ihm der Dornstrauch die Vorstellung neidischer Böswilligkeit,
aber dieser Gedanke wird zu einer kleinen allegorischen Erzählung
verarbeitet, in welcher die beiden Attribute auf das Kunstreichste
in Handlung und Gesinnung umgesetzt sind, um so die würdigen Gegenstände
poetischer Nachahmung zu werden. „Aber sage mir doch, fragte
die Weide den Dornstrauch, warum du nach den Kleidern des vorbeigehenden
Menschen so begierig bist? Was willst du damit? Was können
sie dir helfen? Nichts! sagte der Dornstrauch. Jch will sie ihm auch
nicht nehmen; ich will sie ihm nur zerreißen.“


Einem Einwande wäre hier freilich noch zu begegnen. Lessing hat
es ja selbst zugegeben, daß die zusammengesetzte Fabel eine Allegorie
des wirklichen Vorfalles wäre, auf den sie angewendet würde. Nun kann
aber jede Fabel durch Hinzufügung eines wirklichen analogen Falles zur
zusammengesetzten werden; es wäre also eine jede Fabel an sich zwar
keine Allegorie, eine jede aber würde es im Moment ihrer praktischen
Anwendung. Wenn man nicht die Begriffe in ihrer Eigentümlichkeit sich
aufheben lassen will, so kann das doch nur heißen: die echte Fabel ist
wie jede andere epische Erzählung der gelegentlichen Anwendung
auf analoge wirkliche Fälle fähig, aber der begriffliche Unterschied zwischen
ihr und der Allegorie ist der, daß die letztere eigens und nur zu
diesem Zwecke erfunden ist; und zwar wird dieselbe einer um so häufigeren
Anwendung fähig sein, je allgemeiner die Subjekte und Prädikate des
Verhältnisses sind, für welches ihr Erfinder sie eintreten läßt. Daher
kommt es, daß sie mit besonderem Glücke sich der Typen aus dem Tierreiche
bedienen wird und daß ihr charakteristische Erscheinungen aus der
unbelebten Körperwelt unter Umständen ebenso brauchbar sind, weil sie
mit den Beziehungen, die ihnen eigen sind, leicht für allgemeine Begriffe
und deren Verhältnisse gesetzt werden können.


Jn manchen Stücken, in denen Lessing die Konstituierung einer
wirklichen Handlung weniger gelungen ist, tritt diese vorzügliche Eignung
der Tiere für den allegorischen Gebrauch dennoch so sehr hervor, daß
man, dadurch getäuscht, leicht sich verleiten läßt, sie für wirkliche Fabeln
zu nehmen. So in dem zwölften Stücke des dritten Buches: „Der
Strauß
“ (III, 12). „Das pfeilschnelle Renntier sah den Strauß und
sprach: Das Laufen des Straußes ist so außerordentlich eben nicht; aber
ohne Zweifel fliegt er desto besser. Ein andermal sah der Adler den |#f0195 : 177|

Strauß und sprach: Fliegen kann der Strauß nun wohl nicht; aber ich
glaube, er muß gut laufen können.“ Hierin ist nichts enthalten als
ein Doppelurteil über die Natur des Straußes, welches durch die antithetische
Form satirisch=komische Färbung gewinnt, welches aber seine
Existenz wie seine Formulierung lediglich erhalten hat, um allegorisch
den Sinn darzustellen, daß mancher den Ruhm der Virtuosität in zwei
Künsten zugleich genießt, ohne sie in einer zu besitzen, indem die Meister
einer jeden ihn als der andern angehörig betrachten. Diese geistreiche
Erfindung Lessings ist das Prototyp einer Menge von Nachahmungen
und Variationen, aber sie ist so wenig eine Fabel wie das bekannte ihr
nachgebildete Witzwort auf einen modernen Dichter-Komponisten: er sei als
Komponist größer als Goethe und als Dichter größer als Beethoven;
und doch würde auch dieses, in Erzählungsform gebracht, allen Anforderungen
von Lessings Fabeldefinition entsprechen.


Der seltenste Fall bei Lessing ist der, daß seiner Allegorie der erforderliche
Grad von Aehnlichkeit mit dem zu Grunde liegenden Sinne,
also die Deutlichkeit mangelt. Dunkel ist nur die „Tiresias“ überschriebene
Erdichtung (II, 29). Wenn es sich darin nur um die Auffassung
von der Heiligkeit eines Ortes, oder der Heiligkeit überhaupt,
handelte, daß es weibisch, unverständig sei, berechtigte Äußerungen der
Natur als derselben widersprechend zu bekämpfen, daß aber männliche,
werkthätige Bekämpfung der Zwietracht sich sehr wohl mit ihr vertrage,
so läge darin weder besonderer Tiefsinn noch wäre die allegorische Einkleidung
glücklich und treffend gewählt, auch wären dann verschiedene
nähere Umstände, wie der dreifache Kreuzweg, die ominöse Zeitbestimmung
von neun Monaten, überflüssig und störend; liegt der Sinn aber tiefer,
so ist er allerdings so sehr verborgen, daß das Ganze kaum noch als
Fabel gelten kann, sondern als eine tiefsinnige allegorisch=symbolische
Dichtung bezeichnet werden muß.


Jn dem Falle, daß man sich zu der durch den Sprachgebrauch
allerdings nahe gelegten Auffassung verleiten läßt, die Verwandlung
des Tiresias in ein Weib als die Strafe für eine „weibische“ Handlungsweise
zu betrachten und demgemäß seine Rückverwandlung als den
Lohn „männlichen“ Handelns, müssen alle Deutungsversuche scheitern.
Noch weiter freilich führt die von dem Recensenten Lessings in der
Bibliothek der sch. W. u. fr. K. (Bd. 7, St. 1, S. 33 ff.) gegebene Andeutung
ab, der die Erklärung in der Fortsetzung der Geschichte bei Hyginus
findet: Eodem tempore inter Jovem et Junonem fuit jocosa altercatio,
quis magis de re venerea voluptatem caperet, masculus an
femina: de qua re Tiresiam judicem sumpserunt, qui utrumque erat |#f0196 : 178|

expertus. Nichts kann weiter von der schmutzigen Spur, auf welche
diese alberne mythologische Anekdote führt, abliegen, als der edle und
große Sinn, den Lessing in der alten griechischen Fabel zu entdecken
und durch geistreiche Behandlung daraus zu gestalten wußte. Allerdings
ist er dabei über die Grenzen seiner eigenen Fabeltheorie weit hinausgegangen.



Der göttlich=weise Seher ist erhaben über jede Einseitigkeit des
Empfindens und Denkens, er schaut in aller Menschen Brust und Herz,
vermag mit jedem mitzufühlen, die Götter ließen ihn, den Mann, auch
des Weibes Zustand durch eigene Erfahrung kennen lernen. Dieses
Moment, welches bei Hyginus zum Anlaß einer vulgären Travestie benutzt
ist, erkannte Lessing in seiner vollen Bedeutung und vertiefte es
zum Symbol eingreifender und entscheidender Entwickelung der Gesinnung
und Handlungsweise auf dem wichtigsten Lebensgebiete.


Die erste Handlung stellt den gotterfüllten Seher dar, wie er in
dem heiligen Haine eine That vollführt, die der fromme Eifer ihm als
religiöses Gebot erscheinen läßt, die aber dem reinen menschlichen Gefühl
als ein Akt grausamer Jntoleranz und einer die Gesetze der Natur verletzenden
Härte sich kund thut. Durch ein Wunder setzt die Gottheit
ihn in einen Stand, der ihm nicht allein erlaubt, sondern ihn unmittelbar
dazu hinführt, sein Beginnen allein aus dem Gesichtspunkt warmen und
reinen Empfindens zu betrachten: aus dem eifernden Gottesmanne wird
ein Weib! Und um symbolisch anzudeuten, welche unwiderstehlich und
gewaltig wirkenden Kräfte zur Sänftigung und Läuterung echt menschlichen
Gefühls in dem Begriff der „Weiblichkeit“ liegen, läßt der Dichter
ihn einen Zeitraum in dieser Hypostase verharren, welcher die Erfüllung
der höchsten Naturbestimmung des Weibes, Empfangen und Gebären,
umschließt.


So wird der Seher mit geklärter, erhöhter und unendlich erweiterter
Gesinnung zum zweitenmal in dem heiligen Hain einer Probe seiner
Handlungsweise gegenüberstellt: „an eben dem Orte, wo die drei Wege
einander durchkreuzten,“ ist ein ergrimmter Kampf entbrannt; aber aus
dem zornigen Hüter der Tempelsatzungen ist ein kraftvoller Friedensstifter
geworden, der statt das Sakrilegium zu rächen, die Kämpfenden
scheidet. Ein neues Wunder wandelt ihn wieder zum Manne, der nun
erst der wahrhaft „Weise“ ist.


Sollte man zu weit gehen, in der zweimal wiederholten genauen
Bezeichnung des „Ortes in dem heiligen Haine, wo drei Wege
einander durchkreuzten
“, noch eine tiefere Beziehung zu finden?
Sollte der Dichter mit dem heiligen Haine auf das religiöse Gebiet, |#f0197 : 179|

mit den drei sich durchkreuzenden Wegen auf drei Konfessionen, mit dem
ersten Teil seiner Fabel auf den heiligen Eifer gegen die Vermischung
der verschiedenen Konfessionen in der Ehe, mit dem zweiten auf das
Eintreten einer friedestiftenden Toleranz in ihrem Streite gedeutet haben?
Wenigstens läge eine so vertiefte Auffassung nicht allein ganz in dem
spezifisch Lessingschen Gedankenkreise, sondern sie geht aus der Form, die
er seinem Stoff gegeben, zwanglos hervor. Der heilige Charakter des
Handelnden und des Schauplatzes seiner doppelten Handlung verweist
auf das religiöse Gebiet: was soll und kann denn der so absichtsvoll
betonte
Umstand, daß die verliebten und die kämpfenden Schlangen
auf jenem dreifachen Kreuzwege sich begegnen, anders bedeuten, als daß
sie eben von verschiedenen Seiten des heiligen Haines, also des Religionsgebietes,
herkommend am Kreuzungspunkte ihrer Wege sowohl
zur Liebesvereinigung als zur Befehdung sich zusammenfinden? Und
wahrlich auf kein geringeres Ziel durfte Lessing die Symbolisierung seines
Mythus hinausführen: der spezifischen Manneskraft gesellt sich die spezifische
Weibesart, dem Feuereifer rascher Sühne vermeinter Gottesverletzung
die „ewig=weibliche“, thätig versöhnende Kraft der Liebe; ihre
Vereinigung ist Toleranz, als das Kennzeichen der Gesinnung und des
Handelns des echten Gottesmannes, des wahren Sehers!


Und noch ein Umstand tritt in diesem kleinen Kunstwerk hervor,
welches die Vorzüge Lessingscher Darstellung, Fülle tiefer Gedanken und
knappste Kürze, so schön in sich verbindet. Das Wunder der Verwandlung
ist im Grunde der Ausdruck einer einfachen und natürlichen psychologischen
Thatsache: in tiefen und reich ausgestatteten Gemütern ist gerade
die Ausübung einer That, die ein irre geleitetes Erkennen im Widersteit
gegen die Natur befiehlt, oft der Anlaß einer plötzlichen und entscheidenden
Umwandlung der Gesinnung zur ursprünglichen Weichheit und Kraft
reinen, menschlichen Empfindens. ──────


XII.


Sehr treffend bemerkt Jakob Grimm, daß die Tierfabel schon von
ihrem eigentlichen Charakter abwich, sobald sie, was sehr frühe geschah,
unter dem Gesichtspunkte der Lehre angesehen und „bei wirklichen Vorfällen
als Gegenstück erzählt wurde, um aus ihr in schwieriger Lage des
menschlichen Lebens eine triftige Nutzanwendung zu schöpfen“. Bei der
Erzählungsweise, die ihr dann eigen wird, urteilt er, „ist der Erfolg
der Fabel dem des Sprichworts oder der Parabel vergleichbar, wie |#f0198 : 180|

denn auch diese Benennung selbst auf die Fabel übergeht und der Ursprung
der altdeutschen Ausdrücke bispel oder biwurti ganz eine solche
Beziehung verrät“.


Wenn man die Lessingsche Fabeldefinition beibehält, dürfte es ganz
unmöglich sein, die Grenzlinie zwischen ihr und der Parabel zu ziehen;
denn daß die Unterscheidung, welche Lessing selbst gelegentlich in den
Fabel-Abhandlungen festsetzt und die von da ab bis heute in den Lehrbüchern
festgehalten wird, falsch ist, läßt sich leicht zeigen. Er setzt den
Unterschied der Parabel von der Fabel in ihr Verhältnis zur Wirklichkeit:
„Der einzelne Fall, aus welchem die Fabel bestehet, muß als
wirklich vorgestellt werden. Begnüge ich mich an der Möglichkeit
desselben, so ist es ein Beispiel, eine Parabel“.1 Das wäre also
ein lediglich formaler, ein äußerlicher Unterschied, der durch die geringfügige
Veränderung des Präsens in das Präteritum schon fast ganz beseitigt
würde; von einer inneren Wesensverschiedenheit wäre da keine
Rede. Aber widerspricht nicht sogar in diesem einzigen angeblich differierenden
Punkte die Praxis ganz augenscheinlich dem Lessingschen Satze,
und sogar Lessings eigene Praxis? Wer wird in Zweifel stellen, daß
Nathans Erzählung von den drei Ringen eine Parabel ist, und zwar
ein Muster dieser Gattung? Und doch ist in ihr ein „einzelner Fall
als „wirklich“ vorgestellt, welcher „eine allgemeine moralische Wahrheit
zur anschauenden Erkenntnis bringt“; also nach Lessings Theorie hat
Nathan eine Fabel erzählt. Ganz ebenso müßte die Gleichnisrede des
Evangeliums „Es ging ein Sämann aus zu säen“ und alle ähnlichen,
in denen ein Vorgang im Präteritum erzählt wird, schlechterdings in
die Kategorie der Fabel gerechnet werden. Das wäre ein Unding. Der
Unterschied muß tiefer und im Wesen der Sache begründet liegen, aber,
soweit ich sehe, ist der Versuch dieser Unterscheidung nicht gemacht worden.2

1
S. a. a. O. (Hempel X, S. 50).
2
Was in der neuesten, sehr umfangreichen „Deutschen Poetik“ von
Dr. C. Beyer in dieser Frage vorgebracht wird (vgl. Bd. II, S. 168), ist so willkürlich
und zugleich, wie die theoretischen Auslassungen dieses Buches durchweg, so
unklar und unwissenschaftlich, daß es einer Widerlegung nicht wert ist. Als eine
Probe unglaublicher Verworrenheit mag die betreffende Stelle hier stehen: Hauptsatz:
„Die Fabel ist ein vergleichendes Beispiel für irgend etwas Anschauliches,
vor Augen Liegendes: die Parabel
ist die Analogie (!) für eine
Wahrheit!
Dazu die Erläuterung: „Lehre und einkleidende Anschauung (!)
unterscheiden die Parabel von der Fabel. Während die Fabel, auf einer niederen
Stufe des Lehrhaften
stehend, eine wenig anspruchsvolle Form hat, ist die Parabel
für sittliche Lehren von höherer Bedeutung bestimmt und daher einer mehr künstlerischen
Form ... fähig. Bei der Lehre, welche die Fabel gibt, ist es meist ganz
|#f0199 : 181|


Jnsofern wird Lessing recht behalten, als offenbar der Begriff der
Parabel (παραβολή) in seiner eigentlichen und weitesten Bedeutung,
d. i. einer ausgeführten Gleichnisrede ─ die also im Unterschiede
von der Metapher ein selbständiges Ganze für sich zu bilden
fähig ist ─ auch die Darstellung eines bloß als möglich gedachten Falles
einschließt:

[Annotation] Textebene Sekundärliteratur, positiv aufgreifende Bewertung. Explizite Paraphrase. Quellenangabe Person nn. Quellenannahme implizit Werk. Abgrenzung Synekdoche als Parallelkategorie. Anmerkung: 181.001ff. implizites Werk: Lessings Abhandlung über die Fabel (vgl. Fn. 2 auf S. 162) Gotthold Ephraim Lessing: Abhandlungen (über die Fabel) aber die Erzählung desselben als eines wirklichen Falles ist
diesem ihrem Begriff so wenig fremd, daß sie vielmehr ein notwendiges
Erfordernis ihrer Form wird, sobald dieselbe von ihrer Umgebung sich
loslöst und als selbständiges Ganzes auftritt, sobald sie also zu einer
selbständigen epischen Dichtungsart wird. Als solche allein aber kann
sie mit der Fabel in Parallele gestellt werden, nicht als inhärierender
Teil einer rhetorischen oder lehrenden Darstellung.


Die unterscheidende Eigentümlichkeit der parabolischen
Erzählung ergibt sich von selbst aus dem Wesen der Vergleichung.

Alle echt epische Dichtung stellt ihren Gegenstand, die
Handlung, um ihrer selbst willen dar: wenn aus ihrer Wirkung auf
die empfindende Wahrnehmung, die Aisthesis, sich Urteile des Erkenntnisvermögens
ableiten lassen, so ist dies eine aus der Natur des epischen
Stoffes von selbst hervorgehende Wirkung der demselben innewohnenden
Kraft. Alle aus jeder Art epischer Poesie gezogene Nutzanwendung oder
Lehre ist ihr nur per accidens eigen (nach der Aristotelischen Terminologie
ein συμβεβηκὸς καθ' αὑτό, ein an derselben seiner Natur
nach Stattfindendes); niemals aber bildet der Gedankeninhalt das prius,
das Vorausgehende, sondern immer der Stoff der Handlung; das die
Erfindung bewirkende Vermögen erhält den bewegenden Anlaß von der
sinnlichen Anschauung, nicht vom Jntellekt.


Der entgegengesetzte Fall ist der der Parabel. Während jede
epische Handlung, und so auch die der Fabel, zunächst ihren Bestand für


gleichgültig, ob das Tier ein Fuchs oder ein Wolf, ob der Baum ein
Apfelbaum oder ein Birnbaum oder eine Eiche ist
(!!); bei der Parabel
besteht eine bestimmte Wirklichkeit
(!!): die Wirklichkeit menschlicher Verhältnisse,
weshalb sie eine höhere Stufe nach Form und Lehre einnimmt als die Fabel
u. s. w. u. s. w. Von der Allegorie (einer Reihe symbolischer Bezeichnungen
[!]) unterscheidet sich die Parabel dadurch, daß jene nur einen Zustand durch
Bilder in ein klares Licht setzen will, diese aber eine höhere Wahrheit im Bilde
anschaulich macht. Während man daher bei der Allegorie schließlich nur
eine Beschreibung erhält, hat man bei der Parabel eine Belehrung
(!!).“
Als Erklärung der Konfusion dieser fast durchweg wörtlich aus Wackernagels „Poetik,
Rhetorik und Stilistik“ entnommenen Sätze diene der Umstand, daß die Entlehnung
bruchstückweise, ganz willkürlich und ohne Rücksicht auf den Zusammenhang geschehen ist.
|#f0200 : 182|

sich hat und eben darum nun auch mit wirklichen menschlichen Handlungen
in Vergleich gestellt werden kann, empfängt die Handlung
der Parabel erst aus dieser Vergleichung ihren Ursprung.

Hier ist das Vorausgehende das Ding der Wirklichkeit, für welches eine
Vergleichung gesucht wird oder unter Umständen sich von selbst darbietet;
und zwar liegt es im Wesen der Vergleichung, daß sie ohne eine vorausgehende
Thätigkeit des urteilenden Verstandes nicht vor sich gehen kann.
Alle Ähnlichkeit findet nur in Bezug auf einzelne und einseitig
ins Auge gefaßte Beschaffenheiten der verglichenen Dinge statt, und
zwar müssen dieselben, wenn der Vergleich treffend sein soll, die wesentlichen
und hervorstechenden sein: die wesentlichen bei dem wirklichen
Dinge und die hervorstechenden bei der Darstellung des zum
Vergleich erdichteten oder herangezogenen. Der Vorgang, welcher der
Erdichtung einer Parabel vorausgeht, muß also dieser sein: es muß
zuerst ein Erkenntnisurteil über das Wesen des wirklichen Dinges vorhanden
sein, um die wesentliche Beschaffenheit desselben festzustellen, mag
es nun die Form eines Beobachtungs=, Erfahrungs- oder Lehrsatzes
haben; sodann muß an die Phantasie der Auftrag ergehen, die Wahrheit
dieses Erkenntnisurteiles oder die Verkehrtheit seines
Gegenteils zu einem Gegenstande des unmittelbaren Empfindungsurteiles,
des ästhetischen Urteiles zu machen. Das geschieht,
indem sinnliche Gegenstände so ausgewählt oder erdichtet und derart in
Handlung gesetzt werden, daß eine zwar äußerliche aber desto hervorstechendere
Ähnlichkeit zwischen ihnen und denjenigen wesentlichen
Beschaffenheiten des wirklichen Dinges, auf denen das Erkenntnisurteil
beruht, dieser nachgeahmten Handlung nun die gewünschte Kraft verleiht:
in Übereinstimmung mit den Resultaten des maßgebenden Erkenntnisurteiles
die unmittelbaren Empfindungen des Wohlgefälligen,
welche eine Billigung desselben, und des Lächerlich-Verkehrten,
welche eine Verwerfung seines Gegenteiles einschließen, hervorzubringen.
Somit ist also die Parabel:


die durch Erzählung bewirkte Nachahmung einer Handlung,
welche durch ihre äußere hervorstechende Ähnlichkeit
mit der inneren wesentlichen Beschaffenheit wirklicher
Verhältnisse über deren Richtigkeit oder Verkehrtheit die
Empfindungen des Wohlgefälligen und des Lächerlichen
hervorzurufen geeignet ist.


Denn diese Empfindungen sind es, auf denen das billigende oder
verwerfende ästhetische Urteil beruht; je nach dem Gegenstande aber, der
sie erregt, können sie mit einem unendlich verschiedenen Jnhalte erfüllt |#f0201 : 183|

sein. Es ist vollkommen irrig, wie öfters geschehen ist, zu behaupten,
die Parabel habe es im Gegensatze zur Fabel mit sogenannten „höheren
Wahrheiten“ zu thun: nach ihrem Wesen, wie es vorstehend definiert
ist, stehen ihr alle Kreise und Verhältnisse des menschlichen Lebens offen,
sobald man für eine an ihnen gemachte Beobachtung, eine daraus gewonnene
Einsicht oder Erkenntnis jedweder Art einer Vergleichung bedürftig
ist. So kann also, je nach der Natur des Gegenstandes, das
Verkehrte darin als lächerlich oder auch als mißbilligungswert entschieden
hervortreten, oder es kann durch die Würde und Wichtigkeit des Urbildes
der Vergleichung die Empfindung so erhoben werden, daß die vis comica
der Erscheinung des Verkehrten fast ganz aufgehoben wird und kaum
ein leises Lächeln das Empfindungsurteil begleitet, während die komplementäre
Empfindung des Wohlgefallens an dem Jnhalte des billigenden
Urteiles mit um so größerer Gewalt die Seele bewegt. Dazwischen
liegen unendlich verschiedene Abstufungen und Mischungsverhältnisse jener
beiden Hauptempfindungen.


Als Beispiele der ersten Art kann manches gelten, was Goethe
unter der Gesamtbezeichnung „Parabolisches“ in die Sammlung seiner
Gedichte aufgenommen hat ─ (nicht alle dort aufgenommenen Stücke
sind jedoch Parabeln) ─ so die Gedichte: „Recensent“, „Dilettant
und Kritiker
“, „Pfaffenspiel“, „Die Freuden“; auch Gellerts
Die beiden Wächter“ wäre hierher zu rechnen, da man der Handlung
dieses Gedichtes doch schwerlich eigene Geltung zuschreiben, sondern
sie nur als zur Vergleichung erfunden ansehen wird. Mittlere Stufen
nehmen ein Gellerts vortreffliche Dichtung „Die Reise“, Chamissos
Kreuzschau“, Rückerts „Parabel“ vom „Mann im Syrerland“.
Zu der zweiten Art endlich gehören Stücke wie Lessings Prosa=„Parabel“
vom Palaste (im Anti-Goeze) und Nathans Erzählung von den
drei Ringen.


Es dürfte nicht überflüssig sein durch einen genaueren Nachweis zu
zeigen, daß selbst hier, wo der Gefühlseindruck des Erhabenen so stark
vorwiegend ist, gerade so wie überall in der Parabel, die hervorgebrachte
Wirkung zum ebenso wesentlichen Teile auf der negativen Empfindung
des Lächerlichen beruht, nur daß man sich gewöhnen muß, diesen Begriff
so weit zu fassen, daß er die lebhafte Empfindung des Verkehrten in
ihrer ganzen Ausdehnung umschließt, sofern sie sowohl von der Empfindung
des Widerwärtigen als des Empörenden oder Furchtbaren frei ist.
Die Sprache hat für diese Empfindung keinen andern Namen als den
des Lächerlichen, d. h. das zum Lachen Anlaß gibt; es ist damit
keineswegs gesagt, daß dieses Lachen nun auch zum Ausbruch kommen |#f0202 : 184|

muß: wenn die gegenüberstehende positive Empfindung, die bei jeder
Art des Lächerlichen mitwirkend vorhanden ist, bedeutungsvoll und hoch
geartet entweder an sich selbst, oder es nach der subjektiven Gefühlsweise
des Empfindenden in überwiegendem Grade ist, so mindert sie den thatsächlichen
Ausbruch des Lachens zum Lächeln herab oder unterdrückt ihn
ganz. Daher kommt es auch, daß, obwohl das „Lächerliche“ ein
objektiv feststehender, und seiner Natur nach allgemein gültiger Begriff
ist, das „Lachen“ selbst als eine so gänzlich subjektive Erscheinung auftritt:
der sittlich höchststehende Mensch, bei dem die positiven Empfindungen
am stärksten vorwalten, „lacht“ am wenigsten, der Ungebildete,
bei dem sie am schwächsten sind, am leichtesten; am vielen Lachen erkennt
man den Narren! Damit ist aber keineswegs gesagt, daß nicht bei dem
geistig und sittlich am höchsten Stehenden die „Empfindung des
Lächerlichen
“, und zwar die unfehlbar richtige, nichtsdestoweniger in
jedem Falle unmittelbar in der lebhaftesten, entschiedensten und sichersten
Weise sich einstellen muß.


Die Parabel von den drei Ringen ist nach allen Seiten vorzüglich
geeignet die Wahrheit dieser Sätze zu bezeugen; wiewohl an einer jeden
wohlgelungenen Parabel derselbe Nachweis sich führen läßt.


Die Erkenntnis, welche Lessing zu der Erfindung der Gleichnisrede,
welche er seinem Nathan in den Mund legt, bewegte, ist diese: das
Wesen und somit die Wahrheit der Religionen läßt sich
nicht sowohl an der Form ihrer Lehren und Gesetze oder der
Beglaubigung ihrer Überlieferung erweisen, als an der
Wirkung, die eine jede in ihren Trägern hervorbringt.
Diesen
Satz, dessen Erweis vor dem Tribunal der abstrakten Erkenntnis mit tausend
Einwürfen den Kampf aufnehmen muß, galt es dem unmittelbaren, einfachen
und seiner selbst gewissen Urteilsspruch der Empfindung zu unterwerfen.
Dazu mußte er in der Form vor ihr erscheinen, in der allein
er ihr wahrnehmbar und verständlich werden kann: in sinnfälliger
Gestaltung. Die Aufgabe war also, konkrete Gegenstände zu erfinden,
deren hervorstechende äußere Eigenschaften sie geschickt machten, durch vollkommene
Ähnlichkeit mit den Subjekten des Satzes und ihren Attributen
und Prädikaten an deren Stelle zu treten. Es bot sich ihm dazu
die Erzählung Boccaccios von Melchisedek und Saladin dar. Jn Boccaccios
Parabel tritt jedoch nur die eine Hälfte von Lessings Satz hervor:
der Vater macht zu dem echten Ring, welcher das Vorherrschaftsrecht
gewährt, zwei täuschend ähnliche, d. h. der Vorrang der drei Religionen
ist nach ihrer äußern Form und ihrer Ueberlieferung nicht zu entscheiden.
Die wesentlichere Hälfte fehlte; denn Lessing war nicht der Mann, sich |#f0203 : 185|

bei einer solchen Frage mit dem Resultat der Unlösbarkeit zu begnügen.
Freilich offenbarte er in der Art seiner Lösung die großartige Unbefangenheit
seines Standpunktes, indem er durch seine Umgestaltung
von Boccaccios Parabel dem echten Ringe die Zauberkraft beilegte durch
seine Wirkung sowohl nach außen als nach innen auf seinen
Träger, „vor Gott und Menschen angenehm zu machen, wer in dieser
Zuversicht ihn trug“. So hatte nun seine Erfindung die genugsam
hervorstechende Ähnlichkeit mit der wesentlichen Beschaffenheit
seiner Ansicht von dem wahren Sachverhalt, um im Verlaufe der erdichteten
Handlung die bestimmte und sichere Empfindung zu erzeugen, wie verkehrt
und lächerlich es sei, auf die richtige äußere Gestalt des Ringes
─ obwohl er einen köstlichen Edelstein umschloß, „der hundert schöne
Farben spielte“ ─ und die Unverdächtigkeit seiner Überlieferung zu
pochen und dabei die Hauptsache ganz zu vergessen, daß das allerwesentlichste
Zeugnis seiner Echtheit ja doch in seiner offenkundigen und mit
allüberzeugender Kraft sich kundthuenden Wirkung gegeben sein müßte.
Der entscheidende Moment für die Empfindung des Hörers ist die
Wendung des Rechtsstreites, da der Richter die Wucht dieses Umstandes,
welcher das vermeintliche Recht aller streitenden Parteien in Unrecht
verwandelt, in seinem Urteile geltend macht: „Nun, wen lieben zwei
von euch am meisten? Macht, sagt an! Jhr schweigt? Die Ringe
wirken nur zurück? und nicht nach außen? Jeder liebt sich selber nur
am meisten? ─ O so seid ihr alle drei betrogene Betrüger! Eure Ringe
sind alle drei nicht echt.“ Die Wirkung auf das Empfindungsurteil ist
unmittelbar und unwiderstehlich, und wenn die der Empfindungswahrnehmung
des Verkehrten innewohnende Kraft des Lächerlichen durch die
Darstellungsweise so ganz ungenutzt bleibt, daß sie gar nicht einmal aufkommt
─ „Herrlich! herrlich!“ ruft der Sultan aus ─, so liegt das daran,
daß die dramatische Situation und die darin handelnden Menschen im
allerstärksten Maße darauf angelegt sind, die mit der Empfindung des
Verkehrten zugleich sich einstellende positive Empfindung zu erwecken: die
Empfindung des höchsten, die Seele ganz ausfüllenden Wohlgefallens
an der entgegengesetzten Vorstellungsweise mit allen ihren Konsequenzen,
der denn auch sogleich durch den Schluß der Parabel der volle Ausdruck
gegeben wird. Die mächtige Bedeutung des Gegenstandes leidet keine
andere Behandlungsweise, wenigstens nicht in den Händen unseres Lessing!
Aber man denke sich denselben Stoff in die Hand eines Voltaire gegeben,
ob da nicht das Schwergewicht in der Ausführung darauf gefallen
wäre, die lächerliche Wirkung der Empfindung des Verkehrten
herauszuarbeiten! Oder man stelle sich vor, es handle sich nicht um den |#f0204 : 186|

Besitz der höchsten Wahrheit, sondern um den Anspruch auf den Vorrang
der Schönheit, der Klugheit, oder der Ehrlichkeit, des Scharfsinns, der
Geschicklichkeit: hier allenthalben würde, mit um so minderer Wucht die
positiven Empfindungen auftreten, umsomehr die des Lächerlichen frei
werden.


Weit entschiedener schon kommt diese Wirkung in der Lessingschen
„Parabel“ vom „Palaste im Feuer“ zur Geltung, natürlich abermals
bei der entscheidenden Wendung der Handlung: in der Situation, da
die erschrockenen Wächter des Palastes die vermeintliche Feuersbrunst,
jeder nur nach Maßgabe des von ihm verwahrten Grundrisses, löschen
wollen und in dem ereiferten Streit darüber das brennende Gebäude
selbst ganz vergessen, ist von Lessing mit offenbarer Absichtlichkeit das
komische Element herausgearbeitet, ohne daß er freilich es unterlassen
hätte, der positiven Empfindung sogleich zu ihrem vollen Rechte zu verhelfen.
Dieselbe ist ohnehin in diesem unvergleichlichen Stücke von
vornherein und durchweg auf das lebhafteste angeregt, aber allerdings
nicht in der eigentlichen Handlung, welche hier ganz nach der negativen
Seite gewendet ist, sondern in der derselben vorausgehenden, sowohl
ihrem Umfange als ihrer Bedeutung nach weit überwiegenden Schilderung.
Diese Schilderung des Palastes, der ein Bild der Religion darstellt
─ nicht einer bestimmten Religion, sondern der Religion überhaupt
─ ist in ihrer Art ein unübertroffenes Meisterstück: hier herrscht
die vollkommenste Ähnlichkeit in jedem, auch dem scheinbar unwesentlichsten
Worte der Erzählung, kein Beiwort ist müßig oder zum bloßen
Schmucke gewählt; dennoch liegt gerade in diesem Teil der Erfindung
etwas den Forderungen der Kunst Widersprechendes, entschieden Unpoetisches.
Diese Parabel würde die dichterische Kunstform nicht vertragen;
die Prosaform, welche ihr Lessing gegeben, stimmt ganz zu ihrem
Zweck und Wesen: nicht als schöne Dichtung, sondern als rhetorisches
Kunstmittel,
welches Überzeugung bewirken soll, hat Lessing sie
erfunden. Es war daher kein Fehler, weil mit dem Zwecke der Darstellung
nicht im Widerspruch, daß die Jnstanz, vor der sich jene vollkommene
Ähnlichkeit herausstellte, nicht die unmittelbare sinnliche
Wahrnehmung
ist, sondern der vergleichende Verstand und
das Denkvermögen.
Dieser Palast mit dem unermeßlichen Umfang
und der sonderbaren Architektur, mit den wenigen unregelmäßigen
Fenstern und zahlreichen Thoren und Thüren, durch welche ein jeder
auf dem kürzesten Wege gerade dahin gelangt, wo man seiner bedarf,
mit den zahllosen Gemächern, die alle ihr Licht von oben erhalten, der
mit alle dem dennoch gefällt, durch „die Bewunderung, welche Einfalt |#f0205 : 187|

und Größe erregen, wenn sie Reichtum und Schmuck mehr zu verachten
als zu entbehren scheinen“, ist ein schlechterdings unvorstellbares Ding;
dagegen ist jedes seiner Attribute mit dem höchsten Scharfsinn so ausgewählt,
daß der Verstand mit Sicherheit auf die Vergleichung mit den
entsprechenden wesentlichen Beschaffenheiten des vorschwebenden abstrakten
Begriffes der Religion hingewiesen und das Denkvermögen in den Stand
gesetzt wird, dieselben zu einer fest in sich geschlossenen, einheitlichen
Vorstellung zu verbinden. Was jedoch die sinnliche Anschauung des
gewählten Bildes nicht vermag: zu gefallen und die Seele zu bewegen,
das leistet dieses selbe Bild nun dennoch, nachdem es durch den
Gedanken Erleuchtung und Belebung empfangen hat: es zeigt in einer
Überschau
vereinigt eine Reihe der wesentlichsten Merkmale des Begriffs
─ und zwar nur diese mit Ausschluß aller andern, und zwar
diese nicht nur neben= und nacheinander, sondern in notwendiger
innerer Verbindung
─, welche in dieser Verknüpfung nicht
leicht gedacht und daher weder in ihrer wesentlichen Bedeutung noch
in ihrer engen Zusammengehörigkeit erkannt werden.


Der hier vorliegende Fall ist in hohem Grade geeignet, das Verhältnis,
welches zwischen der Allegorie und der Parabel obwaltet,
klarzulegen.


Die Allegorie ist keine Dichtungsart oder überhaupt eine Kunstgattung,
sondern sie ist eine Darstellungsweise. Für dieselbe ist
noch immer Lessings Definition in Geltung, der seinerseits dem Quintilian
folgte, jedoch nicht ohne dessen Erklärung zu modifizieren. Es
heißt bei Lessing (vgl. Abhandl. über d. Fabel: X. S. 30): „Die
Allegorie sagt das nicht, was sie nach den Worten zu sagen
scheint, sondern etwas Anderes Ähnliches.
“ Das Wort „Ähnliches
hat Lessing dem Vossius entlehnt und als Verbesserung
acceptiert. Er hat jedoch die Worte Quintilians mit einer Freiheit
übersetzt, die in der Mehrzahl der Fälle wohl erlaubt ist, hier aber in
einem wesentlichen Punkte den Sinn verändert. Quintilian sagt:
„Ἀλληγορία aliud verbis aliud sensu ostendit.1 Das heißt nicht:
Die Allegorie sagt das nicht, was sie den Worten nach zu sagen
scheint u. s. w., sondern: „sie sagt etwas anderes dem Wortlaute

1
Inst. orator. lib. VIII, 6, § 44. Genau: At ἀλληγορία, quam inversionem
interpretantur, aut aliud verbis aliud sensu ostendit, aut etiam interim
contrarium. Jedoch dieses etiam interim contrarium erklärt er selbst im § 54 für
die Jronie. In eo vero genere, quo contraria ostenduntur, ironia est: illusionem
vocant; er betrachtet dieselbe also als eine Unterart der Allegorie.
|#f0206 : 188|

nach und etwas anderes dem Sinne nach;“ oder freier übersetzt:
„Das Wesen der Allegorie ist, daß bei ihr Wortlaut und Sinn
verschieden
sind, nicht zusammenfallen.“ Es zeigt sich dabei beiläufig
wieder, wie weise Wortsparer die Alten waren, denn der Zusatz
des „simile“ ist, wie jeder sieht, ganz überflüssig. Viel wichtiger aber,
und in der That in vielen Fällen von ganz entscheidender Bedeutung ist
die positive Fassung des ersten Teiles der Definition: Allegoria aliud
verbis ostendit: die Allegorie „zeigt“ ein Doppeltes, das eine den
Worten, das andere dem Sinne nach. Der große Unterschied ist, daß
durch Lessings Fassung der Definition die selbständige Bedeutung dessen,
was die Allegorie „den Worten nach sagt,“ für alle Fälle negiert wird,
während die Fassung der Quintilianischen Erklärung dem in Wirklichkeit
obwaltenden Verhältnis gerecht wird und außer den Fällen, in denen
der Wortlaut der Allegorie für sich genommen ohne Bestand ist, „das
nicht sagt, was er zu sagen scheint,“ auch alle diejenigen einschließt, in
denen ihr selbständiger Jnhalt auch abgesehen von dem Sinne, den er
außerdem noch vertritt, eine größere Bedeutung oder die volle eigene
Geltung hat: auch hier trifft dann immer noch die Definition der Alten
zu ─ ἄλλο λέγον τὸ γράμμα άλλο τὸ ωόημα ─, aliud verbis aliud
sensu ostendit.


Nichts Geringeres aber hängt von dieser Unterscheidung ab als die
Frage, ob die allegorische Darstellungsweise in der Kunst
erlaubt oder aus derselben zu verbannen sei.
Die Allegorie
nach Lessings Definition ist schlechthin unpoetisch und überhaupt unkünstlerisch.
Wenn sie „das nicht sagen muß, was sie zu sagen scheint,
sondern nur etwas Ähnliches“ ─ und man kann Lessing schwerlich
anders verstehen ─, so geht bei einer solchen Darstellungsweise die sinnliche
Wahrnehmung leer aus, oder doch sie wird nur in Dienst genommen
um dem Verstande ein Material vorzulegen zu dessen Beschäftigung; ob
sie sich des Wortes oder der malerischen und plastischen Nachbildung
bedient, sie bleibt ästhetisch immer indifferent und hat ihre Bedeutung
nur als rhetorisches Kunstmittel oder als Mittel für Kultus- und verwandte
rituale Zwecke.


Ganz anders liegt die Sache, wenn in den Begriff der Allegorie
auch der zweite Fall eingeschlossen wird, daß der Jnhalt der allegorischen
Darstellung zunächst seinen Bestand für sich hat, von allen andern Darstellungsweisen
sich aber dadurch unterscheidet, daß er auf einen von
diesem Jnhalte an sich verschiedenen Sinn hinweist ─ aliud sensu
ostendit. Jn diesem Falle kann die Kunst sehr wohl von der Allegorie
Gebrauch machen, sie hat von jeher der Anwendung derselben viele ihrer |#f0207 : 189|

schönsten Wirkungen verdankt und wird sich ihres Rechtes auf dieselbe
nie begeben; natürlich unterwirft eine jede Kunst die allegorische Darstellungsweise
den in ihrem Bereiche herrschenden Gesetzen.


Für die Poesie sind diese Gesetze aus dem Gesagten leicht zu entwickeln.
Die allegorische Darstellungsweise gibt das, was sie darlegen
will, durch Darstellung eines Andern zu erkennen. Sie thut also weiter
nichts, als was jede bildliche Ausdrucksweise thut, nur daß sie ihrem
Namen, der eine erzählende Darstellungsweise bedeutet, gemäß sich
nicht begnügt, etwa für einen einzelnen Begriff ein ähnliches konkretes
Ding zu setzen, sondern daß sie die Beziehungen und gegenseitigen Einwirkungen
der Begriffe untereinander durch in Handlung gesetzte Dinge
und Wesen darzustellen weiß. Bei diesem Verfahren können nun nach
entgegengesetzten Seiten sehr schlimme Fehler gemacht werden, und sie
sind von den Geistern niederen Ranges, sobald sie sich an die Allegorie
wagten, auch regelmäßig gemacht worden. Da es nämlich bekanntlich
schon schwer ist, in der Rede gute Bilder anzuwenden, da die Durchführung
derselben in der Allegorie aber noch unendlich viel schwieriger
ist, weil treffende Ähnlichkeit sich hier noch viel schwerer festhalten läßt,
so sind die meisten entweder bei einer halben oder nur stellenweise
zutreffenden Ähnlichkeit stehen geblieben und in Folge dessen undeutlich
geworden: d. h. das von ihnen angewandte Mittel trat mit
dem abstrakten Zweck in Widerspruch, sie schufen also ein Häßliches;
oder ─ und dies ist das Häufigere ─ sie ließen den Sinn, den sie
darstellen wollten, in der Weise über die konkreten Mittel der Darstellung
die Herrschaft gewinnen, daß ihre handelnden Wesen und Dinge ihre
Freiheit verloren, d. h. nicht sprachen, handelten, sich gebärdeten, wie es
ihnen ihrer Natur und den vorausgesetzten Verhältnissen gemäß zukam,
sondern wie es durch ein ganz außerhalb liegendes Gesetz, eben das des
in der Jntention des Dichters liegenden abstrakten Sinnes, ihnen diktiert
wurde. Damit wurde aber diese ganze Klasse von Dichtungen der
Sphäre der Kunst völlig entrückt. Nur im Reiche vollkommener Freiheit
und höchster innerer Richtigkeit und Wahrheit gedeiht das Schöne.
Jn jenen fehlerhaften Allegorien regiert überall die verstimmende,
fremdartige Absicht des Quasi-Dichters.


Es ist aber offenbar ein dritter Fall übrig: es ist der, wenn Bild
und Sinn, im Einzelnen und in der Ausführung, durch eine vollkommene
Ähnlichkeit sich fortwährend völlig decken. Der Dichter wählt oder
erfindet seine Dinge und Wesen und ihre Veränderungen, welche die
Handlung bilden, so, daß sie mit sich selbst und untereinander in völliger
Übereinstimmung bleiben und, was mehr ist, daß die Nachahmung der |#f0208 : 190|

Handlung an und für sich ästhetisch zu wirken, d. h. unmittelbar die
Empfindung zu erregen vermögend ist. Das was er gibt, muß an sich
selbst in Form und Jnhalt allen Forderungen des Kunstwerks entsprechen.
Dazu kommt nun aber ein „Anderes“: der Dichter hat diesmal nicht
die Absicht, die hervorgerufene Empfindung auf den Jnhalt des „dem
Wortlaute nach“ Dargestellten sich beschränken zu lassen, sondern sein
Zweck ist, „dem Sinne nach“ derselben eine viel weitere Ausdehnung zu
geben. Jhm selbst hat bei jedem einzelnen Teile, bei jeder Fortschreitung
seiner Handlung ein Paralleles, aber Höheres, Jdeelles vorgeschwebt.
Die große, überall vorhandene Ähnlichkeit kann nicht umhin, dem Hörer
sofort sich darzubieten, der nun fortan des doppelten Vergnügens genießt,
an der Anmut der dargestellten Dinge selbst sich zu erfreuen und
mit immer wachsender Teilnahme zugleich des inneren Zusammenhanges
einer bedeutenden Gedankenreihe in echt poetischer Weise, d. i. durch
unmittelbar sich einstellende und mit Gewißheit urteilende Empfindung,
sich bewußt zu werden. Der höchste Zweck der Dichtung wird damit
erreicht: in der Schönheit der angeschauten Dinge, die den Sinnen erscheint,
die höhere Ordnung der geistigen Welt, „in leichten Rätseln“
vorgeführt, zu empfinden.


Die erste Forderung an die Allegorie ist also, daß die Ähnlichkeit
zwischen dem Wortlaut und dem Sinne deutlich und in allen ihren
Teilen unverkennbar sei; dieses Gesetz gilt für jede Allegorie: während
aber für die Allegorie, sofern sie nur auf die Überzeugung zu wirken
bestimmt ist, es genügt, daß diese Ähnlichkeit vorhanden ist, sei es auch,
daß ihr Jnhalt nur im Hinblick auf ihren Sinn erfunden ist und für
sich keinen Bestand hat, ist das höchste Gesetz für die künstlerische
Allegorie,
daß sie durch ihren Jnhalt schon die Empfindungen erweckt,
welche sie hervorrufen will, daß sie aber durch eine vollkommene Ähnlichkeit
dieselben auf ein unmittelbar sich darbietendes Höheres, Allgemeineres
sich erweitern läßt.


Die Beispiele finden sich bei unsern besten Dichtern zahlreich und
es ist oben aus einem andern Gesichtspunkte schon auf einige derselben
hingewiesen: die schönsten bei Goethe, wie „Mahomeds Gesang,
Seefahrt,“ „Deutscher Parnaß,“ „Magisches Netz,“ „Lilis
Park
“ und viele andere, ferner bei SchillerDie Teilung der
Erde,
“ „Das Mädchen aus der Fremde“ u. s. f.


Danach läßt sich nun das Verhältnis der Allegorie zur Parabel
ermitteln. Ohne das allegorische Element läßt sich keine Parabel denken,
aber die Stufe ihres poetischen Wertes bestimmt sich nach der Art, wie
sie dasselbe verwendet: ob sie sich der unkünstlerischen, lehrhaften Allegorie |#f0209 : 191|

bedient oder der poetischen, ob ihr Jnhalt eigenen Bestand und selbständiges
Jnteresse besitzt oder nicht. Jn dem einen Falle ist die Parabel
vorwiegend didaktisch, im andern eine echte Dichtung; natürlich sind vermittelnde
Übergänge, Vermischungen beider Arten vorhanden, wie
Lessings antigoezische „Parabel“ davon ein Beispiel ist. Dabei bleibt
aber zwischen der Parabel und der allegorischen Dichtung ein spezifischer
Unterschied bestehen: die Parabel als Dichtungsgattung hat immer
zum Zweck das Wahre oder Verkehrte des der Vergleichung zu
Grunde liegenden Sinnes durch die von ihr nachgeahmte
Handlung unter der Form des Wohlgefälligen oder Lächerlichen
dem Empfindungsurteil vorzuführen;
bei ihr ist also der
Gegenstand Handlung, sie gehört der epischen Gattung zu; die
Allegorie, als selbständige Dichtungsweise, hat einfach den Zweck
durch treffende Ähnlichkeit ihrer Erfindung mit den wesentlichen
Merkmalen ihres Sinnes denselben überhaupt die
Macht über die Empfindung zu verleihen;
ihr Gegenstand ist
also Empfindungserregung, die Handlung ist ihr nur ein Mittel
dazu; sie gehört somit der lyrischen Gattung zu. Man wird nicht
zweifeln, Gedichte wie „Mahomeds Gesang,“ „Seefahrt,“ „Deutscher
Parnaß,“ oder „Die Teilung der Erde,“ „Das Mädchen aus der Fremde,“
für lyrisch zu erklären, und ebenso wenig sie als Muster allegorischer
Poesie anzuerkennen. Dagegen liegt in den anerkannt besten Parabeln
der epische Charakter klar zu Tage; so in den Lessingschen, in Chamissos
„Kreuzschau,“ in Rückerts „Mann im Syrerland“. Bei Gedichten,
welche bald der einen, bald der andern Gattung zugezählt werden, dürften
in jedem Falle diese Unterscheidungsgründe zu fest bestimmten Urteilen
führen: so trägt z. B. Schillers „Pegasus im Joch“ entschieden den
Charakter der Parabel, es ist eine Handlung erzählt, um das durch
dieselbe hervorgerufene Empfindungsurteil auf das ideelle Verhältnis,
für das sie als Vergleichung dient, zu übertragen; dagegen ist z. B. eine
Dichtung, welche immer als Parabel angesprochen wird, HerdersLicht
und Liebe,
1 ebenso entschieden als bloße Allegorie zu bezeichnen, die
Erdichtung einer Handlung, in deren einzelnen Teilen die Ähnlichkeit
mit der Mosaischen Schöpfungsgeschichte festgehalten ist, wird als Mittel
verwendet, um die Empfindungen des „Lichtes und der Liebe,“ welche
diese Schöpfung erfüllen, lebendig zu machen.


