In Verbindung mit Prof. Dr. Ernst Elster (Marburg), Gymn.Prof. Dr. Paul
Geyer (Brieg), Gymn. Dir. Dr. Paul Goldscheider (Kassel), Prof. Dr. Hermann
Hirt (Leipzig), Prof. Dr. Georg Holz (Leipzig), Prof. Dr. Friedrich
Kauffmann (Kiel), Prof. Dr. Rudolf Lehmann (Posen), Prof. Dr. Friedrich
von der Leyen (München), Prof. Dr. Richard M. Meyer (Berlin), Prof.
Dr. Viktor Michels (Jena), Prof. Dr. Friedrich Panzer (Frankfurt a. M.),
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Prof. Dr. Theodor Siebs (Breslau), Prof. Dr. Ludwig Sütterlin (Heidelberg)
HERAUSGEGEBEN VON
DR. ADOLF MATTHIAS
GEH. OBER-REGIERUNGSRAT
UND VORTRAGENDEM RAT IM K. PREUSS. KULTUSMINISTERIUM
DRITTER BAND ZWEITER TEIL
DEUTSCHE POETIK
[Abbildung]
MUENCHEN 1908
C. H. BECK'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG
OSKAR BECK
DEUTSCHE POETIK
Von
DR. RUDOLF LEHMANN
PROFESSOR AN DER KÖNIGLICHEN AKADEMIE IN POSEN
[Abbildung]
MUENCHEN 1908
C. H. BECK'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG
OSKAR BECK
C. H. Beck'sche Buchdruckerei in Nördlingen
|#f0009 : RV|
Was Fachmänner und Publikum früher unter Poetik verstanden, war wesentlich
ein Fächer- und Rubrikenwerk, nach welchem die Erscheinungen der Poesie
systematisch geordnet und wie die Pflanzen nach dem Linnéschen System bestimmt
werden konnten. Was die heutige Wissenschaft von der Poetik erhofft,
ist die Erkenntnis der psychologischen Grundlagen des dichterischen Schaffens
und seiner Wirkungen.
Das vorliegende Buch enthält keines von beiden, sieht zum wenigsten in
keinem von beiden sein eigentliches Ziel. Zwar ist psychologische Erfahrung
von dem Zustandekommen und der Eigenart dichterischer Wirkungen nicht zu
entbehren, wenn man das Wesen der Poesie im Ganzen oder in ihren einzelnen
Erscheinungen erkennen will; und auch die folgende Darstellung wird oft genug
auf sie zurückgreifen müssen. Allein sie gründet sich weder auf ein System der
Psychologie, noch macht sie selber Anspruch darauf, einen wesentlich psychologischen
Charakter zu tragen. Sie muß es der fortschreitenden Erforschung der
Bewußtseinstatsachen überlassen, eine systematische Grundlage für die Erscheinungen
der Kunst und insbesondere der Poesie zu schaffen; und der Verfasser
darf höchstens die bescheidene Hoffnung hegen, daß einiges von dem, was
im folgenden enthalten ist, sich als brauchbares Material für diese umfassende
Aufgabe erweisen wird. ─ Noch weiter freilich entfernt sich die Absicht dieses
Buches von der klassifizierenden Tendenz der alten Poetik. Einteilende Systematik
kann nützlich sein, wenn sie als Grundriß für künftige Forschungen oder als zusammenfassender
Überblick über gewonnene Ergebnisse dienen soll; aber sie selbst
kann wissenschaftliche Erkenntnis weder geben noch ersetzen. In der Ästhetik
zumal hat das Streben nach allzu scharfer und begriffsmäßiger Abgrenzung die
notwendige Einsicht in das Wesen der Kunstwerke, die nur induktiv gewonnen
werden kann, mehr gehemmt als gefördert. Denn hier gibt es tatsächlich nirgends
harte und ein für allemal gezogene Grenzlinien, sondern immer nur typische, oft
gegensätzliche Erscheinungen, zwischen denen Reihen von Zwischengliedern und
vielstufige Übergänge vermitteln.
Eben die Einsicht in das künstlerische Wesen der Poesie, wie es sich
in diesen Erscheinungen ausspricht, ist es, was die folgenden Untersuchungen
anstreben. Sie wollen eine Kunstlehre bilden, freilich in tieferem Sinne als jene
alten Anleitungen zur Dichtkunst, von denen im historischen Abschnitt die Rede
sein wird. Indem ich von der Grundtatsache ausgehe, daß die Poesie das innere
Erlebnis des Dichters durch die Sprache zum Erlebnis seiner Hörer und Leser
machen will, suche ich ihre Mittel und Formen, ihre Richtungen und Gesetze in
ihrer innerlichen Eigenart festzustellen und hierdurch ein Verständnis für das Ganze
der Dichtkunst wie für ihre einzelnen Teilgebiete zu erschließen.
Was hier in kurzen Zügen angedeutet ist, die Eigentümlichkeit und Tragweite
der Aufgabe, die Schwierigkeiten, die sich ihr entgegenstellen und die Fernsichten,
die sich ihr eröffnen, ist in dem ersten, grundlegenden Teil des Buches eingehend
dargelegt; ich verweise besonders auf das fünfte Kapitel, das die positiven Gesichtspunkte
für die folgenden Abschnitte zusammenfassend zur Darstellung bringt.
Es ergibt sich dort als notwendig, zunächst die Formenelemente der Poesie zu
betrachten und von da aus zu den Gattungen fortzuschreiten, welche als Besonderungen
der Form aus ihnen hervorgehen. Von diesen Betrachtungen formal
ästhetischer Natur aber ist die Erörterung der allgemeinen künstlerischen und sittlichen
Richtungen zu trennen, die den Gefühlsgehalt und die Anschauungsweise
dichterischer Werke bestimmen. Es gehörte zu den Irrtümern der alten
Poetik, daß sie inhaltliche und formale Gesichtspunkte vermengte und die einen
aus den anderen glaubte ableiten zu können. So behandelte sie z. B. das
Tragische als ein Teilgebiet des Dramatischen, oder sie suchte umgekehrt die
Formengesetze der Tragödie, statt aus dem Wesen der dramatischen Gattung,
vielmehr aus dem Begriff des Tragischen zu gewinnen. Demgegenüber hat die
moderne Ästhetik mit Recht den organischen Zusammenhang der dichterischen
und überhaupt künstlerischen Formenprinzipien schärfer betont. Übergehen durfte
ich freilich auch jene inhaltlichen Richtungen nicht, wenn ich nicht in die Einseitigkeit
verfallen wollte, die Poesie als eine reine Formenkunst zu behandeln;
sie verlangten vielmehr eine gesonderte Betrachtung und Würdigung. Einer solchen
ist der vierte und letzte Teil des Buches gewidmet; denn erst hiermit schließt sich
die Poetik zu einem umfassenden Ganzen zusammen.
Posen, im Januar 1908.
Rudolf Lehmann.
|#f0011 : RVII| Wie so
viele andere theoretische Wissenschaften verdankt auch die Poetik ihren
Ursprung einem praktischen Bedürfnis. Der Dichter, der schöpferisch in
eine literarische Tradition eintritt, muß die Formen und Mittel der Dichtung,
die seine Vorgänger entwickelt und benutzt haben, kennen, um sie selbst
benutzen und weiter entwickeln zu können. Die Regeln der Poetik sind
zunächst nichts anderes als technische Vorschriften für den praktischen
Gebrauch des schaffenden Dichters oder auch des Liebhabers,
der ihn verstehen und gelegentlich nachahmen will. Damit braucht noch
keineswegs angenommen zu sein, daß ein jeder auch ohne natürliche
Begabung dichten lernen kann; wohl aber ist vorausgesetzt, daß in der
Poesie, wie bei jeder anderen Kunstübung auch, zur natürlichen Begabung
ein gewisses Lehrgut, eine erlernbare Technik hinzukommen muß, wenn
wirkliche Kunstwerke entstehen sollen. In diesem Sinne ist der Unterricht
in der Poetik in die Lateinschule der Renaissance eingeführt worden, und
so hat er sich in die lateinischen und später in die deutschen Stunden
des neuhumanistischen Gymnasiums fortgepflanzt. Noch heute ist er nicht
völlig verschwunden: zahlreiche Schulkompendien, welche die alt überlieferten
Formen, mit mehr oder weniger modernen Zutaten versetzt, weiter
geben, legen davon Zeugnis ab, wiewohl der Zweck, der dieser Unterweisung
einst Sinn und Wert verlieh, mit der Übung, lateinische oder
deutsche Verse zu machen, verloren gegangen ist. Das Muster einer systematischen
Poetik großen Stils, die einem solchen praktischen Bedürfnis
dienen wollte, bildete einst das berühmte Buch des Julius Cäsar Scaliger
(1561 erschienen), welches die Regeln und Schemata der antiken Poesie
im Sinne und für den Gebrauch des Humanismus zusammenfaßte und für
zahllose spätere Lehrbücher Stoff und Vorbild gegeben hat. Aber auch
solche Behandlungen der Poetik, welche nicht den elementaren oder wissenschaftlichen
Schulgebrauch, sondern das literarische Bedürfnis selbst im
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Auge hatten, wandten sich unmittelbar an die Dichter, denen sie die
richtige Technik und den wahren Geist der Poesie überliefern wollten.
So beispielsweise die einflußreichste und liebenswürdigste Poetik des
17. Jahrhunderts: Boileaus Art Poétique (1674), die fast durchweg die
Form der Anrede an die Dichter festhält und den größeren Teil ihrer Betrachtungen
in imperative Regelform faßt. Wie geistreicher Vertiefung eine
solche praktische und technische Betrachtung fähig ist, hat noch im verflossenen
Jahrhundert Gustav Freytags Technik des Dramas (1863)
gezeigt. ─
Die Regeln, die der Dichter vor Augen haben muß, sind nun nach
der überlieferten Auffassung immer zugleich Normen für den „Kunstrichter“,
der ihn beurteilt: seine Aufgabe ist es, festzustellen, ob sie mit Glück
befolgt, oder ob sie verletzt und übertreten sind. Die Betrachtung der
Formen und Arten der Dichtkunst liefert das Grundschema für das Kunsturteil,
und aus der technischen Anweisung zur Ausübung erwächst somit
zugleich die Anleitung zur Kritik. Das zeigt sich bei Scaliger nicht
minder deutlich wie bei Boileau, dessen Buch zum Kanon für die klassische
Kritik des 17. und 18. Jahrhunderts geworden ist. Boileaus geistesverwandter
Anhänger Gottsched brachte diese doppelte Tendenz seines Werkes in
dem Titel: Kritische Dichtkunst (1724) bezeichnend zum Ausdruck.
Bisweilen zeigt die Behandlung des Gegenstandes den umgekehrten Gang,
so z. B. in Horaz' sogenanntem Buch von der Dichtkunst, das freilich
keineswegs eine systematische Poetik ist oder sein will, sondern vielmehr
eine locker aneinander gereihte Sammlung von Bemerkungen und Gedanken
über Poesie ist: es beginnt mit rein kritischen Beobachtungen, um
dann zu einer positiven praktischen Anweisung, metrischen Regeln, Anleitungen
zur Charakteristik u. dergl. überzugehen. ─
Aber technische Regeln sowohl wie kritische Lehren bedürfen der
Begründung, wenn sie nicht willkürlich erscheinen, eines inneren Zusammenhangs,
wenn sie nicht zufällig und vereinzelt bleiben sollen.