Jn ein Wort zusammengefaßt: die Allegorie ist eine Darstellungsweise,
deren sich, wenn sie den Kunstgesetzen gemäß eingerichtet ist, die

1
S. „Blätter der Vorzeit“ (Hempel VI, S. 34).
|#f0210 : 192|

Lyrik sehr wohl bedienen kann; sobald die Epik sich ihrer bemächtigt,
also eine durchweg allegorische Handlung zum Gegenstande der
Nachahmung gemacht wird, so entsteht eine Parabel.


Wie schon gesagt, es hindert nichts, daß sowohl die Allegorie als
die Parabel nicht im vollen Sinne poetisch gestaltet werden könnten:
das wird natürlich am meisten der Fall sein, wo das Bild, die Handlung,
der Jnhalt der Darstellung zuerst in der Phantasie des Dichters
vorhanden war und zu diesem sich ihm durch die vorhandene innere
Ähnlichkeit der entsprechende Sinn einstellte; in geringerem Maße da,
wo zu dem Sinn der Dichter das Bild, die ähnliche Handlung erst
suchen mußte. Allein auch hier kann der Dichter, der die Gesetze seiner
Kunst kennt und sie zu befolgen weiß, die Erinnerung an den Ursprung
seiner Erdichtung aus der Reflexion tilgen und rein poetisch wirken.
Von der ersten Art ist Goethes „Mahomeds Gesang,“ von der zweiten
Schillers „Teilung der Erde“. Ein Unterschied bleibt freilich immer,
und Goethe hat ihn in einem seiner Sprüche scharf gekennzeichnet, und
zwar indem er dabei das Verhältnis seiner eigenen Dichtungsweise zu
der seines großen Freundes speziell im Auge hatte:1 „Es ist ein großer
Unterschied, ob der Dichter zum Allgemeinen das Besondere sucht, oder
im Besondern das Allgemeine schaut. Aus jener Art entsteht Allegorie,
wo das Besondere nur als Beispiel, als Exempel des Allgemeinen gilt;
die letztere aber ist eigentlich die Natur der Poesie; sie spricht ein Besonderes
aus, ohne ans Allgemeine zu denken oder darauf hinzuweisen.
Wer nun dieses Besondere lebendig faßt, erhält zugleich das Allgemeine
mit, ohne es gewahr zu werden, oder erst spät.“ Nur ist nicht zu übersehen,
daß hier von Goethe in der letzteren Kategorie zwei verschiedene
Fälle zusammengefaßt sind: „sie spricht ein Besonderes aus,
ohne ans Allgemeine zu denken oder darauf hinzuweisen“: der
erste Fall ist allerdings der aller echten Poesie, sie stellt das Besondere
als typisch für das darin liegende Allgemeine dar; der zweite, wobei
wohl an ein Allgemeines „gedacht wird,“ welches nicht in dem Besondern
selbst liegt, sondern dem dieses Besondere ähnlich ist, ohne daß
durch den Hinweis darauf die Selbständigkeit der Darstellung die
geringste Beeinträchtigung erfährt, ist der Fall der vollendet poetischen
Allegorie.
Sicherlich hat Goethe bei seinem Gedicht „Seefahrt
zunächst an sich selbst „gedacht“, an seinen Eintritt in die Weimarer
Verhältnisse und an die Bedrängnisse und Gefahren jener sturm= und
drangerfüllten Jahre, unter denen er mit festem Zielbewußtsein seine

1
Sprüche: Ethisches: IV, Nr. 363. S. Hempel XIX, S. 83.
|#f0211 : 193|

Persönlichkeit und seine Mission bewahrte; wie oft mag ihm das Bild
der festen Steuerung im Sturm vorgeschwebt haben, zumal bei den Besorgnissen
und Anklagen der Freunde, die so laut und vielfach an sein
Ohr schlugen. Aber ebenso sicher konnte er nicht eher zu der poetischen
Nachahmung der durchlebten Seelenzustände fortschreiten, als bis er sie
bei sich selbst von dem individuell Eingeschränkten und Belastenden losgelöst
und zum Allgemeinen erhoben hatte, das ihm bei seinem Gedicht
vorschwebte, woran er „dachte“, eben in seinem Falle einen
Typus erblickend. Aber durch keinen „Hinweis“ ist die Schönheit des
selbständig durchgeführten Bildes, welches seinem poetischen Auge vorschwebte,
entstellt, und so „schaut“ er in dem Besondern zugleich das
Allgemeine: die ihrer Kraft sichere Zuversicht des höhern und stärkern
Geistes, der aus der schützenden Enge hinaus größern Verhältnissen,
einem weiteren Schauplatze zustrebt, hochgeschwellt die Brust von Hoffnungen,
jauchzend in den ersten glücklichen Erfolgen, den sich türmenden
Hemmnissen mutig und besonnen die Stirn bietend, „treu dem Ziel“
und „seinen Göttern vertrauend.“ Alles dieses ist ausgedrückt in dem
Bilde der Seefahrt. Die Ähnlichkeit, vermöge derer das möglich wird,
liegt in den Empfindungen und Seelenzuständen, die in beiden Fällen
rege werden, und die der eigentliche Gegenstand der poetischen Nachahmung
sind; vermittelst jenes Bildes wird dieser Nachahmungszweck
schneller und leichter erreicht.


Es ist also zwischen der „poetischen Allegorie“ und der
eigentlichen Natur der Poesie“ allerdings noch ein Unterschied,
obwohl in jenem Spruche Goethe beide in ein und dieselbe Kategorie
wirft. Es gibt sogar zwischen beiden noch eine Mittelstufe, welche Goethe
mit dem Namen der symbolischen Poesie bezeichnet, und die keiner
mit der Meisterschaft und mit der Vorliebe gehandhabt hat wie er.


Jn der fünften Abteilung der Sprüche über „Kunst“ lauten die
beiden letzten (Nr. 742 und 743)1 folgendermaßen: „Die Allegorie
verwandelt die Erscheinung in einen Begriff, den Begriff in ein Bild,
doch so, daß der Begriff im Bilde immer noch begrenzt und vollständig
zu halten und zu haben und an demselben auszusprechen sei.“ „Die
Symbolik verwandelt die Erscheinung in Jdee, die Jdee in ein Bild, und
so, daß die Jdee im Bild immer unendlich wirksam und unerreichbar
bleibt und, selbst in allen Sprachen ausgesprochen, doch unaussprechlich
bliebe.“


Das ist keine Definition, sondern ein tiefsinniger Spruch, der erst

1
S. Hempel XIX, S. 158.
|#f0212 : 194|

selbst der Definition bedarf. Gemeinsam mit der Allegorie ist der Symbolik,
daß sie wie jene auf Vergleichung beruht, und zwar auf der Ähnlichkeit
eines Konkreten nicht direkt mit einer andern konkreten Erscheinung,
sondern mit dem geistigen Jnhalt derselben; nun aber tritt für denselben,
wenn er ein Begriff ist, der sich „vollständig aussprechen“ läßt,
die Allegorie ein, die demselben entsprechend ebenso fest begrenzt ist; für
die „unaussprechliche“ „Jdee“ dient die Symbolik zum Ausdruck,
die ihrerseits also auch etwas Unerschöpfliches, Jnkommensurables in
sich trägt.


Die Unterscheidung ist ungemein wichtig und für die Beurteilung
der Poesie und der gesamten Kunst von tief eingreifender und ganz entscheidender
Bedeutung. Aber die sehr große Schwierigkeit liegt darin,
den Unterschied von „Begriff“ und „Jdee“ klar und bestimmt zu definieren.
Goethe hat sich oft und mit besonderer Vorliebe über den Gegenstand
ausgesprochen.


Die Zusammenfassung seiner Meinung enthält wohl, was wir in
den „Sprüchen“ (Natur V, Nr. 1016)1 lesen: „Begriff ist Summe,
Jdee Resultat der Erfahrung; jene zu ziehen, wird Verstand, dieses
zu erfassen, Vernunft erfordert.“ Zur Erklärung dienen zahlreiche andre
Stellen der Sprüche, so Nr. 334:2 „Die Jdee ist ewig und einzig;
daß wir auch den Plural brauchen, ist nicht wohlgethan. Alles, was
wir gewahr werden und wovon wir reden können, sind nur Manifestationen
der Jdee; Begriffe sprechen wir aus, und insofern
ist die Jdee selbst ein Begriff.“ Und Nr. 336: „Die Manifestation der
Jdee als des Schönen ist ebenso flüchtig als die Manifestation des Erhabenen,
des Geistreichen, des Lustigen, des Lächerlichen. Dies ist die
Ursache, warum so schwer darüber zu reden ist;“ in demselben Sinne
ferner Nr. 430:3 „Das Wahre ist gottähnlich; es erscheint nicht unmittelbar,
wir müssen es aus seinen Manifestationen erraten.“


Die Meinung ist also doch wohl die: der Begriff beruht auf einem
bestimmt formulierten Verstandesurteil, zu welchem wir gelangen, indem
wir in der Summe der gleichartigen Einzeldinge die wesentlichen Merkmale
feststellen, die allen gemeinsam sind, ferner die Merkmale, durch
die sie untereinander oder von verwandten Dingen sich unterscheiden.
Jndem wir mit einer Summe zusammengehöriger oder verwandter Begriffe
ebenso verfahren, steigen wir zu höhern Begriffen auf und von

1
S. Hempel XIX, S. 219.
2
Ethisches III. Hempel XIX, S. 75.
3
Ethisches IV, S. 93.
|#f0213 : 195|

diesen zu noch weiter umfassenden Gesamtbegriffen. Hier ist überall auf
Erfahrung gegründete Bestimmtheit und Klarheit vorhanden, und der
sprachliche Ausdruck stellt den Gedanken vollständig dar. Jndem wir
nun aber zu den höchsten Vorstellungen vorschreiten, gewahren wir, daß
jene begrifflichen Feststellungen wohl geeignet sind zur Kennzeichnung
und Unterscheidung derselben zu dienen, aber keineswegs vermögend ihr
Wesen zu erschöpfen. Weite Gebiete des Gefühls und auch der Erfahrung
sind der deutlichen Erkenntnis verschlossen, und die Vernunft erkennt
die Existenz und unaufhörliche Wirksamkeit von Mächten an, die
dem Verstande unfaßbar und „unbegreiflich“ sind. So ist gerade die
Thätigkeit des Verstandes, welche die vollständige Summe der Erfahrung
zu Begriffen vereinigt, am besten wirksam zu erweisen, daß
die bessere und größere Hälfte der Erkenntnis darüber hinaus noch übrig
bleibt für die bloßen „Schlüsse“ der Vernunft, für das Urteil der
Empfindung,
und weiter hinaus statt der Erkenntnis für die Ahnung
und den Glauben.1 Daraus ergibt sich, daß, wer diese Thatsache
nicht anerkennt, notwendig auch zu begrifflichem Jrrtum gelangen muß,
eine Beobachtung, der gleichfalls Goethe den schlagenden Ausdruck verliehen
hat: „Wer sich vor der Jdee scheut, hat auch zuletzt den
Begriff nicht mehr.


Die Sprache gibt diesen „Jdeen“ Namen, aber diese Namen bezeichnen
sie nur, ohne daß sie vollständig erklärt werden könnten; auch
kann keine Erfahrung ihnen jemals vollständig entsprechen: sie gehen als
das „Resultat“ aus der Summe der Manifestationen hervor, in denen
ihr Wesen sich offenbart. Da sie aber in ihrem Wesen insofern alle
verwandt sind, als sie alle auf eine gemeinsame Quelle hinweisen, so
gelangt eine konsequente Betrachtung dazu, sich die Jdee überhaupt als
eine „ewige und einzige“ vorzustellen, von der die „einzelnen“ Jdeen,
von denen unser Sprachgebrauch redet, nur die Emanationen sind und
zu der sie immer in Beziehung gedacht werden müssen.


Wenn also das Höchste in den Dingen und ihre eigentliche
Vollständigkeit
niemals begrifflich festgestellt und überhaupt niemals
ganz ausgesprochen werden kann, sondern die Vorstellung davon nur im
Ahnen, Glauben und Fühlen als Thatsache vorhanden ist, so ist es klar,

1
Damit steht die Lehre Kants in voller Übereinstimmung: vgl. Kritik der
reinen Vernunft
, I. Abth., 1. Buch, 1. Abschn. (Ausg von R. und Sch. Bd. II,
S. 258): „Der Begriff ist entweder ein empirischer oder reiner Begriff, und der
reine Begriff, sofern er lediglich im Verstande seinen Ursprung hat (nicht im reinen
Bilde der Sinnlichkeit), heißt Notio. Ein Begriff aus Notionen, der die Möglichkeit
der Erfahrung übersteigt, ist die Jdee oder der Vernunftbegriff.“
|#f0214 : 196|

daß dieses Höchste und die eigentliche Vollständigkeit der Dinge auf keine
andere Weise dargestellt werden kann als durch die Kunst, deren Wesen
es ist, durch die Mittel, welche das ganze Naturreich und
Leben ihr darbietet, den Sinnen sich verständlich zu machen
und dadurch die Nachahmung aller jener Seelenvorgänge
zu bewirken, in denen die
Jdeesich den Menschen kund
thut: Empfindungen, Gesinnungen, Handlungen.


Jn ihren größten wie in ihren kleinsten Hervorbringungen ist dies
das Ziel der Kunst; sie erreicht es dort mit Hülfe einer Fülle von Anschauungen,
hier vermag es der echte Künstler auch mit den geringsten
Mitteln durch jene undefinierbare Zaubergewalt, mit welcher wahres Gefühl
auch immer wieder Empfindung erweckt. Die Poesie, und neben
ihr auch die bildende Kunst, hat aber ein Mittel, auch in kleinem Umfange,
wo die direkte Nachahmung der Empfindung des Jdeellen verwehrt
sein würde, dieselbe auf indirekte Weise zu bewirken: dieses
Mittel ist die Symbolik.


Ein Symbol ist ein konkretes Ding, welches durch ein hervorragendes
Merkmal seiner Beschaffenheit geeignet ist, auf eine Jdee hinzuweisen
und so als Kennzeichen derselben zu dienen; so der Ring, ein
ohne Ende in sich geschlungenes Band, ein Hinweis auf die Treue, die
nicht endet, das Kreuz ein Merkmal des christlichen Glaubens, die Krone
und der Kranz Symbole der Herrschaft und des Ruhmes. Die Gewalt,
mit der die Liebe die Seele ergreift, wird symbolisiert durch den das
Herz durchbohrenden Pfeil; ihre Süßigkeit: die Spitze ist in Honig getaucht;
die Flüchtigkeit der Liebe und ihre wechselnden Launen stellen
geflügelte Amoretten dar. Wie herrlich hat Thorwaldsen die „Alter
der Liebe“ in einem seiner schönsten Reliefs ausgedrückt, ein Meisterwerk
symbolisierender Kunst: die geflügelte Psyche mit dem Amorettenkorbe
neben sich, dessen Deckel ein neugieriges Knäblein lüftet, während
ein halberwachsenes Mädchen mit unschuldiger Zutraulichkeit nach dem aus
dem Korbe sich ihr entgegenhebenden Köpfchen langt; Psychen zu Füßen
kniet eine eben erblühte Jungfrau und empfängt mit in heiligem Enthusiasmus
nach oben gerichtetem Antlitz aus ihren Händen den Amor; in
inbrünstigem Kuß preßt ihn die Neuvermählte an die Lippen, die werdende
junge Mutter, in sinnendem Ernst und doch still beglückt die
Augen zur Erde gewandt, trägt ihn, der die kleinen Arme über der
Brust gekreuzt hält, an den Flügelchen in der herabhängenden Linken;
dem vollkräftigen Manne sitzt er triumphierend auf dem Nacken und
drückt ihm mit schwerem Gewicht die breiten Schultern; neckisch entflieht
er dem Greise, der vergebens sehnsüchtig ihn zurückzurufen strebt. Jeder |#f0215 : 197|

dargestellte Vorgang erweckt hier die Vorstellung der Jdee der Liebe in
immer andern Manifestationen, jeder genügend, um seinen Gegenstand
zu kennzeichnen, keiner doch ihn aussprechend, vielmehr durch die Art
der Vorstellung die Empfindung und durch sie den Gedanken zu unbegrenzter
Thätigkeit anregend, daher, wie jedes wahre Kunstwerk, für den
Beschauer immer neu!


Ganz ebenso verfährt die poetische Symbolik. Jmmer handelt es
sich bei ihr um jene höchsten Dinge, die eben nicht vollständig im Begriffe
zu fassen und auszusprechen sind, sondern bei denen ein bedeutender
Teil dem Ahnen und Fühlen überlassen bleiben muß. Auf die in
solchen Erscheinungen und Vorgängen sich manifestierende Jdee weist die
poetische Symbolik durch Erzählung eines Vorganges hin, der durch
eine oder mehrere hervorstechende äußere Beschaffenheiten geeignet ist, an
jene Jdee zu erinnern, sie zu „kennzeichnen“, im übrigen nun aber
seine völlige Freiheit behält, ganz verschieden von der
poetischen Allegorie, die zwar auch die innere Selbständigkeit
bewahren muß, aber in allen Fortschreitungen ihrer
Darstellung gezwungen ist, den einzelnen Bestandteilen der
vorschwebenden Begriffsverhältnisse sich genau anzuschließen.

Jndem nun die poetische Symbolik das gewählte Bild in solcher Freiheit,
aber doch immer im Hinblick auf die vorschwebende Jdee, also das
Ähnlichkeitsmoment in den Vordergrund stellend, ausführt, erhält das
Bild etwas Unendliches; es läßt sich nicht aussprechen, wie die Empfindung
der Jdee immer aufs neue dadurch angeregt wird und damit auch
eine unerschöpfliche Kraft immer erneute Gedankenbildung zu erwecken
erlangt. Darin liegt die Erklärung dafür, daß schön und treffend gewählte
Symbole eine geradezu ewige Geltung besitzen können, weil die
Jdee, welche sie erzeugte, wenn auch aus den temporären Erscheinungen
und Verhältnissen geschöpft, die Deutung und Anwendung auf die gleichartigen,
wenn auch äußerlich noch so sehr veränderten und erweiterten
Zustände nicht allein immer wieder zuläßt, sondern zu solcher Erfassung
um so stärker auffordert, je besser sie gelungen ist.1


Solche Dichtungen sind Goethes „Gesang der Geister über den
Wassern“, „An Schwager Kronos“, „Ganymed“, „Die Nektartropfen“,

1
Ein ganz herrliches und wahrhaft klassisches Muster solcher poetischen Symbolik,
in großen Partien der Dichtung zugleich ein Muster echt poetischer Allegorie, ist Goethes
Märchen“ von der schönen Lilie in den „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter“,
dessen Deutung der Verfasser in einer eigenen Schrift: „Goethes
Märchen, ein politisch=nationales Glaubensbekenntnis des Dichters

(Königsberg, Verlag der Hartungschen Buchdruckerei, 1875) niedergelegt hat.
|#f0216 : 198|

Schillers „Das verschleierte Bild zu Sais“, „Das Eleusische Fest“, „Der
Pilgrim“, „Die Klage der Ceres“; sie alle enthalten durchgeführte
Symbolik, während die gelegentliche Verwendung des symbolischen Elementes
bei beiden, wie bei allen echten Dichtern, überall in ihrer Poesie
eine große Rolle spielt. Die gesamte Anakreontik zum Beispiel, ebenso
wie alle Reflexionspoesie bedient sich der Symbolik, wie auch des Elementes
der poetischen Allegorie mit Vorliebe.


Naturgemäß findet die Symbolik ebenso wie in der Lyrik, so auch
in den größern Dichtungsgattungen Eingang, wiewohl hier nur episodisch
und nur da, wo die Fülle oder der Umfang der darzustellenden
Jdeen zu groß ist, um direkte Verkörperung erfahren zu können, was
keineswegs nur ein der modernen Poesie eigentümlicher Fall ist. Jm
Epos hat das Altertum zwar nichts aufzuweisen, was an Dante und
Milton erinnern könnte, doch sind die Elemente, aus denen sich sowohl
das griechische als das nordisch=germanische Epos aufgebaut hat,
die Mythen beider Völker, erfüllt von symbolischen Zügen. Das antike
Drama aber beruht in einer seiner großartigsten Schöpfungen zum
wesentlichen Teile auf Symbolik: ein Blick auf des Aristophanes
„Vögel“, „Wolken“, „Wespen“ genügt, um die Überzeugung zu gewinnen,
daß die politische Komödie, wenn sie sich nicht auf Kleinlichkeiten
einschränken soll, sondern die Dinge in großem Stil behandeln
will, bei der Ausdehnung und Mannigfaltigkeit der in Betracht kommenden
Verhältnisse der Symbolik fast nicht entbehren kann, welche die bunte
Masse der Erscheinungen auf ihre Jdeen zurückführt und diese durch
Körper und Dinge vertreten sein läßt, zwischen denen nun die dramatische
Handlung vorgeht, frei nach den dramatischen Gesetzen sich entwickelnd,
überall dennoch den ideellen Zusammenhang kennzeichnend.


Mit höchster Genialität hat Goethe im Faust die Symbolik seinem
Zwecke unterthan gemacht, teils mit der wunderbarsten Kunst sie in die
reale Handlung verwebend ─ so in der Scene mit dem Erdgeiste, in
der Einführung der Figur des Mephistopheles, die dann, einmal gewonnen,
als wirkliche Person in die weitere Handlung hineinwirkt; ebenso
im zweiten Teile in der Beschwörung der Helena und der Erzeugung
des Homunculus ─, teils, indem er für ganze, in sich abgeschlossene
Scenen zur reinen Symbolik griff, freilich gerade sie mit der reichsten
Fülle plastischer Gestaltungskraft und allem Zauberschmuck der Phantasie
ausstattend: solche Scenen sind die Hexenscene und die romantische
Walpurgisnacht im ersten Teile, im zweiten die „Helena“, die klassische
Walpurgisnacht und der ganze Schluß. Wie hätte, um nur bei einem
Beispiele zu verweilen, die Umformung des dem thätigen und genießen= |#f0217 : 199|

den Leben entfremdeten Grüblers in den Weltmenschen, welche der erste
Teil verlangt, jemals durch reale dramatische Darstellung gezeigt werden
können? Nicht durch ein ganzes Drama für sich, nur die Form des
Romans könnte eine solche Aufgabe lösen. Die Symbolik verstattet es
dem Dichter in einer einzigen Scene seinen Zweck zu erreichen. Jn
einer Reihe der treffendsten symbolischen Züge, die zum Teil bis an die
Allegorie streifen, erinnert das wüste Gebaren der Meerkatzen und
Affen an die banale Jagd nach Gewinn und Genuß und äußerer Geltung,
wobei in den großen und in den kleinen Gesellschaftskreisen auf
allen Gebieten die Plattheit und Jmpotenz ihr Behagen findet. Auf
diesem Untergrunde treten nun zwei große Jdeen in überwältigender
Kraft und Anschaulichkeit der symbolischen Erscheinung hervor; in dem
banausischen und gemeinen Getreibe vermag den hohen und kraftvollen
Geist nur eine Erscheinung zu fesseln, die er wiederum nur aus der Buntheit
und mitten aus den tausend Nichtigkeiten dieses Getreibes zu ergreifen
vermag: es zeigt ihm im Zauberspiegel die schöne Gestalt. Und
die zweite große Jdee: bei allen tödlichen Gefahren des Weltlebens
gerade für den hoch und reich Begabten ist allein die Berührung mit
ihm vermögend, die Gemüts- und Willenskräfte, die in der Weltentfremdung
leicht erlahmen und eintrocknen, durch Erregung, Kämpfe
und Jrrungen aller Art in Fluß und Thätigkeit zu bringen: ein gefährlicher
Zaubertrank, der aber außer seinem Gifte für den, der ihn
zu vertragen vermag, verjüngende und jung erhaltende Kraft besitzt.


Jm Grunde sind alle Vorstellungen des Wunders, Zaubers und
Gespensterspuks ihrem Kern nach symbolisch; die Erscheinung wird in
ihrer Jdee erfaßt und dieser Jdee wird Gestalt gegeben; wenigstens
werden nur in diesem Sinne ergriffen diese Vorstellungen für die
Dichtung ihren Wert haben. Alle großen dramatischen Dichter haben
sich solcher symbolischer Gebilde frei und unbekümmert um realistische
Einwendungen und trotz derselben immer mit dem Rechte des unzweifelhaften
Erfolges bedient: der viel und oft mit Unrecht geschmähte Deus
ex machina der Alten, so z. B. der Herakles in des Sophokles
Philoctet“, ist, wenigstens in den Händen des echten Dichters, gar
nichts andres, als die Benutzung des Volksglaubens in diesem Sinne;
mit ganz demselben Rechte wie Shakespeares Gespenster im Hamlet
und Macbeth oder die Erscheinung Klärchens als Freiheit in Goethes
Egmont
ist er die ergreifende Objektivierung mächtiger Jdeenwirkung
im Gemüt.


Der nähere Nachweis aber, wie alle den hier behandelten Elementen,
den verschiedenen Anwendungen des Wunderbaren, dem Para= |#f0218 : 200|

bolischen, Allegorischen, Symbolischen, ihre berechtigte Stellung in den
größern epischen und dramatischen Gattungen anzuweisen sei, kann nicht
anders geführt werden, als auf Grund einer eingehenden Untersuchung,
welche schon oben, als für die Erklärung der inneren Notwendigkeit des
Gebrauchs der Tiere in der Fabel erforderlich, in Aussicht gestellt wurde:
eine Untersuchung der Frage:


nach den verschiedenen Gestaltungen und Begrenzungen,
in denen sich der Begriff der Handlung der poetischen Nachahmung
darbietet;


und nach den verschiedenen Arten, in denen diese Nachahmung
erfolgen kann.


Der folgende Abschnitt soll dieser Untersuchung gewidmet sein. ──────


XIII.


Wie oben ausgeführt, stehen die Handlungen einerseits mit den
unmittelbaren und mittelbaren Äußerungen des Seelenlebens ─ Pathos
und Ethos ─, andrerseits mit denen der Vernunft- und Verstandesthätigkeit
─ Dianoia ─ im engsten Zusammenhange; wie weiter ausgeführt,
ist in dem ästhetischen Urteil, an welches die Nachahmung
von Handlungen sich wendet, trotzdem dasselbe sofort und ohne die Vermittelung
bewußter Gründe sich einstellt, nach allen drei bezeichneten
Richtungen ein Verdikt enthalten, eben weil in der Nachahmung des
Handlungsmoments zugleich die Äußerungen des entsprechenden Empfindungsvorganges,
die Bezeichnung der obwaltenden ─ „ethischen“ ─
Seelenbeschaffenheit und das Ergebnis der bestimmenden Denkthätigkeit
mitgegeben sind. Die Vollständigkeit der Nachahmung würde also
erfordern, daß nach allen diesen drei Seiten das für die innere Handlung
Wesentliche darin auch mitgeteilt sei; denn es ist ja wohl klar,
daß in dieser Beziehung ein weiter Spielraum für die Nachahmung übrig
bleibt, ob sie nämlich sich begnügt, jene in der Handlung implicite gegebenen
Momente erraten zu lassen, oder ob sie dieselben explicite vorführt.
Die Art der Nachahmung kann aber auch noch weiter verschieden
sein, je nachdem sie den einen oder den andern jener drei die Handlung
bestimmenden Faktoren in den Vordergrund treten läßt und dafür
die andern vernachlässigt, obschon dieselben natürlich niemals ganz
fehlen
können. Die Beschaffenheit und die Wirkung der Nachahmung
wird in jedem dieser Fälle eine wesentlich andre sein: sie wird entweder
vorzugsweise die Empfindung erregen, oder ethische Stimmung hervor= |#f0219 : 201|

rufen, oder endlich an das, was wir mit Benutzung des griechischen
Ausdrucks den praktischen Sinn nennen, an die Lebensklugheit,
den Weltverstand sich wenden.


Nach dem Zweck der Nachahmung wird dann jedesmal die Wahl
der Mittel
und die Art derselben, also ihre Form, sich bestimmen.


Und welches sind die Mittel und Arten der Nachahmung von
Handlungen, über welche die Poesie verfügt? Das Mittel, die „innere
Handlung
“ ─ die Praxis ─ nachzuahmen, ist die Darstellung der
äußern
Handlung“, welche jene zur Erscheinung bringt; ohne diese
bliebe jene ein bloßer Begriff und erlangte niemals Wesenheit. Die
Arten aber, wie diese Darstellung erfolgen kann, sind sehr vielfach:
entweder durch Erzählung oder durch Handelnde, ferner entweder
in gebundener Rede oder in Prosa; dann aber auch der Ausdehnung
nach, entweder im weitesten Umfange oder in den engsten Grenzen
oder auch in einer dazwischen liegenden mittleren Weise; außerdem,
was die Wahl der Personen anbetrifft, entweder so, daß die Handlung
unter Menschen oder unter Tieren oder unter übermenschlichen,
wunderbaren Wesen
vor sich geht; entweder nach dem Maßstabe der
Wirklichkeit oder unter Zulassung des Wunders, und zwar im letztern
Falle entweder nach bestimmten, gesetzmäßigen Bedingungen oder
ohne Einschränkung; endlich entweder so, daß die Richtigkeit des nachgeahmten
Gegenstandes direkt in der Nachahmung zur Erscheinung
komme, wie in der ernsten Poesie, oder indirekt, wie in der komischen.


Jn diesem Mittel, der Darstellung äußerer Handlung, ist
nun der Poesie ein Reich eröffnet, welches sich noch viel weiter erstreckt
als das der Abbildung der sichtbaren Körperwelt, ja dessen Umfang ganz
unermeßlich ist. Doch bleibt nichtsdestoweniger das Verhältnis der Poesie
zu demselben ganz analog dem, in welchem sie der Körperwelt gegenübersteht.
Auch von dieser entleiht sie einen großen Teil ihrer Kraft ─
Glanz, Farbe, Mannigfaltigkeit ─, ja, sie würde völlig verstummen
müssen, wollte sie den Versuch machen, ihrer zu entraten; und dennoch
ist es unbestritten, daß die Körperdarstellung ihr immer nur Mittel zum
Zweck sein darf. Ganz ebenso, obwohl dies keineswegs anerkannt ist,
steht die Poesie zu der Darstellung äußerer Handlung. Auch diese,
nur um ihrer selbst willen erzählt, ist wertlos, ganz wie die bloße
Schilderung körperlicher Gegenstände; aber zu ihrem wahren Zwecke verwandt,
gewährt sie der Poesie ihre stärksten Reize und ihre mächtigsten
Wirkungen.


Wie die Empfindung der Dinge und Wesen der umgebenden Welt
bedarf, welche sie anregen, und wie inmitten derselben nun die eine die |#f0220 : 202|

andre hervorruft, sie sich begegnen, antworten und gegenseitig bedingen,
so ist die innere Handlung nur denkbar auf dem Grunde der von allen
Seiten eindringenden Veränderungen der Dinge, Personen und Verhältnisse,
welche wir in ihrer Gesamtheit Ereignisse, Begebenheiten, Schicksale
nennen, innerhalb deren nun die „Handlungen“ sich kreuzen, sich
vereinen und bekämpfen, in nie endender Verkettung sich verschlingen.
Doch läßt die Empfindung als rein innerlicher Vorgang, und insofern
sie in der Willkür des Subjektes gelegen ist, sich wenigstens in der Abstraktion
isolieren und ungemischt für sich allein zur Darstellung bringen;
in Bezug auf die Handlung dagegen vermag selbst die Abstraktion den
Kreis der äußerlichen Veränderungen, auf Grund deren sie stattfindet
und in und mit denen sie vor sich geht, nur einzuschränken, niemals
aber kann die Darstellung derselben entbehren, selbst da nicht, wo die
Handlung in einem rein geistigen Vorgange sich vollzöge, z. B. in der
Fassung eines Entschlusses und der Aufgabe desselben, wie im zweiten
Monologe des Goetheschen Faust. Umgekehrt aber kann ohne das Werk
einer solchen Abstraktion ebensowenig die Darstellung einer Handlung
stattfinden: es kann keine einzelne Veränderung gedacht werden, welche
nicht mit der Gesamtheit aller übrigen in Verbindung stände; um also
eine übersehbare Gruppe derselben darzustellen, muß man dieselbe aus
jener Gesamtheit auslösen, eine Menge der Fäden, durch die sie mit
derselben zusammenhängt, einfach durchschneiden und nur so viele von
den außerhalb des eigentlichen Handlungsvorganges liegenden Veränderungen
mit in dieselbe aufnehmen, als zunächst zur Verständlichkeit desselben
und sodann zur Erreichung des ins Auge gefaßten Nachahmungszweckes
erfordert werden.1

1
Zu einer eingeschränktern Verwendung ─ nämlich mit Bezug auf die Sonderung
des Ernsten und Komischen, welches im wirklichen Leben nicht selten vermischt auftritt
─ führt Lessing diesen Gedanken im 70. Stück der Hamb. Dramaturgie aus: „Jn
der Natur ist alles mit allem verbunden; alles durchkreuzt sich, alles wechselt mit allem,
alles verändert sich, eines in das andre. Aber nach dieser unendlichen Mannigfaltigkeit
ist sie nur ein Schauspiel für einen unendlichen Geist. Um endliche Geister an dem
Genusse desselben Anteil nehmen zu lassen, mußten diese das Vermögen erhalten, ihr
Schranken zu geben, die sie nicht hat; das Vermögen abzusondern und ihre Aufmerksamkeit
nach Gutdünken lenken zu können. Dieses Vermögen üben wir in allen Augenblicken
des Lebens; ohne dasselbe würde es für uns gar kein Leben geben; wir würden
vor allzu verschiedenen Empfindungen nichts empfinden; wir würden ein beständiger
Raub des gegenwärtigen Eindruckes sein; wir würden träumen, ohne zu wissen, was
wir träumten. Die Bestimmung der Kunst ist, uns in dem Reiche des Schönen dieser
Absonderung zu überheben, uns die Fixierung unserer Aufmerksamkeit zu erleichtern.
Alles, was wir in der Natur von einem Gegenstande oder einer Verbindung verschie=
|#f0221 : 203|


Aus diesen Grundsätzen lassen sich die Hauptgesetze aller Dichtungsarten,
welche die Nachahmung von Handlungen zu ihrem Gegenstande
machen, ableiten, also sämtliche Formen der epischen und dramatischen
Poesie.


Je einseitiger der Gesichtspunkt ist, von welchem aus die Nachahmung
unternommen wird, desto stärker wird von jenem Vermögen der
Abstraktion Gebrauch gemacht werden, je vielseitiger, desto mehr wird
von den bedingenden und begleitenden Umständen sowie von den äußeren
Folgen der Handlung in die Nachahmung mitaufzunehmen sein, und
bei dem Bestreben einer vollständigen Nachahmung der Handlung wird
jene Abstraktion nur so weit stattfinden dürfen, daß nach jeder der drei
oben bezeichneten Richtungen nichts vermißt werde, d. h. mit andern
Worten, daß der Schein der Wirklichkeit entstehe.


Vollständig ist die Nachahmung, wenn sie bezweckt sowohl die
Empfindung als die Gemütsart und die Ueberlegung des Handelnden ─
Pathos, Ethos, Dianoia ─ im ganzen Umfang ihrer Wirksamkeit zu
reproduzieren; mehr oder minder einseitig, wenn sie, wie oben schon
berührt, zu Gunsten des einen dieser Faktoren die beiden andern, oder
um zweier von ihnen willen den dritten zurücktreten läßt, beziehungsweise
ganz ignoriert.


Die Hülfsmittel für solche verkürzende Abstraktion sind gegeben
einmal in der Möglichkeit, die handelnden Personen zu modifizieren,
sodann in der Freiheit, die Art und Weise, wie sich die Handlungen
derselben nach ihren Bedingungen, Umständen, Wirkungen und Folgen
äußerlich verwirklichen, zu verändern.


Das Erste geschieht, indem die Nachahmung allgemein bekannte,
als typisch geltende
Personen wählt oder indem sie solche Personen
erschafft, die nur genannt zu werden brauchen, um das Wesentliche
ihrer Handlungsweise im Voraus erraten zu lassen; es geschieht ebenso,
wenn sie Tieren oder gar unbelebten Gegenständen Persönlichkeit
verleiht. Sie hat es dadurch in der Hand, diesen oder jenen Faktor der
Handlung nach Belieben zurücktreten zu lassen: so wird z. B. bei einer
Handlung, welche Tieren beigelegt ist, der Faktor der Empfindung
als frei wirkendes Element
so gut wie ganz verschwinden, und demzufolge
auch das den Ausschlag gebende Ethos als vorzugsweise von


dener Gegenstände, es sei in der Zeit oder dem Raume nach, in unsern Gedanken absondern
oder absondern zu können wünschen, sondert sie wirklich ab, und gewährt uns
diesen Gegenstand oder diese Verbindung verschiedener Gegenstände so lauter und bündig,
als es nur immer die Empfindung, die sie erregen sollen, verstattet.“
|#f0222 : 204|

der Dianoia bestimmt erscheinen, und zwar von derjenigen Art derselben,
welche auf die Erwägung des Nützlichen gerichtet ist. Wo es also gilt,
Handlungen, welche von dieser einen Seite sich der Beobachtung darbieten,
in eben dieser Einseitigkeit durch die Nachahmung wirksam zu
machen, werden ganz von selbst als die Träger derselben sich die entsprechenden
Tiercharaktere einstellen. So ist die Fabel entstanden, und
zwar, wie natürlich, keineswegs, indem die ersten Erfinder diese Reflexion
anstellten, sondern indem sie durch die Natur der Sache ganz von selbst
sich dazu getrieben fühlten, wenn die Beobachtung der Tierwelt und des
Tierlebens ihnen ihre Analogien mit dem Treiben der Menschen aufdrängte.


Wo dagegen das Naturleben, im Gegensatze dazu, vielmehr die
Empfindung anregte und Stimmungen erweckte, da legte der dichtende
Natursinn in die unbelebten Dinge die Analogien seelischer Energie, wobei
nun umgekehrt in den Handlungen, in die er sich wechselsweise mit ihnen
setzte, der Faktor der überlegenden Denkthätigkeit sich verflüchtigte: so in
allen jenen Gebieten der Sage, in denen Meer und Luft, Wald, Erde,
Strom und Quelle sich mit plastischen Gebilden der Phantasie erfüllen,
welche den tausendfältig von ihnen ausgehenden Empfindungs= und
Stimmungseindrücken in freien und bewußten Handlungen den lebendigen
Ausdruck geben.


Alle diese Mittel erbt die Kunstpoesie von der Naturdichtung und
vermag durch die Erfindung stehender Masken, ferner durch Symbolik
und Allegorie diesen Vorrat noch unendlich zu bereichern.


Das Zweite ─ die Modifikation der Handlung selbst ─ ist zwar
zum Teil schon hierdurch geboten, aber hat darüber hinaus noch seine
besonderen, höchst bedeutungsvollen Gesetze. Der Verlauf der inneren
Handlung ist unter allen Umständen unantastbar:
die Frage
ist hier, wie die Nachahmung mit der äußern Handlung verfährt, ob
sie die Ursachen, den Hergang und die Folgen, aus denen sie sich zusammensetzt,
nach den Gesetzen der Wirklichkeit darstellt, oder
ob sie diese Gesetze verändert.
Diese Veränderung kann entweder
so geschehen, daß nur ein Teil jener Gesetze davon getroffen wird,
unter den so geschaffenen Voraussetzungen nun aber die volle Konsequenz
der realen Entwickelung in Geltung bleibt, oder sie kann in einer gänzlichen
Aufhebung dieser äußern Entwickelungsgesetze bestehen: das erste ist der
Fall in der Fabel und in der historischen Sage, das zweite geschieht
in der mythischen Sage und im Märchen. Aber wenn das Gesetz der
Wirklichkeit aufgehoben wird, so muß ein andres an seine Stelle treten,
denn nichts ist unkünstlerischer ─ und nichts daher auch der Naturpoesie
fremder ─ als die Willkür. Welches ist nun dieses Gesetz?

|#f0223 : 205|


Hiermit ist die letzte und zugleich die für den Gegenstand bedeutsamste
Frage gestellt.


Es konnte nach dem Gange der Untersuchung bisher nur von der
Nachahmung einer einzelnen inneren Handlung die Rede sein;
aber ein wie kleiner Teil der Poesie, die es mit der Nachahmung von
Handlung zu thun hat, ist darin beschlossen! Jn der That ist einzig
und allein die Fabel in diesen engen Kreis eingeschränkt; Mythus,
Sage und Märchen können zwar in manchen Fällen sich gleichfalls
damit begnügen, obwohl sie meistens einer viel weitern Ausdehnung
bedürfen werden: aber wie unendlich weit müssen die großen epischen
Gattungen, muß das Drama darüber hinausgehen!


Es scheint, als müßte hier die ganze Theorie von der Nachahmung
der „Handlung“ in dem entwickelten engen Sinne zu nichte werden.
Ohne alle Frage ist hier überall ein ganzer Komplex solcher Handlungen
der Gegenstand der Nachahmung, und zwar in weit ausgedehnter Verschlingung
mit gegebenen Zuständen und äußeren Begebenheiten. Diese
Verschlingung scheint aber gar nicht denkbar, wenn man die Handlung so
scharf, wie es im Obigen geschehen, von ihrer inneren, geistigen Seite
gefaßt, für den Gegenstand der epischen und dramatischen Dichtung erklärt!
Eben durch ihre äußere Gestaltung wirken ja doch die Handlungen
aufeinander und verwickeln und lösen, hemmen und fördern sich
gegenseitig; und vollends, wo bleibt das Element des ganz von außen
hineinwirkenden, von aller bewußten Willensentscheidung völlig unabhängigen
Zufalls, dieses in den epischen und dramatischen Geschehnissen
so hochbedeutenden und ganz unentbehrlichen Faktors?


Gerade diese Einwürfe, alle zusammengenommen, führen zum Ziel!


Aus der ungeheuren Flut der Handlungen und Ereignisse greift
die epische, die dramatische Nachahmung einen Komplex heraus und stellt
ihn als eine einheitliche Handlung dar. Nach welchem Gesetz
wird diese Einheit erkannt und beurteilt?
Niemand hat dieses
Gesetz sicherer erkennen können als es von jeher in allen Schöpfungen
des dichtenden Volksgeistes enthalten war. Nicht in dem wirklichen Zusammenhange
der Ereignisse und Thaten ist es gegeben: er diktiert der
Geschichte ihre Gesetze, die Poesie hat ein anders, um dessentwillen
Aristoteles sie „philosophischer“ nannte als jene. Hören wir zur Bestätigung
des Gesagten, wie einer der größten unsrer deutschen Forscher
über den Gegenstand sich äußert:1 „Die Poesie ist das erste und ein=

1
Wilhelm Grimm in einer Rede: „Über Geschichte und Poesie“; siehe
Kl. Schrft. Bd. I, S. 497 ff.
|#f0224 : 206|

fachste und zugleich das großartigste Mittel, welches dem Menschen verliehen
wurde, um ein hohes Gefühl, eine höhere Erkenntnis auszudrücken.
Sie ist die Schatzkammer, in welche ein Volk seinen geistigen Erwerb
niederzulegen und zu sammeln pflegt .... Alles, was es erlebt hat, sei
es nun in wirklichen Ereignissen oder in dem, was der Geist ersonnen
oder ausgedacht hat, oder was ihm auf eine unergründliche Weise, die
ich mich nicht scheue eine geheimnisreiche zu nennen, ist überliefert
worden, das nimmt sie in sich auf. Jene höhere Betrachtung der Ereignisse,
die nicht in einer Sammlung des Geschehenen beruht, sondern in
einem Ergreifen dessen, was Zeugnis vom Geiste gibt,
ist
ihr eigen und macht ihr Wesen aus .... Jhre Wahrheit ist nur
eine geistige und von den Begebenheiten selbst, aus welchen
sie zum Teil hervorgegangen ist, unabhängig.
“ Und an einer
andern Stelle:1Es sind hier (in den Sagen und Märchen) Gedanken
über das Göttliche und Geistige im Leben aufbewahrt: alter
Glaube und Glaubenslehre in das epische Element,
das sich
mit der Geschichte eines Volkes entwickelt, getaucht und leiblich
gestaltet.
Doch Absicht und Bewußtsein haben dabei nicht gewirkt,
sondern es hat sich also von selbst und aus dem Wesen der Uberlieferung
ergeben, daher sich auch die natürliche Neigung äußerte, das
von ihr einmal Empfangene, aber halb Unverständliche nach der Weise
der Gegenwart zu erklären und deutlich zu machen.“ Wie aber geschieht
es,
daß das „Göttliche und Geistliche des Lebens in das epische
Element getaucht leibliche Gestalt gewinnt“? auf welche Weise wird
dieses „Zeugnis vom Geiste“ ergriffen?


Hören wir auch hier zunächst Wilhelm Grimm, wie er es erklärt,
daß der alte Volksglaube jene Urelemente der epischen Poesie erschaffen,
oder nach seinem schönen Bilde, wie das Sonnenauge des Geistes auf
den farbigen Pfauenspiegel der Dichtung verteilt wurde: „Schon die
Belebung der ganzen Natur kann man als eine fortdauernde Überlieferung
aus frühester Zeit betrachten. Uns ist diese Ansicht nicht befremdend,
da wir wissen, daß das Heidentum überall davon ausgegangen
(Juppiter est quodcunque vides, quocunque moveris drückt sie Lucan
aus);2 für das Volk würde sie es gewiß sein, wenn sie ihm erst sollte

1
Wilh. Grimm:Über das Wesen der Märchen“; s. Kl. Schrft. Bd. I,
S. 338.
2
Vgl. hierzu Lehrs: Populäre Aufsätze aus dem Altertum: „Die
Nymphen“, 2. Aufl., S. 111: „So wie der Grieche in die örtliche Natur um sich sah,
in seine Wälder und Grotten, seine Berge und Schluchten, seine Quellen und Wellen
|#f0225 : 207|

gegeben werden. Der Sonne, dem Mond, den Sternen wohnt vor allem
eine geistige Natur bei, und wenn sie zu den Bedrängten reden, ihnen
Geschenke geben, die sie erretten, so erscheinen sie als angebetete göttliche
Wesen (quorum opibus aperte juvantur. Cäsar, de B. G. VI, 21), wie sie
es in den alten Zeiten der Deutschen wirklich waren. Auch die Bäume
und Quellen, deren Verehrung sich lange fort erhielt, sind hier beseelt
....“ „Weiter reicht schon die höhere Natur, die den Tieren
beigelegt wird. Das Pferd Fallada spricht (wie Mimers Haupt) nach
dem Tode noch zu seiner Gebieterin. Die Raben weissagen, sie wissen,
gleich Odins Raben Huginn und Muninn (d. h. die mit Verstand und
Gedächtnis begabten), was in der Welt geschieht. Ueberhaupt aber
werden häufig die Vögel als Geister betrachtet u. s. f..... Mit dieser
Ansicht von einer allbelebten Natur hängt auch das Übergehen in
eine andre Gestalt
zusammen, und die hier verwandelten Steine,
Bäume, Pflanzen sind eigentlich geistig belebte.“ Es wird dann ferner
nachgewiesen, wie „der Gegensatz des Guten und Bösen häufig durch
Schwarz und Weiß, Licht und Finsternis ausgedrückt“ wird, wie
„das Gute von dem Herrn belohnt, das Böse bestraft“ wird; ─ „er
kommt herab auf die Erde und besucht den Reichen und Armen, jenen
findet er verdorben, diesen fromm und nach den Gesetzen lebend. Er
verteilt danach seine Gaben, die jenem zum Verderben, diesem zum
Heil ausschlagen;“ ─ es wird auf die „halbüberirdischen Schwanenjungfrauen“
hingewiesen, die „gleich den Nornen, Wahlküren und Parzen
den goldenen Faden des Schicksals spinnen“ u. s. f.1


Was solchergestalt als höhere Bedeutung allenthalben durch die
Märchenpoesie hindurchschimmert, das ist in weit ausgedehnterem Sinne


─ so empfing er den Eindruck eines Lebens, eines anmutigen, üppigen Lebens, eines
von ihm unabhängigen Lebens so lebendig, so innig, so hehr, daß sich ihm die empfundene
Wirkung sogleich in göttliche Wirksamkeiten umsetzte, und diese göttlichen
Energien nun nach seiner Weise sogleich als göttliche Gestalten, göttliche Personen hervorsprangen.
So faßte er die räumliche Natur um sich, ähnlich der zeitlichen ─ neben
den Horen die Nymphen. Nun aber bemerke man wohl: der Grieche ist, recht im Gegensatze
eines neuern schroffen Materialismus, der ausgemachteste Spiritualist. An Berg,
Grotte, Fluß, Wellen und so fort interessiert ihn die Materie gar nicht: sie entschwindet
ihm: was ihn angeht, was ihn anspricht und erfaßt, ist die Anmut, die Klarheit und
Regsamkeit der Quelle, die sichere Kraftfülle des Flusses, das schattige Dunkel des
Hains, die üppige Feuchte der Trift, das farbige Wellenspiel des Meeres: kurz diese
und solche gleichsam seelischen Eigenschaften, die wieder auf seine Seele
wirken,
die aber er eben nicht auffaßt als Eigenschaften an einem Körper, sondern
empfindet als Lebensäußerungen, als göttliche Wirksamkeiten.“
1
W. Grimm a. a. O., S. 339 ff.
|#f0226 : 208|

der Kern der Mythe und Sage, das Lebenselement der epischen und
dramatischen Dichtung. Von einem höhern Standpunkt betrachtet, erscheint
die epische Volkspoesie nun nicht mehr getrennt von der Geschichte,
sondern mit ihrer inneren Wahrheit eins, eng verbunden mit
Volksgeschichte und Religion.
Mit beiden hat sie gemeinsame
Wurzeln; mit andern Worten: ihre Entstehung fällt in die Zeit, da im
Bewußtsein sich feste und bestimmte Vorstellungen herausbilden von den
ewigen Ordnungen der Natur und den unerschütterlichen Gesetzen des
Lebens, in welchen beiden das Walten höherer Mächte erkannt wird,
mögen diese nun einen Namen haben, welchen sie wollen. Jn der Volksreligion
sammeln sich diese Vorstellungen, die älteste Geschichte besteht in
den sagenhaften Überlieferungen, welche wie krystallinische Gebilde sich
zusammenfügen, indem um den festen Kern jener Vorstellungen sich die
Erinnerungen aller der Begebnisse und Schicksale ordnen, welche jenen
Vorstellungen entsprechen und gleichsam ihre Erfüllung zeigen, und
aller der Gemütszustände und Handlungen, in welchen die nationale
Eigenart nach der Summe ihrer Besonderheit an jenen Begebnissen und
Schicksalen sich thätig und leidend, bestimmend und bestimmt, erweist.
Hier ist älteste Geschichte und älteste Poesie in unauflöslicher Verbindung,
um sodann in den Zeiten klareren Bewußtseins mit dem erwachenden
Vermögen der Abstraktion sich für immer zu scheiden. Jn dieser Entstehungsart
und inhaltlichen Beschaffenheit liegt das Unerfindbare
aller jener alten echten Epen und der ihnen entstammenden dramatischen
Stoffe und das Unnachahmliche der Volkspoesie.


Was ist das Gemeinsame, das aus der gesamten Nationalpoesie so
gewaltig zu uns redet? Es kann nicht treffender bezeichnet werden als
mit den Worten eines unsrer größesten Altertumskenner, da er in einer
Art poetischer Fiction sich in die „Gedanken hineinversetzt, mit denen
ein Jüngling aus der Sokratischen Umgebung ─ einer von denen, die
durch ihn aus dem gebildeten Volksglauben nicht sowohl hinausgeführt,
wohl aber darin befestigt waren ─ seinen Schmerz über den hingeschiedenen
Sokrates tröstete“:1


„Eines Tages schritt er unter mancherlei Gedanken am Jlissus hin,
plötzlich aber stand er vor einem Baume still, der mit seinen seltenen
großen Blättern und Ästen sich herrlich umherbreitete. War es Zufall,
war es halb bewußte Absicht, was ihn diesen Weg geführt: es war jene
Platane, welche, seitdem Sokrates dort dem Phädrus die Naturgeschichte
der Seele entwickelt, im Kreise der Sokratischen Jünger und Freunde

1
S. Lehrs a. a. O. am Schlusse des Aufsatzes: „Die Horen“, S. 90 u. 91.
|#f0227 : 209|

wohl bekannt geblieben. Die Erinnerung an den Hingang des geliebten
Freundes und wie das hatte so kommen können, ergriff ihn von neuem
und stimmte ihn auf das wehmütigste. Ernst stand er an den Baum
gelehnt, der, wie ihm schien, hätte mittrauern sollen, und der gleichwohl
dastand, so herrlich erblüht wie jemals. ─ Aber gerade das erinnerte
ihn bald an die ewigen Gesetze und leitete den Zug seiner Gedanken also:


Die göttliche Ordnung ─ Themis ─ nach welcher die uranfänglichen
Verteilerinnen ─ Moirai ─ einem Jeden geteilt, daß aus dem
All ein schönes Ganzes, ein Kosmos ward, wird nimmer zerstört werden.
Dafür sorgen der die Ordnungen kennt und versteht, der allschauende
Zeus, die Bestimmung ─ Heimarmene ─ und die Notwendigkeit
─ Ananke ─, dafür die Ausgleicherin von Recht und Pflicht ─ Dike ─,
der jede Übertretung der Berechtigung in Recht und Pflicht anheimfällt.
Jhr zur Seite steht der moralische Unwille der Götter und Menschen
über Unbill und Überhebung, die ernste Nemesis, und in ihrem Dienst
die strafvollführenden Erinnyen, von denen Heraklitus sagte: und wenn
die Sonne ihre angewiesene Bahn verlassen wollte, die Erinnyen würden
sie zu finden wissen. Und nicht nur die helle Sonne werden sie zu
finden wissen, auch was im Dunkeln schleicht und das Dunkle sucht,
finden sie aus, die „im Dunkel schreitenden“ Göttinnen. ─ Meine Trübsal
aber, gehört sie nicht auch in die ewige Ordnung?


Hier wurde er aufmerksam auf sich selbst. Er wußte nicht gleich,
was es war, was in seiner Seele sich hervordrängte und zu gestalten
suchte. Es war aber ein geistliches Lied des Sophokles, woran seine
letzten Gedanken ihn erinnert hatten. Es gelang ihm, sich die Worte
herzustellen:


„„Deine Macht, o Zeus, wer der Menschen vermöchte übertretend
sie zu hemmen? die weder der Schlaf ergreift, der alles altert, noch der
Götter unermüdliche Monden: sondern unalternd in Zeit ein Herrscher
wohnst du in des Olympus heiterem Strahlenglanz. Doch hinfort und
in Zukunft wie vordem gilt das Gesetz: dem Leben der Sterblichen
geht längere Frist nimmer dahin frei von Trübsal.““


Er sah in die scheidende Sonne. Die Horen, lächelte er, bringen
die Nacht. Sind sie den Tag uns jemals schuldig geblieben?“


Und derselbe Autor an einer andern Stelle:1 „Was die Götter
thun, infolge einer Moira thun und vollziehen, vielleicht einer noch
schuldigen Ausgleichungsmoira thun, wird als selbstverständliches Menschenlos,
dem man in Frömmigkeit sich zu fügen hat, dahingenommen: je

1
Lehrs a. a. O. „Zeus und die Moira“ S. 215.
|#f0228 : 210|

unbegreiflicher und dem menschlichen Auge verborgener, desto sicherer
darauf hinweisend, wie hoch über uns jene Fäden gesponnen werden,
und daß es in diesem Kosmos Willkür nicht sein kann, sondern Notwendigkeit
und Vorherbestimmung und Gesetz. Und darum müssen die
Götter recht behalten, welche vorherwissen und es nur vorherwissen
können, weil es vorherbestimmt ist, und dessen walten, was die Moira
ist.“ Einen „götterlosen, gottlosen Zufall“ gibt es für diese ernste Auffassung
nicht, der „das Leben durch und durch göttlicher Einwirkung
voll erschien“, und welche den Pindar die „Tyche ─ das Glück, Geschick“
─ als „eine der Moiren“ erfassen ließ. „Jn den Organismus
der göttlichen Gewalten, unter denen sich der Grieche fühlte, war diese
Tyche eingetreten.“1


Die ganze griechische Dichtung eines Homer, Pindar, Äschylus und
Sophokles ist von diesen Grundanschauungen erfüllt, wie sie in gleicher
Weise in den Geschichtsdarstellungen eines Herodot und Thukydides sich
wiederspiegeln. Bei aller großen Verschiedenheit ist unser deutscher
Volksgesang der epischen Zeit auf ganz demselben Boden erwachsen:
was darin dem Leben entnommen und was von der Phantasie hinzugethan
ist, alles dient dazu, ungeheure Thaten und Schicksale, welche
für sich alleinstehend den Sinn überwältigen, das Herz verwirren und
den Mut niederschmettern würden, im Zusammenhange als die Handlungen
eines wohlgeordneten, von unverbrüchlichen Gesetzen gelenkten
Waltens höherer Mächte vorzuführen, die Anlässe blinden Schreckens
zum Gegenstande verehrender Gesinnung und höchster Erhebung zu gestalten.
Damit stimmt Wilh. Grimms Urteil über die älteste deutsche
Dichtung vollkommen zusammen: „Jn jeder Brust wohnt die Ahnung
von Gott, und am wenigsten ist der rohe Naturmensch davon verlassen.
Wie die Sprache in ihrer Entstehung wohlklingend und die erste Erzählung
poetisch und rhythmisch ist, so sind auch seine Begriffe und Anschauungen
der Welt religiös, und er sieht in der ganzen Natur einen
Abdruck und das Regen der Gottheit, die mehr oder weniger hervortritt.“2
Und speciell über das Nibelungenlied:3 „Jn ihm wurde erhalten, was
nicht wieder ersetzt werden konnte, das Bild einer vergangenen Zeit, in
welcher ein großes Leben frei, herrlich und doch wieder so menschlich
erscheint. Denn das ist es, was uns in der Poesie entzückt, jene Ver=

1
Vgl. a. a. O. „Dämon und Tyche“ S. 177, 178.
2
Vgl. Wilh. Grimm:Entstehung der altdeutschen Poesie“. Kl. Schr.
Bd. I, S. 123.
3
Ebend. „F. v. d. Hagens Nibelungen“ S. 67.
|#f0229 : 211|

bindung des Göttlichen und Jrdischen: wie der Mensch fest und liebend
steht auf der Erde, sein Haupt aber aufwärts richtet zum Himmel, so
soll die Poesie sein; tief in die Erde dringen ihre Wurzeln, ihre Zweige
geben Schatten und Obdach, ihre Blüten aber steigen hinauf in den
blauen Tag, wo sie im Abendrot stehn, am Tau sich erfrischen, dann
die Sterne schauen und die heilige Nacht. Ein solches Heldenleben ist
in dem Nibelungenlied, wie es blüht in Liebe, Krieg, Zorn und Lebenslust,
endlich sich selbst gewaltsam vernichtet: und darüber weht eine klare
und heitre Ruhe der Dichtung, wie die Sonne auch über eine zerstörte
Welt leuchtet, still und unbekümmert in hellem Glanz. Wer mag ohne
Rührung das Treuliche an Siegfried lesen? oder wie Rüdiger Leib und
Seele hingibt im Kampfe mit seinen Freunden, denen er die Waffen
hinreicht gegen sich selbst, daß den grimmen, Könige spottenden Hagen
die Gabe erbarmt und er absteht vom Streit gegen ihn? oder wie Wolfhart
nicht beklagt sein will, da er von Königs Händen so herrlich tot
liege? Ja, dieser Kampf mit einem ungeheuern Schicksal, das alles unaufhaltsam
hinunterreißt, gehört mit zu dem Größten, das je in der
Poesie aufgestanden, wogegen Homer nichts Ähnliches aufzuweisen hat,
der wohl reicher ist und geschmückter, aber nicht von solcher Tiefe. Dennoch,
wie sich hier ein großes Gemüt offenbart, so scheut sich auch keiner
seine Furcht und alles, was menschlich ist, zu bekennen, denn das ganze
Leben, wie es sich äußert, ist poetisch, nicht das Einzelne darin, und
nur aus dem gemeinsamen Boden kann das Große aufwachsen. Und
diese Unschuld, die nur der Ausdruck des innersten Gemüts, ist, was das
Gedicht so weit erhebt über alle andern, und das allein in einem solchen
Volkslied gefunden wird, weil keine Kunst dahin gelangt.“


Nach dieser Umschau über das Wesen der Handlungen nachahmenden
Dichtung wird sich nun die oben gestellte Frage mit Sicherheit beantworten
lassen: nach welchem Gesetz wird die Einheit des darin dargestellten
Handlungskomplexes erkannt und beurteilt?


Diese Einheit liegt darin, daß als die handelnde Person nicht
etwa der sogenannte Held oder auch irgend eine andere der
darin auftretenden Personen
betrachtet wird, sondern daß der
Wille und die Entscheidung jener höheren Macht es ist,
welcher das Ende an den Anfang knüpft, mit solcher Festigkeit
und Folgerichtigkeit, daß die ganze, bunt verschlungene
Masse von Ereignissen und Thaten der Einzelnen als die
Verwirklichung eines einzigen Beschlusses der die Schicksale
lenkenden Gewalt erscheint, als die äußere Nachahmung
einer einzigen inneren Handlung.

|#f0230 : 212|


Das Schicksal also erscheint als handelnd, und die Handlung
des Dramas wie die des weitest ausgedehnten Epos ist nur dann eine
einheitliche, wenn sie in ihrer Gesamtheit die Nachahmung einer
einzigen Willensentscheidung dieser Macht enthält, einer einzigen
Schicksalshandlung.
Die Vollständigkeit dieser Nachahmung bedingt
unter Umständen, so namentlich immer im Epos, eine geringere
oder auch sehr große Zahl von Episoden, welche, für sich genommen,
in kleinerem Rahmen die Nachahmung von gleichartigen Handlungen
einschließen können: berechtigte Existenz aber haben diese Episoden nur
insofern, als sie integrierende Teile der einen Haupthandlung sind,
unentbehrlich um die Nachahmung der einen, vollständigen Handlung
zu verkörpern. Das ist das wesentliche Kennzeichen des echten
Epos, daß es sich so verhält, des Volks- und Nationalepos. Homer
und die Nibelungen stimmen darin überein; die wesentlichste Schwäche
der meisten Kunstepen tritt darin hervor, daß sie diese Einheit im Ganzen
und in den Episoden außer acht lassen.


So lautet auch das Aristotelische Gesetz über die Komposition
des Epos im 23. Kapitel seiner „Dichtkunst“: ὅτι δεῖ τοὺς μύθους ...
συνιστάναι ... περὶ μίαν πρᾶξιν ὅλην καὶ τελείαν,
ἕχουσαν ἀρχὴν καὶ μέσα καὶ τέλος, ἵν' ὥσπερ ζῷον \̔εν
ὅλον ποιῇ τὴν οἰκείαν ἡδονὴν ... καὶ μὴ ὁμοίας ἱστορίαις τὰς
συνθέσεις εἶναι, ἐν αἷς ἀνάγκη οὐχὶ μιᾶς πράξεως ποιεῖσθαι
δήλωσιν ἀλλ' ἑνὸς χρόνου, ὅσα ἐν τούτῳ συνέβη περὶ ἕνα \̓η
πλείους, ὧν ἕκαστον ὡς ἔτυχεν ἔχει πρὸς ἄλληλα. Und weiter:
εν τοῖς ἐφεξῆς χρόνοις ἐνίοτε γίνεται θάτερον μετὰ θατέρου,
ἐξ ὧν \̔εν οὐδὲν γίνεται τέλος· σχεδὸν δὲ οἱ πολλοὶ τῶν ποιητῶν
τοῦτο δρῶσιν.


Zu deutsch: Für die epische Nachahmung gilt das Gesetz: „daß
ihre Fabel auf Grund einer einzigen Handlung aufgebaut sein muß,
welche ein Ganzes bilde und vollständig dargestellt sei, Anfang,
Mitte und Ende
umfassend, damit sie, gleichsam wie ein lebendes
Wesen einheitlich und ganz,
die volle künstlerische Wirkung hervorbringe,
deren ihre Gattung fähig ist (so drücken wir nach unserer heutigen
Sprechweise den Sinn der Worte ποιῆ τὴν οἰκείαν ἡδονήν == „den
ihr eigenen Genuß bereite“ aus); die epische Komposition darf nicht der
historischen ähnlich sein, in welcher notwendig nicht die Darstellung einer
einzigen Handlung gegeben werden muß, sondern einer einzigen Zeit
nach den Ereignissen, die sich darin begaben, Einen betreffend oder
Mehrere und in dem Verhältnis eines jeden unter ihnen zu den übrigen
von dem zufälligen Gange der Begebenheiten abhängig.“ Und weiterhin: |#f0231 : 213|

„Jn solchen der Reihenfolge nach dargestellten Zeiträumen kann es mitunter
geschehen, daß die Ereignisse eben nur aufeinanderfolgen, ohne
daß ein einheitliches Endziel sich ergibt. Freilich macht die Mehrzahl
unter den Dichtern es nicht anders.“


Wenn diese von Aristoteles so scharf betonte Einheit also dadurch
erreicht wird, daß Anfang und Ende sich zusammenschließen als der
Anlaß und der Vollzug einer einzigen, inneren Handlung, während die
dazwischenliegende Mitte überall der Ausführung derselben dienstbar ist,
und als wirkende Person die das Schicksal lenkende Macht auftritt, mag
dieselbe geradezu persönlich vorgestellt werden, wie bei den Alten,
oder unpersönlich, wie bei den Modernen, so reicht die so gewonnene
Anschauung nun aus, um die Antwort auf die früher gestellte Frage
zu finden: inwieweit es der epischen und dramatischen Darstellung freistehe,
die Gesetze der Wirklichkeit für den äußeren Verlauf der
nachgeahmten Handlung aufzuheben und welchem Gesetz die
Erfindung unterworfen sei, welche an die Stelle derselben
trete.


Es liegt auf der Hand, daß hier jede Veränderung gestattet sein
muß, welche eine Verkürzung des äußeren Ganges der Dinge bewirkt,
sobald sie nur mit dem Geist und Sinn und dem Zwecke der
innern Handlung in Übereinstimmung
ist, geeignet diesen deutlicher
vor Augen zu stellen,
die Verkörperung desselben einfacher zu
gestalten,
den Verlauf, welcher zu ihm hinführt, zu beschleunigen.


Es ist mit diesen Forderungen nur der Charakter bezeichnet, welchen
von jeher und allenthalben das hervorstechendste Element aller Mythen
und Sagen an sich getragen hat, der Charakter des Wunders, dieses
unentbehrlichen Bedürfnisses und „liebsten Kindes“ des Volksglaubens
und der Volksdichtung. Sein Ursprung und Wesen ist die Ahnung und
intuitive Erkenntnis der inneren Wahrheit der Dinge, verbunden mit
der Unkenntnis ihrer realen Begründung, und das Resultat dieser Verbindung:
die mehr oder weniger willkürliche Erfindung eines unmittelbaren
Zusammenhanges zwischen der gegebenen thatsächlichen Voraussetzung
und dem richtig divinierten oder geschauten Endziel; oder nicht
selten auch umgekehrt: zwischen dem thatsächlich vorhandenen Ergebnis
und der geahnten Ursache desselben. So löst der Kindersinn der Völker
sich die Rätsel der Natur und des Menschendaseins, der Vergangenheit
und der Zukunft, des Anfangs und des Endes der Dinge in leicht
überschaulichen und bedeutungsvollen Phantasiegebilden, deren unvergängliche
Schönheit eben darin beruht, daß sie dem Drange nach der
Erkenntnis der inneren Wahrheit des Zusammenhanges der Dinge und |#f0232 : 214|

des Lebens entsprossen sind, daß sie oft genug diese Wahrheit selbst enthalten.
Und wenn es nötig ist es noch hinzuzufügen: die darum schön
sind, weil sie aus der richtigen, gesunden, der großen und erhabenen
Empfindung hervorgegangen, nun auch ganz von selbst so zusammengefügt
sind, daß sie notwendig dieselben Empfindungen und
Seelenvorgänge
wieder hervorbringen müssen, unbewußt sie nachahmend,
wie die Kunst sie mit Bewußtsein nachahmt!1


Ursprünglich ist es mit allen diesen Erfindungen der Phantasie ein
heiliger Ernst, um so erhabener, ja starrer, je weiter zurück ihr Alter
liegt: was hindert aber, sich ihrer aufs Neue zu bedienen, auch wenn nun
an die Stelle des Glaubens das Wissen getreten ist, sobald es sich nicht
darum handelt von diesem Wissen Zeugnis abzulegen, sondern eben die
Gesinnungen, Stimmungen und Empfindungen wieder zu erwecken, denen
jene Erfindungen ihre Entstehung verdankten? also in den Künsten, vor
allem in der erzählenden Poesie?


Unendlich ist nun die Mannigfaltigkeit der Mischungen der Realität
und jenes Elementes des Wunderbaren, deren sich der Dichter bedienen
kann, um dem Körper der inneren Handlung die einfachste und durchsichtigste,
das ist: die schönste Gestalt zu geben. Der reichste Gebrauch
dieses edelsten und stärksten Mittels, über welches die Poesie gebietet,
wird in den Zeiten gestattet sein, welche dem Ursprunge desselben am
nächsten liegen: nur in diesen Zeiten gedeiht das echte Epos,
ein Surrogat dafür gibt es nicht. Aber wenn den spätern Zeiten dieser
reinste Quell der Dichtung nicht mehr in seiner Fülle sprudelt, so breiten

1
Es ist die Anschauung, von welcher Schiller sich durchdrungen fühlte, und
der er in seinen „Künstlern“ den begeisterten Ausdruck verliehen hat, am prägnantesten
in der siebzehnten Strophe:
Was die Natur auf ihrem großen Gange
Jn weiten Fernen auseinanderzieht,
Wird auf dem Schauplatz im Gesange
Der Ordnung leicht gefaßtes Glied.
Vom Eumenidenchor geschrecket,
Zieht sich der Mord, auch nie entdecket,
Das Los des Todes aus dem Lied.
Lang', eh' die Weisen ihren Ausspruch wagen,
Löst eine Jlias des Schicksals Rätselfragen
Der jugendlichen Vorwelt auf;
Still wandelte von Thespis Wagen
Die Vorsicht in den Weltenlauf.

Und derselbe Gedanke, allgemeiner gefaßt, gleich zu Anfang in der dritten und
vierten Strophe.
|#f0233 : 215|

sich unversiegbare Adern noch weithin von ihm aus und reichen bis in
die Epochen hellster Aufklärung. Der Dichter mag unbekümmert um
das bessere Wissen seiner Zeit aus ihnen schöpfen. Und verwehrt es
ihm die Natur seines Werkes, im Ernste diese Welt des Wunders sich
dienstbar zu machen, so bleibt ihm noch ihr ganzer, unerschöpflicher
Reichtum, um im Bilde davon Gebrauch zu machen und so dennoch
ihre Kraft zu erborgen.


Endlich bleibt ein, freilich eng umfriedetes Gebiet, auf dem das
Wunder nicht allein in immerwährender Geltung bleibt, ja die Oberherrschaft
führt, sondern in welchem die Phantasie immerfort die Freiheit
behält, es aufs Neue hervorzubringen, das Alte neu zu gestalten und
mit tausendfältiger Erfindung es zu bereichern: das Märchen, welches
mit herzlicher Freude und unzerstörbarer Pietät die alten Sagengebilde
ihrem Kerne nach festhält, wenn ihre Wurzeln im Glauben sich lockern
und endlich ganz verdorren. Eben deshalb scheidet im Märchen die
Realität aus der Verbindung gänzlich aus und es bleibt ihm nur das
Spiel mit den Gebilden der Phantasie: aber ein Spiel, welches den
Ernst der Wahrheit der inneren Handlung darum doch nimmermehr aufgibt;
damit würde auch die Märchenphantasie den Boden verlassen, dem
sie ihren Ursprung und ihr Wachstum verdankt, und das Recht aufgeben,
durch welches sie existiert. Bei dem echten Volksmärchen ist das
undenkbar, für das Kunstmärchen liegt in diesem Umstande das Kriterium
für das Wohlgelungene wie für die Entartung. Beiden aber,
dem Volksmärchen wie dem Kunstmärchen, gemeinsam ist die Möglichkeit,
ja die Nötigung, bei der völligen Scheidung von den Bedingungen der
äußeren Wirklichkeit, auf dem allerkürzesten Wege ihre innere Handlung
zu ihrem Ende zu führen und damit dem inneren Sinn und der Bedeutung
derselben die größte Evidenz und Wirksamkeit zu verleihen;
genauer gesagt: durch die Nachahmung der inneren Handlung, die dabei
in Thätigkeit kommenden Kräfte der Empfindung, Gesinnung und des
Urteils am unmittelbarsten, stärksten und sichersten zu erregen. Deshalb
kann dieses Spiel denen, welche den der Wirklichkeit sich anschließenden
Nachahmungen gar nicht oder doch nur schwerer zu folgen vermögen, die
gesamte übrige Poesie ersetzen, den Kindern und dem unkultivierten Teil
des Volkes, während sie auch für den Hochgebildetsten von ihrem Reize
nichts verlieren.


Eine ähnliche, und doch wieder verschiedene Stellung wie das Märchen
nimmt in der epischen Poesie die Tierfabel ein, für deren Definition
es noch übrig bleibt aus dem Vorstehenden die Konsequenzen zu ziehen.


Sie entstammt wie jenes der Sage: ähnlich wie aus der mythischen |#f0234 : 216|

Sagenwelt die Märchenbildung späterer Zeiten sich entwickelte, so aus
der altepischen Tiersage die einem reflektierenden Zeitalter angehörige
Tierfabel; beide behaupten dann eine selbständige Stellung in der Kunstdichtung
aller Litteraturen und Zeiten. Beide stimmen auch darin überein,
daß sie von der Nachahmung der Wirklichkeit absehen und an die Stelle
des Ernstes ein freies Spiel treten lassen, das durch die überall festgehaltene
Analogie mit den inneren Gesetzen des realen Handelns bestimmt
wird. Während aber das Märchen hinsichtlich der Wahl der
Personen und ihrer Handlungen uneingeschränkte Phantasiefreiheit walten
läßt, sind der Fabel durch die Gründung auf die epische Nachahmung
des Lebens und Treibens der Tierwelt feste Grenzen gezogen; hieraus
bestimmt sich ihr ganzes Wesen.


Was für Folgen sich naturgemäß daran knüpfen, daß diese Art
der epischen Nachahmung sich in einer Welt bewegt, in der die handelnden
Personen Tiere
sind, davon ist oben schon die Rede gewesen.
Sie „läßt den Tieren ihr Eigentümliches und erhebt sie doch zugleich
in die Menschenähnlichkeit“,1 sie verfährt wie „der bildende Künstler,
wenn er sich der Tierfabel bemächtigen will: er muß den tierischen Leib
beibehaltend ihm dazu noch Gebärde, Stellung, leidenschaftlichen Ausdruck
des Menschen zu verleihen wissen“. Das dürfte für die Dichtung bedeuten:
indem sie den Tieren Sprache beilegt und sie in Zustände und
Verhältnisse versetzt, die denen der Menschen analog sind, erhebt sie
dieselben zur Menschenähnlichkeit in Bezug auf den einen Faktor der
Handlungen, der sich im praktischen Sinn, dem Weltverstand, der Klugheit,
Überlegung äußert, in Bezug also auf die Dianoia; Ethos und
Empfindung werden zwar auch in die Sphäre des Bewußtseins erhoben,
aber in Bezug auf diese läßt ihnen die Dichtung ihre tierische
Eigenart. Wie schon oben bemerkt, wird damit die freie Wirkung
dieser beiden Faktoren so gut wie ganz eliminiert, die Handlungen der
Tiere erscheinen nach dieser Richtung als von vorneherein bestimmt und
gebunden. Frei sind sie nur nach der Seite der „praktischen“ Überlegung
und interessieren daher auch weit weniger die Empfindung, als
sie die übrigen unmittelbar beim Handeln wirksamen Gemütskräfte beschäftigen:
die ethische Gestaltung des Begehrungsvermögens
und die Willensentscheidung (nach der Aristotelischen Terminologie
die ἕξις ὀρεκτική und προαιρετική). Sie beschäftigen sie, das heißt
nicht etwa sie bestimmen ihre Geltung für das Leben ─ damit wäre der

1
Vgl. Jakob Grimm:Wesen der Tierfabel“. Ausw. d. Kl. Schrft.
S. 353.
|#f0235 : 217|

Dichtung eine moralisch=didaktische Tendenz zugesprochen, das Verkehrteste
von allem ─, sondern das heißt: sie setzen sie durch die Nachahmung
in irgend einer Form zeitweilig in Thätigkeit.


Aus dieser Wahl der Personen in der Fabel folgt nun aber das
zweite: die ihr eigene Komposition der Handlung.


Eine andere Art von Einheit muß in ihr herrschend sein, denn
gerade dasjenige, was dieselbe in der ernsthaften epischen Dichtung ausmacht,
daß in ihr das Walten höherer Mächte zur Erscheinung komme,
ist eng an die Freiheit der Empfindung und des Ethos geknüpft, also
an dasjenige, was in der Tiersage und Fabel von vorneherein ausgeschlossen
ist. Bei den Tieren ist im allerhöchsten Maße, ja ganz ausschließlich
das der Fall, was Aristoteles ζῆν und πράττειν κατὰ πάθος
nennt: leben und handeln nach den Jmpulsen der vernunftlosen, bloß
animalischen Empfindung. Wenn also durch die Nachahmung vermittelst
tierischer Handlungen nichtsdestoweniger das Bewußtsein jenes höheren
Waltens, jener unverbrüchlichen Gesetzlichkeit in unserem Empfinden
lebendig gemacht werden soll ─ und zu diesem Zwecke erhebt ja die
Sage und Dichtung die Tiere in die menschliche Sphäre, um auch aus
der Betrachtung ihres Lebens und Treibens uns dieser Empfindungen
teilhaftig zu machen ─, so kann das nur auf indirekte Weise geschehen;
direkt wäre eine solche Anschauung im Tierleben nimmermehr
zu gewinnen, sie könnte nur durch Allegorie hineingelegt werden.


Aus diesem Gegensatze zum ernsten Epos lassen sich die Kompositionsgesetze
der Handlung für die Tierfabel am einfachsten ableiten.


Die vollständige Nachahmung einer einheitlichen Handlung, wie sie
im Epos geschieht, erlangt, indem sie als Einheit im Gemüt zum Bewußtsein
kommt, notwendig die Kraft, diejenigen Empfindungen, welche
mit einem Worte als die Schicksalsempfindungen bezeichnet werden
könnten, in ihrer Reinheit hervorzurufen: denn nach den obigen Ausführungen
besteht diese Einheit darin, daß die Gesetzmäßigkeit des Schicksals
gleichsam wie in einem einzigen Akte hervortritt, und zwar gleichviel,
ob eine einzelne oder ein ganzer Komplex von äußeren Handlungen
dazu erfordert wird. Welches sind nun im Gegensatze zu diesen Schicksalsempfindungen
diejenigen Gemütsvorgänge, welche die unvollständigen
und einseitigen Nachahmungen von Handlungen begleiten, bei
denen Tiere die handelnden Personen sind, und in denen also vorzugsweise
nur das Nützliche oder Schädliche, das Verkehrte oder Zweckmäßige,
das Verständige oder Unverständige der Handlung zur
Erscheinung kommt? Auf den ersten Blick möchte es scheinen, als ob die
Entscheidung über alle diese Alternativen unmittelbar oder mittelbar dem |#f0236 : 218|

Verstande zufiele, und als ob also auch alle diejenigen Recht behalten
müßten, welche dieser Art von Nachahmung lediglich eine Wirkung auf
die „anschauende Erkenntnis“ ─ die cognitio sensitiva der Baumgartenschen
Ästhetik ─ zuschrieben. Sicherlich wenigstens erklärt sich
aus diesem Anschein sowohl jene irrtümliche Theorie als auch die Ausdehnung
derselben auf das gesamte Gebiet der Poesie, ja der Kunst
überhaupt, jene verhängnisvolle Täuschung, an welcher nicht allein die
„kritische Dichtkunst“ der Schweizer und das System Baumgartens Schiffbruch
litt, sondern von der auch Lessing sich nicht völlig frei zu machen
vermochte. Gewiß ist eine durch die Anschauung vermittelte Verstandeserkenntnis
möglich und es kann auch mit derselben die Bewegung der
Freude im Gemüt ─ die Hedone ─, also was die ältere Theorie
Ergötzen“, die neuere „Vergnügen“ oder „Genuß“ nennt, verbunden
sein, aber eben so gewiß gerät die künstlerische Nachahmung auf
einen Abweg, wenn sie die Komposition der Handlung auf die Erzielung
einer solchen Verstandeserkenntnis einrichtet. Das Vergnügen an
der Nachahmung von Handlungen beruht auf der Beschaffenheit der durch
sie erweckten Gemütsbewegungen, es geht aus der Energie der Aisthesis
hervor und besteht in der mit der Ausübung dieser Energie notwendig
verbundenen Erscheinung
in der Seele, welche den Charakter
der edelsten Freude um so mehr tragen wird, je höher entwickelt
das Vermögen der Aisthesis, der empfindenden Wahrnehmung,
bei dem Wahrnehmenden selbst ist und je höher geartet und zugleich
zweckmäßiger für die Aisthesis gestaltet das der Wahrnehmung sich darbietende
Objekt ist.


Nun gibt es aber jenen genannten Alternativen gegenüber ─ der
verkehrten und zweckmäßigen Handlungsweise, dem klugen und unklugen
Verfahren, dem verständigen und unverständigen, nützlichen und schädlichen
Beginnen ─ ganz bestimmte Empfindungen, welche denselben genau
entsprechen, mit Sicherheit die eine oder die andere anzeigen, die ganz ohne
alle Dazwischenkunft des Verstandes ein untrügliches ─ ästhetisches
─ Urteil über dieselben in sich schließen. Gerade diese Empfindungen
sind es, welche für den beobachtenden Sinn maßgebend sind bei der Auswahl
derjenigen Erscheinungen, Vorkommnisse und Bethätigungen, die
von ihm festgehalten und, zu den Gestaltungen der Fabel verwoben,
dem Andenken überliefert werden. Natürlich sind es auch dieselben, die
wiederum durch diese Überlieferungen hervorgerufen werden, und welche
also die Kunstdichtung für ihre Komposition als maßgebende Zwecke ins
Auge zu fassen hat.


Die vielfältigen Nüancen dieser Empfindungen gruppieren sich um |#f0237 : 219|

die beiden entgegengesetzten, aber komplementären Grundempfindungen
des Wohlgefälligen und des Lächerlichen.


Entgegengesetzt sind diese Empfindungen, weil die eine dem
positiven Teil jener Alternativen entspricht, die andere dem negativen;
komplementär verhalten sie sich, weil sie beide die Äußerungen eines
und desselben ästhetischen Urteiles sind, so daß also in jedem Falle die
eine das Korrektiv der anderen bildet.


Jede Bethätigung des Willens, ja des Gedankens, die nach den
bezeichneten Richtungen mit einiger Bedeutung ins Gewicht fällt, ruft,
ganz abgesehen von der Prüfung durch den Verstand und schon vor
derselben, in unserem Gemüte eine unmittelbare Regung des Wohlgefallens
oder Mißfallens hervor, welche natürlich ebensowohl von dem Wesen der
erregenden Ursache als von der Beschaffenheit des von derselben erregten
Gemütes abhängig ist. Es kommt dabei außerdem aber noch ein doppelter
Maßstab zur Anwendung: einmal das Wohlgefallen oder Mißfallen
an dem Verhältnis der in einer Handlung verwandten Mittel
zu dem Zwecke
derselben und sodann das Wohlgefallen oder Mißfallen
an diesem Zwecke und diesen Mitteln selbst. Die Nachahmung
kann je nach den Mitteln, die sie verwendet, sich die Erregung der ersten
Art des Wohlgefallens vorzugsweise zum Zwecke setzen, oder die der
zweiten, oder auch sie kann beide zugleich ins Auge fassen: unter allen
Umständen aber wird sie Sorge tragen müssen, die beabsichtigte Empfindung
möglichst stark und sicher, unmittelbar und unzweifelhaft hervorzubringen.
Es liegt auf der Hand, daß in der Tierfabel, deren Personen
ohne sittliche Verantwortlichkeit handeln, das Wohlgefallen der ersteren
Art im Vordergrunde stehen wird, daß dagegen in den Nachahmungen
menschlicher Handlungen, auch wenn die handelnden Personen als aufs
Äußerste beschränkt dargestellt werden, schon der andere Maßstab in Betracht
kommt, und daß, je höher der Standpunkt derselben angenommen
wird, um so höher und reiner die bezweckte Empfindung des Wohlgefallens
sein wird, und daß Nachahmungen dieser Art zu den allerhöchsten
Wirkungen der Kunst sich erheben können.


So wäre also das in dem bezeichneten Sinne „Wohlgefällige
eine der Hauptquellen des Vergnügens bei dieser Art von Nachahmung.
Wie steht es aber mit der Empfindung des Mißfälligen? Muß diese
nicht in der Nachahmung ebenso unangenehm, verstimmend und also
ebenso zu vermeiden sein wie im Leben? Und wie wäre dennoch eine
der Wahrheit des Lebens sich anschließende Nachahmung denkbar, welche
diese Kehrseite des Wohlgefälligen ganz mit Stillschweigen übergehen
wollte?

|#f0238 : 220|


Die Antwort ist diese: das Häßliche, Verkehrte, Unverständige,
Thörichte, Zweckwidrige der Handlungen fehlt in dieser Art von Nachahmung
so wenig, daß es vielmehr einen Hauptteil derselben ausmacht,
mitunter den weit überwiegenden: aber das hier geltende Kompositionsgesetz
läßt die ganze unendliche Vielgestaltigkeit dieses an sich mißfälligen
Elementes nur in der einen Darstellungsweise zu, welche die unangenehme
Wirkung auf das Empfinden in eine angenehme und kunstgemäße
verwandelt, in der Form des Lächerlichen. Das wäre also eine
solche Darstellungsweise des Verkehrten, daß dasselbe
durch die ausgeprägte Einseitigkeit, mit der es hervortritt,
und durch den Zusammenhang und die Umgebung, in die
es gestellt ist, sich unmittelbar und mit Sicherheit dem
Gefühl als das Gegenteil des Richtigen kundgibt.
Der
negative Empfindungseindruck wird dadurch zu einem unfehlbaren Mittel
den positiven zu erwecken, und das Mißfällige des Eindrucks verschwindet
gegen eine um so stärker und höher geartete Empfindung der Belustigung,
je unmittelbarer und vollständiger es gelingt, die positive Kontrastempfindung
anzuregen und je bedeutsamer und höher geartet der Gegenstand
derselben an sich ist. Aus dieser Definition ergibt sich von selbst, daß
die Empfindung des Lächerlichen nicht zustande kommen kann, sobald
die Gegensätze des Wohlgefälligen und Mißfälligen sich nicht ausschließlich
in den eben bezeichneten Alternativen des Klugen und Thörichten,
Zweckmäßigen und Zweckwidrigen, Geziemenden und Ungeziemenden und
des ihnen Verwandten, mit einem Worte des Verkehrten und Richtigen
bewegen. Sowie auf der negativen Seite das Element des
Schlechten, Bösen, Furchtbaren, mit einem Worte des Verderblichen,
als solchem
─ des φθαρτικόν des Aristoteles ─ hinzutritt,
so wird das Gewicht der mißfälligen Empfindung dermaßen verstärkt,
daß es durch die Empfindung der positiven Kontrastvorstellung
keineswegs aufgehoben werden kann, daß also eine Lustempfindung nicht
entstehen kann, vielmehr die Unlustempfindungen der Abneigung, Empörung,
des Schreckens das Feld behalten. Das Mittel, die genannten
Elemente ferne zu halten, liegt entweder allein in der Komposition
der Handlung, indem dieselben ganz ausgeschlossen oder doch
wenigstens hinsichtlich ihrer Wirkungskraft und ihrer Folgen genügend
abgeschwächt
werden, oder zugleich auch in der Wahl der handelnden
Personen, sofern durch dieselbe das Schlechte, Böse, Verderbliche
nicht als solches erscheint ─ wie bei den Tieren der Fabel.


Aus dem Gesagten ist nun leicht abzunehmen, daß die Empfindungen
des Wohlgefälligen und des Lächerlichen, welche oben als komplementäre |#f0239 : 221|

bezeichnet wurden, ähnlich wie die Schicksalsempfindungen der Furcht
und des Mitleids, eine reciproke Wirkung aufeinander ausüben, dergestalt,
daß die eine die andere zu berichtigen geeignet ist. Jm Leben wie
in der Nachahmung stellt manches sich der Empfindung zunächst als
wohlgefällig dar, was mit größerem Rechte für sie in die Kategorie des
Lächerlichen fällt, zumal die Nüancen desselben ja so vielfältig sind,
vom leichten Lächeln bis zum Gelächter; und umgekehrt wird manches
zunächst als lächerlich empfunden, was im Verlauf seine Ansprüche auf
das echte und volle Wohlgefallen geltend macht. Wie da die wechselnde
Beleuchtung, in welcher der Gegenstand durch die geschickte Komposition
der Handlung der Empfindung bald von dieser bald von jener Seite
vorgeführt wird, vermögend ist die Empfindung zu klären und zu reinigen
und sie auf den rechten Stand zu führen, bedarf nicht des Beweises.


So wird also der allgemeine Charakter, welcher dieser Art von
Nachahmungen innewohnt, der des Heiteren sein, oder mit dem uns
geläufigeren griechischen Ausdruck bezeichnet, der des Komischen.


Zur Erzielung dieser Gesamtwirkung wird schlechterdings die Handlung
immer auf die Erregung der beiden Grundempfindungen des Wohlgefälligen
und Lächerlichen zugleich eingerichtet sein müssen: eine Darlegung,
welche ausschließlich und fortdauernd nur die eine hervorbringt,
wird notwendig einseitig und ermüdend sein. Doch kann das Mischungsverhältnis
sehr verschieden sein: die Tierfabel zielt durch die vorzugsweise
Nachahmung des Verkehrten der Handlungsweise hauptsächlich auf
die Erregung der Empfindung des Lächerlichen; das Wohlgefällige kommt
in ihr fast nur durch die Darstellung des Zweckgemäßen, Klugen, Schlauen
zur Geltung, das nebenher bei der Verfolgung des Handlungszieles zu
Tage tritt, mag dieses Ziel selbst auch das verkehrteste sein. Die Nachahmung
menschlicher Handlungen, welche hier zunächst sich anschließt,
ist diejenige, bei der die handelnden Personen auf einer niederen Stufe
geistiger und sittlicher Beschränktheit vorgeführt werden, welche sie insofern
dem erhöhten Tiercharakter verwandt erscheinen läßt, als auch bei
ihnen die Voraussetzung höheren Empfindens und sittlicher Verantwortung
absichtlich ferngehalten wird. Von dieser Art mag der dem Homer
zugeschriebene Margites gewesen sein; aus unserer deutschen Litteratur
würde der Eulenspiegel und das Lalenbuch hierher gehören, ebenso
dem Stoffe nach der Pfaffe Amis und der Ahnherr Münchhausens,
der Finkenritter. Das eigentliche komische Epos, welches,
wenn man von dem Roman absieht, in den vorhandenen Litteraturen
aller Völker nur eine kümmerliche Rolle spielt, müßte hier seine Quellen
haben. Auf die bekannte, aber gerade wegen ihrer großartigen Einfach= |#f0240 : 222|

heit wenig gewürdigte Einteilung des Aristoteles fällt damit ein helles
Licht, wenn er (Kap. 4 der Poetik) das ernste Epos eine Nachahmung
schöner Handlungen und des Handelns entsprechend gearteter Personen
nennt ─ τὰς καλὰς ἐμιμοῦντο πράξεις καὶ τὰς τῶν τοιούτων ─
und wenn er das komische Epos und die Komödie als die
Nachahmung der Handlungen der Schlechteren
definiert, soferne
dieselben nämlich lächerlich seien
─ μίμησις φαυλοτέρων,
οὐ μέντοι κατὰ πᾶσαν κακίαν, ἀλλ' ᾗ1 τοῦ αἰσχροῦ ἐστὶ τὸ
γελοῖον μόριον ─; durch die obigen Ausführungen möchte diese Einteilung
ihre Erklärung und völlige Rechtfertigung finden.


Aber von diesen Anfängen der Gattung, dem Tierepos und dem
komischen Epos, von denen in unserer deutschen Dichtung nur das
erste volle Ausgestaltung gefunden hat, geht eine lange Entwickelungsreihe
aus. Die engen Beschränkungen bezüglich der Wahl der Personen,
in welchen Sage und Volksdichtung sich mit so unfehlbarer Sicherheit
bewegen, konnten in der Kunstpoesie nicht festgehalten werden, die ja
allenthalben das Bestreben einer fortschreitenden Annäherung an die
Wirklichkeit zeigt. Was damit aufgegeben wurde, mußte durch die kunstreichere
Zusammensetzung der Handlung wieder eingeholt werden. Die
ethische Gebundenheit der Personen gestattet die größte Einfachheit der
Handlung; sobald man aber völlig frei handelnde Menschen vorführt,
bedarf es der größten Kunst, um die Nachahmung der Handlungen so
zu gestalten, daß die ernsten Schicksalsempfindungen nicht berührt werden
und die hervorgerufene Wirkung sich nur in den heiteren Gegensätzen
des Wohlgefälligen und Lächerlichen hält. Ein sehr wertvolles Mittel
der Vereinfachung ist hier noch darin gegeben, daß man in Bezug auf
die äußeren Bedingungen der Wirklichkeit eine phantastische Freiheit zu
Gunsten der zu erzielenden Wirkung walten läßt, wie das z. B. die
alte griechische Komödie that und in gewissem Umfange die romantische
Richtung der neueren deutschen Litteratur wieder versucht hat. Wo auch
dieses Hilfsmittel weggefallen ist, wo also sowohl in der Beschaffenheit
der Personen als in den Bedingungen ihres Handelns die Analogie der
vollen Wirklichkeit zum Gesetz gemacht ist, da sind der Komposition die
schwierigsten Aufgaben gestellt, aber auch die höchsten künstlerischen Wirkungen
erreichbar, am meisten dann, wenn es gelingt, in den äußeren
Handlungen sowohl als in den Charakteren die Gegensätze des Wohlgefälligen
und des Lächerlichen so zu verschmelzen und gegenseitig sich

1
Jm Text steht ἀλλὰ, wofür ich ἀλλ' ᾗ geschrieben habe, um den Sinn der verdorbenen
Stelle herzustellen.
|#f0241 : 223|

durchdringen zu lassen, daß durch ein und dieselbe Handlung beide Empfindungen
zugleich in Erregung versetzt werden, daß also das Wohlgefallen
nicht ohne Lächeln stattfindet und das Lachen die wohlgefällige
Empfindung nicht aufhebt: das geschieht in der humoristischen Darstellungsweise.



Der Gattung nach gehört also die Tierfabel zum komischen
Epos,
dessen Ziel es ist, durch die Nachahmung von Handlungen die
reinen Empfindungen des Wohlgefälligen und Lächerlichen
zu erregen; ihr Artunterschied besteht darin, daß sie die
Gegensätze des Verkehrten und Zweckgemäßen innerhalb
der ethisch gebundenen Sphäre tierischer Handlungen
zur Empfindung bringt.