Beides kann die Poetik nur aus einer allgemeinen Auffassung der
Poesie, ja der Kunst überhaupt schöpfen. Daher treibt das praktische Bedürfnis
von innen heraus zum theoretischen Denken, und dies führt mit
gleicher Notwendigkeit auf einen allgemeinen Zusammenhang ästhetischer
Anschauungen zurück. So erhält die Poetik eine vertiefte und selbständige
Bedeutung: sie wird aus einer Technik zur Wissenschaft, zu einem eigenen
Gebiete im Gesamtbereich der Ästhetik. Sie verzeichnet nun nicht mehr
bloß die Erscheinungen, die sie vorfindet, sondern sie deutet sie auch.
Die praktische Regel wird für sie zum theoretischen Gesetz in dem gleichen
Sinne, wie die wissenschaftliche Betrachtung der Sprache hinter der grammatischen
Regel das wirkende Gesetz erkennt. Diese wissenschaftliche
Poetik als solche hat kein unmittelbar praktisches Ziel mehr, so wenig
wie die wissenschaftliche Erkenntnis überhaupt: sie will weder dem Dichter
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noch dem Kritiker dienen; sie will nur Einsicht in das Wesen der Dichtkunst
sein. Freilich gerade dadurch wird sie mittelbar wiederum praktisch
wirksam: sie führt zu einem tieferen Verständnis wie der Poesie im Ganzen,
so auch der einzelnen Dichtungen; damit aber begründet sie eine tiefere
Kritik und vermag es wenigstens bisweilen, der dichterischen Produktion
selbst die Wege zu weisen.
Dies ist der moderne Begriff einer wissenschaftlichen Poetik und er
ist es daher, der den folgenden Betrachtungen die Richtung geben muß.
Welches ist der Gang, den die wissenschaftliche Poetik zu nehmen hat?
Von welchen Grundlagen muß sie ausgehen, welchen Zielen soll sie zustreben?
Hierüber, wie über die Lehre vom Schönen und der Kunst überhaupt,
haben verschiedene Zeitalter und Denker sehr verschiedene Vorstellungen
gehabt.
Die älteste und ehrwürdigste Poetik, die wir besitzen, die des Aristoteles,
zeigt, wiewohl sie uns in verstümmeltem Zustande überliefert ist,
doch deutlich genug eine ganz bestimmte Richtung und Methode. Sie
geht überall von der gegebenen Wirklichkeit aus, von den tatsächlich vorhandenen
und bekannten Dichtungen. Der Kreis der hellenischen Poesie,
aus dem der erste Ästhetiker der Weltgeschichte sein Material schöpft, ist
national und zeitlich begrenzt, aber freilich innerhalb dieser Grenzen unendlich
reich und mannigfaltig; und überall, nicht nur an den zahlreichen
Stellen, wo er sich auf bestimmte Dichtungen beruft, fühlen wir es durch,
daß diese Gedanken und Beobachtungen aus der vollen Anschauung eines
großen und reichen künstlerischen Lebens geschöpft sind.
Dieses Material nun behandelt Aristoteles nicht etwa von einem
allgemeinen Begriff der Schönheit oder überhaupt einem ethischen oder
ästhetischen Zweckprinzip aus, sondern er legt, wenn auch allgemeine,
so doch rein sachliche, ja technische Gesichtspunkte zugrunde. Alle Kunst
ist Nachahmung der Wirklichkeit. Ihre Gattungen unterscheiden sich auf
dreierlei Weise voneinander: nach den Mitteln, dem Gegenstande und der
Art der Nachahmung. Die ersteren trennen die Poesie als Ganzes von den
übrigen Künsten, das zweite und dritte grenzen die verschiedenen Gattungen
der Dichtkunst gegeneinander ab. Aristoleles analysiert nun diese einzelnen
Gattungen unter den bezeichneten Gesichtspunkten und gewinnt
auf diese Weise ein Bild von ihrer technischen Eigenart: er bestimmt
in dem uns am besten erhaltenen Teile das Wesen der Tragödie nach
ihrer Ausdehnung, dem Aufbau und seinen Teilen, den angewandten
Kunstmitteln. Soweit er Werturteile sucht und ausspricht, leitet er sie
von den allgemeinen Formen und technischen Bestimmungen ab, die
er aus dieser analytischen Betrachtung gewonnen hat, so z. B. wenn er
im 8. Kapitel diejenigen Tragödien verwirft, welche durch die bloße Einheit
des Helden zusammengehalten sind, und dies Urteil aus der vorhergehenden
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Bestimmung der Poesie als Nachahmung menschlicher Handlungen
begründet. Noch schärfer prägt sich der technische Gesichtspunkt
aus, wenn im 26. Kapitel der Vorzug der Tragödie vor dem Epos aus der
Steigerung der Kunstmittel bei geringerer zeitlicher Ausdehnung und
strengerer Einheit des Baues nachgewiesen wird. ─ Daneben aber tritt
nun die Beobachtung und Analyse der Wirkungen, welche die verschiedenen
Gattungen und Kunstmittel hervorbringen. Und dies wird ebenfalls
zum Wertmesser, insofern allein die richtigen Kunstmittel die Absicht erreichen,
die anderen sie verfehlen müssen. Dies Verfahren wird wiederum
in der berühmten Theorie der Tragödie besonders deutlich. Die beabsichtigte
Wirkung (Furcht, Mitleid und die hierdurch hervorgerufene
Katharsis) wird gleich in die Definition der Gattung mit aufgenommen,
und hieraus wird dann abgeleitet, welcher Art die dargestellten Charaktere,
der Glückswechsel in der Handlung u. s. w. sein müssen, um gerade diese
Wirkung hervorzurufen. Befriedigt etwa ein Vorgang zwar unser Gerechtigkeitsgefühl,
ohne aber Furcht und Mitleid zu erwecken, oder erregt
er gar Empörung, so ist er auf der tragischen Bühne verwerflich.
Die Form der Aristotelischen Darstellung ist mithin zwar nicht streng
induktiv, da sie zunächst an allgemeine Bestimmungen und Einteilungen
anknüpft; aber gleichwohl verfährt der Philosoph durchaus empirisch.
Nirgends konstruiert er aus Ideen, nirgends versucht er den Kreis der
Erfahrung zu übersteigen; überall hält er sich an die gegebene Wirklichkeit,
denn auch jene allgemeinen Bestimmungen verallgemeinern nur
bestimmte Tatsachen und Erfahrungen. Und dies Erfahrungsmaterial
selbst ist noch in ganz bestimmter Weise mit methodisch festgehaltner
Einseitigkeit abgegrenzt: es umfaßt ausschließlich vorhandene Werke und
erlebte Wirkungen. Die Vorgänge in der schöpferischen Phantasie, die
Entstehung des Kunstwerks in der Seele des Dichters, die Verschiedenheit
der schöpferischen Individualitäten, überhaupt also das Subjekt des
Dichters, berücksichtigt Aristoteles gar nicht oder streift sie doch nur ganz
gelegentlich (wie in Kapitel 17). Das Kunstwerk ist es, worauf es ihm
ankommt, nicht der Künstler. Sein Verfahren ist in diesem Sinne rein
objektiv.
Die durchweg empirische Grundlegung, die Beschränkung auf sachlich
technische Gesichtspunkte mit Ausschluß jeglicher Ideenkonstruktion,
endlich die rein objektive Behandlung der Dichtungen sind die drei Züge,
welche der Poetik des Aristoteles ihren Charakter aufdrücken. ─
Als sich zwei Jahrtausende später der Klassizismus des 17. und
18. Jahrhunderts seine ästhetische Theorie schuf, da griff er auf Aristoteles
zurück. So zunächst in Frankreich. Schon Scaliger knüpft an den Begriff
der Nachahmung an, Corneille und in Einzelheiten Boileau an die
Theorie der Tragödie. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts aber
schufen Dubos (Réflexions critiques sur la Poésie, sur la Peinture et la
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Musique. Paris 1719) und nach ihm Batteux (Principes de Littérature.
Paris 1747─55), eine systematische Kunstlehre in unmittelbarem Anschluß
an Aristoteles. Allein alle diese Männer blieben über die Eigenart dieser
antiken Poetik, sowohl was Methode als was Tragweite betrifft, im unklaren.
Sie faßten den Beobachter und Zergliederer als apodiktischen Gesetzgeber,
sie sahen auch da Werturteile und zwar unanfechtbare, wo er nur Tatsachen
verzeichnet hat, wie in der berühmten Lehre von den Einheiten. Aber auch
Lessing, der der werdenden deutschen Dichtung die Wege wies und den
künstlerischen Fragen, die sich dabei erhoben, weit freier und vorurteilsloser
gegenüberstand als die Franzosen, war sich doch über den empirischen
Charakter und die Tragweite der Aristotelischen Poetik im ganzen kaum
klarer als sie. Wie hätte er sonst im Schlußwort der Dramaturgie jenes
Bekenntnis ablegen können, daß er die Poetik „für ein ebenso unfehlbares
Werk halte, als die Elemente des Euklides nur immer sind“! Und dieser
Wertung entspricht es, wenn der deutsche Dramaturg fast überall, wo er
allgemeine Fragen behandelt und zumal da, wo er den Franzosen entgegentritt,
nicht die Probleme selbst erörtert, sondern die Aristotelische
Auffassung derselben: für ihn versteht es sich eben von selbst, daß, wenn
die Meinung des Aristoteles klargestellt, damit auch die sachliche Wahrheit
selbst gefunden ist. Dabei wendet er die Methode seines antiken Vorbildes
gelegentlich mit ebensoviel Geist wie Glück auf Probleme der neueren
Literatur an. Deutlicher als in der Dramaturgie tritt das in den literarischen
Abschnitten des Laokoon hervor. Die Verurteilung der beschreibenden
Poesie und die berühmte Forderung, die sich daran knüpft, Schilderung
in Handlung umzusetzen, sind in echt aristotelischem Sinne „aus den ersten
Gründen“ abgeleitet: aus den technischen Bedingungen nämlich, unter
denen der Dichter schafft, und den Wirkungen, welche durch dieselben bedingt
werden.
Überhaupt ist der methodologische Irrtum, der in den Verallgemeinerungen
der Poetik ein begriffliches System von absoluter Gewißheit sieht,
zwar charakteristisch für die Anschauung des älteren Klassizismus, aber doch
nicht von ausschlaggebender Bedeutung, besonders für den jüngeren nicht.
Schiller sowohl wie Goethe haben die Eigenart der aristotelischen Methode
durchaus richtig und unbefangen erkannt, und es gibt keine treffendere Charakteristik
derselben, als sie Schiller in seinem Brief an Goethe vom 5. Mai 1797
entworfen hat. Beide sahen sehr wohl, daß die Ergebnisse seiner Untersuchungen
völlig „auf empirischen Gründen beruhten“ und somit auf allgemeine
Gültigkeit im mathematischen Sinne keinen Anspruch erheben
konnten. Gleichwohl standen beide dem Inhalt seiner Sätze nicht wesentlich
anders gegenüber wie Lessing, und die Geltung seiner Ergebnisse
erschien ihnen in allem wesentlichen nicht minder zweifellos als jenem.
Und wie hätte das auch anders sein können? Die Empirie des antiken
Denkers umfaßte ja nach der Anschauung des gesamten Klassizismus diejenigen
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Kunstwerke, welche als die absolut wertvollen Vorbilder aller späteren
künstlerischen Schöpfungen anerkannt waren, oder wie es Schiller in jenem
Brief ausdrückte, „durch das Faktum eine Idee realisierten“. Daher konnte
auch die Induktion, die hieraus gewonnen wurde, den Anspruch darauf
machen, absolute Norm zu sein.1) Die Wertung der aristotelischen Poetik
ist nur ein Symptom der Wertung des Altertums überhaupt.