Wie weit von diesem Begriffe der Gattung sich die Erneuerung der
äsopischen Fabel entfernt, welche mit Lessings Namen bezeichnet ist,
wurde schon oben erörtert: nach einer andern Seite zweigt sich diejenige
Art sogenannter Fabeln ab, für welche sein älterer Zeitgenosse, Gellert,
das Vorbild wurde. Bei ihm ist umgekehrt das epische Element fast
durchweg festgehalten, dagegen in den bei weitem meisten Fällen selbst
in der äußerlichen Einkleidung von der Anwendung der Tiere als
handelnder Personen gänzlich abgesehen. Damit ist eine ganz neue
Gattung entstanden: die poetische Erzählung, die allerdings als
solche nicht von Gellert erfunden ist, die aber von ihm am meisten der
damals geltenden Theorie der Fabel angepaßt wurde.


Nun gab es eine unbefangene Auffassung der Epik zu jener Zeit
überhaupt nicht; sie war durch Gottscheds Lehre von der Dichtkunst,
und in den letzten Gründen ihrer Theorie auch von den Schweizern,
ganz in den Dienst der Moral und Didaktik gestellt. Welche Form der
Dichtung aber konnte sich leichter solchen Zwecken fügen als die Erzählung
einer einzelnen Handlung, zumal es so unendlich viel geringere
Kunst und Einsicht verlangt, durch eine ernsthafte oder komische Erzählung
eine allgemeine Wahrheit ins Licht zu setzen, als durch eine „poetische
Erzählung
“ den dieser Gattung eigenen ästhetischen Genuß ─ τὴν
οἰκείαν ἡδονήν ─ zu erwecken. Das Erstere haben Hunderte von
Dichtern vermocht, das Zweite ist nur sehr wenigen, den Allerbesten,
gelungen. ──────

|#f0242 : 224|

XIV.


Es liegt in der Natur der moralisch=didaktischen, der Fabel verwandten,
poetischen Erzählung, lieber eine komische Färbung anzunehmen
als durch ernsten Vortrag ihren Zweck geradehin zu erreichen.
Der Grund ist leicht einzusehen: daß das Gute einer Handlung auch
von der Einsicht als solches erkannt wird, ist so natürlich und notwendig,
daß wir die Demonstration weder dem Dichter als ein Verdienst
anzurechnen noch ein Vergnügen an der bloßen Demonstration zu finden
geneigt sind. Der Dichter muß also in diesem Falle mehr thun, er muß
das Vortreffliche der Handlung zu einem Gegenstande der Empfindung
zu machen wissen; gelingt ihm das völlig, so hat er sich über die moralische
Tendenz erhoben, seine Erzählung wirkt unmittelbar durch sich
selbst und er ist zum echten Dichter geworden; gelingt es ihm aber nur
teilweise, so ist jenem Mangel wenig abgeholfen, sein Gedicht bleibt
trivial.


So sind denn auch die ernsten Erzählungen bei Gellert die bei
weitem weniger gelungenen. Ein Beispiel der schlechtesten Art ist „Der
Jnformator
“, dem der reiche Bauer in aufrichtiger Anerkennung seiner
vortrefflichen Pflichterfüllung statt der geforderten dreißig Thaler Jahresgehalt
„von Herzen gern“ deren hundert bewilligt. Noch abgeschmackter
freilich ist die Geschichte von „Calliste“, der reichen und schönen Dame
„mit zärtlichem Gemüte,“ welcher der Wundarzt, der „schmachtend insgeheim
Callistens Reiz verehrte,“ durch den Anblick ihres weißen Armes
verwirrt, beim Aderlaß den Puls durchschlägt, und die er dann, in noch
größerer Bestürzung, so schlecht behandelt, daß der Arm amputiert werden
muß, die Wunde brandig wird und schließlich den Tod herbeiführt:


Auch hier blieb noch das große Herz gelassen.
So sprach sie: sterb' ich denn? Wohlan! Er ist nicht schuld,
Er würde gern für mich erblassen.
Gott hat's verhängt, Gott ehr' ich durch Geduld,
Und bin bereit, den Augenblick zu sterben;
(Der Wundarzt trat indem herein),
Sie aber, fuhr sie fort, setz' ich hiemit zum Erben
Von allen meinen Gütern ein,
Sie möchten sonst unglücklich sein.
Sie sprach's und schlief großmütig ein.


So niedrig diese Gattung von Gedichten ist, und so schielend oft
noch obendrein die dargestellte Moral, soviel Behagen fand Gellert an
ihr und mit ihm seine ganze Zeit und zahlreiche Nachahmer, wie Gleim, |#f0243 : 225|

Götz, Pfeffel und viele andere. Eine Stufe weniger tief stehen Erzählungen
wie Gellerts „Herodes und Herodias“ und „Monime“;
hier liegt doch wenigstens etwas vor, was wert ist erzählt zu werden,
wenn auch jede Spur poetischer Nachahmung in dem Schwalle von
Moral erstickt wird. Nicht besser steht es mit den „rührenden“ Erzählungen,
in welchen erstlich das Betrübende mit dem Tragischen verwechselt,
und sodann der bloße Jammer über einen in möglichster Breite
mitgeteilten Unglücksfall ─ „das Glück, um andre sich zu quälen“ ─
für einen Akt der Moralität ausgegeben wird. Ein Musterstück dieser
Abart ist bei Gellert „Das neue Ehepaar“: ein junger Ehemann verreist
zur See, seine Frau geht bald darauf am Strande spazieren, findet
seinen ans Land gespülten Leichnam und stirbt aus Schmerz gleichfalls;
dieser nackte Thatbestand, ohne jede weitere Modifikation, jedoch mit
vielen moralischen Reden verbrämt, in mehr als ein hundert und dreißig
Versen vorgetragen.


Betrachtet man das hier obwaltende Verhältnis genauer, so sieht
man darin die gemeinsame Ursache sich darstellen für alle die Jrrtümer,
die in der Theorie und in der Ausübung die erzählende Poesie der ersten
Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts beherrschten. Bei der Entartung
der Dichtung meinte man die verlorene Würde derselben nur in ihrer
bessernden und belehrenden Wirkung erblicken zu müssen, und so geschah
es, daß man den unscheinbaren Nebenzweig der äsopischen Tierfabel nun
plötzlich für die Verkörperung der wesentlichsten Gesetze aller erzählenden
und darstellenden Poesie erklärte, für ihre eigentliche, typische Grundform:
Einkleidung eines allgemeinen moralischen oder lehrhaften Satzes
in die Darstellung oder Erzählung einer Handlung. Daß wenigstens
für die Auffassung der Fabel dies die zutreffende Annahme sei, galt ja
noch Lessing für unbestreitbar.


Nun lag in dieser Auffassung der Fabel zu einem Teile wirklich
etwas Zutreffendes, welches aber durch den beigemischten Jrrtum sogleich
auch für die Theorie der Fabel selbst in ein Falsches verwandelt wurde
und in seiner Anwendung auf die gesamte Poesie vollends zu einer Verirrung
werden mußte.


Dieses Zutreffende war die Erkenntnis, daß es sich in der Tierfabel
um ein Urteil über die Gegensätze des Verkehrten und Nützlichen,
Richtigen und Falschen, Zweckmäßigen und Zweckwidrigen handelt,
mittelbar sogar auch des Rechten und Unrechten, Guten und Bösen:
freilich nur daß dieses letztere sich dem Urteil nicht als solches, sondern
im Lichte jener erstgenannten Gegensätze erscheinend darbietet; vor
allem aber daß es ein Urteil nicht des Verstandes, sondern der |#f0244 : 226|

Empfindung ist, ein ästhetisches Urteil, welchem also alle die
genannten Gegensätze auch nur in dem Falle zugänglich werden, wenn
sie eben an die Empfindung sich wenden, die eine Seite derselben in der
Form des Wohlgefälligen, die andre in der des Lächerlichen. Es
ist oben gezeigt worden, wie die Fabel durch die Beschränkung ihrer
handelnden Personen auf die Tierwelt die für diesen Zweck spezifisch
geeignete technische Einrichtung gewonnen hatte.


Nachdem aber der episch=ästhetische Sinn immer mehr verloren gegangen
war, trug die Tradition der äsopischen Fabel noch mehr zu dem
Jrrtum bei, daß man das Ergebnis des ästhetischen Urteils, wie der
Verstand nachträglich es sich zum Bewußtsein bringt, für den eigentlichen
Zweck und Jnhalt der Fabel ansah, und es völlig verkannte, daß
im geraden Gegensatz die Freude an derselben unauflöslich damit verknüpft
ist, zu diesem Resultate auf dem Wege des ästhetischen Urteils
zu gelangen, daß sie die Begleiterin der durch die Nachahmung der
Handlung erregten Empfindungsthätigkeit ist. Die Täuschung war um
so schwerer zu entdecken und hielt um so länger an, als ja das Erkenntnisurteil,
mit welchem man sich begnügte, auf Grund einer
Anschauung gefällt wurde, und als ja ferner ein gewisser Grad von
Freude mit einem solchen Erkenntnisurteil ebensowohl wie mit jeder
andern Thätigkeit des Verstandes
verknüpft ist: nur eine Freude,
die der Art wie dem Grade nach von der ästhetischen ebenso verschieden
ist wie die entsprechenden Thätigkeiten des Verstandes
und der Empfindung es selbst sind.


War nun einmal der Standpunkt für die Theorie der Fabel derartig
verschoben, daß man in ihr die organische Vereinigung des Vergnügens
an der Anschauung und der bessernden und belehrenden Wirkung
auf die Erkenntnis erblickte, so lag es nahe, sie für den Typus der
Poesie überhaupt zu erklären und zunächst das Gesetz für die gesamte
Epik und Dramatik aus ihr abzuleiten: man nehme einen allgemeinen
moralischen Satz, eine allgemeine Jdee des Guten oder des Rechten und
suche oder erfinde eine Geschichte, welche denselben der Anschauung so
vorführe, daß die Erkenntnis jenes Satzes oder jener Jdee mit Leichtigkeit
gewonnen werden könne. Aus einer solchen Grundanschauung von
der Poesie mußte dann die weitere Vorstellung sich mit Notwendigkeit
ergeben, daß auch die Lyrik ihre Würde und damit ihre Berechtigung
nur in der Förderung der Erkenntnis und Uebung des Guten und
Wahren finden könne.


Diese Anschauungen, welche von Gottsched und den Schweizern in
mehr oder weniger grober Form, mit größerer oder geringerer Plattheit |#f0245 : 227|

und Beschränktheit ausgesprochen waren, haben in mehr und mehr verfeinerten
Formen noch das ganze achtzehnte Jahrhundert unter ihrer
Herrschaft gehalten, mit alleiniger Ausnahme der wenigen Größten, die
eben dadurch alle andern so hoch überragen: im Grunde haben außer
Lessing nur Schiller und Goethe sich ganz frei davon gemacht.


Keine poetische Gattung hat unter dieser Gesamtanschauung schwerer
gelitten als die epische. Selbst entschiedene und kräftig angelegte Talente
wurden dadurch in den Gellert-Gleimschen Niederungen festgehalten, sobald
sie es mit der ernsthaften „poetischen Erzählung“ versuchten. Wie
ganz andere Züge würde Ewald von Kleists epische Muse tragen,
wenn er um ein Menschenalter später geboren wäre! Man betrachte
nicht allein so ganz auf „tugendhafte“ Rührung abzielende Stücke wie
Emire und Agathokles“ oder die Erzählung von der „Freundschaft
des edlen und tugendhaften Leander und des gleich edlen und
ebenso tugendhaften Selin, sondern auch sein kleines Heldengedicht in
drei Gesängen „Cissides und Paches“, dem es an markigen Stellen
echt epischer Darstellung nicht fehlt, und das dennoch als Ganzes, weil
es nach Plan und Ausführung einzig und allein unter den moralischen
Gesichtspunkt gestellt ist, unschmackhaft wird. Auch tritt in diesem Punkte
keine Wandlung ein bis auf Bürger, bei dem zuerst die Elemente sich
zu scheiden beginnen.


Schon zuvor aber war dieser Scheidung und der Erkenntnis des
wahren Wesens der Epik eine andre Entwickelung zu Hülfe gekommen:
dieselbe vollzog sich auf dem, wie schon bemerkt, von vornherein dafür
günstiger beschaffenen Boden der komischen Erzählung.


Die einfache Unterscheidung des Aristoteles ─ nicht zwar hinsichtlich
des Wesens der ernsten und komischen Poesie, sondern hinsichlich
der Art ihrer Entstehung ─, daß die erstere sich herausgebildet
habe, indem man edle Charaktere und deren Handlungen nachahmte,
die andre, indem sie schlechtere Charaktere und Handlungen
darstellte, zunächst spottweise einzelne Personen angreifend, dann
aber unter dem allgemeinen Gesichtspunkte des Lächerlichen (οὐ
ψόγον ἀλλὰ τὸ γελοῖον δραματοποιήσας, was von demselben Homer
gesagt ist, der καὶ τὰ σπουδαῖα μάλιστα ποιητής genannt wird) ist
tiefsinniger und fruchtbarer als es scheint und als angenommen wird.
Es lassen sich die Grundzüge der Theorie sehr wohl daraus entwickeln.
Der Grund nämlich, um dessentwillen Aristoteles seine Einteilung macht,
ist der, daß in den Bezeichnungen „edle“ und „schlechte“ ─ σπουδαῖοι
und φαῦλοι ─ sämtliche mögliche Arten von Ethos einbegriffen seien,
welche in Handlungen zur Erscheinung kommen können. Da nun aber |#f0246 : 228|

jegliche „poietische“ Nachahmung von Handlungen zum Zwecke hat,
durch Thätigkeit der Aisthesis Empfindung zu bewirken, und zwar
als künstlerische Nachahmung das quantitative und qualitative
Maximum
derselben ─ die zugleich richtigste und stärkste ─, so kann
die Handlungen nachahmende Poesie diesen ihren Zweck überhaupt nur
auf zweierlei Art erreichen: direkt, indem sie Handlungen von edlem,
gutem Ethos darstellt, oder, indem sie alle Arten der aus schlechtem oder
doch irgendwie fehlerhaftem Ethos hervorragenden Handlungen für ihren
Zweck verwendet, indirekt.


Von dieser zweiten Art also, aus welcher Aristoteles den Ursprung
der komischen Poesie herleitet, muß hier zunächst gehandelt werden.


Jndem die unendliche Masse der entschieden schlechten Handlungen,
oder die aus falscher Empfindung und verkehrter, ungesunder Gemütsart
hervorgehen, zugleich in ihrem entscheidenden Einflusse auf das Schicksal
der Menschen sich dem Dichter darstellt ─ wodurch reizen sie ihn zur
Nachahmung? Denn sie nur etwa um ihrer selbst willen, um sie getreu
zu wiederholen, nachzuahmen, würde doch nicht künstlerisches Schaffen
─ Poiesis ─ sein. Das mißbilligende, moralische oder intellektuelle
Urteil
kann ihn nimmermehr dazu bewegen; es hat seinen
eigenen abstrakten Ausdruck und bedarf der Denkthätigkeit, aber
keiner Art von Nachahmung. Was ihn dazu anzutreiben vermag, Handlung
und Begebenheit dem Leben nachzuerschaffen, kann allein der
Umstand sein, daß die Wahrnehmung zur naturgemäßen Folge eine
Thätigkeit der Seele hat, welche auf keine andre Art aufs neue
hervorgerufen werden kann, als durch die Reproduktion jener Handlung
und Begebenheit selbst. Solcher Art ist einzig und allein die Empfindungsthätigkeit
der Seele. Während aber im Leben die Beschaffenheit
dieser so hervorgerufenen Empfindungsthätigkeit je nach
den sie erzeugenden Handlungen und Begebenheiten eine verschiedene
und zufällige ist, wählt der nacherschaffende Dichter ─ der ποιητής
─ die Beschaffenheit derselben so aus und bestimmt sie ihrer ganzen
innern und äußern Vollständigkeit nach derartig, daß, welcher Art die
von ihm als Mittel zu seinem Zwecke verwandten Handlungen und
Begebenheiten auch seien, dieser Zweck, die dem Anlaß entsprechende
richtige Empfindungsweise zu erwecken, möglichst vollkommen erreicht
werde.


Es fragt sich nun, wie können schlechte oder fehlerhafte
Handlungen oder doch solche, die aus einem fehlerhaften Ethos
hervorgehen,
und die dieselben bedingenden und begleitenden Begebenheiten
richtige Empfindungsweise hervorrufen? Ferner, wie hat |#f0247 : 229|

der Dichter zu verfahren, um der Erreichung seines Zweckes gewiß sein
zu können?


Offenbar kann auf zweierlei Arten dabei verfahren werden, und
beide hat Aristoteles in seiner Skizze von der Entwickelung dieser Art
von Poesie angeführt: die erste ist die tadelnde, spottweise Darstellung
(ψόγος), aus ihr geht die Satire hervor, die zweite ist die lächerliche
Darstellung (τὸ γελοῖον), sie gibt allen Arten der komischen
Epik
und der Komödie die Entstehung.


Die tadelnde Darstellung einer Handlung begnügt sich damit, das
Fehlerhafte derselben so stark hervorzuheben, daß die demselben entgegengesetzte
richtige Gesinnungsweise, die den Darsteller beseelt, durch die
Nachahmung auch in dem Hörer hervorgerufen wird. Der Nachahmungszweck
ist hier das zu erzeugende Ethos, die dargestellte Handlung
Mittel zu diesem Zweck; daher ─ zum sicheren Zeichen dieses Verhältnisses
─ die Einheit solcher Darstellung auch nur in ihrem Ethos
liegt, nicht in der Handlung, so daß die mannigfaltigsten Handlungen,
sofern sie nur durch den Gegensatz zu dem Ethos der Darstellung
gleichartig sind, darin vereinigt werden können. So verfährt die Satire,
die deswegen auch, wie oben erörtert, weit eher dem lyrischen als
dem epischen Gebiete zuzurechnen ist. Je nachdem das Ethos beschaffen
ist, welches der Dichter durch Vorführung von Fällen seines Widerspieles
stark anregen will, kann sie strafenden, ja grimmig anklagenden, auch
erhabenen Charakter annehmen, oder auch, wenn der Dichter die Laster,
Fehler und Gebrechen nicht jedesmal vereinzelt lediglich als Verletzungen
seines Gefühles empfindet, sondern sie nach der innern Vollständigkeit
ihrer Entstehung und Bedingtheit zwar nicht abgeschwächt, aber doch als
Ergebnisse der allgemeinen menschlichen Schwäche auf sich wirken läßt,
kann sie die abgeklärte Färbung eines eben so ernst gehaltenen als gelassenen
und wahrhaft heiteren Ethos annehmen.


Natürlich kann jede Art der Satire mannigfache leisere oder stärkere
Schattierungen des Lächerlichen in sich aufnehmen, aber die eigentliche
Wirkung des Lächerlichen ist in der Poesie schlechterdings
an die Darstellung der Handlung um ihrer selbst willen gebunden,
also in der Poesie an die Gattungen, denen diese
Nachahmung Zweck ist, die Epik und Dramatik.
Denn nicht
seinem ganzen Umfange nach ist das weitausgedehnte Gebiet des Lächerlichen
für die Poesie verwendbar, manche seiner Teile können nur als
Beiwerk von ihr benutzt werden, für ihr Hauptwerk kommt nur eine bestimmt
begrenzte Provinz des Gesamtgebietes in Betracht.


Von den zahlreichen modernen Versuchen den Begriff des Lächerlichen |#f0248 : 230|

zu erklären ─ von denen keiner die Aufgabe löst, sondern ein jeder
nur einzelne Attribute des Gesamtbegriffes einschließt ─ kehrt man am
besten zu der ältesten Definition zurück, von der sie alle mehr oder
minder abhängig sind. Obwohl die speziellen Erörterungen des Aristoteles
über das Lächerliche uns verloren sind, so ist doch die beiläufig
von ihm aufgestellte Erklärung desselben gerade in ihrer weiten Fassung
noch immer die einzig stichhaltige, sobald nur jedes Wort darin nach
seinem ganzen Umfange erwogen wird. Jm fünften Kapitel seiner Poetik
heißt es: τὸ γὰρ γελοῖον ἐστιν ἁμάρτημά τι καὶ αἶσχος ἀνώδυνον καὶ
οὐ φθαρτικόν, d. h.: „Das Lächerliche besteht in einer Fehlerhaftigkeit
und Häßlichkeit (Deformität), die weder Schmerz
noch Schaden verursacht.
“ Von den lächerlichen Gegenständen ist
also erstens ausgesagt, daß sie eine dem Richtigen und Schönen entschieden
entgegengesetzte Beschaffenheit haben müssen, sie müssen schlechtweg
fehlerhaft, häßlich sein. Was aber sodann als das näher unterscheidende
Merkmal angegeben ist, verlangt eine zwiefache Auslegung:
die Schmerzlosigkeit und Unschädlichkeit des Fehlerhaften und
Häßlichen kann entweder objektiv, an sich, vorhanden sein, oder subjektiv,
der Vorstellungs= oder auch der Betrachtungsweise des
Wahrnehmenden nach.


Die Sache verhält sich also so: wenn sich ein Ding als entschieden
fehlerhaft oder häßlich
darstellt und zwar so, daß es entweder an
sich keinerlei schmerzliche Empfindung oder schädliche Wirkung hervorbringt
oder doch so vorgeführt und aufgenommen wird, daß derartige
Empfindungen und Wirkungen ausgeschlossen bleiben, so ist das
diese doppelte Beschaffenheit konstatierende Urteil von der
Erscheinung des Lachens begleitet.
Denn dies hat das Lachen
mit der Freude gemeinsam (das übrigens nach aristotelischen Begriffen
direkt den ἡδέα den „freudigen“ Dingen zugezählt wird), daß es eine
Erscheinung ist, welche, sofern sie nicht rein äußerlichen körperlichen
Einwirkungen entspringt, als Begleitung und gewissermaßen abschließendes
Resultat einer Thätigkeit (τελείωσις τῆς ἐνεργείας) auftritt. Man würde
sich ganz innerhalb der aristotelischen Anschauungsweise befinden, und,
wie es scheint, auch in Übereinstimmung mit der Wahrheit und den Thatsachen,
wenn man in diese weiteste Auffassung auch das Lachen überhaupt
als unmittelbaren Ausdruck der Freude miteinbegriffe, doch ist hier nur
im engeren Sinne von demjenigen Lachen die Rede, welches dem „Lächerlichen“
entspricht, und auch dieses erscheint als Begleitung und Abschluß
einer Thätigkeit: diese Thätigkeit ist eben jenes „Urteilen“, welches das
Vorhandensein der das Lächerliche bedingenden Umstände konstatiert.

|#f0249 : 231|


Aus diesen Voraussetzungen ergibt sich von selbst die Unterscheidung
der verschiedenen Arten des Lächerlichen und die Feststellung derjenigen,
welche für die poetische Nachahmung geeignet sind.


Das Urteil über die Fehlerhaftigkeit oder Häßlichkeit der Objekte
und ihre schmerzliche oder schädliche Wirkung ist entweder ein moralisches
oder ein verstandes mäßiges oder ein ästhetisches.


Von diesen drei Arten des Urteils ist, wo es sich um das Lächerliche
handelt, das moralische von vorneherein auszuscheiden: unter dem Gesichtspunkte
der sittlichen, praktisch=vernünftigen Beurteilung muß
alles Fehlerhafte als schädlich erscheinen, und auch dem dieser Beurteilungsweife
entsprechenden sittlichen Gefühl muß alles sittlich Häßliche
schmerzhaft verletzend sein. Für die sittliche Beurteilung kann es also
ein Lächerliches überhaupt nicht geben, und in der Goetheschen Definition:
„das Lächerliche entspringt aus einem sittlichen Kontrast, der auf eine
unschädliche Weise für die Sinne in Verbindung gebracht wird,“1 kann
das Epitheton „sittlich“ in seiner eigentlichen Bedeutung unmöglich verstanden
werden.


Dagegen liegt auf dem Gebiete des Verstandesurteils ein weites
Feld des Lächerlichen. Zwar wird es auch hier schwerlich irgend ein
Fehlerhaftes und Häßliches geben, welches nicht zugleich als schädlich betrachtet
und als das Gefühl verletzend erkannt werden müßte, sobald
der Verstand nach dieser Richtung hin es beurteilt.
Der große
Unterschied aber ist der, daß das moralische Urteil diese Richtung unter
allen Umständen einzuschlagen gezwungen ist, während der Verstand sie
in sehr vielen Fällen ausschließen kann. Dieser Fall ist überall da als
objektiv vorhanden anzusehen, wo die schädliche oder verletzende Wirkung
sehr gering oder der Reflexion sehr fernliegend ist, ferner subjektiv überall
da, wo individuell für den Beurteiler diese Wirkung nicht zutrifft oder
die Reflexion darauf nicht vorhanden ist, oder auch wo beides durch
die momentan angewandte Darstellungs- und Betrachtungsweise
geflissentlich ferngehalten wird.
Auf dem letzteren Verfahren
beruht zu einem wesentlichen Teile die witzige Darstellung.
Andrerseits fällt auf diesem Gebiete ebenso die Wirkung des Lächerlichen
ganz fort, sobald der urteilende Verstand nicht genügend ausgebildet ist,
um die Grundbedingung desselben, das an sich Fehlerhafte und Häßliche
als solches, zu erkennen.


So ist starke Unkenntnis oder Unerfahrenheit auf dem Gebiete des
Wissens, des Könnens oder der Sitte, oder grobes Mißverständnis,

1
Sprüche in Prosa V, Nr. 414.
|#f0250 : 232|

arger Mißgriff auf diesen Gebieten eine Quelle des Lächerlichen, und
zwar um so reicher fließend, je mehr der Urteilende wissend und geschickt
ist, dagegen ganz verschlossen für den Unwissenden und Ungeschickten.
Ferner wird die lächerliche Wirkung durch jede ihr anhaftende Schädlichkeit
oder Schmerzlichkeit objektiv aufgehoben oder sie wird subjektiv beeinträchtigt,
wenn sie dem Einzelnen für seine Person sich derartig fühlbar
macht; und endlich wird das Lächerliche selbst in solchem Falle wieder
hergestellt, sobald der Fall losgelöst von allen andern Beziehungen ganz
allein
unter dem Gesichtspunkte des Mangels an Wissen und Geschick
vorgetragen wird. Weil nun aber von einem Defekt nur da die Rede
sein kann, wo man ein Recht hat Vollständigkeit vorauszusetzen, von
einer Fehlerhaftigkeit (ἁμάρτημα), also nur, wo man Richtigkeit,
von einer Deformität (αἶσχος) nur, wo man Uebereinstimmung
mit Recht erwartet ─ (bei einem Kinde ist Mangel an Wissen und
Sitte kein Fehler, bei einem seiner Gattung gemäß geformten Naturdinge
das unsern Schönheitsbegriffen Widersprechende keine Deformität,
nur mit Unrecht „Häßlichkeit“ genannt nach einer dem Wesen
des Dinges ganz fremden Analogie!) ─, so ist von den modernen Erklärern
in diese eine dem Begriff notwendig anhaftende Eigenschaft das
Wesen des Begriffes selbst gesetzt, indem man das Lächerliche durchweg
als einen Kontrast definierte, entweder wie Lessing als einen Kontrast
von „Mangel und Realität“,1 oder wie Goethe als einen „sittlichen
Kontrast, wo „sittlich“ wohl die Sphäre des Bewußten und
Verantwortlichen bezeichnen soll, oder wie Kant als die „plötzliche
Verwandlung einer gespannten Erwartung in Nichts.
2 Alle
diese Zusätze und Einschränkungen gehören also nicht zu dem Grundwesen
des Lächerlichen: ein andres ist es, daß unter den Mitteln das Fehlerhafte
und Deforme als solches darzustellen die Hinzufügung einer
Kontrastvorstellung allerdings zu den wirksamsten gehört; das Grundwesen
des Lächerlichen jedoch liegt lediglich in dem Fehlerhaften und
Deformen, das ohne alle Beimischung als solches sich dem Urteil darbietet.


So ist die Schwäche an sich nicht lächerlich, weil sie da, wo sie
naturgemäß ist, nicht als Fehler erscheint; aber die bloße Körperschwäche
bildet unter Leuten, bei denen Körperkraft ein naturgemäßes und wesentliches
Erfordernis ist, allerdings schon einen Grund der Lächerlichkeit.
An sich ist die Unkenntnis, z. B. des römischen Kalenders, nichts Lächerliches,
bei einem Altertumsforscher jedoch wäre sie ein Fehler und deshalb

1
Vgl. Dramaturgie Nr. 28.
2
S. Kant Bd. IV (ed. Rosenkranz). Kritik der Urteilskraft S. 207.
|#f0251 : 233|

lächerlich, freilich nur unbedeutend, wie ja auch der Fehler kein bedeutender
wäre in betreff der römischen Datierung einen Jrrtum zu
begehen. Wenn dagegen jemand auf die Frage, in welche Zeit die Jdus
fallen? den Aufschluß gäbe: „meistens in den März,“ so wäre ein solches
Hamartema, selbst als bloßer Jrrtum des Augenblickes, entschieden komisch,
weil dieses Mißverständnis, ernstlich genommen, nur bei der stärksten
Unkenntnis möglich ist. Eine reiche und sehr viel ausgebeutete Fundgrube
des Lächerlichen eröffnet sich auf diesem selben Boden, wenn ein
Unwissender und Ungeschickter durch den Zufall als Wissender und Geschickter
erscheint und nun mit allerlei Würden, Ämtern und Aufgaben
betraut wird, die ihn in ununterbrochener Reihe die ärgsten Fehlerhaftigkeiten
zuwege bringen lassen. Wird dergleichen der Wirklichkeit entnommen
oder als wirklich dargestellt, so hört das Lächerliche mit dem
Moment auf, wo die Folgen schädlich werden, und es kann sich dann
sogar in das Furchtbare verwandeln, wie wenn ein zum Heerführer ernannter
hohler Günstling Niederlage und Untergang eines Staates verursacht.
Aber selbst mit derartigen, von der Sache untrennbaren, schweren
Folgen kann der Charakter des Lächerlichen durch die Behandlung des
Stoffes gewahrt bleiben, sobald die Darstellung ganz in die Sphäre der
Phantasie verlegt wird, wie im Märchen, oder ganz in die Sphäre
des bloßen Verstandesurteils, wie in der Anekdote: in beiden Fällen
werden alle schmerzlichen und schädlichen Beziehungen eliminiert, und es
bleibt das bloße Faktum der Fehlerhaftigkeit für die Beurteilung übrig.


Daß aber in der That der Begriff des Lächerlichen durch die bloße
Fehlerhaftigkeit und Deformität als solche konstituiert wird und nicht
durch den Kontrast derselben mit der Vorstellung des Erhabenen oder
mit einer zu Tage tretenden Absicht, zeigt sich deutlich, wenn man in
der schon oben angedeuteten Weise jene das Lächerliche konstituierenden
Begriffe genau in der ihnen zukommenden Bedeutung erfaßt. Die Begriffe
des ἁμάρτημα ─ der Fehlerhaftigkeit oder Verirrung ─ und des
αἶσχος ─ der Deformität ─ decken sich keineswegs an sich mit dem
Begriff des bloßen Mangels an Trefflichkeit, Vollkommenheit und Schönheit,
sondern schlechterdings ganz allein da, wo mit Recht diejenige Trefflichkeit,
Vollkommenheit oder Übereinstimmung der äußeren Gestalt vorausgesetzt
wird, von welcher sie abweichen. Das Kamel, die Spinne, der
Tausendfuß, das Krokodil mögen uns unschön erscheinen und wir mögen
sie nach unserm Sprachgebrauch „häßlich“ nennen, die Eigenschaft des
αἶσχος, der „Deformität“, kommt ihnen nicht zu, dem Kundigen wird
im Gegenteil ihre Gestalt als mit ihrer Naturbestimmung in hohem Grade
übereinstimmend erscheinen. Dagegen sind Falstaffs Wanst, Bardolphs |#f0252 : 234|

feurige Nase, die Körpererscheinung eines Schaal und Stille oder von
Falstaffs Rekrutenschar Deformitäten und lediglich als solche lächerlich;
ja für eine Anschauungsweise, die das Schmerzliche und Schädliche außer
acht läßt, sind es ebenso alle auffallenden körperlichen Gebrechen, Schiefheit,
Buckeligkeit, Hinken, Magerkeit und Fettheit, oder selbst außergewöhnliche
Größenbeschaffenheit der Nase, die wohl wegen ihrer prominenten
Position von jeher ein bevorzugtes Objekt für die Darstellung
des Lächerlichen gewesen ist. Ganz ebenso kann Fehlerhaftigkeit oder
Jrrtümlichkeit nur da erkannt werden, wo nach dem Wesen, der Beschaffenheit,
Stellung, Amt, Würde der Person oder des Dinges Richtigkeit,
relative Vollkommenheit erwartet werden müssen. Unter den Mitteln,
diese Erwartung zu erregen, ist eins der sichersten und stärksten das Vertrauen
auf den Besitz derselben, die Bestrebung diesen Besitz zu erreichen
oder die Absicht als im Besitz befindlich zu gelten kund zu geben. Aber
es heißt von der Hauptsache auf Nebendinge abirren, den Begriff des
Lächerlichen verengen und seine Erkenntnis verdunkeln, wenn man auf
dieses einzelne, zu seiner Beschaffenheit gehörende Attribut (ein συμβεβηκὸς
καθ' αὑτό) auf einen derartigen Kontrast also, seine Definition
gründet, statt auf seine wesentliche Beschaffenheit (das τί ἐστιν).


Man nehme als das zu allernächst liegende Beispiel das „Verirren“
im eigentlichen Sinne des Wortes. Es hat ─ immer abgesehen von
allem Schädlichen, Gefährlichen, Schmerzlichen, das sich beimischen kann,
sondern das Hamartema nur als solches betrachtet ─ nichts Fehlerhaftes
und also auch nichts Lächerliches, wenn jemand sich in einer
Gegend, die er nicht kennt, verirrt, auch nicht, wenn er etwa auf Ersuchen
seiner Begleiter es übernommen hat, sie nach der Karte zu führen.
Ein anderes aber ist es, wenn er mit Berufung auf seine Fähigkeit nach
der Karte sich zu orientieren sich die Führung angemaßt hat, oder wenn
er behauptet die Gegend gut zu kennen; dann ist mit der Fehlerhaftigkeit
auch die Lächerlichkeit sofort da. Ebenso ist es, wenn jemand auf
ihm wirklich genau bekanntem Terrain sich selbst verirrt oder andre irre
führt; ferner ebenso bei einem Führer von Profession oder einem sonst
irgendwie zum Führer Berufenen, sobald das Ärgerliche und Schädliche
ausgeschieden wird. Allenthalben beruht das Lächerliche auf dem Fehlerhaften
und Deformen als solchem; es kommt nur darauf an, daß dasselbe
an sich stark genug und daß es möglichst evident sei; denn je mehr
es in die Augen fällt, desto schneller wird es durch das Urteil konstatiert
und desto stärker und unmittelbarer ist die lächerliche Wirkung.


Das Vermögen erstens unter den zahlreich vorhandenen Mitteln
jedesmal das geeignetste auszuwählen, um die Fehlerhaftigkeit oder De= |#f0253 : 235|

formität der Dinge möglichst stark hervortreten zu lassen, zweitens dieselbe
für das bloße Verstandesurteil zu isolieren, ist der Witz.


Bei allen den unzähligen Formen des Witzes führt die Analyse
zuletzt immer auf diese Wesenselemente. Die sämtlichen Arten des Kontrastes
nehmen, wie schon gesagt, unter den Mitteln der witzigen Darstellung
einen hervorragenden Platz ein: so der Kontrast des Mittels
gegen den Zweck (auf diesen basiert Jean Paul seine Gesamtdefinition
des Komischen, welches nach ihm „eine sinnlich angeschaute Zweckwidrigkeit“
ist), oder der der Erhabenheit und Nichtigkeit (worauf Th. Vischers
Definition hinausläuft), oder zwischen Erwartung und Aufschluß, Absicht
und Erfolg, Ursache und Wirkung. Ebenso gehört zu diesen Mitteln
das Verfahren ein Einigungsmoment für das Unzusammengehörige oder
Widersinnige aufzustellen, „zwischen Unähnlichem das Ähnliche aufzufinden“
(was mitunter als die alleingültige Definition des Witzes acceptiert
ist).1 Unter den Arten dies letztere Verfahren ins Werk zu setzen hat
auch das Wortspiel seinen Platz. Ein Erweis für die Richtigkeit und
Allgemeingültigkeit der einfachen aristotelischen Erklärung des Lächerlichen
liegt aber darin, daß auch bei diesem Verfahren der Zusammenstellung
des Heterogenen
unter einem Gesichtspunkt wirklicher oder scheinbarer
Gleichartigkeit
der eigentliche Witz nur da vorhanden ist, wo
es als Mittel, angewandt ist eine Fehlerhaftigkeit oder Häßlichkeit ─
einen Defekt also an der zukommenden Form ─ augenscheinlich zu
machen. Als Beispiel diene die witzige Bemerkung Börnes: „Als
Pythagoras seinen Lehrsatz erfunden hatte, opferte er eine Hekatombe:
seitdem zittert jeder Ochs, so oft eine neue Wahrheit entdeckt wird;“
oder wenn Schiller von der Poesie der Minnesänger sagt: „es sei hier
immer und ewig der Winter, der geht, der Frühling, der kommt, und
die lange Weile, die bleibt;“ und wenn auf einen Politiker, der seiner
Thätigkeit entsagend über den Ocean ging, das Wortspiel gemacht wurde:
„er wollte lieber überseeisch als überflüssig werden,“ ein Beispiel, das
besonders deutlich zeigt, wie die Qualität des Lächerlichen von dem Urteil
über das vorhandene Hamartema abhängt; denn Bemerkungen wie diese
können nur den über die jedesmal betroffene Person oder Sache entschieden
negativ Urteilenden komisch erscheinen. Freilich kann man sich
über diesen Sachverhalt leicht täuschen, da es eine große Menge sogenannter
„Witze“ gibt, welche das Mittel zum Zwecke machen und die
Fertigkeit des Verfahrens als bloßes äußerliches Spiel verwenden: der

1
Vgl. hierzu Th. Vischer, Über das Erhabene und Komische, ein Beitrag zu
der Philosophie des Schönen, 1837, S. 198 ff.
|#f0254 : 236|

Übergang zu dieser Gattung liegt schon da, wo die witzige Wendung
es mit der Wahrheit nicht genau nimmt, sondern um nur sich äußern
zu können, dieselbe auch gelegentlich auf den Kopf stellt. Dem bloßen
Spiel aber mit den Mitteln des Witzes fehlt die eigentliche komische
Kraft, sie sind innerlich leer, wirken ganz allein durch die Überraschung
und fallen leicht ins Alberne. Und auch hier kann man noch das
Hamartema als das Grundelement der lächerlichen Wirkung nachweisen:
diese Spiele des Scharfsinnes nehmen am liebsten die Form der
Rätselfrage an, die Wirkung des Lächerlichen, das Lachen selbst tritt
aber stärker bei dem Wissenden als bei dem Ueberraschten ein, zum deutlichen
Zeichen, daß der dabei zu Tage tretende Mangel an Findigkeit,
der das bei der Lösung ganz leicht und einfach Erscheinende zu erfassen
hinderte, für beide Teile das eigentlich Lächerliche ist. Die beliebten
Vexierfragen nach der Ähnlichkeit und den Unterschieden ganz heterogener
Dinge sind dieser Art, sie entbehren fast immer jeden Jnhalts. Dagegen,
wenn von einem modernen Dichterkomponisten gesagt wird, „er war
größer als Beethoven und Goethe, denn er komponierte besser als Goethe
und dichtete besser als Beethoven,“ so liegt darin wirkliche vis comica
für die Verehrer des Mannes wie für seine Verächter, freilich für diese
mehr als für jene.


Ein andres ist es, wenn das Spiel mit der Form des Lächerlichen
sich der phantastischen Hyperbel bedient: dann fällt es nicht mehr
unter das reine Verstandesurteil, sondern gehört einer ganz andern
Gattung zu.


Nach allem, was im Obigen über das Verhältnis des moralischen
und des Verstandesurteils zu dem Wesen des Lächerlichen gesagt ist,
zeigt sich evident die Richtigkeit des Goetheschen Spruches: „Der Verständige
findet fast alles lächerlich, der Vernünftige fast
nichts.
“ Mängel gibt es überall, der vorwiegend mit dem Verstande
Urteilende bemerkt sie alle und deshalb sieht er die Welt unter dem
Gesichtswinkel des Lächerlichen an; der vorwiegend moralisch Urteilende
schätzt vor allem die Dinge nach ihrer Güte, wie ihre Vorzüge ihn erfreuen,
so betrüben ihn ihre Mängel. Nun ist freilich jede von diesen
beiden Arten des Urteils einseitig und im Grunde niemals die eine ganz
ohne die andere vorhanden; es ist klar, daß aus der Vereinigung beider,
wenn beide in hohem Maße ausgebildet sind, die vollständigste und
vollendetste Urteilsweise hervorgehen muß: es ist die des Humors, doch,
wohlgemerkt, nur die humoristische Urteilsweise, noch nicht die humoristische
Gesinnung oder gar die Kraft der humoristischen Darstellung, obwohl
beide natürlich nicht ohne jene vorhanden sein können.

|#f0255 : 237|


Es ist oben gesagt worden, daß das Lachen zu den freudigen Dingen
(ἡδέα) gehört und als solches immer mit einer Thätigkeit als deren
Begleiterscheinung und Resultat verbunden ist. Jn welcher Weise das
bei dem Lächerlichen des Verstandesurteils zutrifft, ist klar. Primus
sapientiae gradus est falsa intelligere: während aber sonst ein jedes
Verstandesurteil, welches das Falsche erkennt, mit Mühe verbunden ist,
durch welche die Freude an der Erkenntnis erkauft werden muß, ist es
die Natur des Lächerlichen, daß sie die Thätigkeit des Verstandesurteils
ganz ohne Mühe, unmittelbar und ohne Erwägung von
Gründen
erfolgen läßt, daß es also ganz dasselbe leistet, was
sonst nur bei dem ästhetischen Urteil geschieht, aber auf verschiedene
Weise.
Es ist nicht richtig, was Goethe dem Lächerlichen
überhaupt prädiciert, daß der Kontrast auch bei dem Verstandes=
Lächerlichen
für die Sinne“ in Verbindung gebracht werde: es ist
die geschickte und reine ─ d. i. witzige ─ Setzung des Fehlerhaften
und Deformen als solchen genügend, um die unmittelbare und mühelose
Verstandesentscheidung zu bewirken und damit eine der ästhetischen ganz
ähnliche aber doch von ihr verschiedene Freude. Deshalb ist auch das
Verstandes-Lächerliche sehr wohl in der Kunst zu verwenden, ohne doch
ihr im Grunde zugehörig zu sein.


Diese Art von Freude, welche aus der blitzartigen Erleuchtung, die
durch das Verstandes-Lächerliche bewirkt wird, resultiert, ist die reine
Freude daran: wie vielfache und höchst verschiedenartige Beimischungen
sich aber derselben zugesellen können, liegt auf der Hand. Zunächst diejenige
Art von Freude, die oft als der eigentliche Grund der Freude
am Lächerlichen bezeichnet ist: die Freude an der Uberlegenheit des
Urteilenden. Man sieht, wie sehr mit Unrecht. Ebenso die zahllosen
Nüancen, die sich der Schadenfreude nähern, der Befriedigung an der
Bekräftigung individuell erwünschter und geteilter Ansichten, Standpunkte,
Überzeugungen, an der Bekämpfung individuell mißliebiger, verhaßter!


Nun aber, wenn es heißt: primus sapientiae gradus est falsa
intelligere, so lautet es weiter: secundus vera cognoscere; und auch
dieser zweite Schritt zur Weisheit, die Erkenntnis der Wahrheit,
kann durch jenen blitzartig aufleuchtenden Schein des Lächerlichen ermöglicht
werden. Es wäre die höchste und richtigste Art des Lächerlichen,
die beides zugleich bewirkte; denn, wie es neben den vielen falschen
Arten sich zu freuen eine richtige gibt (ὀρθῶς χαίρειν), so gibt es
neben dem „richtigen Lachen“ und dem wahrhaft Lächerlichen
sehr viele, mehr oder minder verkehrte Abarten davon. Vielen erscheint
auf ihrem Standpunkte gerade das Richtige als fehlerhaft und darum |#f0256 : 238|

lächerlich, während ihnen das Fehlerhafte und Lächerliche vielleicht Verehrung
oder doch wesentliches Jnteresse einflößt. „Durch nichts bezeichnen
daher die Menschen mehr ihren Charakter als durch das, was
sie lächerlich finden“, wie einer der Goetheschen Sprüche lautet.1 Es
ist die höchste Kraft des echten Witzes durch das Vermögen der Darstellung
das wahrhaft Fehlerhafte und Deforme so evident zu machen,
daß er durch die reine Leuchtkraft des Lächerlichen den Nebel der
subjektiven Vorurteile und individueller Neigung und Abneigung siegreich
durchdringt. Wie sehr dazu die Ausscheidung alles Schmerzlichen, Verletzenden,
schädlich auch nur Erscheinenden notwendig ist, um die Reinheit
jener Leuchtkraft nicht zu trüben, braucht nicht wiederholt zu werden.


So reinigend und kräftig die Darstellung dieses wahrhaft Lächerlichen
wirkt und so wahrhaft erfreuend sie ist, so trügerisch, ja mitunter
verderblich irreführend, ist der falsche Schein desselben, obwohl auch
dieser durch die bloße Form der Darstellung eines, immerhin an
sich falsch gesehenen,
Fehlerhaften und Deformen als solchem noch
die Freude an der unmittelbar und mühelos erfolgenden Urteilsthätigkeit
hervorruft. Ein nicht geringer Teil des Heineschen Witzes ist ganz
von dieser Art.


Dagegen wird dem ganz Urteilslosen oder dem dieser Thätigkeit
Abgewandten in der Selbstgefälligkeit seines Unvermögens leicht bei dem
geringfügigsten Anlaß die behagliche Täuschung sich einstellen, als sei er
überraschend erleuchtet, oder auch ohne allen Grund die Vorstellung, er
habe Gelegenheit zu scharfsinniger Erkenntnis gefunden. Diese Klasse
von albernen Thoren steht weit unter denen, für die das Lachen der
Ausdruck des bloßen Wohlbefindens ist, und welche Goethe im Sinne
hat, wenn er sagt: „Der sinnliche Mensch lacht oft, wo nichts
zu lachen ist. Was ihn auch anregt, sein inneres Behagen
kommt zum Vorschein.
2 Dieses Lachen ist von einer ganz andern
Art als das dem Verstandes-Lächerlichen entspringende; es ist nur zu
verstehen und zu erklären aus dem Zusammenhange mit demjenigen
Lächerlichen, welches auch in der Poesie seinen Platz, und zwar einen
Ehrenplatz hat. Dieses ist das dem ästhetischen Urteil unterworfene,
das Ästhetisch-Lächerliche.


Wenn man sich des Kantschen Ausdrucks „ästhetisches Urteil“ bedient,
so ist es erforderlich, sich dabei sorgfältig zu erinnern, daß diese
Bezeichnung eine uneigentliche ist. Ein Urteil, bei dem das Bewußtsein

1
Sprüche: Ethisches V, Nr. 413.
2
Sprüche: Ethisches V, Nr. 415.
|#f0257 : 239|

der Gründe, nach denen es erfolgt, absolut ausgeschlossen sein soll, ist
im Grunde keins, die Thätigkeit des „Urteilens“ findet dabei eben nicht
statt. Die Bezeichnung ist von der Analogie hergenommen, daß von
zweien oder mehr Empfindungen, die bei einem Anlasse möglich wären,
die eine wirklich eintritt, also eine Entscheidung für dieselbe getroffen
wird. Der Unterschied aber, um dessentwillen jene Bezeichnung doch
wohl besser vermieden würde, liegt darin, daß ein Schwanken, eine
Wahl zwischen jenen möglichen Empfindungen bei dem sogenannten
„ästhetischen“ Urteil nicht allein nicht angenommen wird, sondern seiner
Natur nach bei ihm nicht vorhanden sein darf. Jn dem unmittelbar,
ohne Jnteresse, ohne Gründe, von selbst mit Bestimmtheit erfolgenden
Eintreten der Empfindung ist das, was Kant das ästhetische Urteil
nennt, gegeben. Dieses so beschaffene, unmittelbare und bestimmte Eintreten
der Empfindung ist, außer von der Natur der „ästhetischen
Wahrnehmung, welche den Anlaß gibt, von zwei subjektiven Faktoren
abhängig: von der Empfindungsanlage des Wahrnehmenden (seiner
δύναμις παθητική) ─ nach welcher er zu dieser oder jener Art zu
empfinden von Natur mehr oder weniger geneigt ist ─ und von der
durch Gewohnheit, Erziehung, Bildung, überhaupt durch die Gesamtentwickelung
erworbenen ständigen Beschaffenheit seines Empfindens
(seiner ἕξις παθητική). Diese letztere ist die Grundlage für die im
Entschließen und Handeln sich äußernde Gesinnungsweise und Gemütsart,
das Ethos: es wird also, ebenso wie das Handeln, so auch die
ästhetische Urteilsweise ein Kennzeichen des in einem Menschen
vorhandenen Ethos sein.