Der eigentlich entscheidende Zug in der Kunsttheorie unserer klassischen
Dichter ist nun aber der, daß sie nicht nur die Formen und technischen
Bedingungen der Poesie endgültig zu erfassen und zu bestimmen,
sondern zugleich oder vielmehr darüber hinaus eine Welt- und Lebensanschauung
zu gewinnen strebten, deren unmittelbarer Ausdruck die Dichtung
sein sollte. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts tritt in der deutschen
Literatur mit wachsender Deutlichkeit und Kraft das Ringen nach einer
solchen umfassenden Lebensphilosophie hervor. Eine neue Art, Natur und
Menschen zu sehen, ihre Handlungen und Erscheinungen zu werten, bahnt
sich an, und an dieser Bewegung hat das Streben, die Kunst und insbesondere
die Poesie in ihrer Bedeutung zu erfassen und ihre wahre Aufgabe
zu erkennen, einen wesentlichen Anteil. Daß diese Aufgabe nur in
einem solchen allgemeinen Zusammenhang richtig begriffen werden konnte,
daß die Dichtung mehr wollte und sollte als einem unmittelbaren Trieb
der schöpferischen oder aufnehmenden Phantasie genügen, darüber herrschte
von vorneherein ein stillschweigendes Einverständnis. Hieraus aber mußte
eine Poetik hervorgehen, welche einerseits durchaus gesetzgebend auftrat,
anderseits aber dem Dichter seine Aufgabe nicht aus dem eigenen Wesen
der Kunst heraus, sondern aus allgemeinen Gedankengängen, zumeist
moralischer Art vorzeichnete.
Schon Gottsched, welcher der literarischen Bewegung den ersten Anstoß
gegeben hat, verlangte von der Dichtkunst, daß sie zum Ausdruck seiner
sehr unkünstlerischen Lebensanschauung werden sollte. Es war die Aufklärung,
in deren Dienst er sich und seine Sache mit naiv beschränkter Siegeszuversicht
stellte; und der moralische Gesichtspunkt war seitdem auf mehr
als ein Menschenalter hinaus in der Wertung der Poesie und ihrer Aufgabe
nicht zu erschüttern. Auch Gottscheds Schweizer Gegner huldigten diesem
Gesichtspunkt, obwohl er mit ihren Grundanschaungen kaum eine innere
Verwandtschaft hatte. Und Lessing hat wenigstens die höchsten Gattungen
der Poesie, Tragödie und Komödie, aus moralischen Antrieben abzuleiten
gesucht, wenn auch in einer freieren und geschickteren Weise als die
rationalistische Ästhetik Gottscheds und der Franzosen. Aber Lebenskraft
und Selbständigkeit erhielt die ästhetische Bewegung erst durch den Einfluß
zweier Gedankenkreise, die ursprünglich wenig oder gar nichts mit der
Poetik zu tun hatten und gleichwohl von verschiedenen Zentren aus entscheidend
Vgl. W. Dilthey, Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine zu einer Poetik.
Philos. Aufsätze, Zeller gewidmet. Straßburg 1887. S. 318.
auf ihre Gestaltung eingewirkt haben. Die Schöpfer derselben
waren Shaftesbury und Winckelmann.
Für Winckelmann hatte die Schönheit einen religiös mystischen
Ursprung. Sie ist der Ausfluß der Gottheit selbst: „Die höchste Schönheit
ist in Gott“, sagt er in der „Geschichte der Kunst des Altertums“ (1764).
Die Kunst, welche die Schönheit darstellt, ist ihm daher ein völlig selbständiges
Lebensgebiet von höchstem eigenen Wert und durchaus losgelöst
vom Dienste der Moral, eine unmittelbare Verkörperung des Göttlichen im
Menschen. Diese Schönheit nun wird in einem bestimmten und begrenzten
Sinne gefaßt: sie ist Einheit im Mannigfaltigen, Harmonie der Teile eines
Ganzen. Hierdurch wird nun die Kunst überhaupt und also mittelbar auch
die Dichtung in ihrem Wesen bestimmt: das Prinzip der harmonischen
Schönheit wird zur allgemein verbindlichen Norm für den Künstler und
zum festen Kriterium für das Kunsturteil. Die Wirkungen, die das Kunstwerk
hervorrufen soll, und die technischen Bedingungen, auf denen sie
beruhen, erscheinen gänzlich beherrscht von jenen höchsten Formenprinzipien.
Winckelmann untersuchte sie in Bezug auf die bildenden Künste,
vor allem die Plastik, und brachte, was er hier schauend und fühlend erfuhr
und erlebte, zu überzeugender, ja hinreißender Darstellung. Denn seine
ganze ästhetische Theorie, soweit man von einer solchen sprechen kann, ist
nicht das Ergebnis abstrakten und philosophischen Denkens, sondern vielmehr
der allgemein gefaßte Ausdruck seiner Anschauung von der griechischen
Kunst. Aus der begeisterten Versenkung in die Vollkommenheit hellenischer
Formen schöpft er seine ästhetischen Begriffe und Ideale. Die griechische
Kunst erscheint ihm daher notwendigerweise als die absolute Verkörperung
des künstlerisch Schönen. Ihr Wesen ist durch und durch Harmonie, wie
die leibliche Erscheinung des Hellenen und die phantasievolle Gestaltung
seiner Gottheiten überall eine solche Harmonie verkörperte.
War es nun zunächst ein Formenideal, dessen lebendige Anschauung
und theoretische Bestimmung Winckelmann aus den Werken der griechischen
Bildnerei ableitete, so konnte es doch nicht ausbleiben, daß die Idee der
harmonischen Schönheit auch auf das seelische Gebiet übertragen wurde:
dem schönen Körper entspricht die harmonisch schöne Seele. Ihre Darstellung
aber mußte vor allem das Werk der Poesie sein, die hier ihre
entsprechende höchste Aufgabe fand. Auch für sie wurde somit das
Griechentum in der neuen Wertung, die Winckelmann angebahnt hatte,
das maßgebende Vorbild. Die beiden Hauptgedanken Winckelmanns, das
Ideal der harmonischen Schönheit und die Ansicht vom Griechentum als
der Verkörperung dieses Ideals, wurden ─ zuerst durch Herder ─ verallgemeinert
und auf das Gebiet der Poesie übertragen. Daß dies aber geschah,
dazu hat der Einfluß eines Philosophen, der älter als Winckelmann
war, jedoch in Deutschland erst etwa gleichzeitig mit diesem zur Wirkung
kam, vieles beigetragen. Es ist Shaftesbury, dessen Lehre vermutlich
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schon auf Winckelmanns ästhetische Begriffe einen tiefergehenden Einfluß
gehabt hat.1) Auch für den englischen Philosophen2) war das Ideal der
harmonischen Schönheit der eigentlich bestimmende Begriff, und auch hier
war er an einem griechischen Vorbilde lebendig geworden. Aber dieses
Vorbild war Plato, und die Probleme und Anschauungen, von denen
Shaftesbury ausgeht, sind die der Metaphysik und der Ethik. Er sucht
das Ideal der Harmonie in der Seele des Menschen und zugleich im
Kosmos, dessen Abbild sie sein soll. So nimmt dieser Begriff, wiewohl
er künstlerischer Natur ist, dennoch eine sittliche und metaphysische Bedeutung
an; er führt über das bloße Formenideal hinaus zu einer Welt-
und Lebensauffassung, die gleichwohl in innerlicher Übereinstimmung mit
jener künstlerischen Anschauung steht. Die ideale Kunst, die Winckelmann
schildert, erscheint nunmehr als die Verkörperung eines sittlichen Ideals,
wie es Shaftesbury vorgezeichnet hat.
Wir können nun verfolgen, wie die Welt- und Kunstanschauung, die
aus diesem doppelten Einfluß entspringt, bei Herder, Goethe und Schiller
geklärte und zugleich mannigfach gesteigerte Gestalt annimmt. Es treten
noch andere Einflüsse hinzu: Leibniz, Rousseau, Spinoza, Kant. Sie geben
den schöpferischen Anschauungen der genannten drei Klassiker im einzelnen
ein verschiedenes Gepräge, und auch persönliche Eigenart scheidet besonders
die Anschauungsweise Herders und Goethes auf der einen, Schillers
auf der anderen Seite. Aber über alle individuellen Abweichungen hinweg
sehen wir deutlich die verbindende Einheit, und wir verfolgen zugleich,
wie dieselbe zur Grundlage für eine neue Theorie der Dichtkunst wird,
die zwar nicht systematisch abgeschlossen, aber doch in ihren wesentlichen
Zügen klar bestimmt und entschieden formuliert wird.
Ihren prägnantesten Ausdruck fand die neue Poetik in den philosophischen
Schriften Schillers. Einerseits lag seiner Art zu denken die
abstrakte Spekulation über künstlerische Fragen näher als Goethes intuitivem
Schöpfergeist. Andrerseits beschränkte sich sein Interesse fast ganz
auf die Dichtung, während Goethes Blicke und Gedanken fast ebensosehr
von der bildenden Kunst in Anspruch genommen waren. Daher liegt
auch die Bedeutung dessen, was Goethe über Poesie gedacht und gesagt
hat, wesentlich darin, daß er sie stets in ihrer Beziehung zum Ganzen der
Kunst, ja zum Ganzen der Natur überhaupt sah, Gemeinsames und Trennendes
mit gleicher Klarheit hervorhebend. Er sieht, die ewigen großen
Grundtypen der Natur in aller Kunst und so auch in der Dichtung in
immer neuer, immer gesteigerter Gestalt hervortreten. Schillers Originalität
dagegen zeigt sich darin, daß er das so lange umstrittene Verhältnis von
Schönheit und Sittlichkeit, Poesie und Moral in einer neuen und vertieften
Vgl. Justi, Winckelmann und seine Zeit. Teil 1. 2. Aufl. (Leipzig 1898, Bd. I
S. 211 ff.)
Hauptwerk: Charakteristics of men, manners, opinions, times. London 1711.
Weise erfaßt. Ihm war die Dichtung nicht mehr, wie seinen rationalistisch
beeinflußten Vorgängern, eine Lehrerin der Sittlichkeit: ihre Aufgabe war
es, wie die Schönheit selber, eine Verkörperung jener inneren Harmonie
zu sein, auf der die höchste Sittlichkeit beruht, zugleich aber auch die
Kämpfe und Mühen darstellend zu verherrlichen, durch die sie errungen
wird. So wird die Poesie bei ihm Wegweiserin und Erzieherin zum höchsten
Ziel des Einzelnen wie der Menschheit. Der Gedanke der ästhetischen
Erziehung ist der Lebensnerv seiner Welt- und Kunstbetrachtung.
Es war die erhabenste Bestimmung, die der Poesie vorgezeichnet
werden kann. Niemals vorher, auch im Altertum nicht, war die Kunst
als Lebensmacht so hochgestellt und verehrt worden. Aber diese Bestimmung,
das läßt sich nicht verkennen, war nicht sowohl aus einer unbefangenen
Betrachtung ihres Wesens als aus einer allgemeinen philosophischen
Weltanschauung abgeleitet. Es war eine „Ästhetik von oben“, wie
sie G. Th. Fechner treffend genannt hat, durch und durch deduktiv, aus
Ideen geschaffen, und zugleich durch und durch normativ gedacht. Die
Poetik zeichnet dem Dichter vor, wie er die hohe Anfgabe lösen kann,
die Kunst zum mittelbaren oder unmittelbaren Ausdruck jener erhabenen
Weltanschauung zu machen.