Es fragt sich nun, wie dieses ästhetische Urteil sich dem Lächerlichen
gegenüber verhält. Es wäre also die unmittelbar und ohne
Bewußtsein der Gründe eintretende Empfindung einer Fehlerhaftigkeit
oder Deformität, die weder Schmerz noch Schaden mit sich bringt. Wie
aber steht es mit dem Angenehmen, dem Freudigen dieser Empfindung?
Bei dem entsprechenden Verstandesurteil lag dasselbe in der unmittelbar
und mühelos ─ und deshalb immer überraschend ─ gewonnenen
Klarheit des Erkennens, welche mit der Konstatierung des Fehlerhaften
als solchem notwendig verbunden ist: mit dieser Thätigkeit muß, je reiner
sie ist, in desto höherem Grade die Erscheinung der Freude verknüpft sein.
Von dieser Erkenntnisfreude kann bei dem ästhetischen Urteil nicht die
Rede sein, denn es ist ja kein eigentliches Urteil; es handelt sich bei ihm
keineswegs um das Wahre und Falsche, Verkehrte oder Rechte, sondern
um das Wohlgefällige oder Mißfällige, das Unangenehme,
Widrige
oder Angenehme, Erfreuliche: denn einerseits unterscheiden |#f0258 : 240|

sich die Empfindungen selbst untereinander nach diesen Kategorien,
andrerseits kann eine große Zahl von ihnen je nach ihren verschiedenen
Graden und Beschaffenheiten der einen oder der andern dieser Kategorien
zugehörig sein, so die Furcht und das Mitleid, selbst der Zorn, denn es
gibt auch eine berechtigte und wohlthuende Art des Zürnens.


Es gilt also den anscheinenden Widerspruch zu vereinigen, daß die
Empfindung des Fehlerhaften und Deformen, die an sich doch eine mißfällige
ist, zugleich eine erfreuliche sei, denn als eine solche muß die
Empfindung des Lächerlichen doch notwendig vorausgesetzt werden.
Die Lösung ist auf demselben Wege zu finden wie vorher. Das Gute,
Richtige, Übereinstimmende als solches, insofern es Gegenstand des
ästhetischen Urteils wird,
d. h. also, sobald es als solches
unmittelbar empfunden wird,
bringt die wohlgefällige Empfindung
direkt hervor, es erregt direkt die Freude: wir nennen es
dann das Schöne.
Genau so definiert es Aristoteles im neunten
Kapitel des ersten Buches seiner Rhetorik: καλὸν μὲν οῦν ἐστὶν, \̔ο \̓αν
ἀγαθὸν \̓ον ἡδὺ ᾖ, ὅτι ἀγαθόν d. h.: „das Schöne ist dasjenige
Gute, welches als solches ein Gegenstand freudiger Empfindung
ist,
“ da nach einer andern Definition des Aristoteles „die Freude
bei der bewußten Wahrnehmung einer in uns vorgehenden Empfindung
stattfindet“ ─ vgl. Rhet. I. c. 11 (1370 a. 27): ἐπεὶ δ' ἐστὶ τὸ
ἥδεσθαι ἐν τῷ αἰσθάνεσθαί τινος πάθους
─.


Wenn nun, indirekt durch die Darstellung des Gegensatzes zum
Guten, also des ἁμάρτημα und ἆισχος, des Fehlerhaften und Deformen,
für die Empfindung dasselbe Resultat erreicht werden soll, nämlich die
Erregung der Freude beim Empfinden, so kann das offenbar
nur unter zwei Bedingungen geschehen, die den bei der Darstellung des
Verstandes-Lächerlichen geltenden völlig analog sind: das Fehlerhafte
und Deforme muß mit Bestimmtheit, unmittelbar und unzweifelhaft
als solches empfunden werden
─ dann wird in
jedem Falle ebenso unmittelbar und untrennbar damit eine Klärung
des Empfindens
verbunden sein, die Gewißheit der wohlgefälligen
Empfindung des entsprechenden Guten als solchem,

der wirkliche oder doch vermeintliche Gewinn der Sicherheit des richtigen
ästhetischen Urteils; und das unmittelbar und mühelos gewonnene Bewußtsein
der Ausübung des rechten ästhetischen Urteils, des zweifellos
richtigen Empfindens muß seinerseits notwendig von der Erscheinung
der Freude begleitet sein. Sodann muß die Darstellung des Fehlerhaften
und Deformen als solchen rein sein, sie muß weder Schmerz
noch Schaden verursachen ─ das bedeutet auf dem Gebiete des ästhe= |#f0259 : 241|

tischen Urteils, sie muß in keiner Weise die Empfindung beschweren,
verletzen oder beleidigen, d. h. weder Unbehagen, Widerwillen oder gar
Ekel, noch Besorgtheit, Betrübung, Furcht oder Mitleid hervorrufen.


Damit wäre die Regel für die ästhetische Darstellung des Lächerlichen
gegeben: es bleibt nur die Hauptfrage übrig, auf welche Weise
das Lächerliche überhaupt ein Gegenstand der ästhetischen Beurteilung
wird. Es ist klar, daß das nur geschehen kann, wenn durch die Anschauung
der Fehlerhaftigkeit oder Deformität des lächerlichen Gegenstandes
die entsprechende Empfindung unmittelbar erweckt wird. Jn der
bildenden Kunst erfolgt die Nachahmung der Empfindung des
Lächerlichen
also vermittelst der Nachbildung von Körpern, ihrer Stellung
und ihres Ausdrucks; in der Poesie ist, da die Beschreibung solcher
Körper keine hinreichend deutliche Anschauung gewähren kann, um für
sich allein
jene Nachahmung zu erzielen, das einzig dazu vorhandene
Mittel die Erzählung oder Darstellung von Handlungen,

welche die Eigenschaften des ästhetisch Lächerlichen in der angegebenen
Weise in sich vereinigen. Nun wird, an und für sich genommen,
die Empfindung durch jede an den Handlungen wahrgenommene
Fehlerhaftigkeit oder Deformität verletzt; weil aber die Wirkung des
Lächerlichen allein unter der Bedingung zustande kommt, wenn es als
solches rein dargestellt und empfunden wird, so stellt sich jene Hauptfrage,
wie das Lächerliche ein Gegenstand poetischer Darstellung und
somit ästhetischer Beurteilung wird, dahin: durch welche Mittel wird
bei der Erzählung oder Darstellung von Handlungen das
Fehlerhafte und Deforme derselben für die Empfindung von
dem Eindrucke des Schmerzlichen oder Schädlichen, des Verletzenden
oder Widrigen befreit?


Vor allem müssen bei einer Handlung, welche die Wirkung des
Lächerlichen hervorbringen soll, die Empfindungen der Furcht und des
Mitleids ausgeschlossen sein: sie muß daher erstens in der Hauptsache
einen glücklichen Ausgang haben und auch während ihres Verlaufes
dürfen Befürchtungen des Gegenteils entweder überhaupt gar nicht oder
doch nur in geringem Maße aufkommen. Sofern aber dennoch im Verlauf
oder Ausgang für einen der Beteiligten eine Schädlichkeit oder auch
nur die Befürchtung einer solchen entsteht, so muß dieselbe derart behandelt
sein, daß die Mitleids-Empfindungen dabei aufgehoben werden.
Das geschieht einmal dadurch, daß der Geschädigte als des entstehenden
Nachteils vollauf schuldig dargestellt wird und zweitens dadurch, daß
dieser Nachteil kein verderblicher ist, d. h. nicht so schwer, daß durch
denselben das allgemein menschliche Mitgefühl rege gemacht wird, welches |#f0260 : 242|

Aristoteles die φιλανθρωπία nennt, und welches auch dem Verbrecher
noch gezollt wird, der seine verdiente Strafe erleidet. Jnsoweit sind also
die Regeln für die Komposition komischer Handlungen denen der tragischen
Darstellung gerade entgegengesetzt, auch in der Hinsicht, daß zur Erregung
der spezifisch tragischen Empfindungen die Handlung von entsprechender
Größe und Bedeutung sein muß, wogegen die komische Handlung von
minderer Bedeutung sein und sich an geringere Jnteressen knüpfen muß;
was nicht ausschließt, daß sie zeitweise Einzelnen der bei der Handlung
Beteiligten größer erscheinen können. So z. B. sieht in Lessings Minna
der Major Tellheim die Lage sehr ernst an, während für den Zuschauer
von Anbeginn und während des ganzen Verlaufs die Verwickelung als
eine unbedeutende, leicht zu lösende vorliegt und schlimme Befürchtungen
gar nicht in Frage kommen.


Die Fehler gegen diese Hauptgesetze sind verhältnismäßig leicht zu
vermeiden, und doch zeigt sich die in betreff der hier entscheidenden
Empfindungsweise geltende Anschauung nach Zeitverhältnissen und nationaler
Eigenart sehr wesentlich modifiziert, wie durch das Beispiel der
größten Dichter bewiesen wird. Es darf nur an Shakespeares Shylock
und an Molières Tartuffe erinnert werden: für beide, wie für ihr
Publikum, lag eine durch die aktuellen Verhältnisse veränderte Stimmung
vor. Jm ersten Fall wurde durch das gekränkte Rechtsgefühl und die
Erbitterung über schamlosen Wucher der Faktor des allgemein menschlichen
Mitgefühls abgeschwächt; im andern durch die Gewöhnung an ein
System, wo dem Uebermaß von heuchlerischer Jntrigue und Bigotterie
eine schrankenlose Willkür gegenüberstand, das Erschreckende und Empörende
der Handlung zu Gunsten der vorwiegend lächerlichen Wirkung
herabgedrückt.


Aus einem Schwanken zwischen den Mitteln tragischer und komischer
Darstellung und einer Vermischung beider, wodurch die Wirkung der
einen und der andern verdorben und verfehlt wird, ist das sogenannte
genre sérieux hervorgegangen, auf welches näher einzugehen hier jedoch
noch nicht der Ort ist.


Weit schwerer ist es die Darstellung des Lächerlichen von der Beimischung
des Verletzenden, Widerlichen, Ekel erregenden frei zu halten.
So entschieden und untrüglich ein entwickeltes und geläutertes Empfindungsvermögen
durch die seichte, frostige Alltagsnarrheit, Schalheit,
Albernheit, Gemeinheit sich verletzt fühlt, so schwierig ist es mit Bestimmtheit
festzustellen, wo hier die Grenzen liegen, welche nicht überschritten
werden dürfen.


Das entscheidende Kriterium, aus welchem hier alle Bestimmungen |#f0261 : 243|

herzuleiten sind, ist, daß das Lachen, sofern es die Kunst sich zum Zweck
setzt, ein freudiger Affekt ist, seiner Art und seinem Anlaß nach von
dem Lachen und dem Lächerlichen des gemeinen Lebens oft ebenso verschieden
wie das bloß Traurige und die entsprechenden niederdrückenden
Affekte von dem Tragischen und der läuternden und erhebenden Empfindung
desselben. Ganz in Übereinstimmung mit der Aristotelischen Kunstlehre,
die überall ein ὀρθῶς χαίρειν ─ ein richtiges Freuen
als Kunstwirkung ins Auge faßt, verlangt Lessing von der komischen
Kunst, daß sie „richtiges Lachen“ hervorbringe. Ein solches kann nur
aus dem richtigen Empfinden des Positiven und Negativen im Betragen
und Handeln hervorgehen und muß als solches mit Freude verbunden
sein. Nur derjenige, welcher das Positive im Betragen und Handeln
als solches richtig, also wohlgefällig, empfindet, wird ebenso mit Sicherheit,
unmittelbar und ohne kritische Überlegung das entgegengesetzte
Negative als Fehlerhaftes richtig empfinden, und diese Empfindung wird
von dem freudigen Affekt des Lachens begleitet sein. Umgekehrt wird
derjenige, welcher in solcher Weise das Fehlerhafte und Deforme als
Lächerliches richtig empfindet, ebenso auch für das Positive die sicher
und unmittelbar richtige, und zwar wohlgefällige Empfindung haben.
Die Affekte des Wohlgefallens und des Lachens stehen daher in
einer ganz ähnlichen reciproken Verbindung wie die der Furcht und des
Mitleids. Wo sie beide in der richtigen Weise auftreten, sind sie unauflöslich
aneinander geknüpft, der eine ist die notwendige Ergänzung
des andern; wo diese völlige Richtigkeit beider noch nicht erreicht ist,
dient in wirksamster Weise der eine dazu den andern zu klären und richtig
zu stellen. Je stärker das Wohlgefallen der richtigen Empfindung des
Positiven ist, desto deutlicher tritt das Negative als solches hervor und
erregt um so mehr den entsprechenden Affekt des Lachens; je kräftiger
umgekehrt das Fehlerhafte als solches mit richtigem Lachen empfunden
wird, desto untrüglicher und reiner gesellt sich demselben die rechte Freude
an dem entgegenstehenden Guten, Tüchtigen, Gesunden, Liebenswerten
als solchem hinzu. So sind die Affekte des Wohlgefallens und
des Lachens im vollen Maße geeignet ganz wie die des Mitleids
und der Furcht eine gegenseitige Katharsis zu wirken,
und zu solchem Endziel setzt die darstellende und erzählende
Kunst sie zum Zweck ihrer Wirkung.


Auch darin sind diese komischen Affekte den tragischen gleich, daß,
wie sie in der richtigen Gestalt sich völlig durchdringen, so in falscher
Beschaffenheit sich beeinträchtigen, ja ausschließen. Wer an dem Falschen,
Fehlerhaften Wohlgefallen empfindet, ist für die Empfindung des Lächer= |#f0262 : 244|

lichen, welche mit diesem Fehlerhaften als solchem verknüpft ist, natürlich
verschlossen; vielleicht wird ihm das entgegengesetzte Richtige und
Gesunde als lächerlich erscheinen, aber ein solches Lachen wird ─ eine
unausbleibliche Folge seines inneren Widerspruchs gegen die Wahrheit
und Harmonie der Dinge ─ nicht freudig und erheiternd, klärend und
befreiend sein, sondern jederzeit von den unreinen Beimischungen des
Mißwollens und Verdrusses, des Dünkels und der Eitelkeit, hochmütiger
Überhebung und mißachtender Verbitterung durchdrungen. Ebenso
wird, wer das Gesunde und Richtige, das Wohlgefällige und Liebenswerte
als Fehlerhaftes verlacht, nicht allein für die Freude daran unempfindlich
sein, sondern sein Wohlgefallen wird sich auf das Fehlerhafte
lenken, und statt eines Borns der edelsten Erquickung werden seine
Freuden ihm eine Quelle der Erkrankung und des Übels sein.


Noch weiter läßt sich die Parallele und der Gegensatz zum Tragischen
verfolgen. Der tragische Held soll uns menschlich verwandt sein
─ ein ὅμοιος ─, weder ein Bösewicht noch gänzlich schuldlos, soll er
sein Verhältnis zwar keineswegs durch eigene Schuld verdienen, wohl
aber soll dasselbe mit einem Fehler, einem Jrrtum ─ ἁμαρτία ─
seiner Handlungsweise in ursächlichem Zusammenhange stehen. Ganz
ebenso verlangt das Komische des Betragens und der Handlungsweise
einen uns Ähnlichen, der weder tadellos noch böse ist, aber umgekehrt
wie in der Tragik ist die Hamartie, das fehlerhafte Handeln, hier
nicht Mittel, sondern Gegenstand der Darstellung, und die schlimmen
Folgen desselben, welche dort der eigentliche Gegenstand der Darstellung
sind, werden hier entweder ganz abgewendet, oder bleiben doch harmlos
und dürfen nie zum Verderben ausschlagen. Die Jrrtümer, Schwächen
und Fehler des Handelns werden um so sicherer und deutlicher als
solche empfunden werden, je mehr sie von jedem andern Jnteresse in
der Darstellung gesondert gehalten werden; ein Umstand, welcher die
Erklärung dafür enthält, warum das Komische mit so großer Vorliebe
auf dem Boden des Phantastischen sich ansiedelt. Aber auch unter den
Voraussetzungen der Wirklichkeit bedarf die komische Darstellung eines
solchen Verlaufs der einfachen Handlung oder ist genötigt, sich derartiger
Verwickelungen zu bedienen, daß die möglichen schlimmen Konsequenzen
des Fehlerhaften zwar bemerkt werden, aber nicht eintreten.


Aus alledem ergibt sich als Hauptregel, daß die bösen und schlimmen
Fehlerhaftigkeiten und Deformitäten, die moralischen Vergehungen mit
ihren äußeren Folgen, nicht Gegenstände des Komischen sein dürfen:
wie die Handelnden in jedem Falle solcher Fehler sich völlig bewußt
sind, so kann ihre Darstellung auch niemals eine Klärung des Em= |#f0263 : 245|

pfindens bewirken, sondern immer nur die Beleidigung desselben. Dagegen
sind vorzugsweise diejenigen Fehlerhaftigkeiten und Deformitäten
die komischen Gegenstände, welche ihren Trägern unbewußt sind oder
von ihnen doch als solche keineswegs betrachtet werden; nur über solche
kann auch die Empfindungsweise der Wahrnehmenden im Schwanken
sein und eine unmittelbare und völlige Klärung des Empfindens wird
in Bezug auf solche jederzeit mit Freude verbunden sein. Da aber die
so Handelnden als uns menschlich ähnlich erscheinen sollen, so wird jener
Zweck in um so höherem Grade erreicht werden, wenn die so bezeichneten
Fehlerhaftigkeiten nicht schlechtweg nur als solche vorgeführt werden,
sondern im Zusammenhange mit der Gesamtheit ihres Wesens, vorzüglich
mit den positiven Seiten desselben. Es wird dadurch zugleich dem
Empfinden deutlich, wie der Handelnde in der Lage ist, sein Negatives
für ein Positives halten zu können, und es tritt zu der Darstellung des
Lächerlichen die ergänzende und klärende Darstellung des Wohlgefälligen
hinzu. Hierin liegt auch der bedeutende Unterschied, der oft nicht beachtet
wird, zwischen dem bloß Lächerlichen und dem echt Komischen,
das auch durch die deutsche Bezeichnung des Lustigen nicht
adäquat wiedergegeben wird, eher noch durch die der heiteren Darstellung.
Je mehr der Träger des Lächerlichen uns „ähnlich“ ─ ein
ὅμοιος ─ bleibt, je mehr von unserer Achtung, ja von unserer Liebe
ihm erhalten wird, jemehr somit neben dem Lachen das Wohlgefallen
in Geltung treten kann, desto reicher, tiefer und edler ist die komische
Darstellung. Nur so kann eine weiter ausgeführte komische Handlung,
sei sie episch oder dramatisch dargestellt, auf der künstlerischen Höhe
bleiben. Die technischen Forderungen der Gattung fallen übrigens dabei
mit dem allgemeinen Gesetz der poetischen Kunst, welches innere
Wahrheit der Gestalten und Übereinstimmung der Handlungen mit derselben
verlangt, zusammen: ein Charakter, der nur aus Fehlern besteht
oder in allen seinen Äußerungen nichts als nur immer denselben Fehler
aufweist, ist entweder menschlich unwahr oder, sofern im Leben eine
solche Unterjochung des Willens und des gesamten Wesens durch einen
ausschließlich herrschenden Fehler denkbar ist, erscheint er je nach der
Beschaffenheit desselben als furchtbar, mitleidswürdig, als gemein und
abscheulich, in jedem Falle als das Komische zerstörend oder unter dem
künstlerischen Niveau stehend. Kein Dichter hat ungestraft das Grundgesetz
poetischer komischer Darstellung verletzt, welches
neben der lächerlichen Wirkung als unentbehrliches Korrelat
die wohlgefällige fordert.


Anders steht die Sache, wo nicht die Haupthandlung und der |#f0264 : 246|

Hauptcharakter, sondern Nebenfiguren und Nebenhandlungen in Frage
kommen. Ganz verliert freilich jenes Hauptgesetz auch hier seine Geltung
nur in selteneren Fällen, aber wie in größeren Farbenkompositionen
auch grelle und, für sich allein angesehen, harte, ja unleidliche
Farbenwirkungen um des Kontrastes willen nicht allein gelitten, sondern
gefordert werden können, so sind in größeren komischen Dichtungen rein
negativ lächerliche Figuren und Handlungen, ja solche, die, für sich
allein genommen, ins Niedrige und Gemeine fallen, nicht allein möglich,
sondern sie können den Gesamtzweck des Dichters höchst wesentlich fördern,
sofern dasjenige, was jenem Hauptgesetz nach sonst in einer und
derselben Person und Handlung organisch vereinigt sein soll, nun hier
gleichsam als in dem großen Organismus der Gesellschaft nebeneinanderstehend
in verschiedenen Personen und Handlungen auseinandergelegt
ist, sofern also das jenen Elementen entgegengesetzte Schöne und Edle
zu rein wohlgefälliger Wirkung in innerlich fest zusammenhängender
Handlung hervortritt. Dies ist das große Geheimnis des wundervollen
Reizes der Shakespeareschen Lustspiele, ihrer klärenden und erhebenden,
ihrer echt erheiternden und im höchsten Grade das Lachen erregenden
Wirkung, ein Geheimnis, das ebenso in der Schönheit und Kraft der
Jngredienzien als in der Feinheit ihrer Mischung besteht, und welches
keiner ihm abgelernt hat. Der pfuscherhaften Nachbildungen freilich
gibt es genug.


Es verlohnt der Mühe einen Blick auf die verschiedenen Abirrungen
zu werfen, die nach- und nebeneinander auf dem Gebiete der komischen
Dichtung stattgefunden haben, und die am besten am Lustspiel sich verfolgen
lassen, da die epische Komik außer im Roman nur sehr wenig
kultiviert ist; es zeigt sich darin, ganz ähnlich wie bei der Tragödie
nur noch unbewußter, ein instinktives Anerkenntnis der die Komposition
gleichsam als Brennpunkte regulierenden Darstellungszwecke.


Für das Tragische sind dieselben die vereinigten Empfindungen
der Furcht und des Mitleids. Der französische Klassicismus trennte
dieselben und bevorzugte dann weit überwiegend die zum Schrecken
(terreur) entstellte Furcht als Regulativ für die Komposition seiner
Tragödien. Jn dem dagegen sich Bahn brechenden Rückschlag der
bürgerlichen Tragödie der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts wird
umgekehrt das vereinzelte Mitleid, das eben darum zum peinlichen
Mitgefühl
mit fremdem unverschuldeten Elend entstellte, zum formgebenden
Faktor; und als nun Lessing, auf Aristoteles zurückgehend,
die richtigen Vorstellungen von der tragischen Furcht und dem tragischen
Mitleid wieder herstellt, begeht er doch den bedeutenden Fehler, die |#f0265 : 247|

Furcht als im tragischen Mitleid schon enthalten aufzufassen und so
gewissermaßen, wenn auch unabsichtlich, als selbständigen, tragisch wirkenden
Faktor, wenn nicht zu eliminieren, so doch sehr verhängnisvoll
einzuschränken. Schiller macht in seiner Theorie des Tragischen
diesen Fehler nicht nur mit, sondern er verstärkt ihn erheblich und macht
ihn geradezu zum Princip. Goethe freilich ging wenig beirrt durch die
Theorie den Weg seines Genies, und auch in Schiller war die poetische
Kraft stärker als der Fehler des Systems: dennoch, wenn beide hinter
der tragischen Wucht der Alten und Shakespeares zurückstehen, kann die
Theorie diesen Mangel nur aus der Schwächung jenes zweiten Hauptfaktors
der tragischen Wirkung, aus der eingeschränkten Macht= und
Geltungssphäre der tragischen Furcht innerhalb der Komposition der
Tragödie erklären. Vollends bei den bloßen Talenten und den unteren
Graden derselben geht aus diesem Grundfehler der Theorie eine abermalige
völlige Begriffs- und Geschmacksverwirrung hervor: für lange
Zeit ist die tragische Bühne von dem bloßen Bestreben berrscht, den
Jammer darzustellen und die Rührung zu erwecken.


Dieselbe Rolle spielen, gleichsam als die Pole der Bewegung, in
der Komödie die Empfindungen des Lachens und des Wohlgefallens
(γέλως und ἡδονή). Bei Shakespeare ihre untrennbare Vereinigung
und die völlige gegenseitige Durchdringung ihrer Wirkungssphären:
dagegen bei Molière, dem Meister der französischen klassischen
Komödie, das entschieden einseitige Vorherrschen des einen Faktors des,
lediglich negativen, Lächerlichen, am augenfälligsten in seinem Avare,
aber auch sonst, wenn auch nicht so völlig ungemildert, durchweg. Jn
dieser einseitigen Gattung geht das heitere Lachen entweder in das mehr
oder minder dem satirischen Tadel (ψόγος) sich nähernde Verlachen über
oder in die ausgelassene Hingabe an das Lächerliche der Karikatur,
des Skurrilen, Burlesken, Possenhaften; nur einmal ist Molière über
dieses Genre entschieden hinausgegangen, im Misanthrope, aber bei aller
Wahrheit und Feinheit dieses in vieler Beziehung vortrefflichen Stückes,
und obwohl in dem Hauptcharakter die positiven Seiten durchaus überwiegen,
ist die Empfindung, mit der die Handlung den Zuschauer entläßt,
keineswegs die gehobene, geklärte Stimmung, welche das echte
Lustspiel erzeugt, sondern ein Schwanken zwischen Mißbilligung und
Mitleiden und ein Unwille, welcher der pessimistischen Resignation des
Titelhelden fast ein Recht zuzugestehen geneigt ist. An den Ernst dieses
Stückes vornehmlich hat die im achtzehnten Jahrhundert in Frankreich
einsetzende Entwickelung des genre sérieux angeknüpft: man machte
nun Komödien, in denen das negativ Lächerliche fast ganz verschwand |#f0266 : 248|

und gegenüber dem Druck einer verwirrenden oder feindseligen Jntrigue
oder Verwickelung nur die positiven Eigenschaften sich zu entfalten Gelegenheit
erhielten, also statt des reinen und heiteren Wohlgefallens
Rührung erzielt wurde. Jn der That war die Comoedia commovens
oder, wie man sie spottweise nannte, comédie larmoyante von dem
bürgerlichen Trauerspiele fast einzig durch den glücklichen Ausgang
unterschieden. Erst Lessing hat in seiner Minna von Barnhelm mit
der Weisheit des Meisters wieder die beiden Träger des echten Lustspiels,
das Lächerliche und das Wohlgefällige, zur Verschmelzung zu
bringen gesucht; freilich läßt sich nicht leugnen, daß er die komische
Kraft der Shakespeareschen Lustspiele nicht erreicht, und daß die Zaubergewalt
ihrer reinen Schönheit der Lessingschen Dichtung bei all ihrem
Herzerfreuenden und Gemüthstiefen versagt ist.


Blickt man dagegen zurück auf das vor=Lessingsche deutsche Lustspiel,
so zeigt sich da die ganze Niedrigkeit und Ärmlichkeit der ausschließlich
negativen Auffassung des Komischen. Zu geschweigen von der
widerlichen Mischung aus Plattheit und Gemeinheit in den Produkten
des Gottschedschen Kreises, seiner „geschickten Freundin“ selbst und eines
Quistorp, Mylius, Krüger: welche Schalheit und Flachheit auch in den
Stücken eines Elias Schlegel, der alle jene so weit überragt! Selbst
in dem weitaus besten derselben, welches sogar die ersten Spuren der
Erhebung aus jener Dürftigkeit der komischen Darstellung enthält und
wohl um dessentwillen selbst von der Kritik eines Moses Mendelssohn
und Lessing so hoch erhoben wurde, in dem „Triumph der guten
Frauen,
“ ist die Wirkung des Lächerlichen zum größten Teil in die
Darstellung grober moralischer Vergehungen gelegt; die innere Wahrheit
fehlt in den Voraussetzungen wie im Verlauf der Handlung, und die
Art, wie die Verletzungen der ehelichen Treue, um welche die Handlung des
Stückes sich dreht, eben nur ins Licht gesetzt und wie sie sodann als
ausgeglichen angesehen werden, bewirkt weit eher Mißstimmung als
Belustigung.


Noch unter dem Niveau Elias Schlegels und wenig über dem seiner
Vorgänger steht die Gattung, als deren Vertreter man am besten
Gellert bezeichnen kann. Mit einer ebenso schalen und dürftigen Art
des Lächerlichen, das er überall nur unter dem Gesichtspunkt des sittlich
Fehlerhaften erblickt, ist er bestrebt ein positives Element zu verbinden,
als welches er natürlich von seinem Standpunkte nur das Moralische
ansehen kann. Wie das Absurde und sittlich Häßliche für das
Lächerliche, so tritt die Moral als Surrogat für das Wohlgefällige ein,
aus beidem aber ergibt sich eine Kompositions- und Darstellungsmanier, |#f0267 : 249|

die wie keine andere einer Anschauungsweise, welche in der Poesie vor
allem das Lehrhafte und moralisch Bessernde suchte, entgegenkam: daher
die große Vorliebe der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, die
in einzelnen Ausläufern noch bis gegen das Ende desselben sich erstreckte,
für die dramatische und für alle Arten der epischen Darstellung des
Komischen.


Auch Lessings Theorie ist noch in dieser moralischen Betrachtung
des Komischen befangen, nicht allein in seinen Jugendschriften, wo er
im ersten Stück der theatralischen Bibliothek diese Ansicht des breiteren
ausführt,1 sondern auch in der Dramaturgie, wo an den wenigen

1
Vgl. das von ihm der Übersetzung von Chassirons und Gellerts Abhandlungen
„Über das rührende oder weinerliche Lustspiel“ hinzugefügte Nachwoert (L. M. IV,
S. 156 ff.), welches außer diesem negativen aber auch ein bedeutendes positives Jnteresse
einzuflößen geeignet ist. Es heißt dort: „Jch getraue mir zu behaupten, daß nur dieses
allein wahre Komödien sind, welche sowohl Tugenden als Laster, sowohl Anständigkeit
als Ungereimtheit schildern, weil sie eben durch diese Vermischung ihrem Originale, dem
menschlichen Leben, am nächsten kommen. Die Klugen und Thoren sind in der Welt
untermengt, und ob es gleich gewiß ist, daß die ersteren von den letzteren an Zahl
übertroffen werden, so ist doch eine Gesellschaft von lauter Thoren beinahe ebenso unwahrscheinlich
als eine Gesellschaft von lauter Klugen. Diese Erscheinung ahmt das
Lustspiel nach, und nur durch die Nachahmung derselben ist es fähig, dem Volke
nicht allein das, was es vermeiden muß, auch nicht allein das, was
es beobachten muß, sondern beides zugleich
in einem Lichte vorzustellen, in
welchem das eine das andre erhebt. Man sieht leicht, daß man von diesem wahren
un deinigen Wege auf eine doppelte Art abweichen kann. Der einen Abweichung hat
man schon längst den Namen des Possenspiels gegeben, dessen charakteristische Eigenschaft
darinnen besteht, daß es nichts als Laster und Ungereimtheiten mit keinen andern
als solchen Zügen schildert, welche zum Lachen bewegen, es mag dieses Lachen nun ein
nützliches oder ein sinnloses Lachen sein. Edle Gesinnungen, ernsthafte Leidenschaften,
Stellungen, wo sich die schöne Natur in ihrer Stärke zeigen
kann, bleiben aus demselben ganz und gar weg;
und wenn es außerdem
auch noch so regelmäßig ist, so wird es doch in den Augen strenger Kunstrichter dadurch
noch lange nicht zu einer Komödie. Worinne wird also die andre Abweichung
bestehen? Unfehlbar darinnen, wenn man nichts als Tugenden und anständige Sitten
mit keinen andern als solchen Zügen schildert, welche Bewunderung und Mitleid erwecken,
beides mag nun einen Einfluß auf die Besserung der Zuhörer
haben können oder nicht.
Lebhafte Satire, lächerliche Ausschweifungen, Stellungen,
die den Narren in seiner Blöße zeigen, sind gänzlich aus einem solchen Stücke verbannt.
Und wie wird man ein solches Stück nennen? Jedermann wird mir zurufen:
das eben ist die weinerliche Komödie! Noch einmal also mit einem Worte: das Possenspiel
will nur zum Lachen bewegen; das weinerliche Lustspiel willnur
rühren; die wahre Komödie will beides
... die wahre Komödie allein
ist für das Volk, und allein fähig einen allgemeinen Beifall zu erlangen
und folglich auch einen allgemeinen Nutzen zu stiften.
Was sie
|#f0268 : 250|

Stellen, welche von der Komödie handeln, gleichfalls ihre „nützliche“,
bessernde Wirkung betont ist.1 Doch kann es dem tiefer Blickenden
nicht entgehen, daß der Tribut, den Lessing hier seiner Zeit zollte, mehr
im Ausdruck als in der Sache liegt: wie sehr er im Grunde der grob
moralischen Auffassung abhold war, und wie sehr es ihm auch in der
Komödie vor allem auf die Handlung als solche ankam, zeigt auch die
folgende Stelle im 99. Stück der Dramaturgie (cf. L. M. VII, S. 407):

bei dem einen nicht durch die Scham erlangt, das erlangt sie durch die Bewunderung;
und wer sich gegen diese verhärtet, dem macht sie jene fühlbar. Hieraus scheint die
Regel des Kontrastes oder der Abstechung geflossen zu sein, vermöge welcher man
nicht gern eine Untugend aufführt, ohne ihr Gegenteil mit anzubringen; ob ich gleich
gerne zugebe, daß sie auch darinne gegründet ist, daß ohne sie der Dichter seine Charaktere
nicht wirksam genug vorstellen könnte.“
1
Die Hauptstellen sind die im 28. und 29. Stück der Dramaturgie (L. M. VII,
S. 121, 122): „Wo steht es denn geschrieben, daß wir in der Komödie nur über moralische
Fehler, nur über verbesserliche Untugenden lachen sollen? Jede Ungereimtheit,
jeder Kontrast von Mangel und Realität ist lächerlich.
Aber lachen und
verlachen ist sehr weit auseinander. Wir können über einen Menschen lachen, bei Geegenheit
seiner lachen, ohne ihn im geringsten zu verlachen. So unstreitig, so bekannt
dieser Unterschied ist, so sind doch alle Schikanen, welche noch neuerlich Rousseau gegen
den Nutzen der Komödie
gemacht hat, nur daher entstanden, weil er ihn nicht
gehörig in Erwägung gezogen. Molière, sagt er z. E., macht uns über den Misanthropen
zu lachen, und doch ist der Misanthrop der ehrliche Mann des Stückes; Molière
erweiset sich also als einen Feind der Tugend, indem er den Tugendhaften verächtlich
macht. Nicht doch; der Misanthrop wird nicht verächtlich, er bleibt, wer er ist, und
das Lachen, welches aus der Situation entspringt, in die ihn der Dichter setzt, benimmt
ihm von unserer Hochachtung nicht das geringste.“ ─ ─ Und ferner: „Die Komödie
will durch Lachen bessern;
aber nicht eben durch Verlachen; nicht gerade diejenigen
Unarten, über die sie zu lachen macht, noch weniger bloß und allein die, an welchen
sich diese lächerlichen Unarten finden. Jhr wahrer allgemeiner Nutzen liegt
in dem Lachen selbst; in der Übung unserer Fähigkeit das Lächerliche
zu bemerken; es unter allen Bemäntelungen der Leidenschaft und der
Mode, es in allen Vermischungen mit noch schlimmeren oder mit guten
Eigenschaften, sogar in den Runzeln des feierlichen Ernstes leicht und
geschwind zu bemerken.
Zugegeben, daß der Geizige des Molière nie einen Geizigen,
der Spieler des Regnard nie einen Spieler gebessert habe: eingeräumt, daß das
Lachen diese Thoren gar nicht bessern könne: desto schlimmer für sie, aber nicht für die
Komödie. Jhr ist genug, wenn sie keine verzweifelte Krankheiten heilen kann, die Gesunden
in ihrer Gesundheit zu befestigen. Auch dem Freigebigen ist der Geizige lehrreich;
auch dem, der gar nicht spielt, ist der Spieler unterrichtend; die Thorheiten,
die sie nicht haben, haben andre, mit denen sie leben müssen; es ist ersprießlich,
diejenigen zu kennen, mit welchen man in Kollision kommen kann; ersprießlich, sich
wider alle Eindrücke des Beispiels zu verwahren. Ein Präservativ ist auch eine
schätzbare Arznei; und die ganze Moral hat kein kräftigeres, wirksameres
als das Lächerliche
.“
|#f0269 : 251|

„Jch weiß überhaupt nicht, woher so viele komische Dichter die Regel
genommen haben, daß der Böse notwendig am Ende des Stückes entweder
bestraft werden oder sich bessern müsse. Jn der Tragödie möchte
diese Regel noch eher gelten; sie kann uns da mit dem Schicksale versöhnen
und Murren in Mitleid kehren. Aber in der Komödie, denke
ich, hilft sie nicht allein nichts, sondern sie verdirbt vielmehr vieles.
Wenigstens macht sie immer den Ausgang schielend und kalt und einförmig.
Wenn die verschiedenen Charaktere, welche ich in einer Handlung
verbinde, nur diese Handlung zu Ende bringen, warum sollen sie
nicht bleiben, wie sie waren? Aber freilich muß die Handlung sodann
in etwas mehr als in einer bloßen Kollision von Charakteren bestehen.“


Da also Lessing eine bündige Theorie des Komischen und der
Komödie nicht aufgestellt hatte, und da auch Goethe und Schiller im
Lustspiel nicht Wege bahnend und Ziel weisend auftraten, so kann es
nicht Wunder nehmen, daß das einzig dastehende Beispiel der Minna
von Barnhelm der sogleich wieder eintretenden und immer zunehmenden
Verwirrung nicht wehrte; das eine Anerkenntnis freilich blieb als Ergebnis
der Gesamtentwickelung in Geltung, daß gegenüber dem negativen
Pol des Lustspiels dasselbe des positiven nicht entbehren dürfe.
Doch genügt es der beiden Hauptvertreter des nach=Lessingschen Lustspiels
zu gedenken, Jfflands und Kotzebues, um sich zu erinnern,
wie die alten Mißgriffe ihre Herrschaft behaupteten: an Stelle des reinen
Ästhetisch-Lächerlichen in den meisten Fällen das moralisch Häßliche,
Widrige oder Schale, Abgeschmackte, Kleinlich-Absurde, im besten
Falle das bloß Witzige, Verstandes-Lächerliche, an Stelle des Wohlgefälligen
das Moralisierende, vulgär Rührselige; da der Begriff der
richtigen, inneren organischen Verbindung der beiden
Grundelemente
fehlte, mit ihm die Erfassung ihrer gegenseitigen
Katharsis
als der Hauptaufgabe des Dichters, nach der Plan
und Entwickelung der komischen Handlung sich zu gestalten haben, so
trat auf beiden Seiten Entartung ein.


Damit wäre die Untersuchung über das Wesen des Komischen und
die Gesetze seiner poetischen Darstellung zu ihrem Ausgangspunkte zurückgekehrt:
so schwierig die poetische Gestaltung des echt Komischen ist,
dergestalt, daß sie nur selten, unter ganz besonders günstiger Konstellation
der bestimmenden Faktoren vollkommen gelungen ist, so sehr mußte
der mißbräuchlichen Auffassung dieser Darstellungs-Gattung diejenige
Anschauung der Poesie verwandt und günstig sein, welche während des
größten Teiles des achtzehnten Jahrhunderts allenthalben die herrschende
war.

|#f0270 : 252|


Für die Abschilderung des Fehlerhaften und Deformen boten sich
in dem rings umgebenden täglichen Leben hundert- und tausendfach die
Vorbilder, umsomehr da man ohne viele künstlerische Wahl fast alle
Arten von Fehlern für die komische Dichtung verwenden zu dürfen
glaubte. Man gewann damit wenigstens eine relative Wahrheit und
einen höheren Grad von Anschaulichkeit und Lebhaftigkeit der Erzählung;
ferner stellten sich leicht allerlei witzige Wendungen und mannigfache
satirische Anspielungen als Würze auch des an sich völlig Unschmackhaften
ein; endlich glaubte man durch Hervorhebung der Fehler, Untugenden
und Laster am besten dem großen Hauptzweck der Poesie, die
Menschen zur Besserung zu führen, dienen zu können und diesen Zweck
um so sicherer durch die ausdrückliche Beifügung der Moral und durch
möglichst grell hervorgehobene erbauliche oder rührende Züge von Rechtlichkeit,
Tugend und Edelmut zu erreichen.


Zu einer Zeit, als alle Epik so gut wie ganz erstorben war, begann
auf dem so umschriebenen Gebiete ein fleißiger Anbau, zunächst in Versuchen
von geringem Umfange, dann aber auch in weiterer Ausführung,
und indem hierbei, durch die Muster des Auslands gefördert, die Technik
des Erzählens sich vervollkommnete und die Lust daran wuchs, begann
allmählich die Erzählung der Handlung als solche, wenn auch immer
noch an die moralisierende Tendenz geknüpft, über dieselbe die Oberhand
zu gewinnen, und man gelangte auf solche Art in der Epik zu einer
Kunstübung, die, wenn sie auch von der echten Poesie noch weit abstand,
doch viele wesentliche Vorzüge derselben in sich vereinigte. Auf dieser
Stufe stellt sich in den siebziger und achtziger Jahren die eigenartig aus
feinsinniger Beweglichkeit und einer gewissen, etwas altväterisch nüchternen,
Steifheit gemischte Erscheinung Wielands dar. ──────


XV.


Die unvergleichliche Popularität Gellerts beruht auf seiner, im
Sinne der Zeit und ihres poetischen Standpunktes, überaus geschickten
Handhabung der komischen poetischen Erzählung, denn daß die
überwiegende Mehrzahl seiner Gedichte dieser Gattung zugehört und
nicht der eigentlichen Fabel, ist nach dem Vorhergehenden klar. Die
Gattung ist nicht neu: es ist die dem Geschmack der Zeit angepaßte
Einrichtung des alten „Schwankes“ des Meistersängers Hans Sachs.
Zu Grunde liegt als Stoff das Material, das an Anekdoten und einzelnen
komischen Zügen, Apophthegmen, Geschichten sich jahrhundertelang |#f0271 : 253|

angehäuft hatte und in den zahlreichen Sammlungen namentlich des
sechzehnten Jahrhunderts aufgespeichert lag, und das dem Erfindungsgeiste
des einzelnen Dichters nach allen Richtungen reichlichen Anlaß zu
Erweiterungen, Umbildungen, Nachahmungen im Sinne seiner Zeitverhältnisse
gewährte. Das Dichtungsmotiv ist hier überall, das Lächerliche
durch die Darstellung zur Geltung zu bringen. Alles kommt also
darauf an, in welcher Weise das geschieht, ob in bloß witziger Art
für den Verstand, oder in lehrhafter Absicht für die Erkenntnis, in
moralischer Tendenz für die Vernunft, um Besserung zu bewirken, oder
in künstlerischer Absicht, also der einzig poetischen Art und Weise,
für die ästhetische Beurteilung, um die wohlgefällige Empfindung, die
Freude an dem Lächerlichen als solchem zu erwecken. Nur die letzte
Art ist die echte und rein epische, da hier die Handlung nur um ihrer
selbst willen erzählt wird und nur durch sich selbst wirkt. Jn seinen
besten und noch heute verbreitetsten Stücken hat Gellert sich dieser poetischen
Art „schwankweise“ zu erzählen genähert; wie weit er gleichwohl
von den guten Mustern der Gattung entfernt bleibt, erkennt man am
besten, wenn man eine seiner bekanntesten und beliebtesten Erzählungen,
die schon bei Hans Sachs sich findet, „Der Bauer und sein Sohn“,
mit dem Original vergleicht: alle seine Änderungen bedeuten Verschlechterungen,
in jedem Detail ist die Motivierung bei Sachs feiner und
überzeugender, durchweg ist die Darstellung frischer, individueller und
unabsichtlicher, eben darum epischer und bei weitem ergötzlicher. Der
Schwank Hans Sachsens trägt die Ueberschrift: „Der verlogen Knecht
mit dem großen Fuchs
“, er sei zum Vergleich hier angeführt:


Ein edelmann in Schwabenlant,
des gschlecht und nam sie ungenant,
ein frommer man, weis und gerecht,
der hat ein verlognen reitknecht,
rumredig mit gschwülstigen worten,
die lant durchloffen an vil orten,
het auch, wie ein alt sprichwort sagt,
ein hunt durch das Welschland gejagt;
darvon tet er groß wunder jehen,
wie er het diß und jens gesehen,
darvon groß brocken er narrirt,
und log, sam wer ims maul geschmirt.
sein junkher war ein weltweis man,
tet sein rumredig lüg verstan,
sagt oft spotweis, wie mag das sein?
so schwur der knecht dann stein und bein,
solichs und solches wer geschehen, |#f0272 : 254|

er hets mit sein augen gesehen;
doch wurt er oft mit worten gfangen,
das er blib in der lug behangen.
darnach der knecht nichts fragen tet,
weil er der lug gewonet het,
doch war er sonst diensthaft durchaus.
eines tages frü ritten sie aus,
da sah der junkher in dem walt
dort laufen einen fuchsen alt
und sprach: schau, schau ein großer fuchs!
der knecht sah den und antwort flugs:
junkher, habt ir ob dem fuchs wunder?
ich bin gwest in eim lant besunder,
darinnen die füchs so groß sint
als in unserm lant ochse und rint.
der junkher sprach: da sint auf glauben
gut futtern die röck und die schauben,
wenn man im lant ein kürsner fünt,
der die belg wohl bereiten künt.
da nun der red geschwigen wart,
der edelman erseufzet hart
und sprach: Herr Got, ste uns heut bei
auf dieser straß, damit wir frei
beleiben von allerlei lügen,
auf das wir sicher kommen mügen
durch das waßer mit unserm leben,
und tu uns heut gut herberg geben.
der knecht sprach: junkher, saget frei,
wo das groß ungestüm waßer sei,
vor dem ir euch gesegnet schlecht?
der junkher sprach: hör, lieber knecht,
ein groß waßer fleußt dort von weiten,
dadurch so müßen wir heut reiten,
das hat die kraft, welicher man
denselben tag ein lug hat tan,
der muß in dem waßer ertrinken,
verderben und zu boden sinken.
der knecht erschrak ob disen worten,
und als sie ritten an den orten,
kamen sie an ein großen bach.
der knecht zu dem junkheren sprach:
o junkher, sagt, ist das der fluß,
drin ein lügner ertrinken muß?
da sagt durch list der edelman:
nein, wir sint noch gar ferr darvon.
der knecht sprach: herr, darumb ich frag,
auf das ich euch die warheit sag,
ich het mich heut weit überdacht |#f0273 : 255|

und meinen fuchs zu groß gemacht,
er war nur so groß seiner höch
als von einem hirschen das rech.1
der junkher sprach: ich bin sorglos,
der fuchs sei gwest klein oder groß;
merkt wohl des knechts heimlich grisgramen.
nachdem sie an ein waßer kamen,
da sprach der knecht: junkher, ists das
waßer, so trägt dem lügner haß?
der herr sprach: nein, das ists auch nicht.
darauf der knecht sprach: nemt bericht
des fuchsen heut noch meinethalb,
der war nit größer denn ein kalb,
auf das im waßer ich beste.
der junkher sprach: ich frag nit me
nach deim fuchs, sei groß oder klein.
nach dem kamens sie beid gemein
an ein waßer, da der knecht fragt:
ist diß das waßr, davon ir sagt
heut frü, drin die lügner ertrenken?
so ich des fuchs tu recht bedenken,
ist er nicht größer gwesen sider,
denn bei uns hir ist ein schafwider.
der junkher sprach: das waßr ists nicht.
nach dem zu vesperzeit gericht
kamen sie an ein waßer, floß
gar schnell mit wellen breit und groß.
der knecht fragt, obs das waßer wer,
darvon frü hat gesaget er.
der junkher sprach: das ist das recht.
ob dem waßer erschrak der knecht,
weil er sach weder bruck noch schif;
der angstschweiß übr sein angsicht lif,
zittert beide an füß und henden.
als sie zum waßer teten lenden,
da sagt der verlogen knecht:
mein lug muß ich bekennen schlecht,
der fuchs, den ich so groß bescheit,
der war nicht größer auf mein eit
denn der heutige fuchse alt,
den wir frü sahen in dem walt.
des schwanks lachet der junkher ser
und sprach zu seinem knecht: so schwer
ich dir, daß dieses waßer pur
hat kein ander kraft und natur
als andre waßer in der nehen,
1
Jn Oberdeutschland für Hirschkuh, Ricke.
|#f0274 : 256|

die wir vor haben heut gesehen.
darmit nam ir gesprech ein ent,
schwemmten übers waßer behent.