Der einseitige Charakter der neuen Poetik wurde noch verstärkt durch
ihr Verhältnis zum Griechentum, das schon oben berührt worden ist.
Nicht nur, daß die hellenische Dichtung als vollkommene Kunst und
absolut vorbildlich gefaßt wurde, es war auch eine ganz bestimmte
Färbung, in der sie unseren Klassikern erschien. Die Art, wie Winckelmann
die griechischen Skulpturen gesehen und verstanden hatte, übertrugen
sie unmittelbar auf die Dichtung. Die vielen realistischen, ja
naturalistischen Elemente des griechischen Dramas, die Darstellungen furchtbarer,
ja bis zum Extrem gesteigerter Leidenschaften und Leiden wurden
übersehen, oder doch nicht als solche verstanden: auch in den Dichtungen,
selbst in den dramatischen, wollte man die harmonische Ruhe des
Idealstils als entscheidenden Charakterzug erkennen. So entstand auch hier
das Ideal einer Formenkunst voll „stiller Größe und edler Einfalt“, die der
Ausdruck einer harmonischen Weltanschauung sein sollte. Nur das Erhabene
und das Schöne hatte in dieser Kunst Heimatrecht, das Charakteristische
als solches nicht; es wurde zum Typischen erweitert, wie die Wirklichkeit
überhaupt nur erhöht und veredelt zur Darstellung kommen sollte.
Im Zusammenhang hiermit wird denn auch die Methode verständlich,
nach der unsere klassischen Dichter ihre eigenen sowohl wie die Werke
anderer beurteilten. Lessing wie Schiller und selbst Goethe suchen das
Wesen der Tragödie, des Epos u. s. w. zu bestimmen, und die Definition
wird ihnen zum Maßstabe: der Wert einer Dichtung erscheint abhängig
davon, daß sie den Gattungscharakter bewahrt. „In keiner Art menschlicher
Tätigkeit ist es möglich, das Höchste zu leisten als nur innerhalb
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der Schranken ihrer Gattung. Nicht anders der Dichter.“ So sagt Wilhelm
von Humboldt, der auf dem Höhepunkt der Epoche einige ihrer ästhetischen
Grundanschauungen in seiner Abhandlung über Goethes Hermann und
Dorothea zu klassischem Ausdruck gebracht hat; und in charakteristischer
Weise lehnt er es ab, ein klassisches Gedicht „zu einer bloßen Mittelgattung
herabzuwürdigen.“1) In dem gleichen Sinne verfuhr Lessing in der
Dramaturgie, wenn er dem Theater der Franzosen den tragischen Charakter
absprach, weil ihre Dramen dem aristotelischen Begriffe der Tragödie nicht
genügten. Wenn diese Art zu urteilen nicht in ein ödes Schablonisieren
auslief, so war der Grund der, daß in den Gattungsbestimmungen von
vorneherein inhaltliche Beziehungen zu jener einheitlichen Weltanschauung
und ihren Idealen, somit eigenartig bestimmte Werte mitgedacht wurden,
welche durch die Dichtungen verwirklicht werden sollten. Besonders deutlich
wird dies etwa durch Schillers Bestimmung des Tragischen (Pathetischen)
in der Abhandlung vom Erhabenen, aber auch in der Art wie
Friedrich Schlegel und die Seinigen den Roman als höchste Kunstform
bestimmt und gewertet haben.2)
Kurz, die Poetik, wie sie durch Schiller und Goethe ausgebildet wurde,
ist in Wahrheit keine allgemein gültige Kunstlehre, sondern das Programm
einer bestimmten künstlerischen Richtung. Sie verkündet den Idealstil als
Ausdruck einer neuen Weltanschauung und wendet sich von allem ab,
was diesem Stil widerspricht.
Damit aber mußte sich diese Poetik der Wirklichkeit gegenüber notwendig
als zu eng erweisen: war sie doch von vornherein nur zustande
gekommen im Gegensatz zu der eigenen freieren Jugendrichtung der beiden
Dichter. Der Überschwang der jungen Kraftgenies, das nationale und volkstümliche
Streben, der Naturalismus der siebziger Jahre: alles das, was
die Dichtung der Sturm- und Drangperiode entfesselt und erfüllt hatte, war
nicht ins Leben getreten, ohne daß eine entsprechende theoretische Anschauungsweise
die Bahn geöffnet hätte. Herder war es, der sie zum
Ausdruck gebracht, ja der sie aus einer Anzahl vorhandener Anregungen
und Ansätze recht eigentlich erst geschaffen hat. Dieser geniale Anreger
war unter den künstlerischen Geistern des 18. Jahrhunderts der erste, dessen
Blick über das klassische Ideal hinausging und der jener einseitigen Wertung
des Griechentums die Würdigung und das Verständnis anderer Kultur- und
Literaturformen gegenüberstellte. Selbst von Begeisterung für griechische
Kunst und Dichtung erfüllt, ist ihm doch Auge und Herz offen für das,
was andere Völker Schönes und Großes hervorgebracht haben. Sein Ideal
der Literaturwissenschaft umfaßt die Erkenntnis alles dessen, was die Menschheit
in ihren verschiedenen Epochen und Nationen an Dichtungen geschaffen
Gesammelte Schriften. Herausgegeben von der Kgl. Preuß. Akademie der Wissenschaften
Bd. II S. 140 u. 260.
Vgl. R. Haym, Die romantische Schule, Berlin 1876, S. 252.
hat. Er strebt ein Verständnis nach geschichtlichen und ethnographischen
Gesichtspunkten an, ein Verständnis universaler Art, das ohne
Voraussetzungen und Vorurteile die Erscheinungen der Poesie, wo es sie
findet, nach ihrer Eigenart würdigt. „Jener Sultan“, sagt er,1) „freute
sich über die vielen Religionen, die in seinem Reiche, jede auf ihre
Weise, Gott verehrten. Es kam ihm wie eine schöne bunte Aue vor,
auf der mancherlei Blumen blühten. So ist's mit der Poesie der Völker
und Zeiten auf unserem Erdenrunde; in jeder Zeit und Sprache war sie
der Inbegriff der Fehler und Vollkommenheiten einer Nation, ein Spiegel
ihrer Gesinnungen, der Ausdruck des Höchsten, nach welchem sie strebte.
Diese Gemälde (minder und mehr vollkommene, wahre und falsche
Ideale) gegeneinander zu stellen, gibt ein lehrreiches Vergnügen. In dieser
Gallerie verschiedener Denkarten, Anstrebungen und Wünsche lernen wir
Zeiten und Nationen gewiß tiefer kennen als auf dem täuschenden trostlosen
Wege ihrer politischen und Kriegsgeschichte.“ Er bezeichnet es als
„Naturmethode“, „jede Blume an ihrem Ort zu lassen und dort, ganz
wie sie ist, nach Zeit und Art, von der Wurzel bis zur Krone zu betrachten.
─ Flechte, Moos, Farrenkraut und die reichste Gewürzblume ─
jedes blühet an seiner Stelle in Gottes Ordnung.“ Man sieht: der imperative
und normative Charakter der bisherigen Betrachtungsweise ist hier
aufgegeben. An die Stelle der vorschreibenden tritt die beschreibende Poetik,
an die Stelle der einseitig wertenden die geschichtliche und vergleichende
Anschauung. Jede nationale oder individuelle Erscheinungsform der Poesie
hat ihren Wert in sich, und dieser Fülle der Erscheinungen gegenüber hat
niemand das Recht eine einzelne gleichfalls geschichtlich bedingte Form
zum Maßstabe zu machen. „Man hat einen Begriff der Ode“ (wir würden
sagen des lyrischen Gedichts) „festsetzen wollen. Aber was ist die Ode?
die griechische, römische, orientalische, skaldische, neuere ist nicht völlig
dieselbe. Welche von ihnen ist die beste, welche sind bloß Abweichungen?
Ich könnte es leicht beweisen, daß die meisten Untersucher nach ihrem
Lieblingsgedanken entschieden haben, weil jeder seine Begriffe und Regeln
bloß von einer Art eines Volkes abzog und die übrigen für Abweichungen
erklärte. Der unparteiische Untersucher nimmt alle Gattungen für gleichwürdig
seiner Bemerkungen an, und sucht sich also zuerst eine Geschichte
im ganzen zu bilden, um nachher über alles zu urteilen.“ (Versuch einer
Geschichte der Dichtkunst, 1767.) Ja Herder sieht sich bei aller Begeisterung
für das Griechentum in scharfen Gegensatz zu dem einseitigen Klassizismus
seiner Zeitgenossen gerückt. „O das verwünschte Wort klassisch!
Dies Wort hat manches Genie unter einen Schutt von Worten vergraben, es
hat dem Vaterlande blühende Fruchtbäume entzogen.“ Und so ist es denn
auch ein naher und natürlicher Schritt zu der nationalen Wendung: „Keiner
Nation dürfen wir es also verargen, wenn sie vor allen anderen ihre Dichter
Ideen zur Geschichte und Kritik der Poesie und bildenden Künste, Werke Bd. 24 S. 314.
liebt und sie gegen fremde nicht hingeben möchte. Sie sind ja ihre
Dichter.“ (Fragmente über die neuere deutsche Literatur, 1766/67.)1)
Der breite Strom nationalen und volkstümlichen Lebens, der sich
unter dem Einfluß dieser befreienden Anschauungsweise in den siebziger
Jahren in die Poesie ergoß, wurde durch die schnelle Rückwendung Goethes
und Schillers zum Klassizismus fast gewaltsam zurückgedämmt; aber er
versiegte darum nicht, und in den letzten Jahren des zu Ende gehenden
Jahrhunderts wurden alle Keime, die er mit sich trug, in der Romantik
von neuem lebendig. Mehr noch als in ihren Schriften zum Ausdruck
kam, schritt die neue Schule auf den Bahnen, die Herder gebrochen hatte.
Auch sie verwarf die einseitige Geltung des Griechentums und des hierauf
gegründeten Idealstils. Sie stellte, wie es schon Herder getan, das Mittelalter,
die Dichtung der romanischen Völker, ja der Inder und Orientalen
neben die hellenische Kunst. Die geschichtliche Betrachtung der Poesie
entfaltete sich weiter und trat besonders in August Wilhelm Schlegels
Berliner Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst (1803─1804) systematisch
hervor: man darf dieselben als den ersten Versuch zu einer historisch
begründeten Gesamtpoetik bezeichnen. Schlegel unternimmt es, das
Wesen der Dichtung und der dichterischen Formen aus der geschichtlichen
Entwicklung zu verstehen, „die Poesie genetisch zu erklären und sie auf
den verschiedenen Stufen, welche sie von der ersten Regung des Instinkts
an bis zur vollendeten künstlerischen Absicht durchzugehen hat, zu begleiten“.2)
Eine unendliche Erweiterung des Gesichtskreises ging daraus
hervor, eine Bereicherung und Vertiefung des Verständnisses, die selbst
auf die Führer des Klassizismus zurückwirkte.
Die geschichtliche Betrachtungsart bedeutet in Wahrheit den ersten
Schritt zu einer wissenschaftlichen Erfassung der Poesie überhaupt. Aber
es ist deutlich, daß sie für sich allein nicht genügt, um eine Wissenschaft
von dem Wesen der Dichtung nach ihren allgemeinen und bleibenden
Grundzügen und Gesetzen zu schaffen. Die Geschichte der Poesie, auch
die vergleichende, wie sie Herder und A. W. Schlegel angebahnt haben,
ist eben Literaturgeschichte, nicht Poetik: sie hebt die Charakterzüge
zeitlicher und nationaler Erscheinungen schärfer hervor, sie überblickt
das Gesamtgebiet klarer und vollständiger, als das früher möglich war,
aber sie vermag auf die letzten Fragen nach dem Wesen der Poesie, nach
den treibenden Kräften ihrer Entwicklung, nach dem Verhältnis der Formen
zum Inhalt und vielem ähnlichen, worüber der forschende Menschengeist
Aufschluß sucht, keine Antwort zu geben. Sie weist mithin über sich
selbst hinaus auf eine allgemeinere und tiefere Auffassung hin, durch welche
das, was sie sammelt und darstellt, erst seine wahre Bedeutung gewinnen
Vgl. die Zusammenstellung bei Hettner, Geschichte der deutschen Literatur im
19. Jahrhundert, Teil III3, 1. Abt. S. 34 ff., 49.
R. Haym, Die romantische Schule, S. 779, vgl. 766.
und in seinem inneren Zusammenhang sichtbar werden kann. Diese tiefere
Auffassung wurde nun zunächst in einem ideellen und metaphysischen Zusammenhang
gesucht, dessen man sich durch philosophisches Denken,
durch Ideenkonstruktionen bemächtigen könne. Eine solche Vermischung
spekulativer und geschichtlicher Betrachtungsart finden wir schon bei Herder
selbst; weiter aber geht Schiller, bei dem die philosophischen Gesichtspunkte
die historischen fast ganz beiseite drängen; so vor allem in seiner
zusammenfassenden Hauptschrift: „Über die ästhetische Erziehung des
Menschen“. Hier unternimmt es der Dichterphilosoph, das Wesen der Kunst
aus der Natur des Menschen abzuleiten und zwar ihrer Entstehung sowohl,
wie ihren Wirkungen nach. Aber es ist nicht der empirisch gegebene Mensch
der verschiedenen Zeiten und Völker, woran er denkt: was er unter dem
Worte versteht, ist ein Idealbegriff, eine Konstruktion ethischen Inhalts; und
nicht geschichtliche oder psychologische Erkenntnis, sondern die Vorstellung
von dem sittlichen Zweck des Menschenlebens ist es, woraus das Wesen
der Kunst und der Poesie durch speziellere Zweckbestimmungen abgeleitet
wird: ganz in Übereinstimmung mit jener bereits gekennzeichneten Tendenz,
die Kunstlehre zum Ausschnitt einer umfassenden sittlichen Weltanschauung
zu gestalten. Nur vereinzelt mischen sich psychologische und
historische Elemente in die geistreichen Begriffskonstruktionen: sie lassen
den Abstand von dem Bilde der Wirklichkeit nur schärfer hervortreten.
In einem eigentümlichen Nebeneinander erscheinen „Spieltrieb, Stofftrieb
und Formentrieb“; ─ der erste wenigstens ursprünglich ein psychologischer
Begriff, die beiden letzten jedoch Abstraktionen, bei denen aller
empirische Gehalt von der ästhetischen Spekulation überwuchert und fast
gänzlich aufgezehrt ist.
Eine ähnliche Vermischung von empirischer Erkenntnis und metaphysischer
Begriffsbildung ist es bekanntlich, aus dem die stolzen Systeme der
idealistischen Philosophie Schellings und besonders Hegels erwachsen
sind. Und so ist es denn begreiflich, daß die deutsche Ästhetik, solange sie
unter dem Einfluß dieser Denker stand, d. h. bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts
hinaus, das entsprechende Bild zeigt. Hegel sieht die Idee des
Schönen, in einem Winckelmann innerlich verwandten Sinne, als das
absolut Bestimmende an. Wie sein ganzes System, so ist auch die Methode
seiner Ästhetik von der Vorstellung durchdrungen, daß sich die geschichtlich
empirische Wahrheit durch reines Denken ableiten lassen müsse.
Tatsätlich konnten hieraus nur Zwitterschöpfungen hervorgehen, halb historisch
induktiver, halb spekulativ deduktiver Natur, zur Hälfte geschichtliche
Betrachtung, zur größeren Hälfte metaphysische Ideengespinnste. Die aus
Hegels Schule hervorgegangenen ästhetischen und literarhistorischen Werke
zeigen durchweg diesen Charakter. Das bedeutendste unter ihnen ist
Friedrich Vischers Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen (1846─57),
ein umfassendes Werk voller Lichtblicke und Anregungen, dessen geistvoller
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Schöpfer gleichwohl zuletzt selbst an der Berechtigung seines Gedankenbaues
irre wurde. Aber nicht weniger charakteristisch ist ein minder
umfangreiches Buch, welches das besondere Gebiet der Poesie behandelt
und bis heute eines der am meisten genannten und benutzten Bearbeitungen
dieses Gegenstandes ist, Wilhelm Wackernagels Poetik. Sie ist freilich
erst 1873 im Druck erschienen; allein die Vorlesungen, aus denen das
posthume Buch entstanden ist, sind schon im Jahre 1836 gehalten worden.1)
Das Werk ist, wie der Name seines Verfassers bezeugt, nicht aus der Hegelschen
Schule hervorgegangen, sondern von einem Fachmanne geschrieben,
der, stark von der Romantik beeinflußt, über ein reiches literargeschichtliches
Wissen und über gründliche philologische Schulung verfügte. Gleichwohl
zeigt es deutlich jenen Zwittercharakter. Die Betrachtung geht von
den Eigenschaften Gottes aus, um das Wesen des Schönen und der Kunst
zu bestimmen. Der Germanist teilt das enge und ausschließende Schönheitsprinzip
mit dem Klassizismus: „Kunst ist überall, wo eine schöne Anschauung
schön objektiviert wird; sie ist nicht mehr vorhanden, wo entweder das,
was man darstellt, oder die Art, wie man es darstellt, den Anforderungen
des Schönheitsgesetzes nicht entsprechen.“ „Bei der Poesie wird von der
sprachlichen Darstellung vor allem Schönheit, bei der Prosa vor allem
Verständlichkeit verlangt.“ (S. 10, 11.) Und doch „soll die Poetik als Naturgeschichte
in der Poesie ein mehr historisch entwickelndes Verfahren beobachten
und mehr sich bestreben, Gesetze zu finden als Regeln aufzustellen“.
So geht Wackernagel denn auch, nach einer allgemeinen Erörterung
des Wesens und des Ursprungs der Poesie, innerhalb der einzelnen
Gattungen historisch vorwärts. Sein Interesse gilt vorwiegend den ältern
Epochen und der Volksdichtung. Der Hauptwert seiner Arbeit liegt in
diesen Betrachtungen, vor allem in der Behandlung des Volksepos, wiewohl
er mit den Brüdern Grimm und den übrigen Begründern der deutschen
Philologie die psychologische Unklarheit über die Entstehung der Volkspoesie
und ihr Verhältnis zur „Volksseele“ teilt. Ist nun hierin der Einfluß
der romantischen Anschauungs- und Wertungsweise deutlich erkennbar, so
widerspricht es derselben andrerseits aufs schärfste, wenn Wackernagel die
Gattung des Romans, die von jenen als die höchste in der Poesie angesehen
worden war, gänzlich aus dem Bereiche der Dichtkunst überhaupt
hinausweist und nicht in der Poetik, sondern in der Rhetorik behandelt:
nach seiner Meinung gibt es Poesie nur in gebundener Sprache, „so daß
man hier die unkünstlerische Form der Rede wohl eine Ungehörigkeit nennen
darf“, wie ihm denn der Roman überhaupt im wesentlichen „den Untergang
des Epos“ bedeutet (S. 81). Diese und ähnliche Urteile zeigen die Unzulänglichkeit
seines Standpunkts. Überhaupt aber wird er der Kunstpoesie und
zumal der der neueren Zeit nur wenig gerecht. Seine Auffassung greift,
Poetik, Rhetorik und Stilistik. Akademische Vorlesungen von Wilhelm Wacker-
nagel. Herausgegeben von Ludwig Sieber. Halle 1873.
wiewohl es an geistreichen Lichtern nicht fehlt, nur selten tief und führt
noch seltener zu einer zureichenden Erklärung der poetischen Schöpfungen.
So ergibt es sich denn als eine innere Notwendigkeit, daß die wissenschaftliche
Poetik zu einem einwandfreieren Verfahren, einer reineren Methode
fortschreiten mußte. Und diese Methode konnte, nach allem vorhergehenden
ist das klar, nur eine im strengeren Sinne des Worts empirische
sein. Sie mußte auf einer unbefangenen, von Spekulation nicht getrübten
untersuchenden Betrachtung des Tatsächlichen beruhen.
Als die metaphysische
Spekulation allmählich in Mißkredit kam und an ihrer Stelle die
naturwissenschaftliche und geschichtliche Empirie immer entschiedener die
Herrschaft über das wissenschaftliche Denken antrat, da war es auch um die
Geltung der großen ästhetischen Systeme geschehen. An die Stelle der
„Ästhetik von oben“ mußte die „Ästhetik von unten“ treten, an die Stelle des
Dogmatismus und der Spekulation die Erfahrung, an die Stelle der Metaphysik
als Deuterin der ästhetischen Erscheinungen die Psychologie. Kunst
und Poesie werden nun, in ihrem allgemeinen Wesen wie in ihren einzelnen
Schöpfungen, nicht mehr durch ein begrifflich abgeleitetes Sollen bestimmt
und aus allgemeinen Zwecken ethischer Art abgeleitet; sie werden vielmehr
als Lebensäußerungen des menschlichen Geistes gefaßt, seinen empirisch
erkennbaren Anlagen und Bedürfnissen entsprungen und den Gesetzen
des Seelenlebens unterworfen, daher nur aus der Erkenntnis dieser
Gesetze, aus dem Einblick in die Kräfte und Vorgänge des Seelenlebens
verständlich. Wie alle künstlerischen, so sind auch die dichterischen Wirkungen
nicht aus absoluten und ein für allemal vorgeschriebenen Eigenschaften
des Kunstwerks an sich, sondern aus der Natur der menschlichen
Seele zu erklären. Die Gesetze der Kunst sind psychologische Gesetze,
die geschichtliche Entwicklung der Poesie beruht auf den Entwicklungsgesetzen
des menschlichen Geistes.
Die Anfänge einer solchen Betrachtungsart der ästhetischen Vorgänge
liegen weit zurück: sie erscheinen zuerst um die Mitte des 18. Jahrhunderts
in England. Schon Hutcheson1) hatte auf einen „inneren Sinn“ als die
Quelle unserer Ideen vom Schönen wie vom Guten hingewiesen, d. h. er
hatte einen psychischen Ursprung für diese Ideen festgestellt und dadurch
die Möglichkeit einer psychologischen Analyse angebahnt. Burke2)
nahm eine solche Analyse an den Grundbegriffen des Schönen und des
Erhabenen vor und führte beide auf bestimmte Seelenzustände des betrachtenden
Menschen zurück. Home endlich unternahm es, mit freilich
sehr unvollkommener Systematik, „den empfindenden Teil der Menschennatur
zu untersuchen und durch Erforschung der angenehmen und unangenehmen
An Inquiry into the original of our ideas of beauty and virtue. London 1720.