Die großen Vorzüge von Sachsens Dichtung im Einzelnen nachzuweisen
dürfte überflüssig sein; es sei nur auf die Feinheit hingedeutet,
mit der das Verhältnis zwischen dem „frommen, weisen und gerechten“
Edelmann und seinem „rumredig verlogenen“ Knecht exponiert ist, von
dem wir doch auch erfahren, daß „er sonst diensthaft durchaus
war; durch diesen Zug ist das Jnteresse an dem Träger des lächerlichen
Hamartema und an der Kur, die sein Herr an ihm vornimmt, um ein
Bedeutendes gesteigert; und nun gar das Geschick, mit dem dieselbe
durchgeführt ist, die kunstreiche Steigerung der Spannung, bis zuletzt
gegen Abend sie an das „rechte waßer“ kommen, das „gar schnell mit
wellen breit und groß“ einherfloß, so daß dem Knecht, „weil er sach
weder bruck noch schif, der angstschweiß über sein angsicht lif, zittert beide
an fuß und henden“. Dagegen bei Gellert der „gute, dumme Bauerknabe,
den Junker Hans einst mit auf Reisen nahm, und der, trotz seinem
Herrn, mit einer guten Gabe, recht dreist zu lügen, wieder kam“, und
die ärmliche, keiner weiteren Entwickelung fähige, Erfindung des verhängnisvollen
Steins auf der Brücke! Auch die Art, wie beide die
Moral aus der Geschichte ziehen, ist höchst charakteristisch: Hans Sachs
begnügt sich in seinem „Beschluß“ das Fehlerhafte des Lügens nun
noch ausdrücklich als solches ins Licht zu setzen und eine Warnung
davor hinzuzufügen:


Bei diesem schwank verstet man wol,
ein mensch mit fleiß sich hüten sol
vor lügen, es ist ein groß schant,
wann welch mensch des lügens gewant (gewohnt)
und het ein ungehebe (ungebundene) zungen,
wirt oft zu widerrufen zwungen,
des er an der lügen bestet (stecken bleibt)
und schamrot mit spot darvon geht u. s. w.


Gellert statt dessen will aus dem Ganzen nur die „nützliche
Lehre
“ entnommen wissen:


Du mußt es nicht gleich übel nehmen,
Wenn hie und da ein Geck zu lügen sich erkühnt.
Lüg' auch, und mehr als er, und such' ihn zu beschämen,
So machst du dich um ihn und um die Welt verdient.


Mitunter hält sich Gellert auch von dieser lehrhaften Miene frei
und scheint sich ganz der Lust am Erzählen hinzugeben; aber das geschieht |#f0275 : 257|

mit um so mehr Behagen, je mehr er sich in die Enge des philiströsesten
Kleinlebens begibt, und leider tritt hier oft an die Stelle des Anmuthigen
und der maßvollen Feinheit, welche dieses Genre allein erträglich
machen können, das Niedrige und Triviale; man vergleiche in dem
sonst so wohlgelungenen Stück „Die Widersprecherin“ die äußerst geschmacklose
Schilderung der wuthentbrannten Jsmene, ferner Gedichte wie
„Lisette“, „Die kranke Frau“, „Der zärtliche Mann“, „Die Mißgeburt“
und viele ähnliche. Sicherlich hat er mit diesen breit ausgemalten Erzählungen
bei seinen Zeitgenossen den meisten Beifall gefunden, doch sind
ihm ganz im Gegensatze dazu die in knappster Kürze gehaltenen bei
weitem am besten gelungen; so der „Maler“, den er nicht umsonst bei
seiner berühmten Unterredung mit Friedrich dem Großen zum Vortrage
wählte, „Der glückliche Dichter“, bei dem nur die ganze Einleitung zu
streichen wäre, „Die Bauern und der Amtmann“, und solche, deren
komische Kraft lediglich in der Schlußwendung liegt, die sich damit also
dem Epigrammatischen nähern, wie „Der Greis“, „Der Selbstmord“,
„Der gute Rat“, „Der Jüngling und der Greis“.


Mögen nun aber diese verschiedenen Arten der komischen Erzählung
mehr oder weniger von den guten Mustern der Gattung entfernt sein,
nirgends kann es fraglich sein, daß sie vor den ernsten Erzählungen
Gellerts sämtlich bei weitem den Vorrang verdienen, vor der Schwächlichkeit
und Jnsipidität solcher Erfindungen wie „Der arme Greis“ („Um
das Rhinoceros zu seh'n“ u. s. w.) oder „Amynt“, wo als preiswerte
Tugend vorgeführt wird, daß jemand, trotzdem er in Not ist, sich weigert,
für Geld falsches Zeugnis abzulegen.


Wie oben schon angedeutet, ist diese Erscheinung eine allgemeine;
der Grund derselben wird sich mit Leichtigkeit ableiten lassen, wenn es
gelingt, die Definition der epischen Gattung und ihrer Hauptarten festzustellen.
Dieselbe wird nach den bisherigen Entwickelungen auf die
folgenden Grundlagen sich stützen müssen:


Die Epik erzählt Handlungen und zwar als Gegenstand der
Darstellung, nicht als Mittel derselben.


Da Handlungen als solche der Gegenstand der Ethik sind,
so ist ihr eigentlicher Nachahmungszweck die innere Handlung;
da aber diese, um sich überhaupt ereignen und vollends um dargestellt
werden zu können, der äußeren Handlung bedarf, so ahmt die
Epik auch diese nach, aber um der inneren Handlung willen.


Die Faktoren der inneren Handlung und damit also die Elemente
ihrer Nachahmung sind die treibende Empfindung (Pathos), das den
Handelnden erfüllende Ethos (die ihm als dauernder Besitz eigene |#f0276 : 258|

Gemütsverfassung, welche, da sie eins der wesentlichsten und
zwar das hervorstechendste Merkmal des Gesamtcharakters ist, häufig
geradezu als Charakter bezeichnet wird) und die eigentlich den Akt
der Handlung konstituierende Willensentscheidung (Entschluß,
Prohairesis).


Die Elemente der äußeren Handlung sind die Begebenheiten
und Schicksale,
an denen jene Faktoren der inneren Handlung sich
äußern, beweisen, erproben und somit auch in der Nachahmung zur
Darstellung gelangen.


Für die Nachahmung von Handlungen kommt es also zunächst
darauf an, daß diese drei Bestandteile ─ also 1) das Pathos und
Ethos, 2) die Prohairesis der Handlung, 3) die bedingenden äußeren
Umstände für beides ─ vollständig in der Darstellung vorhanden
sind, und daß sie ferner in völliger, gegenseitiger Uebereinstimmung
mit
und in organischer Zusammengehörigkeit zu
einander
dargestellt werden.


Werden diese Bedingungen erfüllt, so genügt das für die Wahrheit
und das Jnteresse der Erzählung, aber noch keineswegs für
deren poetische Schönheit. Zu dieser wird vor allem erfordert, daß
die Darstellung eines jeden jener drei Faktoren sich ausschließlich an
das Vermögen der Aisthesis wende, also in der diesem Vermögen entsprechenden
Weise eingerichtet sei, d. h. daß die Erzählung vermittelst
der Vorstellungskraft sinnliche Wahrnehmung hervorrufe, und zwar
nicht sinnliche Wahrnehmung schlechthin, sondern eine solche, welche
unmittelbar und untrennbar mit einer Empfindungsentscheidung
─ einem ästhetischen Urteil ─ verbunden sei. Sodann aber wird
für die künstlerische, schöne Darstellung ebenso notwendig erfordert, daß
die Empfindungsentscheidung, welche zuletzt den Gesamtzweck der
Nachahmung der inneren und äußeren Handlung bildet, eine wohlgefällige
sei, daß sie also Freude errege, und zwar die richtige
Freude,
das ὀρθῶς χαίρειν.1


Aus diesen Voraussetzungen lassen sich die Bestimmungen herleiten,
welcher Art die Handlungen sein müssen, um für die epische Dichtung
sich zu eignen, und wie sie darzustellen seien. Unter allen Umständen
müssen sie nach ihrem Verlauf und Abschluß dazu eingerichtet sein, sei

1
Die Entscheidung darüber, ob diese Freude die richtige sei oder nicht, erfolgt
durch theoretische Untersuchung; sie wird nach objektiv und absolut geltenden
Gesetzen, die vom „Geschmacksurteil“ nicht abhängen, gefällt und ist die Sache der
wissenschaftlichen ästhetischen Kritik.
|#f0277 : 259|

es direkt oder indirekt, unser Wohlgefallen zu erregen: ausgeschlossen
müssen aber alle diejenigen sein, bei welchen dieses Wohlgefallen lediglich
in der Billigung unseres moralischen Urteils oder der Zustimmung
unseres Verstandesurteils
gegründet ist. Nun sind
aber einigermaßen beachtungswerte oder gar bedeutende Handlungen ─
sofern sie nicht von Kindern oder Wilden, sondern von bewußt handelnden
Personen ausgehen ─ ohne die Thätigkeit des moralischvernünftigen
Willens und des prüfenden und urteilenden Verstandes
nicht zu denken, sie werden also, wenn man sie darstellt, auch zu
einem größeren oder geringeren Teile dem betreffenden Forum der
Beurteilung angehören. Andrerseits ist es klar, daß je stärker als bestimmender
Faktor die Empfindung, das einzelne Pathos, oder die
Gesinnungsweise, Gemütsart, Charakterbeschaffenheit, das Ethos auftritt,
um desto mehr jene andern Faktoren zurücktreten, bis zu dem
Grade, daß sie für die Wahrnehmung und damit für die Darstellung
ganz zu verschwinden scheinen, indem sie nämlich in der zur ständigen
Eigenart (Hexis) gewordenen Gesinnung, im Ethos also, schon enthalten
und gewissermaßen darin aufgegangen sind. Solcher Art ist die Handlung
des Glaukos bei dem Rüstungstausch mit Diomedes in der Jlias,
alle Handlungen Siegfrieds in unsern Nibelungen sind mit diesem Stempel
gezeichnet, oder die Handlungsweise der Freunde in Schillers „Bürgschaft“,
wenn es z. B. dort heißt: „Und schweigend umarmt ihn der
treue Freund und liefert sich aus dem Tyrannen“, ganz ebenso die
Handlungsweise des Schillerschen „Tell“; aber auch die Handlungen
des „klugen und vielgewandten“ Odysseus tragen durchweg dieses
Zeichen des Ethos, trotzdem an ihnen überall die verständige Berechnung
mitarbeitet; dieselbe ist ihm, wie unser Sprachgebrauch es ausdrückt,
„zur zweiten Natur“ geworden.


Eben darum, durch die Unmittelbarkeit, durch welche die Reflexion
ganz oder doch fast ganz in Wegfall kommt, tragen derartige Handlungen
den Charakter der Naivetät und sind am ehesten bei den vollen
und ursprünglichen Naturen früherer Zeitalter oder in möglichst unbeeinträchtigt
erhaltener Einfachheit der Lebensverhältnisse aufzufinden und
darzustellen. Dasselbe ist der Fall bei den Handlungen, welche ganz
oder doch zum weit überwiegenden Teile aus dem Empfindungsimpulse,
dem Pathos, hervorgehen; wie diese, namentlich wo die bedingenden
Umstände bedeutender Art sind, häufig und schnell einen jähen und
heftigen Charakter annehmen werden, so wird auch ihr äußerer Verlauf
ein gewaltsamer sein und leicht werden verderbliche Folgen sich an sie
knüpfen. Es mag schon hier der Hinweis eine Stelle finden, daß der |#f0278 : 260|

viel umstrittene Satz im 24. Kapitel der Aristotelischen Poetik, wo der
Jlias ein „pathetischer“, der Odyssee ein „ethischer“ Gesamtcharakter
zugeschrieben wird, auf diesem Wege seine einfache Erklärung
findet. Ganz in der geschilderten Weise handelte der Homerische Achilleus,
durchweg durch leidenschaftliche Jmpulse bestimmt, so wie Horaz ihn geschildert
wissen will:


Impiger, iracundus, inexorabilis, acer
Jura neget sibi nata, nihil non arroget armis.

Und, wie er, so handelt die Mehrzahl der griechischen Helden in der
Jlias; der gesamte äußere Verlauf der Ereignisse vom ersten Anbeginn
bis zum Schlusse des in seinem Gesamtplan zu wundervoller Einheit
gefügten Gedichtes erhält dadurch den Grundcharakter dessen, was
Aristoteles das „Pathetische“ nennt, nämlich des Leidvollen, Gewaltsamen,
Verderblich-Schmerzlichen.
Jm scharfen Unterschiede
hiervon ist in der Odyssee das den Helden erfüllende Ethos bestimmend
nicht allein für alle seine Handlungen, sondern auch für das Ganze
und die Einzelnheiten des Verlaufs der Gesamthandlung, nicht minder
ist in allen übrigen, das Wesentliche dieses Verlaufs mitbestimmenden
Hauptfiguren das sie ihrerseits in ihren Haudlungen überall bestimmende
Ethos entscheidend für den Gang und die endliche Entwickelung des
Gedichtes: es würde genügen, nur Penelope, Telemach, Eumäos
zu nennen, aber auch die Art, wie die meisten Nebenpersonen in die
Handlung eingreifen, ist ebenso als ganz überwiegend durch das einer
jeden von ihnen eigene Ethos diktiert zu bezeichnen; natürlich keineswegs
alles und jedes, was in der Odyssee vorkommt, ebensowenig wie
alles nur in der Jlias pathetischen Charakters sein müßte. Solche
Einseitigkeit wäre gegen die Natur der Dinge, sie ist auch in dem
Aristotelischen Urteil nicht behauptet; was gleichwohl dieses Urteil zu
bedeuten hat, tritt noch mehr hervor, wenn man aus den Gesichtspunkten,
nach denen sich die beiden griechischen Epen so klar voneinander
scheiden, unser deutscher Nationalepos betrachtet: es ergibt sich, daß im
Gegensatze zur Jlias und zur Odyssee die Nibelungen weder den
einen noch den andern Gattungscharakter tragen, sondern daß beide
in den Hauptpersonen und in deren entscheidenden einzelnen Handlungen
in gleichem Maße vertreten sind, ebenso auch im Verlaufe und der
endlichen Entwickelung des Ganzen eine ebenmäßige, höchst kunstvoll verwebte
Verbindung von beiden, daß sie somit nach dieser einen, aber
sehr wesentlichen, Seite
einen noch höheren Rang behaupten, daß
sie noch reicheren und lebensvolleren Gehalt, noch tiefere und universellere |#f0279 : 261|

Bedeutung haben als ihre griechischen, in so vieler Hinsicht hoch über
ihnen stehenden, Rivalen.1


Demnach kommt es also für die epische Erzählung in erster Linie
darauf an:


für die Darstellung solche pathetischen oder ethischen oder
ethisch=pathetischen Handlungen auszuwählen;


sodann aber:


Handlungen, welche weder das eine noch das andre im vollen
Maße sind, nur insoweit für die Darstellung zu erwählen, als sie von
jener Seite sich auffassen und vorführen lassen,
dagegen die
Verstandesreflexion und die moralische Erwägung als der
epischen und überhaupt der poetischen Darstellung widerstrebend derselben
ferne zu halten,
es sei denn, daß sie als dienende Glieder
in Nebenhandlungen zur Verwendung kommen.


Einige Beispiele mögen den Satz bekräftigen. Von Gustav
Schwab
gibt es eine poetische Erzählung „Johannes Kant“, der
lange ehe Jmmanuel Kant „den kategorischen Jmperativus fand, dem
kategorischen Jmperativus treu, zwang durch ihn wilde Seelen zu frommer
Scheu“. Dieser, ein Krakauer Doctor theologiae, ein Mann „von reinem
Gemüt und immer gleichem Sinn,“ zog im Alter zum Besuch seiner
schlesischen Heimat aus. Mitten im wilden Walde wird er von Räubern
angefallen und beraubt. Nachdem sie ihm sein Pferd, seine Barschaft
und alles Wertvolle, was er an sich hat, weggenommen, lassen sie ihn
laufen, da er versichert, nichts weiter zu besitzen. Doch, da er entronnen,
fällt es ihm auf die Seele, daß „in seiner Kutte vorderm
Saum“ noch „der güldene Sparpfennig sich versteckt“. Der Gewissensvorwurf
der begangenen Lüge treibt ihn zu den Räubern zurück, sein
Unrecht gut zu machen:


„Das hab' ich böslich vor euch verleugnet, nehmt!“
Den Räubern aber wird's wunderlich im Kopf,
Sie möchten lachen und spotten ob dem Tropf;
Und ihre Lippe findet doch keinen Laut,
Und ihr vertrocknetes, starres Auge taut.
Und in dem bleiernen Schlummer, den er schlief,
Regt sich in ihnen plötzlich der Jmp'rativ,
Der wunderbare, das heil'ge Gebot: „Du sollt ─
Du sollt nicht stehlen!“ und vor der Hand voll Gold
Aufspringen sie, dann werfen sich all' aufs Knie,
Ein tiefes Schweigen waltet; denn Gott ist hie.
1
Vgl. die nähere Ausführung über das Nibelungenlied, S. 292 ff.
|#f0280 : 262|


Sie geben ihm dann alles Geraubte zurück, er teilt ihnen den
Segen aus, „wünscht ihnen gründliche Reue“ und reitet von dannen.


Die Handlung ist in treuherzigem, etwas archaisierendem Tone
nicht ungeschickt erzählt; aber der Eindruck des Gedichtes ist mehr verstimmend
als erfreulich: der Grund ist, daß die Handlung eine eminent
moralische ist; moralisch ist die Reue des Kant und sein Entschluß
die Lüge gut zu machen, moralischer Natur ist die durch das Beispiel
bei den Räubern hervorgebrachte Wirkung; das eigentlich Moralische
aber, was hier also die innere Handlung ausmacht, läßt sich nicht
nachahmen, höchstens beschreiben, am wenigsten aber durch die
Nachahmung mitteilen, es ist schlechterdings an das eigene, wirklich
eintretende Handeln
gebunden. So muß jeder Versuch es
zum Gegenstand der künstlerischen Mimesis, sei es poetische oder malerische,
zu machen, an dem Unvermögen, den Nachahmungszweck zu erreichen,
scheitern.


Hieraus erklärt sich das Unbehagen, die Langeweile, der Widerspruch
des ästhetischen Gefühles, welches alle derartigen Produktionen
erregen, alle die Darstellungen von Akten der Tugend, des Edelmutes,
der Feindesliebe, der Selbstverleugnung, sofern sie eben als spezifisch
moralische Akte,
als Triumphe des sittlich bestimmten Willens über
die entgegenstehende Neigung oder hindernde Schwäche, vorgeführt werden,
oder sofern auch nur das spezifisch Moralische an ihnen in den Vordergrund
gestellt wird. Der großen Menge der Geringeren nicht zu gedenken,
sei hier nur Herder erwähnt, welcher in seinen poetischen Erzählungen
über diesen Standpunkt nicht hinausgekommen ist. Freilich
nennt er sie „Legenden“, und stellt sie damit, nach seiner Auffassung
der Legende, von vornherein unter einen fremden Gesichtspunkt. Er
hebt die Bedeutung und innere poetische Wahrheit der religiösen Ueberlieferungen
und kirchlichen Mythen sehr feinsinnig hervor, aber für ihre
poetische Verwendung in der Legende ist ihm nur die Absicht zu „bessern“
maßgebend: „Gäbe es in diesen Zeitaltern keine Muster einer
Tugend,
die wirklich diesen Namen verdiente? keine Seelengröße, die,
über sich selbst gebietend, Gefahren nicht suchte, aber tapfer überwand
und das Leben selbst nicht achtete zur Erlangung des Kampfpreises?“
Und „wären alle jene Überlieferungen ein schwerer, dunkler Traum
langer Jahrhunderte, ein ungeheurer Wahnsinn der Zeiten gewesen, zeiget
ihn als solchen! Hebet die Erzählungen verführter, mißleiteter Seelen
sorgsam aus und merket, wie sie mißleitet wurden, wie sie sich selbst
verführten! Zeiget dies mit aller zarten Teilnahme, mit jedem hilfreichen
Erbarmen, herabsteigend in die Tiefen der menschlichen Natur, |#f0281 : 263|

in ihre betrüglichen Tiefen! Wie lehrreich werdet ihr schreiben!
Eine kleine Legende wird mehr Psychologie, mehr Warnung, Rat
und Trost
enthalten, als vielleicht ein ganzes System kalter
pharisäischer Sittenlehre.
Sie wird werden, was ihr Name sagt,
ein durchaus zu Lesendes, eine Legende.“ Man sieht, es geht hier
Herdern aller epische Takt verloren; und wenn er im Übrigen von der
Legende verlangt, „Andacht solle sie einflößen und wirken,“ und weiterhin
das „Engelsgefühl“, von dem sie erfüllt sein soll, ausmalt ─
„Ein ganz eigenes Gefühl ist es, dies süße Gefühl der Andacht. Es
haftet so unabwendbar an und fesselt so ganz, läßt so Vieles unmerklich
hinschwinden
und scheint uns mit wenigen Gedanken
so viel,
mit einem Gedanken alles zu geben!“ ─, so liegt darin
wohl mehr poetischer Sinn, obwohl in nicht unbedenklicher Form geäußert,
allein den Gesetzen der epischen Erzählung widerspricht auch
dieses. Ein Gedicht, welches die Erregung der Andacht zum Nachahmungszweck
hat, ist lyrisch, was etwa darin erzählt wird, dient als
Darstellungs mittel diesem Zweck; dagegen ist für die Epik überall die
Handlung Jnhalt und Zweck. Ein vortreffliches Beispiel für diesen
Unterschied bietet Uhlands schönes lyrisches Gedicht „Die verlorene
Kirche
“ dar. Hier ist die Erregung des Andachtsgefühles Liedeszweck,
die Erzählung der wie in einer Vision geschauten, aber äußerlich
als sagenhafte Überlieferung dargebotenen, Handlung dient diesem Liedzwecke
und erfüllt ihn ganz, wie die Schlußstrophe ihn ausspricht:


Was ich für Herrlichkeit geschaut
Mit still anbetendem Erstaunen,
Was ich gehört für sel'gen Laut,
Als Orgel mehr und als Posaunen,
Das steht nicht in der Worte Macht;
Doch wer danach sich treulich sehnet,
Der nehme des Geläutes acht,
Das in dem Walde dumpf ertönet!


Man vergleiche mit diesem schönen, von andächtiger Stimmung
ganz eingegebenen und ganz erfüllten Liede die lehrhafte Trockenheit
in Beschreibung der Stimmung und in der Erzählung von Herders
Bild der Andacht“, worin er doch, wenn irgendwo, seine Theorie
müßte bewährt haben:


Die höchste Liebe wie die höchste Kunst
Jst Andacht. Dem zerstreueten Gemüt
Erscheint die Wahrheit und die Schönheit nie;
Sie, die aus vielem nicht gesammelt wird,
|#f0282 : 264|

Die, in sich eins und alles, jeden Teil
Mit sich belebet und vergeistiget.
Sophronius, der in dem Heidentum
Den Musen einst geopfert, wollte jetzt
Der Mutter Gottes auch ihr Bildnis weih'n.
Wie eine Biene flog er auf der Au'
Der Kunstgestalten; Pallas, Cynthia
Stand ihm vor Augen; Aphrodite sollt'
Jn einer Huldgestalt mit ihnen blüh'n.
Er überlegt' und schlief ermattet ein.
Da stand im Schlaf sie selbst vor Augen ihm,
Die Benedeite. „Sieh mich, wer ich bin,“
Sprach sie, „und gib mir keinen fremden Reiz!
Nur Selbstvergessenheit ist meine Zier;
Nur Demut, Zucht und Einfalt ist mein Schmuck!“
Getroffen wie vom Pfeile wacht' er auf
Und sah fortan auch wachend sie, nur sie,
Wie der, der in die Sonne schaut, das Bild
Der Sonne mit sich träget. Öfters stand
(So dünkt es ihm) sie sichtbar vor ihm da,
Das Kind auf ihrem Arm und Engel ihr
Zur Seite. Als das Bild vollendet war,
Da trat ein Himmelsjüngling zu ihm hin
Und sprach: „Gegrüßet sei, Holdselige!“
Zum Bilde. „Viele Herzen werden dein
Sich am Altar erfreu'n und willig dir
Jhr Jnnres öffnen; denn was Andacht schuf,
Erwecket Andacht. Dir, o Künstler, hat
Die Selige sich selber offenbart.“


Sieht man von dem lehrhaft reflektierenden Eingange ab, so enthält
auch die Erzählung selbst nichts, als die trockene Berichterstattung
von dem Faktum einer andächtigen Entzückung, woran dann abermals
eine didaktische Schlußbemerkung geknüpft ist, daß, was Andacht geschaffen
hat, auch fähig ist, Andacht zu erwecken: was aber die Hauptsache
ist, die Nachahmung jener andächtigen Entzückung, so daß sie
in dem Hörer selbst erweckt wird, ist nicht einmal versucht.


Die Mehrzahl der Herderschen Legenden ist durch die moralisierende
Lehrhaftigkeit der Erzählung schlechthin unerträglich, selbst die beiden
bekanntesten, in alle Sammlungen aufgenommenen, „Die wiedergefundenen
Söhne“ und „Der gerettete Jüngling“ nicht ausgenommen, von
denen höchstens die letztere durch einen etwas höheren Wärmegrad der
Stimmung sich vorteilhaft unterscheidet.


Es muß auffallen, daß die Legende, die doch weiter nichts ist als
eine poetische Erzählung, welche ihren Stoff aus der religiös=kirchlichen, |#f0283 : 265|

sagen- und mythenhaften Überlieferung nimmt, in unserer Dichtung so
unzureichende Behandlung gefunden hat. Der Grund ist keineswegs
der, daß, wie behauptet worden ist, die Gattung an sich unpoetisch wäre
─ wie käme es denn, daß fremden Religionen entnommene Stoffe
der höchsten dichterischen Wirkung dienstbar gemacht werden konnten,
wie das in Goethes herrlichem Gedichte „Der Gott und die Bajadere“
und in der „Paria-Legende“ geschehen ist ─, sondern der, daß man die
christliche Legende fast ausnahmslos mit christlich=moralischer oder
dogmatisch=mystischer Tendenz, also unpoetisch, behandelt hat.


Als das klassische Muster der Gattung kann Goethes „Der Gott
und die Bajadere“ gelten, und eine nähere Betrachtung des Gedichtes
eröffnet nach vielen Seiten sehr interessante Perspektiven. Die ethische
Umwandlung, die in dem Magdalenenmotiv enthalten ist, wird hier
auf rein pathetische Weise hervorgebracht, durch die bloße Nachahmung
der Empfindung. Das allgewaltige Pathos reiner Liebe, die stärker ist
als der Tod, bewirkt die Heiligung, welche so, statt dem Hörer nur
äußerlich als durch ein Wunder vollbracht mitgeteilt zu werden, in sein
eigenes Empfinden übergeht:


Es freut sich die Gottheit der reuigen Sünder;
Unsterbliche heben verlorene Kinder
Mit feurigen Armen zum Himmel empor.


Es ist derselbe Gedanke hier in epischer Gestaltung vorgeführt, wie
er im Faust II, 5, 876 lyrisch ausgesprochen ist:


Gerettet ist das edle Glied
Der Geisterwelt vom Bösen:
..........
Und hat an ihm die Liebe gar
Von oben teilgenommen,
Begegnet ihm die selige Schar
Mit herzlichem Willkommen.


Der Hauptgrund, warum die spezifisch christliche Legende so leicht
mit den Gesetzen der Poesie in Widerstreit gerät, liegt offenbar darin,
daß, während ethnische Religionsgestaltungen fast immer das schon an
sich poetische Bestreben aufweisen, die geistigen Vorgänge durch sinnliche
Verkörperung dem Verständnis sowohl als der Empfindung näher
zu rücken, die christliche Lehre gerade dagegen mit schärfster Entschiedenheit
ankämpft und mit vollstem Recht das rein geistige Gebiet der
spezifisch religiösen und moralischen Empfindungen und Gedanken von
dem Gebiet der sinnlich=poetischen Empfindungen scheidet. Was der |#f0284 : 266|

„Sünderin“ in Lukas 7, 36─59 „geholfen“ hat, ist nicht die poetisch
darstellbare Empfindung der Liebe ─ obwohl auch diese als Voraussetzung
mit in ihr thätig sein muß ─, sondern ihr „Glaube“, ein
spezifisch religiöses Ethos, dessen Entstehung für die Poesie nicht
nachahmbar ist ─ höchstens seine Kundgebungen ─, weil es auf einer
einzigartigen Verbindung rein moralischer Potenzen, die also in dem
Bereich des Willens stehen,
mit gänzlich spontanen Empfindungsdispositionen
beruht, welche, da sie das Zusammenwirken
einer großen Zahl unnachweisbarer Faktoren erfordern, als ein unmittelbares
Geschenk der göttlichen Gnade angesehen werden. Deshalb ist
es einzig und allein in seinen Wirkungen nachahmbar; jeder Versuch,
sein Eintreten darzustellen, ist unkünstlerisch, denn er gewährt statt der
Nachahmung nur äußerlichen Bericht eines Faktums. Aus demselben
Grunde eröffnet sich an derselben Stelle, wo die Zugänge zur Dichtkunst
sich schließen, ein weites Feld für die bildenden Künste;
denn diese haben es in der That mit den durch innere Zustände in der
äußeren Erscheinung hervorgebrachten Wirkungen zu thun: deren
Zeichen sind für sie die Mittel der Nachahmung jener.


Sehr lehrreich zeigt sich auch auf diesem Gebiet jedoch wieder, daß
bei der komischen Behandlung der Legende diese Mängel zurücktraten
und Erfreuliches geleistet werden konnte, ein Punkt, der weiter unten in
dem betreffenden Zusammenhange noch seine Berücksichtigung finden wird.


Noch ein frappantes Beispiel, wie hoch die rein epische Behandlung,
d. i. also diejenige, welche die Handlung ganz für sich allein, als
aus dem unmittelbaren Antriebe des Gemüts, aus schönem Ethos,
hervorgehend erzählt, über derjenigen steht, welche auch nur die Vermischung
der ethisch=pathetischen Auffassung mit der moralischen Rücksicht
zuläßt, zeigt die Gestaltung eines nahe verwandten Stoffes durch
Goethe und Bürger. Wie Bleigewichte hängen sich die moralisierenden
Betrachtungen an die im Uebrigen vortreffliche Erzählung in Bürgers
Lied vom braven Mann“; wie rein dagegen die Schönheit des
von allem Beiwerke befreiten Körpers der Handlung in Goethes „Johanna
Sebus
“!


Nach den im Obigen entwickelten allgemeinen Bestimmungen über
die epische Darstellung ergeben sich also die folgenden Faktoren als
maßgebend für die Auswahl und die Komposition der Handlung in den
verschiedenen Hauptgattungen der Epik:


Die Handlung ist entweder eine gute, richtige oder eine
schlechte, fehlerhafte.


Die erste wird als aus gutem, richtigem Ethos und Pathos |#f0285 : 267|

entspringend dargestellt, die zweite als aus fehlerhaftem Pathos
und Ethos
hervorgehend.


Da aber die menschlichen Handlungen, im ganzen genommen,
weder unbedingt gut noch ungemischt fehlerhaft
sind, so werden
rein als solche nur einzelne Handlungen dargestellt werden können.


Dagegegen wird bei der Darstellung einer Handlung, welche als
ein größeres Ganzes eine Vielheit einzelner Handlungen umfaßt,
weder ein gutes Ethos frei von jedem Zusatz eines
Fehlerhaften
sein dürfen, noch ein fehlerhaftes ungemischt
mit Bestandteilen des guten.


Nun sind alle inneren Handlungen mit bestimmten Folgen verknüpft,
die sich in der äußeren Handlung darstellen; diese äußeren Folgen,
welche kurz als ihr Ausgang zu bezeichnen sind, hängen aber keineswegs
allein von ihrer Beschaffenheit ab, sondern zu einem
großen Teile von denjenigen äußeren Umständen, innerhalb
derer sie entstehen und mit denen sie nach großen, unabänderlichen,
nicht zufälligen, sondern ewig gültigen Gesetzen
verknüpft sind.


Darnach sind in betreff des Ausganges die folgenden Fälle möglich:
entweder ist die Handlung von ungemischt gutem Ethos und
hat demgemäß einen glücklichen Ausgang: das ist nach dem Obigen
nur in kleinen Gedichten angänglich, die nur einzelne Handlungen
darstellen.


Oder der aus gutem Ethos hervorgehenden Handlung haftet
irgend eine FehlerhaftigkeitHamartie ─ an, ohne doch den
glücklichen Ausgang zu beeinträchtigen; in diesem Falle wird diese
letztere in verschiedener Weise behandelt werden können: entweder um
eine vorübergehende tragische Befürchtung hervorzubringen
oder der an sich ernsten Handlung eine mehr oder minder hervortretende
komische Färbung zu verleihen, oder um beides nebeneinander zu
bewirken.


Oder aber an die dem guten Ethos anhaftende Hamartie
knüpft sich ein unglücklicher Ausgang: in diesem Falle ist die Handlung
tragisch.


Ebenso kann eine aus schlechthin fehlerhaftem Ethos entspringende
Handlung entweder unglücklich ausgehen: eine solche eignet
sich wiederum nur für kleinere Gedichte, die eine einzelne Handlung
geringen Umfanges darstellen.


Oder die von einem überwiegend fehlerhaften Ethos getragene
Handlung, der es aber an Beimischung irgend eines guten |#f0286 : 268|

Pathos oder Ethos nicht mangelt, führt zu glücklichem Ausgang:
dies ist der Fall der komischen Handlung.


Mitunter kann geschehen, daß es nur von dem Mischungsverhältnis
und der Behandlung von seiten des Dichters abhängt, ob die Handlung
tragischen oder komischen Charakter erhält: als zwei ebenso hervorragende
als bekannte Beispiele seien dafür aus dem in dieser Beziehung
eng verwandten dramatischen Gebiete des EuripidesAlcestis“ und
ShakespearesKaufmann von Venedig“ angeführt.


Daraus lassen sich die Bestimmungen für die epischen Hauptgattungen
ableiten. Es sei zunächst das Jdyll und das heroische
Epos
in Betracht gezogen, an späterer Stelle sodann das komische Epos. ──────


XVI.


Handlungen, denen richtige Pathe und Ethe, d. h. also nach
dem uns geläufigen Sprachgebrauch ausgedrückt, gesunde Empfindungen
und gute Gesinnungen, zu Grunde liegen, mit glücklichem Ausgang,
richtig, d. h. wahrheitsgemäß, nachgeahmt, ergeben die idyllische
Gattung:
sie erregt unmittelbares, reines Wohlgefallen, abgesetzt
und gehoben durch vorübergehende tragische Affekte
Mitleid oder Befürchtung ─ oder ebenso durch Empfindungen des
Komischen.
Alle Reflexion, moralische wie verständige, ist ganz
oder doch möglichst aus der idyllischen Darstellung auszuschließen, daher
ist ihr Charakter der des Naiven: dasselbe wird erreicht, indem entweder
die Handlung in der größtmöglichen Einfachheit der bedingenden
Lebensverhältnisse aufgebaut wird unter Personen, die auf niedriger oder
mittlerer Stufe der Bildung stehen, oder indem sie von Personen getragen
wird, denen die höchste Kultur zur Natur geworden ist. Goethes
Hermann und Dorothea“ vereinigt beides; bei seiner Jdee eines
heroischen Jdylls“ schwebte Schiller eine Handlung vor, die ganz
von der letzteren Art sein sollte. Es gibt keinen schlimmeren Jrrtum
für die Komposition des Jdylls als die Meinung, daß das Jdyll die
Alltäglichkeit des Lebens abzuschildern habe, daß die bloße Naturwahrheit
der Nachahmung von Scenen des in engem Kreise friedlich sich
vollziehenden Daseins seine Aufgabe sei: die idyllische Handlung ist in
reiner Gestalt ebenso ausnahmweise im Leben anzutreffen und bedarf in
der Dichtung ebenso der höchsten Kunst als die rein tragische. Die
Bedeutung und das Jnteresse der Handlung muß in dem unmittelbaren |#f0287 : 269|

und reinen Wohlgefallen an der Entfaltung von Empfindungen, Gesinnungen
und daraus hervorgehenden Willensentscheidungen gefunden
werden, zu der durch den einfachen Verlauf oder durch die Verwickelung
der äußeren Geschehnisse die Gelegenheit gegeben sein muß: dies muß
aber erreicht werden, und darin liegt eine außerordentliche Schwierigkeit,
während diesem einfachen Verlauf oder dieser Verwickelung der äußeren
Geschehnisse, für sich allein betrachtet, nur geringe Bedeutung
beiwohnt, das Jnteresse daran muß also ganz und gar durch jenes
unmittelbare und reine Wohlgefallen an Pathos und Ethos der Handelnden
geschaffen werden; ja, wie der Dichter den etwa aus den
äußeren Umständen sich ergebenden Verwickelungen nicht diejenige Ausdehnung
geben darf, die bis zur Wichtigkeit für weiter
ausgedehnte Kreise, bis zur Größe,
auch nur heranreicht, so
muß er auch durch die ganze Dichtung die etwa aus den anhaftenden
Hamartien resultierenden Empfindungen der Furcht, des Mitleids oder
des Lächerlichen geflissentlich auf einer quantitativ niedrigen Stufe halten,
um der Hauptempfindung des reinen Wohlgefallens keinen Eintrag zu
thun. An diesem Punkte zeigt sich klar, wie der von Aristoteles in
dieses Gebiet eingeführte Begriff der „Größe der Handlung“ ─
μέγεθος τῆς πράξεως ─ aufzufassen ist und wie höchst wesentlich seine
Berücksichtigung für die Unterscheidung der Gattungen und für ihre Komposition
ist. Nichts kann irriger sein, als darin eine Bestimmung der
räumlichen Ausdehnung der Handlung zu finden: dieselbe ist beim Drama
eine durch äußerliche Verhältnisse bestimmte, überall im ganzen und
großen konstante, in der epischen Gattung aber in so weiten Grenzen
variabel, daß eine Bestimmung des Wesens der Handlung darin
unmöglich gesucht werden kann. Der Ausdruck ist, wie in allen Sprachen
üblich, auf die Qualität übertragen und bezeichnet die, nach der
Relation der Wichtigkeit für das Ganze der menschlichen
Schicksale und Handlungen, der einzelnen Handlung ihrem
innern Wesen und ihrer äußeren Erscheinung, ihren Umständen
und ihren Folgen nach zukommende Bedeutung;

eine hervorragende Bedeutung dieser Art wird Größe der Handlung
genannt. Für den Gegensatz ist eine feste Bezeichnung nicht eingeführt;
die Ausdrücke „klein,“ „einfach,“ „unbedeutend“ sind nicht zu gebrauchen,
weil sie sämtlich Mißverständnis erregen würden, es müssen also Umschreibungen
gebraucht werden; für die Beteiligten bleibt auch die idyllische
Handlung immer „bedeutungsvoll,“ nur nach dem absoluten Maßstabe
gemessen darf ihr die „Größenicht zukommen.


Dieser Begriff der „Größe“ und ihres Gegenteils ist für die |#f0288 : 270|

Komposition der verschiedenen epischen und dramatischen Gattungen sehr
wesentlich mitbestimmend, so sehr, daß es geschehen konnte, wie aus den
grob äußerlichen Definitionen dieser Gattungen im sechszehnten, siebzehnten
und noch im Anfange des achtzehnten Jahrhunderts ersichtlich,
daß man ihn allein als das hervorstechendste Merkmal der Unterscheidung
im Auge behielt.1 Wenn man aber diesen groben Fehler im Verlauf
des achtzehnten Jahrhunderts dadurch zu korrigieren meinte, daß man
jenen Begriff als Gattungsmerkmal nun gänzlich auslöschen wollte, so
ging man mit der daraus entstehenden Vermischung der Gattungen
nicht minder in die Jrre.


Für die zweite Hauptgattung kommt der Begriff der Größe
der Handlung, neben dem der Einheit und Vollständigkeit in

1
So Jul. Cäsar Scaliger in seinen Poetices libri septem über das Epos
mit Beziehung auf Horaz I, 6, 1: Epicorum materia declaratur, dux, miles, classis,
equus, victoria (cf. lib. I, c. 41) und über das Drama (cf. I, c. 6): Tragoedia,
sicut et Comoedia in exemplis humanae vitae confirmata, tribus ab illa differt,
Personarum conditione, fortunarum negotiorumque qualitate, exitu. Quare stylo
quoque differat necesse est. In illa e pagis sumpti Chremetes, Davi, Thaides
loco humili: Initia turbatiuscula: fines laeti. Sermo de medio sumtus. In Tragoedia
Reges, Principes, ex urbibus, arcibus, castris. Principia sedatoria: exitus
horribiles. Oratio gravis, culta, a vulgi dictione aversa, tota facies anxia,
metus, minae, exilia, mortes. Es sind genau die Vorschriften, nach denen sich die
französische klassische Tragödie gebildet hat. Auch die Pastoralia poemata leitet Scaliger
aus dem ständischen Princip ab (cf. I, c. 4): Vetustissimum Poematis genus ex
antiquissimo vivendi more ductum esse par est. Tria vero saeculorum genera:
Pastoris, Venatoris, Aratoris. Ac venatores, quia sunt in motu, minus ad verba
propensi existunt. Quin neutiquam faustum putamus in venatu loqui: nedum
ut cantus aptus judicetur. Reliqua duo genera cantiones suas meditata sunt.
Jn derselben Weise definiert Opitz in dem „Buch von der teutschen Poeterey“
Kap. 5, daß „ein Heroisch getichte gemeiniglich weitleuffig sei und von hohem wesen
rede“; ... „die Tragedie ist an der majestät dem Heroischen getichte gemesse, ohne das
sie selten leidet, das man geringen standes personen und schlechte sachen einführe: weil
sie nur von Königlichem willen, Todschlägen, verzweiffelungen, Kinder- und Vätermörden,
brande, blutschanden, kriege und auffruhr, klagen, heulen, seuffzen und dergleichen
handelt“; ... „die Comedie bestehet in schlechtem wesen und personen: redet
von hochzeiten, gastgeboten, spielen, betrug und schalckheit der knechte, ruhmrätigen Landtsknechten,
buhlersachen, leichtfertigkeit der jugend, geitze des alters, kupplerey und solchen
sachen, die täglich unter gemeinen leuten vorlauffen. Haben derowegen die, welche heutiges
tages Comedien geschrieben, weit geirret, die Keyser und Potentaten eingeführet;
weil solches den regeln der Comedien schnurstracks zuwieder laufft“; ... „die Eclogen
oder hirtenlieder reden von schaffen, geißen, seewerk, erndten, erdgewächsen, fischereyen
und anderem feldwesen; und pflegen alles worvon sie reden, als von Liebe, heyrathen,
absterben, buhlschafften, festtagen und sonsten auf ihre bäwrische und einfältige art vor
zue bringen.“
|#f0289 : 271|

erster Linie in Betracht; damit zugleich der der guten, d. h. richtigen
und gesunden Beschaffenheit des die Handlung der Hauptsache nach
tragenden Ethos: eine solche Handlung ─ πρᾶξις σπουδαία, τελεία,
μέγεθος ἔχουσα ─ konstituiert die heroisch=tragische, sowohl
epische als dramatische Gattung. Jn der That machen erst diese beiden
Elemente verbunden, durch die in ihrer Natur begründete Wechselwirkung
ja die gewissermaßen zwischen ihnen bestehende gegenseitige Anziehungskraft,
den Charakter dieser Gattung aus. So wie Tüchtigkeit und Adel
des Ethos durch die Größe und Bedeutsamkeit der die Handlung bedingenden
Umstände erst zur vollen Äußerung gebracht wird, ja wie
die Größe und Wichtigkeit der Verhältnisse, in die der Handelnde gestellt
wird, oft erst solches Ethos in ihm emporwachsen lassen, so liegt
umgekehrt in der Kraft und dem Adel, also der innerenGröße
des eine Person charakterisierenden Ethos die Eigenschaft, die Wichtigkeit
und Bedeutung der äußeren Handlung zu steigern, ihr also auch
die äußereGröße“ zu verleihen. Genau dasselbe gilt von den dem
in der Hauptsache tüchtigen und edlen Ethos anhaftenden, fehlerhaften
Beimischungen,
der Hamartie, also den einer im
Grunde edlen Natur eigenen einzelnen, an sich fehlerhaften
oder zum leidenschaftlichen Uebermaß gesteigerten Empfindungen.



Hieraus ergibt sich, daß in der heroisch=tragischen Gattung
der Nachahmungszweck nicht wie in der idyllischen die unmittelbare Erregung
des reinen Wohlgefallens sein kann: diese zeigt uns die seltene
Gunst des Geschickes, wo unter dem glücklichen Schutz vor schwerwiegenden
äußeren Verwickelungen im engen Kreise einfacher Verhältnisse tüchtigedle
Gesinnungen und Empfindungen in Handlungen sich kund thun,
die von entsprechenden günstigen Folgen und erfreulichem endlichen Ausgange
begleitet sind; jene stellt uns vor das inhaltschwerste Rätsel der
vielfach verschlungenen menschlichen Geschicke, wo der Gute, Tüchtige
und Edle, statt erhofften Glückes sich zu erfreuen, sei es durch die geraden
Laufes auf ihn einstürmende Wucht der Verhältnisse oder durch deren
ungeahnte Verwickelung und plötzlich hereinbrechende Entwickelung, dem
Verderben aller Lebenshoffnung, ja dem Untergange verfällt, sei es, doch
erst durch eine Reihe der schwersten Prüfungen zu dem ersehnten Ziele
geführt wird.


Hier ist überhaupt der Ursprung desjenigen Teiles der Sagenwelt
aller Völker zu suchen, aus denen Epos und Tragödie hervorgegangen
sind.


Nur dasjenige bleibt im Gedächtnis der Einzelnen und der Völker |#f0290 : 272|

haften, was die Seele in ihrem Jnnersten stark bewegt. Große, erschütternde
Übergänge von Glück in Unglück und von Unglück zum
Glück erhalten sich ihrem Kerne nach im Andenken als einheitliche Vorgänge,
und das Bedürfnis zusammenhängenden Verständnisses und überzeugender
Glaubwürdigkeit fügt ihnen, unbekümmert um die Authenticität
ihres wirklichen Verlaufes, die für jenen Kern erforderlichen Umstände
der inneren und äußeren Vollständigkeit hinzu. Wo wird nun aber
diese Erregung der Seele stärker, jene dichterisch ergänzende Thätigkeit
lebhafter, fruchtbarer, das Jnteresse also tiefer, ja leidenschaftlicher sein,
als bei denjenigen solcher „großen Schicksale“, bei denen das Verderben
nicht sowohl die nach göttlichem und menschlichem Recht erfolgende,
verdiente Strafe ebenso großer Verschuldung ist, als vielmehr unverdient
oder weit über Verschulden die Hervorragendsten und Besten wie mit
Vorliebe treffendes Geschick, das eben darum nicht, wie jenes andere,
als ein das Verständnis und Gerechtigkeitsgefühl befriedigender Ausgleich
erscheint, sondern, dem menschlichen Ermessen unfaßbar, auf das
unmittelbare Eingreifen überlegener Mächte hinweist? Darum steht die
heroisch=tragische Sage, wie gleicherweise in ihrem Ursprunge auch Epos
und Tragödie, überall mit dem religiösen Gefühl in engem Zusammenhange,
so daß beide einander völlig durchdringen. Wenn inmitten der
allgemein herrschenden Ordnung und Gesetzmäßigkeit gerade auf dem den
Menschen am nächsten angehenden und am mächtigsten bewegenden Gebiet,
in dem Schicksal der eigenen Gattung, ihm ein ungeheurer, unlösbarer
Widerspruch entgegentritt, so bleibt ihm, um der Empörung
und Verzweiflung oder der stumpfen Gleichgültigkeit ebenso wie der
sklavischen Angst zu entgehen, nur der Glaube übrig an die zwar
geheimnisvoll aber dennoch nach ewigen, unverbrüchlichen Gesetzen ihres
Amtes waltende Gottheit. Die Religion verlangt diesen Glauben zur
Tröstung im Gemüt, zur Stärkung im Handeln und zur zufriedenen
Ergebung in die Schickungen der Gottheit, die dem Weisen immer zum
Besten dienen. Zur Seite steht ihr die dichtende Sage, in vollem
Einklange mit ihr, aber mit ganz anders gewendeter Richtung, unvermischt
mit ihren Zwecken, völlig getrennt von jener nach Art und Verwendung
der ihr eigenen Mittel. Die Religion wendet sich an den
frommen Glauben, die Philosophie an die vernünftige Erkenntnis, die
Sage und Dichtung an die empfindende Wahrnehmung. Diese aber
vermag weder zu glauben noch zu erkennen, sie will sehen und fühlen.
Daher erwächst der dichtenden Sage und der die Sage sich aneignenden
Dichtung die Aufgabe den Handlungskern des rätselhaften Geschickes
zur Vollständigkeit ergänzt zum Verständnis zu bringen, das ist |#f0291 : 273|

in einer für die Anschauung wie das Gefühl befriedigenden
Weise
darzustellen. Zweierlei dem Anscheine nach entgegengesetzte, aber
der Natur der Dinge nach gerade hier unauflöslich auch in der Wirklichkeit
verknüpfte, Beschaffenheiten der Handlung mußten also der Anschauung
wie der Empfindung unmittelbar wahrnehmbar vorgeführt
werden: es mußten einmal, dem Kerne der Handlung gemäß, die Dinge
sich in einer der Erwartung gerade entgegengesetzten Weise ─ παρὰ
τὴν δόξαν1 ─ entwickeln und dennoch nicht nur der Wahrscheinlichkeit,
sondern der Notwendigkeit gemäß ─ κατὰ τὸ εἰκός und κατὰ τὸ
ἀναγκαῖον ─ so also, daß die Dinge nicht nach einander, sondern
eins durch das andre erfolgten, sich gegenseitig einander bedingend und
eins aus dem andern sich entwickelnd ─ δι'ἄλληλα ... ὥστε ἐκ τῶν
προγεγενημένων συμβαίνειν \̓η ἐξ ἀνάγκης \̓η κατὰ τὸ εἰκὸς γίνεσθαι
τἀναντία· διαφέρει γὰρ πολὺ τὸ γίνεσθαι τάδε διὰ τὰδε \̓η μετὰ
τάδε ─.


So wird das Unerhörte und Widersprechende nicht nur der allgemeinen
gesetzlichen Ordnung eingereiht, sondern es wird als ein besonders
deutlich sichtbares Zeichen der Unverbrüchlichkeit dieser auf ein
höheres Walten mit Notwendigkeit zurückzuführenden Ordnung geschaut
und empfunden.


Die heroisch=tragische Sage enthielte also die Erzählung großer
Thaten der Guten und Bösen und schweren Geschickes, das die Bösen
nach Verdienst ereilt, aber nicht minder auch die Guten und die Besten
trifft und zwar so, daß sie klar zu Tage treten läßt, wie so ganz des
Menschen Glück und Geschick abhängig ist von der Ordnung, in die er
hier auf Erden gestellt ist und der sich keiner entziehen kann.


Nicht bloß die tausendfach ihn einengenden Handlungen und Schicksale
der mit ihm Lebenden bedingen sein eigenes Thun und Ergehen,
sondern schwer und unentrinnbar lasten auf ihm Thaten und Geschicke
der Vorfahren und ganzer, längst vergangener Geschlechter, deren Folgen
schwere Trübsal über ihn verhängen und durch geringen, schwer vermeidlichen
Fehl zerschmetternd auf sein Haupt fallen können. Solchem
verhängnisvollen Fehlen und Jrren sind aber gerade die Stärksten und
Besten am ehesten ausgesetzt, gleichsam auf hoher und schmaler Bahn
wandelnd, die schweren Sturz droht.


Außer diesen allgemeinen menschlichen Zügen zeigt aber die Heldensage
einer jeden Nation die ihr eigenen, besonderen inneren und äußeren
Charakterzüge: auch die Völker haben ihr eigenes Ethos; ein anderes ist

1
Vgl. hierzu und zum folgenden Aristoteles, Poet. Kap. 9 und 10.
|#f0292 : 274|

es, welches sich in Achilleus und Patroklos, in Ajax und Diomedes, in
Odysseus und Telemachos abspiegelt, und ein anderes, das uns in
Siegfried und Hagen, in Rüdiger, Dietrich und seinem Waffenmeister
Hildebrand entgegentritt; ebenso zeigt sie in der äußeren Handlung,
nicht nur in Sitten, Gebräuchen und Lebensverhältnissen, sondern auch in
dem Aufbau und Verlauf der Schicksale selbst ein jeder Nation als solcher
zugehöriges, in sich zusammenstimmendes, jedesmals verschiedenes Bild.


Aus solchem Stoffe, und zwar aus dem, welcher nach beiden Seiten
das getreueste und vollständigste Bild zu gewähren geeignet ist, formt
der Sänger des heroischen Epos sein Lied. Für die Komposition gelten
die Forderungen, wie sie oben entwickelt wurden, der Einheit und Vollständigkeit,
der Würdigkeit und Größe der Handlung. Es wird demnach
in seinem Liede nicht an zahlreichen Stellen fehlen, welche unmittelbar
die Empfindung des reinen Wohlgefallens zu erregen imstande
sind, aber der Nachahmungszweck des Kunstwerkes als eines Ganzen
kann nach dem Gesagten ein solches unmittelbares Wohlgefallen unmöglich
sein. Jnhalt und Plan der heroisch=tragischen Handlung setzen als
Vorbedingung der Entstehung des dieser Gattung eigentümlichen, künstlerischen
Genusses ─ der οἰκεία ἡδονή der heroisch=tragischen Dichtung
─ die schmerzlichen Empfindungen schwersten Menschengeschickes,
unschuldigen Leidens und Sterbens. Jmmer wird es eins der glänzendsten
Zeugnisse des Tiefsinnes des griechischen Kunstphilosophen bleiben,
daß er aus der wogenden Menge der durch solchen Handlungsverlauf
aufgeregten Gefühle mit sicherem Griffe die beiden wesentlich maßgebenden,
die spezifischen Schicksalsempfindungen, die Furcht und das
Mitleid,
herausgehoben hat. Wie könnte aber das diesen Empfindungen
anhaftende Schmerzliche und Beunruhigende überwunden werden,
und wie vermöchte die Seele durch sie zu der Erhebung und kraftvoll
in sich gefaßten Ruhe der echten Freude zu gelangen, wenn nicht durch
Auswahl, Ausbau und Darstellung der Handlung ihr die Wirkungskraft
─ δύναμις ─ eingepflanzt ist, das Schicksal zwar in der ganzen Größe
seiner Furchtbarkeit, aber auch in der erhabenen Verehrungswürdigkeit
seines ewig gesetzlichen Waltens der unmittelbaren Anschauung und
Empfindung offen darzulegen? So fügt also Aristoteles dem großen
Gesetz, daß die heroisch=tragische Handlung in ihrem ganzen Verlauf so
eingerichtet sein müßte, daß die Schicksalsempfindungen der Furcht und
des Mitleids in Thätigkeit gesetzt werden, das abschließende Hauptgesetz
hinzu, daß, bei dem engen Verhältnis der Reciprocität derselben, der
Nachahmungszweck des Ganzen in ihrer wechselseitig durcheinander bewirkten
Herstellung zur Reinheit, in ihrer Katharsis, bestehen müßte.

|#f0293 : 275|


Nicht also die Forderung eines moralischen Läuterungsprozesses
in dem Zuhörer
enthält diese vielberufene Katharsis,
sondern das rein technische Kompositionsgesetz: das Schicksal
in seiner reinen und wahren Gestalt der Anschauung vorzuführen,
damit die reine und der Wahrheit der Dinge
entsprechende Empfindung dadurch geweckt werden könne
und müsse.


Diese allgemeinen Bestimmungen mögen hier genügen, das Genauere
über die Empfindungen der Furcht und des Mitleids, über ihr Wechselverhältnis
und die Katharsis wird seine Stelle in dem Abschnitt finden,
der speziell von der Tragödie handelt, die wegen ihrer kunstvoll begrenzten
Form nach allen diesen Richtungen einer sehr detaillierten Gesetzgebung
bedarf. Die epische Darstellung bewegt sich in jeder Beziehung
freier: sie kann sich beliebig weit ausdehnen, sofern sie nur als Ganzes
übersichtlich bleibt, sie ist nicht an einen begrenzten Zeitraum der dargestellten
Handlung, innerhalb dessen stetiges Fortschreiten erforderlich ist,
gebunden, sondern kann beliebig zurück- und vorgreifen, sie wechselt nach
Bedürfnis den Ort und kann auch gleichzeitig Geschehendes nach Gefallen
vorführen, sie vermag die Haupthandlung durch Neben= und
Zwischenhandlungen zu unterstützen, zu erweitern und schmuckvoll zu
bereichern.


So höchst wesentlich aber alle diese Verschiedenheiten von der
Tragödie sind, so steht sie in der Hauptsache ─ was das Nachahmungsobjekt
und den Nachahmungszweck betrifft ─ doch mit ihr auf einem
und demselben Boden, nur die Art der Nachahmung, durch Erzählung
statt durch handelnde Personen, ist verschieden, und aus ihr entspringen
alle die genannten Differenzen.


Die verschiedenen Arten des heroischen Epos werden sich demnach
aus dem verschiedenen Anteil, welcher den die heroisch=tragische Gattung
konstituierenden Elementen gewährt ist, und aus der Art dieses Anteils
bestimmen lassen.


Jm Vordergrunde steht das Element des Verderblichen und
Schmerzlichen der Handlung (des φθαρτικόν und ὀδυνηρόν), welches
nicht entbehrt werden kann. Der Ausgang der Handlung ist darnach
entweder schlechthin unglücklich wie in der Jlias und den Nibelungen,
oder gemischt,1 so daß die Bösen verderben, die Guten glücklich
werden, wie in der Odyssee und der Gudrun; ein rein glücklicher
Ausgang, wie er für die Tragödie durch eine äußerst kunstreiche Fügung

1
Vgl. Aristoteles, Poet. Kap. 13.
|#f0294 : 276|

des Baues ermöglicht werden kann, wie z. B. in Goethes „Jphigenie,
ist für das heroische Epos bei der ihm eigenen Breite und Universalität
der Handlung, für die eine so künstlich ausgesonderte Darstellung ausnahmsweise
eintretender Verwickelungen nicht ausführbar ist, undenkbar.
Aus dieser Begründung aber ergibt sich von selbst, daß ein rein glücklicher
Ausgang
für die Kürze der epischen Erzählung einer
einzelnen Handlung
keineswegs ausgeschlossen ist. Ein Beispiel
wäre Schillers „Bürgschaft“.


Aber auch abgesehen von dem Ausgange des Ganzen der Handlung
wird der Charakter des Furchtbaren und Schmerzlichen ihr auch dadurch
aufgedrückt, daß die Darstellung des Leidens, also von Tod, Wunden,
heftigen Schmerzen, einen wesentlichen Bestandteil ihres Jnhaltes ausmacht
─ dasjenige also, was Aristoteles im Kap. 11 der Poetik als
πάθος (auch παθήματα, wie auch sonst im griechischen Sprachgebrauch
üblich) in dem engeren, spezifischen Sinne von „Erleidnis“ bezeichnet;1
πάθος δ' ἐστὶ πρᾶξις φθαρτικὴ \̓η ὀδυνηρὰ, οἷον ὅι τε ἐν τῷ
φανερῷ θάνατοι καὶ οἱ περιωδυνίαι καὶ τρώσεις καὶ ὅσα τοιαῦτα.
Es liegt auf der Hand, daß das Element solcher „schweren Erleidnisse
in der äußeren Handlung zur unumgänglich notwendigen Voraussetzung
hat, daß es durch die in der inneren Handlung wirksamen
Faktoren herbeigeführt sei; dergleichen als durch den Zufall oder durch
bloße Naturkräfte veranlaßt darzustellen, wäre gänzlich undichterisch;
wo sich die Dichter natürlicher Vorgänge zu solchem Zwecke bedienen,
bilden dieselben doch nur den Vollzug innerer, freilich den Göttern zugeschriebener
Handlungen: solcher Art ist Philoktets Erkrankung, der
Tod des lokrischen Ajax, des Odysseus Schiffbruch; in den Nibelungen
findet sich dergleichen nicht.


Wo dies Element des Pathetisch-Leidvollen den Grundcharakter
der Handlung abgibt, wird, wie schon oben bemerkt, als bestimmender
Motor der inneren Handlung das Pathos, im psychologischen
Sinne des Wortes, der Empfindungsimpuls, zur Leidenschaft gesteigert,
vorherrschen; hier wird der Verlauf der äußeren Handlung im Ganzen
und Großen ein einfacher sein können, nach dem gewöhnlichen, wahrscheinlichen
und notwendigen Gang der Dinge sich entwickeln, was nicht
ausschließt, daß im Einzelnen manches wider Erwarten geschieht und

1
Vgl. hierüber wie überhaupt über den Gebrauch dieser Termini die Abhandlung
des Verfassers: „Pathos und Pathema im Aristotelischen Sprachgebrauch.
Königsberg i. Pr. 1873 (bei Wilhelm Koch), durchweg und speciell Abschnitt IV,
S. 28─40.
|#f0295 : 277|

mancherlei Wunderbares sich ereignet. So ist nach des Aristoteles Urteil
die Komposition der Jlias einfach und pathetisch.


Andrerseits wird, wo in der inneren Handlung leidenschaftliche Jmpulse
als bestimmend keine oder nur eine geringe Rolle spielen, dagegen
das Ethos herrschend ist, die feste, ständige Gemütsart und Gesinnungsweise,
deswegen das pathetisch=leidvolle Element zwar keineswegs
ausgeschlossen sein, aber es wird erstlich nicht den Grundcharakter der
Handlung bilden, nicht dem Gedicht, als Ganzes genommen, seine
Färbung geben; sodann aber wird die bewegende Ursache desselben statt
in der inneren in der äußeren Handlung liegen müssen, also in Handlungen,
welche zu der eigentlichen Handlung von außen hinzutretend für
dieselbe bedingend werden, so daß also der Gang derselben statt einfach
zu sein ein verwickelter wird, mögen diese hinzutretenden Handlungen
nun vor der eigentlichen Handlung liegen, oder neben derselben hinlaufen
oder auch während derselben eingreifen, wie in der Odyssee. Die
wirksamsten Formen, in welchen sich solche Verwickelungen äußern, sind
nach des Aristoteles überzeugender Lehre die der Erkennung und die
der Peripetie, des plötzlichen, unglücklichen Umschlages der Handlung
in das Gegenteil des von dem Handelnden Gewollten und Erwarteten.1
Deshalb wird die Komposition der Odyssee von Aristoteles mit Recht
als verwickelt und ethisch bezeichnet.2


Jmmer aber liegt die eigentliche Wirkungskraft des Epos in
dem Gegenstande seiner Nachahmung und dem mit demselben verbundenen
Nachahmungszweck, in der Handlung, welche die reinen Schicksalsempfindungen
zur Geltung zu bringen geeignet ist.
Jn
einer solchen ist Ethos immer enthalten, auch wenn dasselbe nicht durch
eine besonders diesem Zweck gewidmete Darstellungsweise zum Ausdruck
gebracht wird, was, nach dem Obigen, ja doch nur unter gewissen Umständen
aus der Komposition der Handlung als Forderung hervorgeht;
so heißt es im Beginn des 15. Kapitels bei Aristoteles: ἕξει δὲ ἦθος
(sc.: ὁ μῦθος) ἐὰν ... ποιῇ φανερὸνλόγος \̓η ἡ πρᾶξις
προαίρεσίν τινα, χρηστὸν δὲ ἐὰν χρηστήν: „Die Fabel der
Dichtung wird Ethos enthalten, wenn ... die Darstellung oder die (vorgestellte)
Handlung eine Willensentscheidung kundmacht, und zwar ein
gutes Ethos, wenn die Willensentscheidung eine gute ist.“ Eher aber
kann der Mangel in der Nachahmung des Ethos ertragen werden als

1
Vgl. hierzu Aristoteles, Poet. Kap. 13 und 14; denn die hier enthaltenen
Bestimmungen haben für das Epos ebensowohl Geltung als für die Tragödie.
2
a. a. O. Kap. 24.
|#f0296 : 278|

der Mangel einer zweckentsprechend eingerichteten Handlung; durch diesen
wird der Nachahmungszweck verfehlt, durch jenen im schlimmsten Fall
doch nur beeinträchtigt. Es ist auch weit schwieriger die Handlung zu
komponieren als die Charaktere der Handelnden durchzuführen. Was
Aristoteles hierüber im sechsten Kapitel der Poetik die Tragödie betreffend
lehrt, gilt ganz ebenso für das Epos: ἀρχὴ μὲν οὖν καὶ οἷον ψυχὴ
ὁ μῦθος τῆς τραγῳδίας, δεύτερον δὲ τὰ ἤθη. ἔστι δὲ μίμησις
πράξεως, καὶ διὰ ταύτην μάλιστα τῶν πραττόντων. τρίτον δἐ ἡ
διάνοια. Zu deutsch: „Grundlage und gleichsam Seele der Tragödie
(wie des Epos) ist die Fabel, erst in zweiter Linie steht die Charakterdarstellung;
denn sie ist Nachahmung von Handlung, und vorzüglich um
der Handlung willen Nachahmung der handelnden Personen. Erst an
dritter Stelle kommt der Ausdruck der Reflexion.“ Dieses Dritte, die
Dianoia, ist als „Ausdruck der Reflexion“ wiedergegeben in Übereinstimmung
mit der von Aristoteles hinzugefügten Erklärung: τοῦτο
δ'ἐστὶ τὸ λέγειν δύνασθαι τὰ ἐνόντα καὶ τὰ ἀρμόττοντα: „sie besteht
in dem Vermögen dem Sachverhalt und der zugehörigen Begründung
den angemessenen Ausdruck zu geben.“


Unter den Fehlern in der Komposition der Handlung steht der
Mangel der Einheit obenan. Nicht in der Einheit des Helden besteht
dieselbe, denn, wie Aristoteles diesen Satz im achten Kapitel ausführt,
unter den tausendfachen und der Gattung nach unendlich verschiedenen
Ereignissen, die dem Raum und der Zeit nach zusammenhängend eintreten,
bildet eine beliebig herausgegriffene Gruppe noch lange keine
Einheit. Und so gehen auch von dem Einzelnen zahlreiche Handlungen
aus, die darum noch durchaus nicht eine einheitliche Handlung bilden.1
Der Begriff der Einheit hängt mit dem des „Ganzen“ und der
Vollständigkeit“ auf das Engste zusammen.


Ein Ganzes ist da vorhanden, wo Anfang, Mitte und Ende vorhanden
ist. Anfang ist dasjenige, was selbst nicht mit Notwendigkeit
als auf etwas Anderes folgend zu denken ist, also ohne Voraussetzungen
aufgenommen werden kann, was aber seiner inneren Natur nach so geartet
ist, daß Neues darauf folgen oder sich daraus entwickeln muß.
Ende ist das Gegenteil davon, was seiner inneren Natur nach so geartet
ist, daß es auf ein Anderes folgt, entweder nach dem Gesetz der
Notwendigkeit oder dem der Gewohnheitsregel, daß es aber selbst nichts

1
Vgl. Kap. 8: Μῦθος δ' ἑστὶν εἷς, οὐχ ὥσπερ τινὲς ὄιονται, ε\̓αν περὶ ἕνα ᾖ·
πολλὰ γὰρ καὶ ἄπειρα τῷ γένει συμβαίνει, ἐξ ὧν ἐνίων οὐδέν ἐστιν ἕν· οὕτω δὲ
καὶ πράξεις ἐνὸς πολλαί εἰσιν, ἐξ ὧν μία οὐδεμία γίνεται πρᾶξις.
|#f0297 : 279|

Anderes weiter im Gefolge hat; Mitte dasjenige, was sowohl selbst
notwendig auf etwas Anderes folgt als auch etwas Neues im Gefolge
hat. Nach diesen Regeln ist also bei einer richtig komponierten Fabel
Anfang und Ende keineswegs in das willkürliche Belieben gestellt, sondern
mit Notwendigkeit gegeben.1


Der Begriff der Vollständigkeit verlangt, daß sowohl Anfang
als Mitte und Ende nach allen Richtungen alles der einen Handlung
notwendig Zugehörige enthalten; der Begriff der Einheit erfordert,
daß nichts in der Darstellung der Handlung vorkomme, dessen Vorhandensein
oder Nichtvorhandensein für den Verlauf derselben gleichgültig
sei, was also fortbleiben würde, ohne die Handlung zu alterieren:
nur dasjenige bildet einen Bestandteil der einheitlichen Handlung, durch
dessen Fortlassung oder auch nur Umstellung das Ganze eine Veränderung
und Erschütterung erleidet.2


Die Forderungen der Ganzheit, Vollständigkeit und Einheit stehen
für jede epische Dichtung in der ersten Linie, mag dieselbe nun auf den
denkbar größten oder den geringsten Umfang angelegt sein. Dennoch
ist es eine der seltensten Erscheinungen, sie nach ihrer ganzen Strenge,
von der doch die künstlerische Wirkung des Gedichtes abhängt, erfüllt
zu sehen. Jn nichts unterscheidet sich das Kunstepos so sehr von dem
nationalen, dem sogenannten Volksepos, als in diesem Punkte;
beide sind ja der Gattung nach keineswegs verschieden, sie stehen unter
ganz denselben Gesetzen, sondern nur hinsichtlich ihres Ursprunges, und
selbst dieser Unterschied ist, sofern die Kunstdichtung gleichfalls aus dem
Quell der nationalen Sage schöpft, doch ein hauptsächlich quantitativer:
für die Dichter der großen nationalen Epen sprudelte dieser Quell reiner,
voller und lebendiger, sie durften ihn nicht aufsuchen oder den verschütteten
erst mühsam aufgraben; dagegen sind in den sogenannten Kunstepen
die fremden oder doch subjektiven, mehr oder minder willkürlichen Zu=

1
Das ist die fast wörtliche, dem Sinne jedoch genau entsprechende Übersetzung
von Aristot. Poet. Kap. 7: ὅλον δ'ἐστὶ τὸ ἔχον ἀρχὴν καὶ μέσον καὶ τελευτήν.
ἀρκὴ δ'ἐστὶν ὅ αὐτὸ μὲν μὴ ἐξ ἀνάγκης μετ' ἄλλο ἐστί, μετ' ἐκεῖνο δ'ἕτερον
πέφυκεν εἶναι \̓η γίνεσθαι· τελευτὴ δἐ τοὐναντίον \̔ο αὐτὸ μετ' ἄλλο πέφυκεν εἶναι,
\̓η ἐξ ἀνάγκης \̓η ὡς ἐπὶ τὸ πολύ, μετὰ δἐ τοῦτο ἄλλο οὐδέν· μέσον δὲ \̔ο καὶ αὐτὸ
μετ' ἄλλο καὶ μετ' ἐκεῖνο ἕτερον. δεῖ ἄρα τοὺς συνεστῶτας εὖ μύθους μἠθ' ὁπόθεν
ἔτυχεν ἅρχεσθαι μηθ' ο῟που ἔτυχε τελευτᾶν, ἀλλὰ κεχρῆσθαι ταῖς εἰρημέναις ἰδέαις·
2
Vgl. a. a. O. Kap. 8 am Schlusse: χρή οὖν καθάπερ καὶ ἐν ταῖς ἅλλαις μιμητικαῖς
ἡ μία μίμησις ἑνός ἐστιν, οὕτω καὶ τὸν μῦθον, ἐπεὶ πράξεως μίμησίς
ἐστι, μιᾶς τε εἶναι καὶ ταύτης \̔ολης, καὶ τὰ μέρη συνεστάναι τῶν πραγμάτων
οὕτως ὥστε μετατιθεμένου τινὸς μέρους ἤ ἀφαιρουμένου διαφέρεσθαι καὶ κινεῖσθαι
τὸ ὅλον· \̔ο γὰρ προσὸν \̓η μὴ προσόν μηδὲν ποιεῖ ἐπίδηλον, οὐδὲν μόριον τοῦ ὅλου ἐστίν.
|#f0298 : 280|

thaten bei Weitem häufiger und beträchtlicher. Sowie aber das Grundgesetz
der dichterischen Nachahmung von Handlungen, die Einheit des
Gegenstandes, angetastet wird, so leidet darunter naturgemäß auch der
Nachahmungszweck: die reine Anschauung und Empfindung des Schicksalswaltens
kann da nicht hervorgebracht werden, wo der unabänderlich
feste und streng notwendige innere und äußere Zusammenhang der dargestellten
Dinge nicht vorhanden ist. Je stärker daher der Fehler gegen
das Gesetz der Einheit ist, je mehr dieselbe bloß in die Person statt in
die Handlung verlegt ist, desto mehr muß der Nachahmungszweck ein
äußerlicher werden, desto mehr sich das Jnteresse an den bloßen historischen
Verlauf oder das thatsächliche Ergebnis des Erzählungs=„Stoffes“ heften,
endlich, wo die Einheit so weit aufgehoben ist, daß auch dieses Jnteresse
sich abschwächt, wird nur der Reiz des bunten Wechsels der dargestellten
Veränderungen, der fesselnden Gestalt des augenblicklich den Sinn beschäftigenden
Geschehnisses übrig bleiben. ──────


XVII.


Alle Forderungen, die an die Komposition des Epos zu stellen sind,
werden am vollständigsten durch die homerischen Epen erfüllt. Aber
schon Virgils „Aeneis“ zeigt den Beginn des Sinkens der epischen
Kunst. So kunstvoll vielfach die Erzählung ist, so sorgfältig die Charakterdarstellung,
der Ausdruck der Leidenschaften und Reflexionen, so vermögen
alle diese Vorgänge den Mangel der Einheit nicht aufzuwiegen:
die Verbindung zwischen dem ersten Teile, Aeneas Aufenthalt zu Carthago
und dem Selbstmord der verlasseneu Dido, und dem zweiten, dem Kampf
um Lavinia und Latium, ist eine ganz äußerlich erkünstelte; weder hat
der tragische Abschluß des ersten Teiles im vierten Buche die Kraft
eines Verhängnisses für den Helden, welches für den weiteren Verlauf
der Handlung entscheidend ist, etwa in der Art, wie Siegfrieds Verhältnis
zu Brunhild die gesamte Entwickelung der Handlung in beiden
Teilen des Nibelungenliedes bestimmt, noch werden die einzelnen Teile
des Ganzen durch das Ethos des Helden zusammengehalten, wie in der
Odyssee, wo die ganze Reihe der Abenteuer entweder geradezu durch des
Helden charakteristische Sinnesart hervorgerufen oder in ihrem Ausgang,
ihrer Folge und Verkettung wesentlich durch diese das Ganze beherrschende
Kraft seines Ethos gestaltet wird. Wenn bei Virgils Helden ein solches
Ethos vorhanden ist, so müßte es das negative der Abwesenheit aller |#f0299 : 281|

Stärke der Leidenschaft, aller festen Beständigkeit der Gemütsart und
Gesinnung und damit jedes entschiedenen Willens sein, womit er allerdings
am besten geeignet wurde, durch den Verlauf seiner Erlebnisse
den Faden zu liefern, an welchem der Dichter in erwünschter Weise
seine rhetorischen Glanzleistungen und fein berechneten politisch=tendenziösen
Effekte aufzureihen vermochte. Wie konnte damit der hohe Nachahmungszweck
des echten Epos bestehen? Das Beste fehlt dem gepriesenen
römischen Epos, Mark und Rückgrat und die lebendige Seele, statt des
Wesens herrscht der Schein, das Jnteresse ermattet.


Weiter noch entfernt sich das romantische Epos von den strengen
Forderungen der Kunst. Das allgemeine, und zwar das bei Weitem
am meisten den Charakter derselben bestimmende Kennzeichen der gesamten
romantischen Epik ist, daß in ihr durchweg das ethische Moment
überwiegt, aber nicht allein als innerlich wirkendes Moment, Art, Gang
und Komposition der Handlung durchdringend und beherrschend, sondern
als außerhalb stehender Faktor allenthalben die Fabel geradezu
selbst erschaffend.
Das Eigenartige ist, daß dieses Ethos also nicht
ein den einzelnen Gedichten besonders angehöriges ist, sondern daß es
in allen als ein und dasselbe erscheint. Das romantische Ethos
der aus dem christlichen Feudalstaat des Mittelalters sich im Verlauf
des elften und zwölften Jahrhunderts entwickelnden ritterlichen Gesellschaft
des Abendlandes hat ─ in seiner Verbindung germanischer und
keltischer Sinnesart mit den Elementen normännisch=fränkischer, romanischer
und arabisch=orientalischer Kultur, von Tapferkeit mit Abenteuerlichkeit,
von Gottes- und Herrentreue mit phantastischer Mystik und Courtoisie,
von Frauenminne mit Galanterie ─ aus sich heraus, als eine einzige
fortlaufende und gleichartige Aeußerung seines Wesens, die romantische
Sage und Dichtung erzeugt. Wie hell springt der das ganze Wesen
betreffende Unterschied in die Augen, wenn man daneben unser deutschnationales
Epos stellt! Hier ist „germanischer Mythos,“ lebendiger
Leib der Sage, innerlich bewegte Handlung, unmittelbare und reine
Anschauung gewaltigen Schicksals; der kunstlose Sänger ließ mit offenem
Sinne sich von dem mächtigen Zuge leiten, der, dem inneren Sinn der
Sage innewohnend, ihre aus weitem Gebiet gesammelten Erinnerungen
zu einem Mythos, einer einheitlichen Fabel zusammenfügte, und
er hat damit den höchsten und strengsten Anforderungen der Theorie
entsprochen: wirklich kann hier kein Teil der Handlung entfernt oder
an eine andere Stelle gesetzt gedacht werden, ohne daß der Bau des
Ganzen erschüttert würde.


Dagegen ist der Stoff der romantischen Epik von der Natur jener |#f0300 : 282|

vielgliedrigen, aber auf niederer Entwickelungsstufe stehenden Organismen,
welche beliebig geteilt werden können, ohne daß damit ihre Lebensfähigkeit
zerstört wird. Die Mehrzahl der Dichter, die aus demselben schöpften,
begnügten sich, ihn lediglich nach der Einheit der Person zu begrenzen,
ohne ihn im Übrigen organisch zu gestalten; von dieser Art sind die
französischen „Romans,“ die so oft unsern mittelhochdeutschen Dichtern
als Quellen gedient haben. Eine höhere Stufe nahmen diejenigen Erzähler
ein, welche eine Gruppe dieser beliebig aneinander gereihten
Einzelhandlungen dadurch zu einer Art von Einheit zu gestalten suchten,
daß sie dieselben äußerlich mit einem Rahmen umgaben. So weiß
Hartmann von Aue den Schein stofflicher Einheit zu erwecken, wenn
er im „Erec“ das Jnteresse auf die endliche Lösung der Enite von der
Strafe für den Zweifel an ihrem Ritter gespannt hält, und wenn er
im „Jwein“ ebenso die Verstoßung des Ritters durch die Königin
Laudine und die schließliche Versöhnung der beiden verwendet: was in
beiden Fällen triumphiert, ist doch wieder nur die Berechtigung des
ritterlich=romantischen Ethos als solchen. Es fehlt daher sehr viel daran,
daß die Natur des Stoffes überwunden wäre, der Abenteuer auf
Abenteuer häuft, nur um der Freude am Geschehen willen und ohne
Stetigkeit des Fortschreitens der inneren Entwickelung, so daß sowohl
Fortlassungen als Veränderungen in großer Ausdehnung vorgenommen
werden könnten, ohne die äußere Einheit des stofflichen Jnteresses zu
alterieren.


Um ein Großes stehen Wolfram von Eschenbach und Gottfried
von Straßburg
voran, weil sie die Einheit ihrer Dichtung
in die innere Struktur verlegten; beiden standen schwer zu überwindende
Hindernisse entgegen, die dem letzteren nach der Natur seines Stoffes
und der glücklichen Leichtigkeit seines Talentes zu einem Teile wenigstens
in weit höherem Grade zu bewältigen gelang als dem andern, der
freilich sich ein weit höheres Ziel gesteckt hatte. Beide treten sie dem
ritterlich=romantischen Ethos, welches bei Beiden reichlich zur
Darstellung gelangt, kritisch gegenüber, indem sie es zu den allgemeinen,
das menschliche Leben beherrschenden seelischen
Mächten in Verhältnis setzen:
dabei ergibt sich in beiden Fällen
ein Schicksalsverlauf, dieser Schicksalsverlauf bildet für beide die
Einheit der epischen Handlung, nach der sie trachteten. Bei Gottfried
ist es die Urgewalt der Liebesleidenschaft, die wie eine Naturkraft der
Konvenienz der ritterlichen Gesellschaft gegenübergestellt ist, sie durchbricht
und vernichtet und in solchem Widerstreit unaufhaltsam zu tragischem
Ausgang hindrängt: tragisch ist der Verlauf, weil ungeachtet |#f0301 : 283|

dessen, daß die Liebe Tristans und Jsoldens in jedem Moment der
Handlung gegen diese Gesellschaft in offenbarem und schwerem Unrecht
ist, sie nichtsdestoweniger durch die Kraft ihrer Wahrheit, durch ihre
Tiefe und ihren echten inneren Reichtum, gegenüber dem diese Gesellschaft
beherrschenden fiktiven Scheinbilde der Empfindung, einen unzerstörbaren
und von jedem gefühlten Rechtsanspruch behauptet, und daß
sie dennoch nach dem unerbittlichen Gesetz, von dessen ewiger und unverletzlicher
Geltung der Bestand aller menschlichen Lebensgestaltung abhängt,
zum Verderben führt. Hier zuerst ist das Naturrecht wahrer
Empfindungskraft zwar nicht als solches proklamiert, aber dieses Naturrecht
ist in Handlung vor Augen geführt und in Widerstreit gesetzt mit
der bestehenden Gesellschaftsordnung; wie alle stärksten und segensreichsten
Kräfte erweist sich auch diese, von der rechten Stelle und aus der ihr
bestimmten Bahn gebracht, als verhängnisvoll und zerstörend. Anlage
und Neigung führten den Dichter von „Tristan und Jsolde“ aber dazu,
daß er bei weitem größeren Nachdruck auf die Darstellung der Kraft,
Tiefe und Wahrheit der Empfindung legt, die er durchweg mit den
schönsten und lebhaftesten Farben zu malen weiß, als auf die Vorbereitung
und Durchführung des tragischen Elementes der Handlung, auf
dem zuletzt die Einheit, Kraft und Würde der Dichtung beruht;
vielleicht hat das in diesem wesentlichen Punkte vorhandene Unvermögen
des Dichters es am meisten verschuldet, daß sein Epos unvollendet blieb.
Desto stärker und deutlicher war er sich seiner Kraft bewußt; er legt
davon auf dem Höhepunkte der Dichtung, im siebzehnten Abschnitt, wo
das Liebesgeständnis zwischen Tristan und Jsolde erfolgt ist, ein ausdrückliches
Zeugnis ab;1 ja man möchte aus dem Verlaufe dieser Stelle,

1
Jch führe die schöne Stelle nach dem R. Bechsteinschen Texte (mit Hinzufügung
der Simrockschen Übersetzung) hier an, da sie in hohem Grade geeignet ist, darzuthun,
in wie absichtlicher Weise Gottfried seine Schilderung der echten Liebe der konventionellen
Entartung des Minnewesens entgegenstellte. Er fügt der Erzählung, wie nun Tristan
und Jsolde ihren Liebesbund besiegelt haben, das Folgende hinzu (s. XVII, V. 12204 ff.):
[Beginn Spaltensatz]
ich hân von in zwein vil gedâht
und gedénke hiute und alle tage;
swenne ich liebe und senede klage
vür mîniu ougen breite
und ir gelegenheite
in mînem herzen ahte,
sô wahsent mîn trahte
und muot mîn hergeselle,
als er ín die wolken welle.
swenn' ich bedenke sunder
[Spaltenumbruch]
Über beide hab' ich viel gedacht
Und denke heut und allezeit:
Wenn ich Liebeslust und Leid
Mir will vor Augen breiten,
Jhr Wechseln und ihr Streiten
Jm Herzen zu betrachten,
So wächst mein sehnlich Trachten
Und Mut, mein Heergeselle,
Als ob er in den Himmel schwelle.
Wenn ich der Wunder denke,
[Ende Spaltensatz]
|#f0302 : 284|

sowie auch aus dem Eingange des ganzen Gedichtes schließen, daß es
ihm vor allem darauf ankam, durch seine Erzählung dem erschlafften
Zeitalter gleichsam wie in einem Zauberspiegel ein Bild vorzuhalten, an
dem es erkennen könnte, was echte Liebe und überhaupt echte Empfindung

[Beginn Spaltensatz]
daz wunder und daz wunder,
daz man an liebe funde
der ez gesuochen kunde;
was fröude an liebe laege,
der ir mit triuwen phlaege:
sô wirt mîn herze sâ zestunt
groezer danne setmunt;*
und erbármet mich diu minne
von allem mînem sinne,
daz meistic alle, die der lebent
an minnen hangent und klebent
und ir doch niemen rehte tuot.
wir wellen alle habent muot
und mit minnen umbe gân.
nein, minne ist niht alsô getân,
als wir s' ein ander machen
mit välschlîchen sachen.
wir nemen der dinge unrehte war,
wir saejen bilsensâmen dar
und wellen danne, daz uns der
liljen und rôsen ber.
entriuwen, des mac niht gewesen;
wir müezen daz her wider lesen,
daz dâ vor gewerket wirt,
und nemen, daz uns der sâme birt.
wir müezen snîden unde maen
daz selbe, daz wir dar gesaen.
wir bû'wén die minne
mit gegelletem sinne,
mit valsche und mit â'kúst
und suochen danne an ir die lust
des lîbes unde des herzen:
sone birt si niuwan smerzen,
unguot und unfruht unde unart,
als ez an ir gebûwen wart.
als ez uns danne riuwe birt
und innerhalp des herzen swirt
und toetet uns dar inne,
sô zîhen wir's die minne
[Spaltenumbruch]
Mich wundernd drein versenke,
Die an der Liebe fände,
Wer zu suchen nur verstände,
Was Freud' an Liebe läge,
So man sie mit Treuen pfläge:
So wird das Herz mir gleich zur Stund
Größer fast als Septimund,
Und erbarmt mich dann die Minne
Von ganzem Herzenssinne,
Daß die Meisten, die da leben,
An Minne haften und kleben,
Und der ihr Recht doch niemand thut.
Wir haben alle guten Mut
Zu wandeln auf der Liebe Bahn.
Nein, Minne ist nicht so gethan,
Wie wir uns weis wohl machen
Mit trügerischen Sachen.
Man nimmt der Dinge übel wahr,
Sät Bilsen aus im Februar,
Und wundert sich am Erntetage,
Daß er Rosen nicht und Lilien trage.
Jn Treuen, das mag nimmer sein,
Wir heimsen andre Frucht nicht ein,
Als wir in das Feld gestreut,
Wir ernten, was der Same beut.
Wir müssen schneiden und mähen,
Was wir in den Acker säen.
Wir bauen die Minne
Mit galligem Sinne,
Trug und Falschheit in der Brust,
Und fordern dann von ihr die Lust
Des Lebens und der Herzen.
So bringt sie uns nur Schmerzen,
Unsüße Frucht von arger Art,
Die von uns selbst gezogen ward.
Hernach wenn uns die Reue trifft,
Uns in dem Herzen schwiert ihr Gift
Und tödtet uns darinne,
So zeihen wir's die Minne
[Ende Spaltensatz]
*
Das Wort ist unerklärt; Simrocks Übersetzung „Septimund“ folgt der Konjektur
septimunt == Siebengebirge (andere verstehen es als „Septimer“).
|#f0303 : 285|

sei, und wie weit, was ihm dafür gelte, davon entfernt sei. Nach dieser
Richtung gelingt ihm alles so wohl ─ nicht allein in der Haupthandlung,
sondern auch in den Nebenhandlungen (man denke an Riwalin
und Blanscheflur, an Rual li Foitenant und sein ganzes Haus) ─, er

[Beginn Spaltensatz]
unde schuldegen sî dar an,
diu schulde nie daran gewan.
............
des guoten vinden wir dâ niht,
des unser iegelicher gert
und des wir alle sîn entwert:
daz ist der staete friundes muot,
der staetecliche sanfte tuot,
der die rô'sen bî dem dorne treit
die senfte bî der arebeit;
an dem ie lît verborgen
diu minne bî den sorgen,
der an dem ende ie fröude birt,
als ofte als er beswaeret wirt,
den vindet man ie lützel nuo:
als vórwérke wir dar zuo.
Ez ist vil wâr, daz man dâ saget:
„Minn' ist getriben unde gejaget
in den endelôsten ort.“
wir haben an ir niwan daz wort:
uns ist niwan der name beliben
und haben ouch den alsô zetriben,
also verwortet unde vernamet,
daz sich diu müede ir namen schamet
und ir daz wort unmaeret;
si swachet unde swaeret
ir selber ûf der erde;
diu êrelôse unwerde,
si slîchet under hûsen biten
und treit von lasterlichen siten
gemanicvaltet einen sac .....
..............
Minn', aller Herzen Künigin,
diu frîe, diu eine
diu ist umb' kouf gemeine,
wie habe wir unser hêrschaft
an ir gemachet zinshaft!
wir haben ein boese conterfeit
in daz vingerlîn geleit
und triegen uns dâ selbe mite.
ez ist ein armer trügesite,
[Spaltenumbruch]
Und geben ihr die Schuld daran,
Die nie daran die Schuld gewann.
............
Wir finden nichts von dem Genuß,
Des unser Jeglicher begehrt
Und der uns billig bleibt verwehrt.
Den Genuß gibt stäter Freundesmut,
Der sanft zu allen Stunden thut,
Der bei dem Dorn auch Rosen trägt
Und Süßigkeit bei Schmerzen hegt,
Jn dem bei allen Sorgen
Die Minne liegt verborgen,
Der stäts am Ende Freude schenkt,
Wie oft er auch in Kummer senkt:
Den findet man so selten nun,
Die Ernte bringt das falsche Thun.
Es ist wohl Wahrheit, was man sagt:
„Vertrieben wird und ausgejagt
Die Minne bis zum fernsten Ort.“
Von ihr verblieb allein das Wort,
Uns ist der Name nur geblieben,
Den haben wir auch so zerrieben,
So abgejagt und lahm gehetzt,
Ermüdet schämt sie sein sich jetzt.
Das Wort macht ihr Beschwerde,
Sie ward sich auf der Erde
Schier selbst zuwider und zur Last,
Sie ist da ein unwerter Gast.
Sie geht von Haus zu Hause bitten
Und führt mit lästerlichen Sitten
Angefüllten Sack herum u. s. w.
............
Minn', aller Herzen Königin,
Mit ihren freien Gaben,
Jst nun um Geld zu haben.
Wir würd'gen unsre Herrlichkeit
An ihr herab zur Zinsbarkeit:
Wir fassen einen falschen Stein
Jns edle Gold am Fingerlein
Und trügen so uns selber auch.
Welch armsel'ger Lügenbrauch,
[Ende Spaltensatz]
|#f0304 : 286|

befindet sich hier so ganz in seinem Element, daß er den Ernst des
unerbittlichen Schicksals aus den Augen verliert und mit allen seinen
Reizen und großen Vorzügen unter der Höhe des Epos bleibt, dessen
Würde und Größe unzertrennlich von seiner strengen Einheit sind: diese

[Beginn Spaltensatz]
der friunden alsô liuget,
daz er sich selben triuget.
wir falschen minnaere,
der Minnen trügenaere,
wie vergânt uns unser tage,
dáz wir únsérre klage
sô selten liebez ende geben!
wie vertuon wir unser leben
âne liep und âne guot!
nu gît uns doch daz guoten muot,
daz uns ze nichté bestät.
swaz iemen schoener maere hât
von friuntlichen dingen,
swaz wir mit rede vür bringen
von den, die wîlen wâren
vor manegen hundert jâren,
daz tuot uns in dem herzen wol
und sîn derselben state sô vol,
daz lützel iemen waere
getriuwe unde gewaere
und wider den friunt ân â'kúst,
ern möhte sus getâne lust
von sîn selbes sachen
in sînem herzen machen,
wan uns daz selbe z' aller zît
mit jâmer under füezen lît,
dâ von ez allez ûf erstât:
deist triuwe, diu von herzen gât;
diu treit sich uns vergebene an;
sô kêre wir daz ouge dan
und trî'bén die süezen
unwertlich under füezen;
wir haben si mit unwerde
vertreten in der erde;
ob wir si gerne suochten dâ,
wir enwízzen alles gâhes wâ.
sô guot, sô lônbaere
triuw under friunden waere,
war umbe lieben wir si niht?
ein blic, ein inneclîch gesiht
ûz herzeliebes ougen
[Spaltenumbruch]
Wer Freunden also lüget,
Daß er sich selber trüget!
Wir Minner falscher Sinne,
Verfälscher wahrer Minne,
Wie vergehn uns unsre Tage,
Daß wir unsrer Klage
So selten liebes Ende geben!
Wie verthun wir unser Leben
So ohne Lieb' und wahres Gut.
Gibt es uns doch guten Mut,
Wo es auf fremdem Felde sprießt.
Was jemand schöner Mären liest
Von freundlichen Dingen,
Was wir zur Sprache bringen
Von solchen, die da waren
Vor manchen hundert Jahren,
Das thut uns in dem Herzen wohl
Und sind des gleichen Fugs so voll,
Daß selten jemand wäre,
Der Treue trüg' und Ehre
Und dem Freund kein Falsch in seiner Brust,
Er möchte sogethane Lust
Jn Herzen und in Sinnen
Sich selber wohl gewinnen.
Denn unter unsern Füßen liegt
Mit Jammer kläglich hingeschmiegt,
Wovon so holdes Glück entsteht:
Das ist Treue, die von Herzen geht;
Die trägt sich uns vergebens an:
Die Augen kehren wir hiedann
Und treten leider die Süße
Gleichgültig unter die Füße.
Die wir da liegen ließen
Und in die Erde stießen,
Wollten wir sie suchen dort,
Wir wüßten kaum sogleich den Ort.
So guten Lohn die rechte
Treu' unter Freunden brächte,
Warum lieben wir sie nicht?
Ein Blick von holdem Angesicht
Aus den geliebten Augen
[Ende Spaltensatz]
|#f0305 : 287|

strenge Einheit kann durch nichts anderes gegeben werden, als durch
die Vorführung eines Schicksalsvollzuges, der geeignet ist, die reinen
Schicksalsempfindungen zu erzeugen. Es ist nicht so sehr der fehlende
Abschluß,
der diesen Mangel fühlbar macht, als vielmehr die Abwesenheit
des tragischen Bewußtseins bei dem Dichter, das schon
bei der Anlage der Handlung vorausdeutend sich kundgeben und ihren
Fortgang überall erfüllen müßte. Dieses höchste Einheitsgefühl, wie
es z. B. in dem Nibelungenliede mit lebendigster Kraft wirksam ist und
wie es aus dem immerfort gegenwärtigen Bewußtsein des Schicksalsverlaufs
ganz ohne Theorie einfach und mit Notwendigkeit entspringt, vermag
auch allein das überflüssige und darum schädliche Episodenbeiwerk
des Rohstoffes auszuscheiden und die entstellenden Züge, die störenden
Elemente desselben hinwegzuläutern. Ein merkwürdiges Zeugnis, wie
unkritisch und des Wesentlichsten ahnungslos Meister Gottfried und sein
Publikum noch dem Stoff gegenüberstanden, ist die Unbefangenheit, mit
der er im achtzehnten Abschnitte den entsetzlichen Mordanschlag Jsoldens
gegen ihre getreue Brangäne berichtet, die ihr eben das höchste Opfer
gebracht hat, ein Mordanschlag, dem von seiten der Anstifterin nichts
zur That fehlt; und diese Unthat ist nicht allein in der Ökonomie der
Handlung ohne alle Bedeutung, sie kann ohne weiteres einfach gestrichen
werden, sondern, was viel schlimmer ist, sie bleibt auch sittlich und
psychologisch ohne alle Konsequenzen, sie vermag weder dem Dichter das
glänzende Bild seiner Heldin zu trüben, noch hat sie irgend einen Einfluß
auf ihr Schicksal, was selbst in dem primitivsten Märchen unerhört
sein würde. Die einzige Reflexion, zu der sich der Dichter bei
dieser Affaire im Vorübergehen herbeiläßt, ist die folgende (s. v. 12713 ff.):


diu sorchafte Künigîn
diu tete an disen dingen schîn,
daz man laster unde spot
mêre fürhtet danne got.