A philosophical inquiry into the origin of our ideas of the sublime and the
beautiful. London 1756.
Gegenstände die echten Grundsätze der schönen Kunst zu entdecken.“1)
In Deutschland hat Moses Mendelssohn, zuerst aus selbständigem
Antriebe, dann unter dem Einfluß jener englischen Denker, die
psychologische Betrachtung der Kunst und des Schönen angebahnt (besonders
in den „Briefen über die Empfindungen“, Berlin 1755). Er suchte
die Eigentümlichkeiten der künstlerischen Wirkungen aus empirisch erkennbaren
inneren Zuständen und Vorgängen zu verstehen und betrachtete
die ästhetischen Erscheinungen zugleich als Quelle psychologischer Erkenntnis.
Er hat damit einen starken Einfluß auf seinen Freund Lessing
ausgeübt: als eine Art von Unterströmung zieht sich die psychologische
Betrachtungsweise vom Laokoon an durch die klassische Literatur, hier
und da, bei Herder wie bei Schiller, an die Oberfläche tretend. An sich
freilich wurde, wie wir gesehen haben, die Denkweise dieser Epoche
von ganz anderen Gesichtspunkten bestimmt, und ebenso blieb auch in
der Periode des Hegelschen Einflusses das psychologische Element untergeordnet
und unwirksam, bis es durch die wissenschaftliche Gesamtentwicklung
kraftvoll in die Höhe getragen wurde, um nunmehr schnell als die
herrschende Strömung zutage zu treten.
Zwei Schriftsteller sind in dieser Hinsicht von entscheidendem Einfluß
geworden; beide nicht speziell der Poetik, sondern allgemeinen Fragen der
Kunst zugewandt, beides Männer, die auch sonst dem wissenschaftlichen
Denken wichtige Impulse gegeben haben: H. Taine durch die Histoire de
la littérature anglaise 1863 (und im Zusammenhang hiermit seine Philosophie
de l'art 1865) und G. Th. Fechner mit der Vorschule der Ästhetik
1876. Taine, ein rationalistisch scharfer Denker, ein Psychologe und zugleich
ein Geschichtsschreiber großen Stils, legt das entscheidende Gewicht auf
den Einfluß, den Rasse, soziales Milieu und Zeitalter auf die Geistesverfassung
des Künstlers ausüben: diesen Einfluß gilt es zu untersuchen
und aus der so verstandenen psychologischen Eigenart des Urhebers das
Wesen des Kunstwerks zu erfassen. G. Th. Fechner, einer der Hauptbegründer
der wissenschaftlichen Psychologie in Deutschland, fordert mit
aller Entschiedenheit eine ästhetische Erfahrungswissenschaft, die ihre allgemeinen
Sätze und Begriffe auf psychologische Empirie begründen und
induktiv vom Besonderen zum Allgemeinen aufsteigen soll, statt wie es
die frühere Kunstphilosophie getan hatte, von allgemeinen Sätzen und Begriffen
aus die einzelnen Erscheinungen zu betrachten und zu beurteilen.
Er leitet auf diesem Wege eine Reihe ästhetischer Erfahrungsprinzipien ab,
die dem Zwecke dienen, die komplizierten Erscheinungen, welche die
ästhetischen Vorgänge darbieten, mit den elementaren Funktionen des Seelenlebens
in eine kausale Verbindung zu setzen, ihren Ursprung in diesen letz─
teren nachzuweisen. So führt er z. B. die künstlerischen Prinzipien des Kontrastes
Elements of Criticism. Edinburg 1762─1765. Vgl. Hettner, Geschichte der
englischen Literatur S. 442.
und der Steigerung auf allgemeine Eigentümlichkeiten des Bewußtseinsablaufs
zurück, leitet ihre Bedeutung aus den Erscheinungen der
Ermüdung, des Reizzuwachses u. s. w. ab. Beide Forscher haben das
ästhetische Denken des letzten Menschenalters entscheidend bestimmt; sie
haben daher auch die wissenschaftliche Behandlung der Poetik in neue
Bahnen gelenkt, wiewohl auf unserem Sondergebiete dieser Einfluß erst
nach längerer Zeit deutlich hervortrat.
In den beiden Jahren 1887─88 erschienen zwei Schriften, die, auch
sonst in mannigfacher Berührung miteinander, die gemeinsame Tendenz
zum Ausdruck brachten, die Poetik zu einer modernen Wissenschaft zu
gestalten: Wilhelm Scherers Poetik und Wilhelm Diltheys bereits oben
(S. 6) angeführte Abhandlung: „Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine
für eine Poetik“. Beides nicht ausgeführte systematische Werke, sondern
eingehende Entwürfe, wissenschaftliche Programme, nach Form und Inhalt
fragmentarisch; aber höchst bedeutsam durch die Wendung, die sie bezeichnen.
Scherers „Poetik“ ist das posthum herausgegebene Konzept seiner
nur einmal im Jahre 1885 gehaltenen Vorlesungen über den Gegenstand.
Diesem Ursprung entspricht der Charakter des Werkes: es ist reich an
Ideen, die aber noch wenig kritisch gesichtet sind; fruchtbare Gedanken
und belanglose Einfälle, tiefe Blicke und unzulängliche Auffassungen stehen
nebeneinander; es ist schwer, dem Wert und Unwert des Buches mit kurzen
Worten gerecht zu werden. Soviel aber sieht man gleich: Scherers Arbeit
ist getragen von dem Bewußtsein der neuen ästhetischen Epoche, ihrer
höheren Ziele und tiefer eindringenden Methoden. „Diese philologische
Poetik soll der früheren Betrachtungsweise gegenüberstehen, wie die historische
und vergleichende Grammatik seit Jakob Grimm der gesetzgebenden
Grammatik vor Jakob Grimm gegenübersteht“ (S. 66). Scherer knüpft
viel enger, als es seine Darstellung erkennen läßt ─ doch mag das an
der lückenhaften Form der Überlieferung liegen ─ an Herder und die
historische Betrachtungsweise an. Auch seine Poetik verlangt in erster
Linie eine umfassende Induktion der literarhistorischen Tatsachen und will,
wie jener, die Poesie der Naturvölker und von da aus die Entwicklung
der Poesie durch Zeiten und Völker in ihrem ganzen Umfang umspannen.
Wie Herder wendet sich Scherer schroff gegen die Anmaßung, von allgemeinen
Prinzipien aus die einzelnen dichterischen Erscheinungen und
Schöpfungen werten zu wollen. „Die Aufgabe der früheren Poetik, die
wahre Poesie (die wahre Lyrik, das wahre Drama u. s. w.) zu suchen, hat
sich als unlösbar erwiesen. Die Ästhetik soll unparteiisch verfahren, nicht
vorschnell von gut und schlecht reden, sondern nur von verschiedenen
Wirkungen.“
Allein auch für Scherer ist, wie für Herder selbst und alle, die auf
ihn gefolgt sind, die geschichtliche Betrachtung nicht das letzte Wort noch
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der eigentliche Inhalt der Poetik. Nach zwei Richtungen sucht er Wege,
die über den Einzelzusammenhang hinaus zu Ergebnissen allgemeiner
Natur führen sollen. Einmal schwebt ihm für die Gestaltung der neuen Poetik
so etwas vor, wie die beschreibende Naturwissenschaft älteren Stils: als
Ziel erscheint ihm die Inventarisierung und „Klassifikation“ der Begriffe
und Formen, die sich aus der geschichtlichen Betrachtung ergeben, eine
Art von Linnéschem System der Poesie. In der Tat sind seine Einteilungen
oft nicht minder äußerlich und unsachlich, wie die Linnésche; besonders aber
scheint auch ihm die Systematik, die auf diese Weise entsteht, Selbstzweck
zu sein; denn er sucht solche Einteilungen auch da, wo ein Wert für weitere
wissenschaftliche Anknüpfungen nicht abzusehen ist; so entwirft er z. B. eine
geradezu abgeschmackte Einteilung der Liebesverhältnisse im dritten Kapitel.
Er verlangt sogar in einem sehr entschiedenen, wenn auch offenbar unbewußten
Gegensatz zur induktiven Methode, daß die wissenschaftliche
Poetik ein Schema von allen möglichen Gattungen der Poesie entwerfen,
und neben den Stoffen, welche die Poesie tatsächlich behandelt hat, die
möglichen, die sie behandeln könnte, systematisieren sollte. Was würde
ein solches System, selbst wenn es durchführbar wäre, für einen wissenschaftlichen
Wert haben, wofür könnte es fruchtbar gemacht werden? Es
ist seltsam zu sehen, wie dieser künstlerisch lebendige und anschaulich
gerichtete Geist sich in den blutlosesten Schematismus verrennen konnte.
Bedeutsamer und lebensvoller ist das zweite Ziel, das Scherer im
Auge hat und das auch ihm wohl als das wichtigere erschien: das psychologische
Verständnis des ästhetischen Vorgangs. Und zwar ist es dieser
Vorgang in seinem gesamten Verlauf, den er begreifen will, die Konzeption
des Dichters und seine schöpferische Arbeit ebensowohl wie die Wirkung
auf sein Publikum. Aber den Hauptton legt er auf die erste Hälfte, die
Psychologie des Dichters und seiner Tätigkeit, „die Analysis des dichterischen
Prozesses“. Er sucht die schaffenden Seelenkräfte zu ergründen,
handelt ausführlich über die psychologische Grundlage der Phantasie und
über das Verhältnis von Genie und Wahnsinn. Das Verfahren, das zu
seinem Ziel führen soll, schildert er in folgenden Sätzen: „Die Analyse
des dichterischen Prozesses wird das Zusammengesetzte überall auf Einfacheres
zurückführen müssen; in dieser Zurückführung des Komplizierten
auf Einfaches besteht eben die Analyse, die Auflösung derselben in die
einfachsten Elemente; und wo irgend möglich muß sie Elemente aufzeigen,
bei denen eine unmittelbare Erfahrung, ein Nacherleben möglich ist. Der
dichterische Prozeß muß also überhaupt in solche Elemente aufgelöst
werden, an welche das Bewußtsein eines jeden von uns anknüpfen kann.
Die Quelle dichterischer Kraft können wir freilich nicht nachempfinden;
im höchsten Sinne kann Goethe nur von Goethe verstanden werden. Aber
auch die höchsten Hervorbringungen haben gemeinverständliche Elemente;
und zu diesen müssen wir vordringen. So tritt denn also die unmittelbare
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Erfahrung als erklärendes Moment ein“ (S. 67 ff.). Dabei hat er aber
auch hier die seltsame Idee, daß es sich „um Erschöpfung der möglichen
Fälle handeln“ müsse.
Ueber die Mängel dieser Formulierungen und die Unzulänglichkeit
dessen, was Scherer an positivem Material beibringt, zu rechten, wäre ungerecht
und zwecklos. Seine psychologischen Kenntnisse gingen nicht
tief, und zudem ist ja alles, was das Buch entwickelt, nur Entwurf und
Skizze. Trotz alledem ist mit der Forderung nach einer Psychologie des
Dichters und seines Publikums ein neuer und bedeutungsvoller Gesichtspunkt
in die deutsche Poetik eingeführt, vermutlich nicht ohne direkte Einwirkung
Taines und jedenfalls im Einklang mit ihm. Wieweit er sich für
das Gebiet der Poetik fruchtbar erwiesen hat, lassen wir zunächst dahingestellt
sein. Auf alle Fälle steht er der früheren, rein objektiven Betrachtungsart,
die stets vom fertigen Kunstwerk und seinen Wirkungen
ausgeht, bedeutsam gegenüber. Es ist ein Gedanke, der ganz in der
Richtung moderner Wissenschaft liegt, und hier ist es denn auch, wo
Dilthey am entschiedensten mit Scherer zusammentrifft.