Umgekehrt liegt das Verhältnis in WolframsParzival“: vor
Allem ist dem Dichter die Durchführung des Schicksalsverlaufs angelegen,


[Beginn Spaltensatz]
der leschet âne lougen
hunderttusend smerzen
des lîbes unde des herzen.
ein kus in liebes munde,
der von des herzen grunde
her ûf geslichen kaeme,
ahî, waz der benaeme
seneder sorge und herzenôt!
[Spaltenumbruch]
Mag doch zu löschen taugen
Hunderttausend Schmerzen
Des Leibes und der Herzen.
Ein Kuß von liebem Munde,
Der von des Herzens Grunde
Heraufgedrungen käme,
Ach, wie viel benähme
Der sehnlich Leid und Herzensnot!
[Ende Spaltensatz]
|#f0306 : 288|

dem, wenn auch äußerlich dem Gedichte die strenge Einheit zu fehlen
scheint, doch im Grunde ein jeder Teil der weitverzweigten Handlung
untergeordnet ist; dagegen ist Wolfram der, in seinem Falle allerdings
weit schwierigeren Aufgabe, die jenen Schicksalsverlauf bedingende psychologische
Entwickelung in Handlung darzustellen, bei weitem nicht in dem
Grade gerecht geworden, wie sein rivalisierender Zeitgenosse Gottfried.
Während dieser es mit der bloßen Andeutung des überlieferten Symboles
sein Bewenden haben läßt und dafür der sachlichen und ethischen
Entfaltung der Handlung in vollster Breite ihr Recht geschehen läßt,
begnügt sich Wolfram an allen wichtigen Wendepunkten der inneren
Handlung fast allein mit der allerdings höchst umständlichen Vorführung
der symbolischen oder auch allegorischen Handlung, der er umgekehrt die
direkte Darstellung psychologisch=ethischer Zustände nur andeutend hinzufügt.
Aber so entscheidend ist jener erste, fundamentale Vorzug, die
Bewahrung der einheitlichen Gesamtanlage, daß ihm nichtsdestoweniger
und trotz der glänzenden Meisterschaft Gottfrieds mit Recht vor diesem
der Preis zugesprochen wird.


Der Parzival ist ein ethisches Epos, das heißt also seine Handlung
ist in ihrem Verlauf nicht so sehr durch die von außen herzutretenden
Geschicke als vielmehr durch die von innen heraus wirkenden
Seelenzustände des Helden bedingt; die Handlung ist ferner eine verwickelte,
und zwar durch Peripetie und Erkennung, welche sich in
diesem Falle auf die Sache bezieht. Der Held geht gerade durch die
Art, wie er sein Ziel zu erreichen strebt, desselben nicht allein verlustig,
sondern er erreicht damit das Gegenteil desselben, welches für ihn mit
einem völligen Glückswechsel verbunden ist; durch die Erkennung des
Zieles sowohl als des wahren Verhältnisses zwischen dessen Beschaffenheit
und seinem Streben wird er dann in den Stand gesetzt, es zu erringen
und damit einen abermaligen, diesesmal günstigen Glückswechsel zu bewirken.
Auch Gottfrieds Epos ─ um zur Vergleichung auch über
dieses ein abschließend formuliertes Urteil hinzuzufügen ─ ist ethisch,
aber seine Handlung ist einfach, sie führt in gerader Linie zu ihrem
Ziel: dieses Ziel mußte schweres Leiden der Betheiligten sein, die epische
Handlung müßte damit den Charakter des Pathetischen ─ des „Leidvollen
in dem oben definierten aristotelischen Sinne ─ erhalten;
aber dieser Grundcharakter der Handlung dürfte sich keineswegs allein
im Ausgange offenbaren, sondern müßte dem gesamten Epos seine
Färbung geben. Daß diese Färbung der Dichtung Gottfrieds fehlt,
zerstört ihren einheitlichen Grundcharakter ─ und würde ihn ebenso
zerstören, wenn auch der Dichter das unglückliche Ende des Helden und |#f0307 : 289|

der Heldin noch hinzugefügt hätte ─, und damit ist ihr ein großer
Teil ihres Wertes geraubt. Durch jenen Mangel geschieht es, daß das
Gedicht ohne feste Haltung zwischen dem Wesen der komischen Erzählung,
wo das Frivole ein absichtsvoll verwandtes Darstellungsmittel ist, und
dem des ernsten Epos schwankt, wo es als Frevel erscheint und tragische
Sühnung erfordert: es genügt an das heillose Spiel mit dem Gottesurteil
zu erinnern, das nur als anekdotenartiger Schwank unter Entfernung
aller realen Beziehungen zu ertragen wäre, ferner an den abgefeimten
Betrug mit dem Schwerte in der Minnegrotte und an die
ganze Reihe der eines Bocaccio würdigen Täuschungen des guten, aber
gleichfalls auf der Grenze der komischen Darstellung stehenden Marke.


Dagegen verdankt der Parzival, ungeachtet der freien, nicht selten
an den Humor streifenden Bewegung der Erzählung, der festen Fügung
des Grundplanes die Einheitlichkeit des Tones und die kraftvolle Haltung
des Ganzen und damit seine Bedeutung und die Größe seiner
Wirkung. Die Handlung besteht in der Gewinnung des Gralkönigtums
durch den Helden:
zu den wesentlichsten Erfordernissen
ihrer Darstellung gehört somit, daß sie einerseits die Bedeutung
dieses Gralkönigtums
vorführe, andrerseits die Beschaffenheit
des Helden
dieser Bedeutung gegenüber. Nach diesem einheitlichen
Gesichtspunkte und diesen Erfordernissen ist der Dichter, mag er nun
ganz selbständig gehandelt haben oder ihm von seiner Quelle schon
wesentlich vorgearbeitet sein, bei der Auswahl, Gestaltung und Disponierung
des stofflichen Materials durchweg verfahren, freilich mit unentwickelter
Technik, oft mit unzulänglichen Mitteln. Das Wesentlichste
ist ihm zunächst die Darstellung der ethischen Beschaffenheit seines
Helden: seine Kunst gewährt ihm dazu kein anderes Mittel, als das
naive Verfahren ab ovo zu beginnen und den Hörer mit der Beschaffenheit
und Geschichte der Eltern bekannt zu machen, um ihn über Anlage,
empfangene Grundrichtung und Jugendgeschichte, kurz über die
Gesamtheit dessen, was nach allen Richtungen auf sein Wesen und
Schicksal bestimmend einwirkte, zu unterrichten. Aber selbst in dieser
schwerfälligen und scheinbar nur chronologisch geordneten Vorgeschichte
zeigen sich die Spuren der großartigen Weite und festen Bestimmtheit,
in welcher der Gesamtplan entworfen ist, insofern die wesentlichsten
Züge derselben auf die dem Gralkönigtum beigelegte Bedeutung hinweisen.
Das Gralkönigtum ist das Symbol der Vorstellungsweise, mit welcher
Wolfram von Eschenbach seinerseits sich der herkömmlichen Auffassung
des romantischen Rittertums, wie es auch noch bei Hartmann erscheint,
kritisch gegenüberstellt und sich hoch über dieselbe erhebt. Auf dem kirch= |#f0308 : 290|

lichen Boden steht auch jene; Tapferkeit und Treue, Edelmut und reine
Sitte werden auch dort als die höchsten Tugenden erkannt und in
Handlungen bewährt: alles dieses, das spezifisch ritterlich=romantische
Ethos in seinem reinsten Glanze, hat ebenso Wolfram seinem Gawain
verliehen und in einem weit ausgedehnten Teil seiner Dichtung zu
breitester Darstellung gelangen lassen. Aber diese Darstellung dient ihm
nur als Folie für seinen Helden, oder als stolzer Unterbau für die
noch herrlichere Erscheinung des Bildes, das ihn krönen soll. Für
diese höchste Vorstellung fehlen ihm nun jedoch die realen Darstellungsmittel
und er greift zu dem Symbol, das der ahnende Geist der Sage
ihm bietet. Faßt man, ohne sich in die problematische Deutung des
Einzelnen einzulassen, nur die großen, spezifisch unterscheidenden Züge
ins Auge, so ergibt sich das Folgende: an die Stelle der bloßen Kirchlichkeit
tritt eine den ganzen Menschen durchdringende, ethische Vertiefung
des religiösen Bewußtseins
─ wodurch der Parzival
allerdings eine innere Verwandtschaft mit dem Hauptmoment aller
religiösen Erneuerung, also auch der Reformation, erhält. Dadurch bedingt
tritt zu jenem Jnbegriff der ritterlichen Tugend eine neue Forderung
hinzu: die Aufgebung der eigenen Persönlichkeit zu
Gunsten der Allgemeinheit,
die Hingabe an die Heilung des
menschlichen Leidens nicht zum eigenen Ruhme, sondern um jenes Leidens
selbst willen; ─ in der Frage an Amfortas, an der alles hängt
und die, da sie gethan wird, durch ein Wunder die Heilung bewirkt,
liegt höchst treffend ausgedrückt, daß diese gesammelte, höchste Kraft,
sobald sie das Ziel ihrer Bethätigung richtig erkennt und ergreift, des
Erfolges gewiß ist. Durch die Verbindung der höchsten Kraft mit dem
regsten, tiefinnerlichen, religiösen Bewußtsein tritt an die Stelle der
aristokratisch=exklusiven Organisation der ritterlichen Gesellschaft,
die in allem Glanz ihrer Thaten doch immer nur sich selbst
Zweck ist, ein Königtum, welches die Quelle des inneren Heiles und
der äußeren Wohlfahrt für alle Länder, für die ganze Welt ist,
gleichsam ein ideales Kaisertum der ganzen Menschheit, dessen Hoheit
alles sich beugt, von dem die Erhaltung allen Rechtes und Gedeihens
abhängt und das überall, wo demselben Gefahr droht, ordnend eingreift,
ohne einer andern Autorität zu bedürfen als der Kraft seiner Sendung
─ dies letztere die Bedeutung des Verbotes der Frage an die ausgesandten
Gralsritter. Und noch ein höchst merkwürdiger Zug: dieses
ethisch=praktische Jdeal, dem das Rittertum zwar nachtrachtet, das aber
für dasselbe unerreichbar ist, steht der spezifisch ritterlichen Gewöhnung
so gegenüber, daß derjenige, der für dasselbe geboren ist, völlig außer= |#f0309 : 291|

halb der ritterlichen Traditionen erzogen werden muß, um es zu erlangen;
ja noch mehr: obwohl die Taufe unbedingt notwendig ist, um
des Grals überhaupt auch nur ansichtig zu werden, so ist doch die
ethische Gesinnungsweise und gewissermaßen die damit verbundene persönliche
Prädestination so sehr das Haupterfordernis für die Gemeinschaft
des Grals, daß die ethnische Kultur, weit entfernt ihre Träger
von derselben auszuschließen, unter Umständen sie vorzugsweise dafür
geeignet erscheinen läßt; ─ zu dem einzigen Begleiter, der ihm auf seinem
Zuge nach dem Gralstempel zur Gewinnung des Königstums gestattet
wird, erwählt Parzival seinen Halbbruder, den Heiden Feirefiß, nach
seiner Taufe verlangt dieser die Pflegerin des Grals zur Gemahlin,
und die Frucht dieses Bündnisses ist der Priester Johannes, der das
Christentum bis in die fernsten Länder des Ostens ausbreitet. Auf
dieses Faktum, das an den Schluß des Ganzen gestellt ist, weist schon
die Vorgeschichte hin:
Gahmurets Orientfahrten, seine Verbindung
mit der Heidenkönigin Belakane haben diese Bedeutung für den Gesamtplan.
Seine zweite Vermählung mit der aus dem Blute der Gralkönige
entsprossenen Herzeloide, zu welcher er halb gegen seinen Willen wie
durch höhere Fügung geführt wird, fördert den Dichter dann zu dem
Hauptgegenstande seines Planes: in dem aus dieser Ehe geborenen
Sohn diejenigen Anlagen und denjenigen Entwickelungsgang vorzuführen,
die allein die Gewinnung des Grals ermöglichen, eine That, die zugleich
die Erlösung von schweren, auf der Gesamtheit lastenden Leiden bedeutet.


Daß Wolfram sich zu dieser Schilderung weit überwiegend symbolischer
und sogar allegorischer Mittel bedient, ist die große Schwäche
seiner Dichtung, die ihm Gottfrieds harten Tadel zuzog, denselben, der
auch heute noch für viele, wenn nicht für die Mehrzahl, Geltung hat,
daß er zu denen gehöre:


[Beginn Spaltensatz]
die bernt uns mit dem stocke schate,
niht mit dem grüenen meienblate,
mit zwîgen noch mit esten.
ir schate der tuot den gesten
vil selten in den ougen wol.
............
die selben wildenaere
si müezen tíutáere
mit îr maeren lâzen gân:
wir enmúgen ir dâ nâch niht verstân,
als man si hoeret unde siht
sone hâ'n wir ouch der muoze niht
daz wir die glôse suochen
in den swarzen buochen.
[Spaltenumbruch]
Die möchten schatten mit der Stange,
Nicht mit dem grünen Laubbehange,
Mit Zweigen noch mit Ästen:
Jhr Schatte thut den Gästen
Gar selten in den Augen wohl.
............
So wilder Märe Jäger
Müssen Ausleger
Mit ihren Mären lassen gehn:
Wir können so sie nicht verstehn,
Wie man sie reden hört und liest.
Den Klugen auch die Zeit verdrießt,
Daß er im schwarzen Buche
Nach der Glosse suche.
[Ende Spaltensatz] |#f0310 : 292|


Aber wenn er die Vollendung der Form nicht erreichte, so war
seine Aufgabe inhaltlich die höchste und schwierigste, welche gestellt werden
kann, für die epische Poesie anders als durch symbolische Darstellung
unlösbar. Der Übelstand lag also in erster Linie in der Wahl des
Stoffes und erst in zweiter in der Darstellungsweise des Dichters, Fehler
und Vorzüge lagen auf derselben Seite. Wie überraschend ist das Talent
frischer, gegenständlicher Erzählung und reicher Charakteristik ─ weit
mannigfaltiger und lebensvoller als sie Hartmann je erreicht hat ─,
das Wolfram in den Gawain betreffenden Partien seines Epos zu entfalten
weiß, dieser scheinbar lose eingefügten großen Episode, welche
dennoch gewissermaßen negativ zur Deutlichkeit der Haupthandlung sehr
wesentlich beiträgt, da sie den ganzen Umfang dessen vor Augen führt,
was an Reiz und Lohn, an Ruhm und Wichtigkeit so lockend und hoch
hervorragend auf Parzivals Wege war, und was alles er um seines höheren
Zieles willen unbeachtet hinter sich liegen ließ. Trotz der unleugbaren
und oft verstimmenden Unbeholfenheit, Dunkelheit und Härte von
Wolframs Darstellung jedoch ist ihm eins gelungen, und dieses eine
ist zuletzt das Wesentlichste: die an den entscheidenden Wendepunkten
der Handlung seinen Helden beherrschenden ethischen
Zustände
hat er trotz alledem so nachzuahmen verstanden, daß überall
eine deutliche Empfindung derselben in den Hörer übergeht. Daß es
diese wichtigste poetische Kraft und daß es die echte epische Einheit besitzt,
bewirkt den Reiz, den das Gedicht ausübt, und sichert ihm seinen
hohen Rang.


Hoch über diesem weitaus hervorragendsten Epos der romantischen
Kunstdichtung aber stehen die deutschen Volksepen, das Nibelungenlied
und die Gudrun. Es kann hier nicht daran gedacht werden in den
großen Streit um die Nibelungenfrage nach seinem ganzen Umfange
einzutreten, wo auf der einen Seite die Autoritäten eines Lachmann
und Müllenhoff, auf der andern die der Gebrüder Grimm und Uhlands
stehen. Nur der Gesichtspunkt der epischen Einheit soll nach dem inhaltlichen
Material, wie der sogenannte gemeine Text es bietet, ins Auge
gefaßt werden.


Es ist die Mär von der „Nibelungen Not“, das Lied von
Chriemhildens Rache, oder wie die Handschrift D. schreibt „daz
Buoch Chreimhilden
“, welches aus einem weit umfassenden, noch
in lebendiger Überlieferung fortbestehenden Sagenkreise der ordnende
Dichter uns überliefert hat. Man wird mit Sicherheit anzunehmen
haben, daß diese Überlieferung eine poetische war, daß sie also in einer
großen Zahl von Liedern erfolgte, ebenso daß diese Lieder als im großen |#f0311 : 293|

und ganzen einer Kontinuität zugehörig sich darstellten; mit derselben
Sicherheit aber wird man anzunehmen haben, daß bei den tief eingreifenden
Wandlungen der Sage, welche unmöglich immerfort gleichzeitig sich
über den gesamten vorhandenen Bestand der Lieder erstrecken konnten,
während sie doch durch eine Reihe von Jahrhunderten sich hinziehen, in
diesen Liedern sich die stärksten Divergenzen herausgebildet haben, bis zur
völligen Verwischung einer großen Zahl von Motiven. Vor allem aber
wird festzuhalten sein, daß, wie groß oder wie klein man sich die Anzahl
der vorhandenen und fortgesungenen Lieder denken mag, ein jedes
derselben einzig und allein darin seine Entstehung gehabt, wie auch seine
Fortexistenz haben konnte, daß es ganz ohne alle Rücksicht auf
Vorhergehendes oder Folgendes für sich selbst ein Ganzes
bildete, in sich
also seinen Bestand besaß. Diesen Bestand als Ganzes
empfängt das Lied durch seinen Liedeszweck, durch das τέλος μιμήσεως,
durch die das Nachahmungsmaterial in Bewegung setzende Absicht des
Sängers. Diese ist die organisierende und beseelende Kraft, sie schöpft
aus dem der Zeit des Sängers im Bewußtsein schwebenden Sagenkomplex
und rundet zum Ganzen, indem sie ganz ähnlich wie in der Ballade
für die Erzeugung des nachzuahmenden Ethos alles Erforderliche, wenn
auch in knappster Kürze, herbeischafft und mit der Herstellung desselben
ihr Werk abschließt, so daß ein weiteres nicht allein nicht erfordert,
sondern notwendig wenigstens von dem selbständigen und abgeschlossenen
Organismus dieses Liedes ausgeschlossen wird. Es liegt in der Natur
solcher Lieder, daß nur einzelne Gipfelpunkte aus dem Gesamtgebiete
der Sage in ihnen dargestellt werden können; die verbindenden Bergzüge
und Kämme, die gliedernden Senkungen, Einschnitte und Thäler
werden nicht darin aufgenommen werden können; eben dieses ist der
Grund, warum bei solcher Fortpflanzung des Sagenstoffes in Liedern
die bedeutendsten und eingreifendsten Änderungen der Hauptmotive so
leicht stattfinden können, denn, um in dem früheren Bilde zu bleiben,
man kann auf einen und denselben Gipfel eben von den verschiedensten
Seiten hinaufgelangen. So ist es nicht allein sehr wohl denkbar, sondern
als gewiß anzunehmen, daß es Lieder gegeben haben wird von Siegfrieds
Kampf mit Brunhilde, und zwar zu den verschiedenen Zeiten sehr verschieden
lautende, ebenso von der Jagd im Odenwalde und von Siegfrieds
Ermordung, auch, seitdem die Sage sich so weit entwickelt hatte,
mannigfache Lieder, die den Kampf der Burgunden mit den Heunen
betrafen, aber jedes dieser Lieder für sich bestehend mit neuer, selbständiger
Einführung der Personen und Dinge; dagegen ist es völlig
undenkbar, daß Ereignisse und Teile der Handlung, welche einen ledig= |#f0312 : 294|

lich vorbereitenden oder den Zusammenhang vermittelnden
Charakter tragen, jemals als solche der Gegenstand von Liedern gewesen
sein sollten. So z. B. Siegfrieds oder Chriemhildens Jugendgeschichte,
wohlverstanden, so wie sie in unserm Nibelungenepos
behandelt sind;
denn an und für sich genommen, wäre ein
solches Lied von Siegfrieds Jugend freilich sehr wohl denkbar. Aber
wie müßte dasselbe ausgesehen haben? Kann es irgend jemand zweifelhaft
sein, das dieses Lied zum Kerne die bezeichnendsten Abenteuer und
Thaten des jungen Helden gehabt haben und allein um dieses Zweckes
willen gesungen worden sein müßte? Diese also in gegenständlichster
Darstellung hätten seinen Jnhalt abgegeben ohne die Hindeutung auf
irgend ein Folgendes, welche dem Liedeszweck gänzlich fremd gewesen
wäre. Aus anderm Grunde wird der Sachsenkrieg, der schlechterdings
nur in dem epischen Zusammenhange seine Motivierung als für das
Folgende erforderliche Episode hat, eine selbständige Existenz im Liede
schwerlich besessen haben. Von ähnlicher Natur ist die Schilderung der
Feier von Siegfrieds und Gunthers Hochzeit, von Chriemhildens Witwentrauer,
von Rüdigers Werbung, des größten Teiles der Ereignisse auf
dem Zuge der Helden zu Etzel, namentlich die schöne Episode ihrer gastliche
Aufnahme zu Bechlaren, und vieles andere derart.


Man wird hiernach mit Jakob und Wilhelm Grimm, mit Ludwig
Uhland, Simrock und vielen andern der Zwanzig-Lieder=Theorie Lachmanns
entschieden widersprechen müssen. Es ist so unmöglich, daß durch
die Zusammenfügung einer Anzahl von Liedern mit geringen Zusätzen
einiger verbindenden Strophen die festgegründete und wohlgeordnete
Einheit eines Epos entstehen sollte, als daß etwa durch die gemeinsame
Überdachung einer Gruppe der anmutigsten Pavillons, stolzer Schlößchen
und Burgen die symmetrisch gegliederte Architektur eines mächtigen
Palastes geschaffen würde.


Eine ganz andre Frage ist, ob dem epischen Dichter durch solchen
Vorrat von Liedern nicht höchst wesentlich vorgearbeitet sein mußte, und
ob er nicht umfängliche Partien daraus ohne weiteres in seine Dichtung
aufnehmen konnte. Wie die Existenz solcher Lieder ganz ohne Zweifel
ihm den Stoff und noch mehr die mächtig wirkende Anregung zu seinem
Epos gewährte, so überkam er sicherlich damit auch die Form, und bei
vielen und zwar den bedeutsamsten Punkten stellten aus der ihn umschwebenden
Fülle sich ihm kleinere oder auch größere Partien ein, die
er als fertige Werkstücke seinem Bau einzufügen vermochte. Bis so
weit würde man von der Hypothese Lachmanns freilich noch nicht so
sehr wesentlich abgewichen sein; aber die Hauptsache ist diese: nimmer= |#f0313 : 295|

mehr konnte auf solche Weise der Grundplan des Ganzen gleichsam ohne
Zuthun des Dichters sich bilden, nimmermehr die Anordnung und Ausarbeitung
des Stoffes ihm so von außen zuwachsen; ganz im Gegenteil
war es seine Hauptaufgabe und eine von den größten Schwierigkeiten,
die er zu überwinden streben mußte, dem von ihm, dem Einzelnen,
erdachten einheitlichen Plane gemäß das oft gewaltig widerstrebende
Material der Sage und die oft zähen Widerstand leistende Struktur
solcher übernommenen Partien umzuformen, anzupassen und einzuordnen,
eine Arbeit, die der Natur der Sache nach ihm nicht immer völlig wird
geglückt sein. Noch weit schwieriger freilich war es für ihn die vorhandenen
großen Lücken in der Motivierung und Ausführung des Stoffes
für den von ihm geschaffenen Plan aus eigener Schöpferkraft auszufüllen;
kein Wunder, daß hier neben Ausgezeichnetem sich auch Schwächeres
vorfindet und daß vielfach, namentlich in den Äußerlichkeiten, der allmächtig
herrschende Zeitgeschmack bestimmend wirkte. So leicht es ist, dasjenige
als „moderner“ auszuscheiden, was entschieden diesen letzteren
Charakter trägt, so vergeblich ist das Bemühen, die angeblichen „alten
Lieder“ zu rekonstruieren, die der Ordner „interpoliert“ haben soll.


Als ein schlagendes Beispiel mag gerade dasjenige Lied gewählt
werden, welches unter allen Lachmannschen Rekonstruktionen den glänzendsten
Anschein des Gelingens an sich trägt, das wahre Muster- und Probestück
seiner Methode, das „vierte“ Lied, welches den Kampf Siegfrieds
mit Brunhild erzählt. Von der siebenten Aventüre fallen hier volle
zwei Drittel der Athetese zum Opfer, von 127 Strophen bleiben nur
42 übrig. Natürlich hat, was stehen gelassen ist, nun einen überaus
schnellen und kühnen Gang, es ist eben nur das rein Thatsächliche
verschont geblieben; damit ist der Schein des Liedartigen gewonnen,
denn das Lied, dessen Zweck die Erweckung des Ethos, die Stimmung,
ist, hat die Weise, die äußere Handlung auf das Minimum in der Darstellung
zu beschränken. Aber eben auch nur dieser Schein ist erreicht!
Wir erfahren auch nicht das Mindeste außer der nackten Thatsache, daß
mit einer sehr starken Jungfrau ein Schwächerer kämpft, um sie zu gewinnen,
und daß durch die Tarnkappe den Blicken der Zuschauer entzogen
ein Stärkerer ihm dabei hilft; jede geringste Spur der inneren
Bedeutung
des Vorganges, auf die allein es dem Liede ankommt,
jedes Anzeichen der Beteiligung der Gemütskräfte von seiten der Handelnden
und Zuschauenden, ebenso jede derartige Wirkung auf die Hörenden
ist sorgfältig ausgelöscht. So fehlt dem „Liede“ auch die Selbständigkeit
und Rundung, es ist lediglich der äußerliche Hergang, der einen Abschluß
findet:

|#f0314 : 296|

Sô wol mich dirre maere,‘ sprach Sîfrit der degen,
daz iwer hôhverten alsô ist gelegen,
daz iemen lebet der iuwer meister müge sîn.
nu sult ir, maget edele, uns hinnen volgen an den Rîn.‘

Das „Lied“ selbst aber enthält nichts, wodurch es erlaubt oder, wie
es sein müßte, geboten wäre, an dieses Resultat eine bedeutende
Konsequenz anzuknüpfen, und zwar, wie das Lied es erfordert, um dadurch
in sich selbst getragen zu werden, die Vorstellung einer unmittelbar
erreichten Folge
damit zu verbinden, die ohne alle Rücksicht auf
das, was vorher sich ereignet hat und später sich ereignen wird, für
sich allein das Gemüt des Hörers ganz erfüllt und für sich allein völlig
beschäftigt. So wie Lachmann das vierte Lied hergestellt hat, kann es
nur als das Glied eines großen, wohl disponierten epischen
Zusammenhanges Geltung haben;
doch auch dafür sind ihm nun
wieder die wesentlichsten Teile, gerade alle diejenigen, welche die wichtigste
innere Motivierung enthalten, fortgeschnitten. Nur für denjenigen, der
diesen Zusammenhang ohnehin beständig vor Augen hat, ist es möglich,
über diesen augenscheinlichen Mangel hinwegzusehen; es ist aber unmöglich,
daß ein für sich bestehendes Lied seine wesentlichsten Stützen nicht
in sich, sondern außerhalb haben soll. Dasselbe Verhältnis wiederholt
sich fast allenthalben, wo der Liedertheorie größere Partien zum Opfer
gefallen sind, eine Ausnahme bilden nur die äußerlichen Zusätze, welche
ganz den höfischen Charakter tragen und mit dem eigentlichen Körper
der Sage in keiner organischen Verbindung stehen.


Sieht man von diesen, allerdings störenden, Zusätzen ab, so stellt
sich in unserm Nibelungenliede eine festgeschlossene Einheit dar, die Erfüllung
der schwierigsten Kunstforderung, ein künstlerisches Gelingen, von
welchem keinerlei Argumente je den Nachweis führen werden, daß es in
der Hauptsache dem Zufall zu danken sei.


So dankenswert und aufklärend die Forschungen über die mythischen
und historischen Bestandteile der Nibelungen für die Geschichte der
Sage sind, so haben sie oft genug für die Auffassung der epischen Dichtung,
wie sie uns nun einmal vorliegt, eher verwirrend gewirkt. Für die
Zeit des Dichters der Nibelungen war die Verschmelzung der mythischen
und historischen Elemente eine vollzogene Thatsache, jedoch so, daß die
ersteren ihrem ursprünglichen Zusammenhange nach zwar völlig verwischt,
in einer großen Zahl von Grundmotiven aber nichtsdestoweniger immer
noch vorhanden waren, ein Umstand, der für sich allein den spontanen
oder gleichsam zufällig sich gestaltenden Aufbau einer neuen Einheit statt
der alten mythischen, deren Existenzbedingungen erloschen waren, un= |#f0315 : 297|

möglich machen mußte. Der Dichter stand also einem Sagen- und Liederkomplex
gegenüber, in dem sehr vieles unklar, vieles widersprechend oder
zusammenhanglos war, vieles mächtig ergreifend und mit starken Zügen
auf eine irgendwie beschaffene innere Verbindung hinweisend. Es galt
dieselbe zu erkennen, soweit sie noch vorhanden und erkennbar war,
zum andern Teile sie herzustellen, und zwar auf der Grundlage einer
gegen die Zeit, als jener mythische Zusammenhang in Geltung war,
völlig veränderten Welt- und Lebensanschauung. Jn den
alten Mythen ist das Wunder konstitutiv, die Existenz der Personen
sowie jeder Fortschritt der Handlung beruht darauf; für den Dichter
und seine Zeit ist es aus diesen Regionen fast völlig verdrängt, es wird
noch geglaubt, aber es ist mehr auf dekorative Verwendung beschränkt.
Für den wesentlichen Bestand der Personen und der Handlung wird
Thatsächlichkeit und psychologisch klare Entwickelung verlangt;
in den äußeren Umständen, um entgegenstehende Hindernisse, Gefahren,
Kraftleistungen ins Ungeheure zu vergrößern, ferner um Natureindrücke,
damit zusammenhängende Stimmungen und Ahnungen zu
verkörpern, ist das Fabelhafte und Wunderbare noch vertraut und beliebt.
Natürlich nimmt das kirchliche Gebiet eine Ausnahmestellung ein.
Einer unbefangenen Betrachtung unseres Nibelungenepos kann es nicht
zweifelhaft sein, daß der Dichter desselben eifrig bemüht war, alles, was
aus den alten Liedern noch an mythischen Motiven wie fremdartiges
Urgestein in die Sage hineinragte, so viel als möglich zu tilgen oder,
wo das nicht anging, es doch abzuschwächen oder für den Gang seiner
Dichtung in die Nebenhandlung zu verweisen und für den weiteren
Fortgang der Haupthandlung ohne Folge zu lassen. Menschenschicksale
will er darstellen, sein Siegfried ist trotz Tarnkappe, Unverwundbarkeit
und Drachenkampf, was alles entweder nur schwach betont ist oder
doch nur als symbolische Darstellung der Kraft und Tapferkeit Geltung
hat, ein menschlicher Held, dessen Bedeutung und Jnteresse für uns
in seinen Gesinnungen, Thaten und Schicksalen liegt, die samt und sonders
rein menschlicher Natur sind; so ist es auch mit allen übrigen
Helden des Gedichtes mit alleiniger Ausnahme der Brunhilde, bei der
allerdings das Übernatürliche, was schon in ihrer Person an sich
liegt, nach dem Zusammenhange der Handlung nicht fortzuschaffen war.
Offenbar liegt hierin der Grund für den Umstand, welcher der Kritik
so viel zu schaffen gemacht hat, daß nämlich der Dichter an ihrem persönlichen
Schicksal keinen Anteil nimmt. Sobald sie den verhängnisvollen
Einfluß auf das Schicksal seines Helden ausgeübt hat, verliert er, ganz
nur mit diesem und dessen Folgen beschäftigt, sie aus den Augen; der |#f0316 : 298|

Einheitsmittelpunkt des Liedes von der „Nibelungen Not“ ist ein ganz
anderer geworden wie der des alten Mythus und schließt das Motiv
von Siegfrieds Liebe und früherem Verhältnis zu Brunhilde,
worauf jener sich aufbaut, gebieterisch aus.
Die neue
Dichtung beruht vielmehr auf der Voraussetzung des geraden Gegenteiles,
und der Dichter hat sichtlich alle Mühe aufgewendet, diese völlig
veränderte Grundlage des Ganzen auf das deutlichste erkennbar zu
machen. Dort ist der Gegenstand: die Liebe eines Halbgottes zu
einer Halbgöttin, die, da sie verraten oder vergessen wird,
wie ein verzehrendes Feuer ringsum Vernichtung verbreitet;

hier ist es die wandellose Treue der echtesten menschlichen
Liebe, für die es kein Vergessen gibt, die aber in ihrer
übermächtigen Stärke sowohl den Helden als die Heldin
unter dem Einfluß eines verhängnisvollen Schicksals in
tragische Hamartie verwickelt.


Chriemhild ist die Heldin des Liedes; die Eingangsstrophen, die
sie in den Vordergrund stellen, geben zugleich das Einheitsmotiv des
Ganzen an: aus ihrer Minne erwächst der Nibelungen Not.
Jhr ist sogleich Siegfried gegenübergestellt und es ist eine sehr absichtsvolle
Erfindung des Dichters, durch die er manches völlig verwischte
Motiv der alten Sage ersetzt, daß er von Anbeginn und dann mit öfter
wiederholter Betonung hervorhebt, wie Siegfried trotz seiner überragenden
Persönlichkeit und trotzdem er der Sohn eines unbhängigen Königs
ist, keineswegs etwa den burgundischen Königen dienstbar, doch nach Geschlecht
und Rang jenen bei weitem nicht gleichkommt, so daß seine
Werbung um Chriemhild einem jeden als ein überkühnes Beginnen
erscheint.


nie keiser wart sô riche, der wolde haben wîp,
in zaeme wol ze minne der rîchen küniginne lîp

läßt der Dichter Siegfried von ihr sagen (vgl. Str. 50, die von Lachmann
gestrichen), und von Siegmund, da er des Sohnes Absicht erfährt,
heißt es (Str. 51):


ez was im harte leit,
daz er werben wolde die vil hêrlîchen meit.

Die zahlreichen hierhin zielenden Wendungen gipfeln in Str. 56:


Waz mag uns gewerren?‘ sprach dô Sîfrit.
‚waz ich friuntlîche niht ab in erbit,
daz mac sus erwerben mit ellen dâ mîn hant.
ich trouwe an im erdwingen beidiu liute unde lant.‘
|#f0317 : 299|


Dieser Charakter der Werbung ist für die Folge von der größten
Wichtigkeit. Durch seine bloße Erscheinung wird Siegfried dem vielerfahrenen
Hagen nach dem Rufe seiner Thaten, der ihm vorausgegangen,
kenntlich. Es ist ein entschiedenes Zeichen von epischem Geschick, daß
der Dichter diese Gelegenheit benutzt, um jene Thaten dem Hörer bekannt
zu machen. Die Erwerbung des Nibelungenhortes, der Tarnkappe
und des Balmungschwertes, der Drachenkampf und die Gewinnung der
„hürnenen Haut“, alles früher Hauptmotive, haben als solche in der
neuen Gestaltung keinen Platz, doch sind sie bestimmt, an zweiter und
dritter Stelle eine Rolle zu spielen, und konnten auf keine Weise geschickter
eingeführt werden, als in der summarischen Art, wie es hier
geschieht. Von Lachmann ist die ganze Episode entfernt. Das Verhältnis,
aus dem die Verwickelung und die Katastrophe hervorgeht, ist
somit von vornherein in seinen Grundlinien festgestellt: Siegfried, eines
Königs Sohn, aber aus einem minder angesehenen Hause, kommt an
den glänzendsten Fürstenhof, um die Schwester der drei Könige zu gewinnen,
zu der er nach seiner Geburtsstellung sein Begehren nicht erheben
dürfte. Wegen seiner Stärke gefürchtet, wegen seines Reichtums
beneidet, erhält er, obwohl man seine Absicht erkennt, weder Absage
noch Gewährung; er muß durch außerordentliche Leistungen sich die
Braut erst erwerben. Anfangs trotzt er nur auf seine persönliche Kraft
und Kühnheit und vermißt sich, seinen Wirten im Wettkampfe Land
und Leute abzugewinnen, aber die „Minne“ mildert seinen Übermut;
im Sachsenkriege leistet er den Burgundenkönigen unvergleichliche Dienste,
und da er nun Chriemhild, die den Helden schon lange „durch diu
venster“ bei den Kampfspielen erblickt und in ihrem Herzen ergriffen
hat, bei der Begrüßung nach dem Siege zum erstenmale erschaut, da
ist sein Schicksal entschieden: si twanc gên ein ander der seneden
minne nôt. Sein Dienst gehört jetzt den Burgundenkönigen, bis er
sich Chriemhild gewonnen (vgl. Str. 303):


Ich sol in immer dienen,‘ sprach Sîfrit der degen,
‚und en wil mîn houbet nimmer ê gelegen,
ich enwerbe nâch ir willen, sol ich mîn leben hân,
daz muoz iu ze dienste, mîn frou Kriemhilt, sîn getân.‘


Nur so erklärt es sich, daß er, um sein Ziel zu erreichen, ohne Besinnen
sich zum Äußersten bereit zeigt, was von ihm verlangt werden
tann: weit schwerer als jedes andere Abenteuer ist der Kampf gegen
Brunhilde für ihn, weil er von ihm, der gegen Freund und Feind gleich
großgesinnt, treu und ohne Falsch ist, eine Untreue erfordert. Zum |#f0318 : 300|

ersten und einzigen Male begeht Siegfried eine Täuschung, und diese
Täuschung wird sein und aller Beteiligten Verderben. Das alte Motiv
von seiner früheren Liebe zu Brunhilde ist ganz aus dem Gedichte verschwunden
─ der Umstand, daß er von ihrem Wohnsitz, von dem Wege
dorthin und von ihren persönlichen Verhältnissen als ein Näherwohnender
und durch abenteuerliche Fahrten Weitumhergekommener Kenntnis hat,
ist für den, der mit dem nordischen Mythus nicht vertraut ist und denselben
nicht geflissentlich in das Epos hineinträgt, noch nicht einmal
ausreichend, auch nur entfernt auf jenes frühere Motiv hinzuweisen.
Mit welch staunenswerter Feinheit hat der Dichter es durch das neue
Motiv ersetzt! Eine tiefe psychologische Wahrheit ist an die Stelle der
äußeren Verwickelung getreten, die durch einen Zaubertrank die alte
Liebe zu Gunsten einer neuen vergessen werden läßt. Der männlichste
Held, so männlich stark wie kindlich offen, so kühn und tapfer wie wahr
und treu, wird durch die „sehnende Minne hingezwungen“, nicht zu
dem männischen Weibe, das an Kraft und Kühnheit es ihm fast gleichthut,
sondern zu dem weiblichsten Weibe, dessen ganze Stärke in seiner
Liebe ist, von der höchsten Anmut, Sanftheit und Zartheit, aber in der
einmal erwählten Liebe zugleich von einer unergründlichen Tiefe der
Ausdauer und Kraft, einer Kraft, die fähig ist, ihr ganzes Wesen auszufüllen
und unter der Gewalt eines tragischen Schicksals es alleinherrschend
völlig zu verwandeln. So braucht es hier nicht des früheren
Verlöbnisses, ja dasselbe ist durch die neue Gestaltung als widersinnig
ganz ausgeschlossen. Eine Fülle der feinsten Beziehungen ergeben sich
vielmehr aus dieser ebenso vereinfachten als psychologisch vertieften Anlage
der Dichtung. Beim ersten Sehen hat der Held, der bisher die
Minne nicht gekannt, sich Chriemhild für das Leben erwählt, unwiderruflich
gehören sie einander an (vgl. Str. 348):


Friuntliche blicke und güetlîchen sehen,
des mohte von in beiden harte vil geschehen.
er trouc si in dem herzen, si was im sô der lîp.
sît wart diu schoene Kriemhilt des küenen Sîfrides wîp.


Umgekehrt liegt es mit unabänderlicher Notwendigkeit in dem
Charakter Brunhildens, die so ganz aus der weiblichen Natur herausgetreten
ist, daß sie nur demjenigen angehören kann, der an Kraft und
Kühnheit ihr Meister ist. Nun ist bei aller seiner Bescheidenheit, der
unzertrennlichen Begleiterin der echten Kraft, Siegfried sich seiner unvergleichlichen
Stärke wohl bewußt, er vertraut fest, das Abenteuer mit
Brunhilde bestehen zu können; dennoch, und obwohl ihm alle Umstände |#f0319 : 301|

bekannt sind, hat es ihn nicht im mindesten anzureizen vermocht, für
sich den Kampf zu versuchen und sich die Heldenjungfrau zu gewinnen:
Brunhilde ist bisher unbezwungen! Er weiß aber, daß er siegen
wird, und die innere Stimme sagt ihm voraus, was geschehen wird.
Auch Brunhildens Verhängnis entscheidet sich mit dem Augenblick, da
sie Siegfried zum erstenmale erblickt; es braucht ihr niemand zu sagen,
wer er ist, so gut wie Hagen, sein männlicher Nebenbuhler im
Ruhme der Tapferkeit, erkennt sie ihn sofort
nach dem bloßen
Rufe von seiner Person und seinen Thaten. Bei Hagen ist die Folge
unauslöschlicher Haß, bei ihr unvertilgbare Liebe. Unter allen, die da
kommen, sieht sie nur ihn und zweifelt keinen Augenblick, daß er um
ihretwillen gekommen sei (vgl. Str. 398):


Dô diu küneginne Sîfriden sach,
zuo dem gaste si zühteclichen sprach,
‚sît willekommen hêr Sîfrit her in dize lant.
waz meinet iwer reise? daz het ich gerne bekant.‘


Und nun die Antwort, durch die der Knoten des Verhängnisses
für das ganze Epos geschürzt wird:


Vil michel genâde frou Prünhilt
daz ir mich ruochet grüezen, fürsten tohter milt,
vor disem edeln recken der hie vor mir stât:
wann der ist mîn hêrre: der êren het ich gerne rât.

Er ist künec ze Rîne, waz sol ich sagen mer?
durch dîne liebe sîn wir gevarn her.
er wil dich gerne minnen, swaz im dâ von geschiht.
bedenke dichs bezîte: er erlât dich sîn niht.
1

Er ist geheizen Gunther, ein künec rîch unde hêr:
erwurb er dîne minne, sone gert er niht mêr.
durch dich mit im ich her gevarn hân:
waerer niht mîn hêrre, ich hetez nimmer getân.‘


Und ganz verwandelt, feindselig, mit finsterm Grolle entgegnet
Brunhild:


ist er din hêrre unde du sîn man,
wil er mîn geteiltiu spil alsô bestân,
behabe er die meisterschaft, sô wird ich sîn wîp:
gewinne aber ich, ez gêt iu allen an den lîp.‘
1
Str. 399 und 400, beide von Lachmann gestrichen.
|#f0320 : 302|


Um Chriemhilde zum Weibe zu gewinnen, hat Siegfried sich bereit
finden lassen, Brunhilden in dem trügerischen Kampfspiel zu hintergehen
─ und der Dichter hat es nicht unterlassen, diese schnelle Bereitwilligkeit
noch tiefer und feiner zu motivieren: es reizt ihn, obwohl es ihn
nach dem Kampfpreis keineswegs gelüstet, sowohl das gefährliche Abenteuer
zu bestehen, als den Übermut des Weibes zu strafen, wie es
deutlich in Str. 443 ausgesprochen ist:


Sô wol mich dirre maere,‘ sprach Sîfrit der degen,
‚daz iwer hôhverten alsô ist gelegen,
daz iemen lebet der iuwer meister müge sîn.
nu sult ir, maget edele, uns hinnen volgen an den Rîn.‘


Die erste Täuschung zieht nun die zweite nach; um überhaupt mit
Gunther vor Brunhilde erscheinen zu können, muß Siegfried sich als
dessen Gefolgsmann ausgeben. Wiederholt und mit stärkster Betonung
hebt der Dichter diesen Umstand hervor, dessen er sich in der Folge für
die entscheidende Wendung zur Katastrophe mit dem höchsten technischen
Geschick zu bedienen weiß. Wie grollt Brunhilde innerlich, da sie sich
von dem Manne besiegt sieht, dem ihr Herz wie das Zeugnis ihres
Auges nimmermehr den Sieg zuerkennt.


Prünnhilt diu schoene diu wart in zorne rôt

heißt es (437, 7) in einer von Lachmann ausgeschiedenen Strophe, da der
entscheidende Wurf und Sprung von Gunther mit Siegfrieds verborgener
Hilfe gethan ist. Vergebens sucht sie nach dem Siege ihre Unterwerfung
zu vereiteln oder doch zu verzögern, ein Umstand, den der Dichter für eine
ziemlich lose eingefügte Episode benutzt, die ihm aber erforderlich scheinen
mochte, um das Verhältnis seines Helden zu den Nibelungen und dem
Horte, welches immerhin doch den Hintergrund der ganzen Sage bildet,
und das er für die Folge noch zu benutzen gedachte, seinen Hörern
deutlicher vorzuführen.


Jm weiteren Fortgange entwickelt sich nun alles mit der strengsten
Folgerichtigkeit. Sogleich tritt die Gestalt Hagens in den Vordergrund.
Mit der Scharffichtigkeit der Treue des Lehnsmanns, der seinen Königen
zunächst steht, und des Hasses gegen den Nebenbuhler, der seinen Ruhm
verdunkelt und der nun der Träger eines für den Burgundenkönig
höchst gefährlichen Geheimnisses ist, benutzt er die Umstände auf das
geschickteste, um die vorgegebene Lehnsabhängigkeit Siegfrieds von
Gunther als eine wirklich vorhandene erscheinen zu lassen; auf seinen
schlau ersonnenen Rat bewegt Gunther „um Chriemhildens willen“ den |#f0321 : 303|

Helden zu der Botenfahrt nach Worms.1 Es folgt der Empfang Brunhildens
in Worms, und wenn die Str. 550 den Preis vor ihr Chriemhilden
zuerteilt,


dô sprâchen dâ die wîsen, die hetenz baz besehen
man möhte Kriemhilde für Prünhilde jehen,

so sind diese Verse, weit entfernt zu Einwürfen Veranlassung zu geben
(vgl. Lachmanns Anmerk. S. 79), vielmehr dem innersten Sinn der Dichtung
entsprechend. Wie Brunhilde in der Schätzung Siegfrieds und der
„wîsen“ hinter Chriemhild zurücksteht, so tritt ihre Person auch für den
Dichter und seine Dichtung in den Hintergrund, sobald die Konsequenzen
jener doppelten Täuschung, der sie zum Opfer fiel, gezogen sind. Auf
die Dauer kann ihr das wahre Verhältnis, daß Siegfried ein freier und
selbständiger König wie Gunther ist, nicht verborgen bleiben; so sucht
auch Gunther nur Zeit zu gewinnen: in Hast und halber Heimlichkeit
verlobt er Siegfried der Schwester, um die gefürchtete Aufklärung zu
vermeiden. Aber wenn Brunhilde den wirklichen Hergang auch nicht
erraten kann, so sagt ihr ein dunkles Bewußtsein, daß jenes unklare
Verhältnis mit ihrem eigenen Schicksale im engen Zusammenhange steht,
um so mehr, als trotz des scheinbaren Sieges in den Kampfspielen
Gunther in ihren Augen fortdauernd vor Siegfrieds herrlicher Erscheinung
verschwindet. Daraus entsteht der Kampf und Zwiespalt in ihrem
Jnnern, aus dem die ganze folgende Entwickelung naturgemäß hervorgeht:2
ihr finsteres, schmerzlich=zorniges Brüten bei dem Hochzeitsmahle,
die immer wiederholte Frage an Gunther um Aufhellung des Dunkels
über Siegfrieds Person, der erneute Kampf in der Brautnacht mit
seinen verhängnisvollen Folgen. Alles das ergibt sich klar, einfach und
notwendig aus der von dem Dichter entworfenen Exposition; jede Spur
eines früheren Begegnisses zwischen Brunhilde und Siegfried hat er sorgfältig
getilgt, von einer wirklichen Unterthänigkeit Siegfrieds ist nicht
die leiseste Andeutung gegeben, mit der größten Klarheit ist vielmehr
die Fiction derselben als die unumgänglich erforderliche Maßnahme dargestellt,
die Siegfrieds Erscheinen an der Seite Gunthers bei der Braut=