Auch Diltheys „Bausteine zu einer Poetik“ (der Obertitel „Die Einbildungskraft
des Dichters“ deckt genau genommen nur die erste Hälfte)
sind, wie schon der Name besagt, eine Skizze, fragmentarisch entworfen
und ungleich ausgeführt. In der Gesamtrichtung tritt entschiedene Verwandtschaft
mit Scherers Vorlesungen hervor; ja die persönliche Berührung
beider Gelehrten macht sich an mancher Stelle geltend. Wie Scherer verlangt
Dilthey von der Poetik, „daß sie den entscheidenden Schritt tue,
eine moderne Wissenschaft zu werden“. Auch seine Überzeugung ist,
daß eine solche Wissenschaft nur empirisch sein kann. Aber seine Arbeit
ist aus einem Guß und frei von dem Sprunghaften des Schererschen Entwurfs;
ein einheitlicher Gedankengang beherrscht das Ganze, und von
vorneherein zeigt sich Dilthey als der reifere und klarere Denker. Wo
Scherer kurzerhand entschieden ist, sieht er die Probleme, die in der Tiefe
liegen. So erscheint ihm der Standpunkt, den jener als festen Ausgangspunkt
einnimmt, gerade das Grundproblem der Poetik zu enthalten. „Die
Aufgabe der Poetik ist: kann sie allgemeingültige Gesetze gewinnen, welche
als Regeln des Schaffens und als Normen der Kritik brauchbar sind? Und
wie verhält sich die Technik einer gegebenen Zeit und Nation zu diesen
allgemeinen Regeln? Wie überwinden wir doch die überall auf den Geisteswissenschaften
lastende Schwierigkeit, allgemeingültige Sätze abzuleiten aus
den inneren Erfahrungen, die so persönlich beschränkt, so unbestimmt,
so zusammengesetzt und doch unzerlegbar sind?“ (S. 310). Um diese Frage
zu lösen, kann die Poetik einen doppelten Weg einschlagen. „Die einen
Ästhetiker gehen von dem Äußeren zum Inneren und leiten aus dem
ästhetischen Eindruck die Absicht des Künstlers ab, ihn hervorzurufen,
dann hieraus die Entstehung einer Technik, die ihn bestimmt. Die anderen
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gehen von innen nach außen; sie finden in dem schaffenden Vermögen
des Menschen den Ursprung der Regel, und sie müssen dann folgerichtig
in dem ästhetischen Eindruck das abgeblaßte Abbild jenes schöpferischen
Vorgangs sehen. Wie entscheiden wir diese Streitfrage?“ Jeder von
beiden Wegen ist einseitig. „Die Poetik öffne daher beide Tore ihren
Erfahrungen soweit als möglich, damit keine Art von Tatsachen oder Verfahren
ausgeschlossen werde.“ Also beides ist erforderlich, psychologische
Ableitung sowohl wie geschichtliche Induktion. Ihren Ausgangspunkt jedoch
muß die Poetik von der „Analysis des schaffenden Vermögens“
nehmen. Denn in den psychologischen Vorgängen ist die allgemeine Natur
des Schaffens begründet, aus ihrer Analyse gehen die allgemeinen Prinzipien
oder Regeln hervor, welche als die unveränderlichen Normen alles
Schaffens betrachtet werden müssen. So enthält denn die erste, größere
Hälfte der Abhandlung den Versuch einer solchen Analyse: von den psychologischen
Elementarvorgängen aufsteigend, sucht sie das Wesen des dichterischen
Vorgangs aufzubauen. Auf diese Weise wird eine Reihe von
Gesetzen der schaffenden Phantasie gewonnen, welche, vielfach in naher
Verwandtschaft zu Fechners Prinzipien einer objektiv induzierenden Ästhetik
und gewissermaßen als die Kehrseite zu denselben, die subjektiven Elemente
des dichterischen Schaffens zum Ausdruck bringen; und es werden
dann die Eigentümlichkeiten des poetischen Bildens im Vergleich mit den
Bildern des Traums und des Wahnsinns veranschaulicht. ─ Nun aber ist
Dilthey nicht der Meinung, daß sich aus den so gefundenen Gesetzen
allgemeingültige und zugleich spezielle Normen für die Dichtkunst ableiten
lassen, oder daß man auch nur die geschichtliche Entwicklung der Poesie
aus ihnen allein verstehen könnte. Sein eminenter historischer Sinn kann
es nicht übersehen, daß die schöpferische Tätigkeit des Dichters wie ihrem
Stoff nach so auch in ihrer Technik ─ das Wort im weitesten Sinne genommen
─ historisch bedingt ist. Daher ändert sich die Methode, nachdem
die psychologische Grundlegung der Poetik gewonnen ist und es
sich nun darum handelt, die Gebilde und Formen der Dichtung im einzelnen
zu erkennen. „Die literarhistorische Empirie hat jetzt die Führung,“
und es „fällt der Psychologie von nun ab nur die zweite begleitende Stimme
zu“ (S. 425). Allerdings, auch „die historische Erkenntnis kann in keinem
Punkt der psychologischen Erklärung entbehren“, aber die Technik der
Dichtkunst ist keine allgemeingültige und kann nicht aus allgemein psychologischen
Gesetzen, sondern nur aus der historischen Betrachtung und
Analyse des Persönlichen gewonnen werden. Auf diesem Verhältnis beruht
einerseits die allgemeine wissenschaftliche Bedeutung der Poetik, andererseits
ihr besonderer Wert für die lebendige Kunst jeder einzelnen Epoche.
Denn „die Poetik lehrt uns die lebendigen Kräfte der Gegenwart und das
Werden einer auf sie gegründeten Kunst mit geschichtlichem Sinne auffassen
und werthalten, indem sie die geschichtliche Natur der Technik erkennt
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und so den heutigen Poeten mit den aus der Natur des Menschen
fließenden Regeln und den in geschichtlicher Arbeit erworbenen Kunstgriffen
bekannt macht“ (S. 475─478).
Man sieht, es ist eine umfassende Synthese beider Seiten der bisherigen
Entwicklung der Poetik, die Dilthey anstrebt. Objektive und subjektive,
geschichtliche und psychologische Auffassung will er gleichmäßig
zu ihrem Rechte kommen lassen.
Der scharfsinnige Denker hat damit in allem Wesentlichen das wahre
Verhältnis bezeichnet. Die Kunst und insbesondere die Poesie bedarf, wenn
sie ihrem gesamten Wesen nach zu theoretischem Verständnis gebracht
werden soll, einerseits der psychologischen Einsicht in die Bedingungen
und Vorgänge des künstlerischen Schaffens, andrerseits einer Lehre vom
Kunstwerk, wie es sich objektiv in den geschichtlich entstandenen Gebilden,
Arten und Formen ausspricht. Die heutige Literaturwissenschaft neigt mit
einer gewissen Einseitigkeit zur psychologischen Betrachtung und Behandlungsart,
und die Poetik im Sinne einer objektiven Kunstlehre ist darüber
in den Hintergrund getreten. Im Gegensatz dazu ist es belehrend zu sehen,
wie gerade in der jüngsten Zeit auf dem Gebiet der bildenden Künste eine
rein technische Betrachtungsart, die das psychologische Element mit bewußter
Absicht ausschließt, ihre Rechte geltend macht: Hildebrands und
Wölfflins Schriften1) stehen im Mittelpunkt des ästhetischen Interesses, und
auch Justis Michel Angelo2) bildet einen lehrreichen Beitrag zu einer induktiven
Kunstlehre im engeren Sinne. Aber noch entschiedener ist das
Bedürfnis nach einer solchen Betrachtungsart auf dem Gebiet der Dichtung
fühlbar, weil ihr Gebiet umfassender und ihre Erscheinungen komplizierter
sind als die der Plastik oder der Malerei. In der Tat ist es ja auch dieses
Bedürfnis, das die systematische Poetik alten Stils befriedigen wollte, nur
daß sie den doppelten Fehler beging, ihre Aufgaben mit der Feststellung
äußerlich unterscheidbarer Arten und Formen der Poesie und der Regeln,
die sich daraus ergaben, für gelöst zu halten, und diese äußerlichen Unterscheidungen
deduktiv aus allgemeinen ästhetischen Begriffen ableiten zu
wollen. Beide Fehler wird die neue Poetik meiden. Sie wird zu einem
innerlichen Verständnis vorzudringen suchen und sie wird dieses Verständnis
auf induktive Weise durch historische Betrachtung begründen.
Die Grenzen nun zwischen der Poetik als Kunstlehre in dem bezeichneten
Sinne und der gesuchten Psychologie der dichterischen Einbildungskraft
wird man noch etwas schärfer und tiefer zu ziehen haben, als es
Dilthey getan hat. Denn tatsächlich handelt es sich nicht nur um eine
Verschiedenheit der Methoden, sondern auch um einen deutlichen Unterschied
Ad. Hildebrand, Das Problem der Form. 3. Aufl. 1903. Heinr. Wölfflin, Die
klassische Kunst. Eine Einführung in die italienische Renaissance. München 1899.
Leipzig 1901.
der Ziele. Die Geschichte der dichterischen Formen und ihrer Entwicklung
hat mit der Psychologie nicht mehr und nicht unmittelbarer zu
tun wie die Geschichtswissenschaft überhaupt. Die Feststellung einer inneren
Gesetzmäßigkeit psychologischer Natur mag ihr als letztes und höchstes
Ziel vorschweben, aber sie wird ihre Kausalerklärungen, wie ja auch Dilthey
zugibt, unmittelbar wenigstens nur zum Teil auf eine solche zu gründen
vermögen. Der Psychologie des Dichters tritt hier nicht nur die Psychologie
des Publikums zur Seite, sondern vielfach auch die Einwirkung äußerer
Ursachen, z. B. die technische Eigenart der Bühne oder des rhapsodischen
Vortrags, wie sie sich bei den verschiedenen Völkern traditionell
entwickelt hat, oder das Verhältnis zur Musik, das für die Ausbildung der
metrischen Eigentümlichkeiten entscheidend ist. Daher wird man sich auch
hier wohl oder übel auf die bescheidene Aufgabe beschränken müssen,
die dem Historiker heute noch auf allen Gebieten vorgezeichnet ist: den
tatsächlichen Zusammenhang der Erscheinungen festzustellen, ohne auf
seine letzten Gesetze einzugehen, und man wird nicht glauben dürfen, daß
man mit der psychologischen Erklärung das ästhetisch technische Gebiet
bewältigen könne.
Es wäre daher ratsam ─ weil unzweideutiger ─ beide Untersuchungsarten
auch äußerlich zu scheiden und der neueren Wissenschaft einen selbständigen
Namen beizulegen, der zugleich das gesamte Gebiet kenntlich
macht, dem sie angehört, etwa Psychologie (oder auch Ästhetik) der
Dichtkunst. Will man sie aber gleichwohl unter die Gesamtbezeichnung
Poetik mit einbegreifen, so würde sie als subjektiver oder psychologischer
Teil von der objektiven Kunstlehre zu scheiden sein.
Werden wir uns nun das Ziel stecken dürfen, mit den folgenden
Untersuchungen beide Seiten der Gesamtwissenschaft zu umspannen, ungefähr
in Diltheys Sinne die Poetik als Kunstlehre, wenigstens in einer
teilweisen Abhängigkeit von der Ergebnissen einer Psychologie der Dichtkunst
zu behandeln? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zuvörderst
noch etwas näher auf das Wesen einer psychologischen Poetik
eingehen und die Vorfrage erledigen, wie weit es bei dem gegenwärtigen
Stande der Wissenschaft möglich ist, ihr eine selbständige Ausgestaltung
zu geben.
Fassen wir die Ergebnisse
unserer letzten Betrachtung noch einmal zusammen. Wie die Ästhetik der
Romantiker und der Hegelschen Schule Metaphysik des Schönen sein
wollte, so will die heutige Ästhetik Psychologie des Schönen sein. Ihr
letztes Ziel ist, die psychologischen Gesetze festzustellen, auf denen unsere
ästhetischen Empfindungen und Urteile beruhen. Denn ihre Grundlage
bleibt die Erkenntnis, daß diese Urteile und Empfindungen durch die subjektive
Veranlagung des Menschen bestimmt werden und nicht durch irgend
ein objektives oder absolutes Prinzip der Schönheit; mit anderen Worten:
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daß ästhetische Eindrücke und Wirkungen in der psychischen Natur des
Menschen ihre Erklärung finden. Die psychologische Tendenz der heutigen
Poetik erhält nun aber ein noch bestimmteres Gepräge dadurch, daß sie
im allgemeinen nicht, wie frühere Epochen getan haben, den Wirkungen
des Dichtwerks, sondern seiner Entstehung nachgeht und aus dem Prozeß
in der Seele des Dichters die Eigenart der einzelnen Dichtungen wie der
Poesie überhaupt erklären will. Ihre Verallgemeinerungen münden nicht
in die ästhetischen Kategorien des Schönen, Erhabenen u. s. w., sondern
in die psychologischen der Phantasie überhaupt und der dichterischen Einbildungskraft
insbesondere. Den Zusammenhang der produktiven Phantasie
mit der Gesamtanlage der dichterischen Individualität will sie ergründen
und auf diese Weise zugleich der allgemeinen psychologischen Forschung,
soweit sie der Phantasietätigkeit gilt, und der Individualpsychologie fruchtbare
Dienste leisten. Die Einsicht in das Seelenleben des Dichters und
in das Wesen seiner produktiven Kraft ist das Ziel, das sich nicht nur die
Poetik als solche, sondern in Abhängigkeit von ihr auch die heutige
Literaturwissenschaft, wenigstens soweit sie die neuere Zeit behandelt, gesteckt
hat.
Es erhebt sich nunmehr die Frage, wie weit die Wissenschaft der
Gegenwart nach ihren Mitteln und Methoden imstande ist, so hoch gesteckten
Zielen nahe zu kommen. Und da zeigt es sich bald, daß sich
ihrem Wege eine Reihe von Schwierigkeiten entgegenstellt, die, wenn nicht
als dauernd unüberwindlich, so doch als vorläufig entscheidende Hemmnisse
betrachtet werden müssen.
Auf welches Material ─ so müssen wir zunächst doch wohl fragen ─
kann eine Psychologie der Dichtkunst sich stützen? Welche Mittel stehen
ihr zu Gebote, um zu einer induktiven Erkenntnis der dichterischen Einbildungskraft
zu gelangen? Die erste Erkenntnisquelle des Psychologen,
die unmittelbare Beobachtung, sei es an der eigenen Person, sei es an
anderen, versagt hier so gut wie vollständig. Den Dichter selbst bei seiner
schöpferischen Tätigkeit zu belauschen, diese Tätigkeit so genau zu verfolgen,
daß der innere Vorgang, ich will gar nicht sagen lückenlos, aber
doch wenigstens in seinen Hauptphasen klar zutage tritt, ist wohl noch
niemals einem Beobachter gelungen, am wenigsten einem psychologisch
geschulten; nur durch ein unwahrscheinliches Zusammentreffen von Umständen
wäre das in einem einzelnen Falle einmal möglich, der dann
wissenschaftlich auch noch nicht viel begründen könnte. Und die Selbstbeobachtung
kann den, der nicht Dichter ist, über das Wesen des dichterischen
Schaffens niemals belehren. Es ist ein eigentümlich schiefer Gedanke
Scherers, daß sich aus den gemeinverständlichen Elementen, welche im
dichterischen Prozeß mit unterlaufen, und die jeder nacherleben kann, Aufschluß
über das Wesen des schöpferischen Vorgangs ergeben soll (siehe oben
S. 18). Denn was wir suchen, ist ja eben das, was der schöpferische Geist
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allein erlebt und vor jedem anderen voraus hat. Auch gibt das Scherer selbst
zu, aber er gerät dadurch offenbar in einen Widerspruch; denn eine Erscheinung
ist doch noch nicht verstanden, wenn man einige ihrer Faktoren
kennt, andere aber und noch dazu die wesentlicheren nicht. Das methodische
Prinzip, das in seinem Satze liegt, ist irreführend und hat tatsächlich
Verkehrtheiten hervorgerufen.
Es bleibt somit einzig noch die Möglichkeit, daß der Selbstbeobachter
zugleich Dichter ist, oder anders ausgedrückt, ein Dichter selbst sich oder
anderen Rechenschaft über den Vorgang ablegt, durch den seine Werke
zustande kommen. Bekanntlich besitzen wir eine Reihe solcher Selbstzeugnisse
in Tagebüchern, Briefen und mündlichen Äußerungen, und die
moderne Literaturwissenschaft verfehlt denn auch nicht, ein besonderes Gewicht
auf diese zu legen, an sich gewiß nicht mit Unrecht, eben weil hier
der einzige Zugang zur Lösung des Problems zu liegen scheint. Allein
auch hier sind von vornherein erhebliche Einschränkungen und Vorsichtsmaßregeln
geboten. Kein Dichter beobachtet sich mit der Unparteilichkeit
und objektiven Sachlichkeit eines wissenschaftlichen Psychologen, keiner
mit dem Interesse an der lückenlosen Vollständigkeit und Verständlichkeit
des Vorgangs, das den wissenschaftlichen Methoden allein eignet. Ja, mehr
als das: selbst die Möglichkeit einer solchen Beobachtung erscheint ausgeschlossen.
Die Momente höchster Steigerung der geistigen Kräfte sind
immer, daran kann gar kein Zweifel sein, Momente höchster Konzentration.
Die schöpferische Tätigkeit, welche die geistigen Kräfte mehr als jede
andere anspannt und steigert, schließt mithin jede einigermaßen stetige
und zusammenhängende Selbstbeobachtung aus, und der Dichter kann
über diese Zustände und Erlebnisse nur aus der Erinnerung berichten.
Diese Quelle aber erscheint noch besonders getrübt, weil ─ gerade darin
stimmen die größten produktiven Künstler überein ─ die dichterische Konzeption
immer in einem Zustand von Selbstvergessenheit vor sich geht,
den größten physischen und psychischen Erregungen des Lebens, dem
Rausch oder den Sexualaffekten vergleichbar. Selbsttäuschungen sind daher
bei solchen nachträglichen Reflexionen in keiner Weise ausgeschlossen.
Wir können sie bisweilen mit Händen greifen und ihre Quelle, wenigstens
hypothetisch, nachweisen; aber auch wo das nicht der Fall ist, werden wir
nicht mehr erwarten dürfen als Mitteilungen oder Bemerkungen über einzelne
Züge des Vorgangs, die sich etwa dem Dichter als persönlich wichtig
aufdrängen. Solche einzelne Streiflichter aber, auch wenn sie Wesentliches
treffen, sind noch keine erschöpfenden Beobachtungen, aus denen man den
ganzen Vorgang erschließen und erklären könnte. Versucht man gleichwohl,
sie zu umfassenderen Zwecken auszunutzen, so gerät man zumeist
auf schiefe Bahnen. Gerade einige der am meisten angeführten und benutzten
Selbstzeugnisse unterliegen diesen Bedenken. Zwei derselben
mögen als Beispiele angeführt werden.
Otto Ludwig hat sein dichterisches Verfahren bekanntlich wiederholt
und ausführlich geschildert. Aus den drei Berichten, die er uns darüber
zurückgelassen hat, seien hier die beiden wichtigsten im Auszug angeführt.
Zunächst heißt es in den Shakespearestudien S. 303 f.:
„Nun ist mir das Rätsel meines früheren Schaffens psychologisch
gelöst. Erst bloße Stimmung, zu der sich eine Farbe gesellte, entweder
ein tiefes, mildes Goldgelb, oder ein glühendes Karmoisin. In dieser Beleuchtung
wurde allmählich eine Gestalt sichtbar, wenn ich nicht sagen
soll, eine Stellung, d. h. die Fabel erfand sich, und ihre Erfindung war
nichts anderes als das Entstehen und Fertigwerden der Gestalt und Stellung.
Aber diese war so sehr Hauptsache, d. h. diese genau begrenzte lebendigste
Anschauung eines Menschen in einer gewissen Stellung, daß, sowie das
mindeste daran unbestimmt wurde, meine Fabel und meine Intentionen
sich verwirrten, und ich selber nicht mehr wußte, trotz möglichst detailliert
aufgeschriebenen Planes, was ich wollte, wo dann, wenn ich mich zum
Arbeiten doch zwang, die Einzelheiten für sich selbst ins einzelnste zaserten
und eine Menge Detail hineinschwoll in üppiger Anarchie. Jenes Farben-
und Formenspektrum, welches mich, solange es in klarster Sinnlichkeit
dastand, in jedem Augenblick und in den heterogensten Umgebungen und
Beschäftigungen wie ein Mahner umschwebte und mein ganzes Wesen in
Aufregung setzte, in einen Zustand, ähnlich dem einer Schwangeren, der
Geburt nahe und in der Geburtsarbeit, ein liebend Festhalten und doch
Hinausdrängen des, was vom eigenen Wesen sich losgelöst hat, Ding für
sich geworden ist. Nun weiß ich, was jene Gestalt und ihre Gebärde war:
nichts anderes als der sinnlich angeschaute, tragische Widerspruch; der
eine Faktor die Gestalt, die Existenz (der Grund davon), der andere die
Gebärde. Der sinnlich angeschaute prägnante Moment, in welchem am
schärfsten Kontraste die Einheit erscheint. Sonderbar, jetzt, wo ich von
dem Allgemeinen ausgehe, von den Gesetzen der Gattung, wie sie mir ein
sorgfältiges Studium gelehrt, folgt jene Erscheinung, jenes Spektrum der
Feststellung des Planes oder dem vollständigen Entwurfe der Fabel. Mein
Albrecht stellt sich mir nun als solches psychologisches oder vielmehr
pathologisches Formen- und Farbenspektrum dar, als eine sanfte Existenz
in gewaltsamer Gebärde (Zorn in Gestalt von Leiden), die Agnes als sittige
Gestalt in leidenschaftlicher Gebärde. Resignierter Trotz auf dem Grunde
der Humanität, leidenschaftliches Bedürfnis auf dem Grunde ruhiger Schönheit.
Der Erbförster, der Judah und die Leah, auch selbst die Heiterethei
schwebten mir in solchen Anschauungen vor, das glühende Gefühl für
Recht im Momente, wo es Unrecht tut; darin liegt alles Vorher und Nachher.
Beim Anhören einer Beethovenschen Symphonie stand dies Bild plötzlich
vor mir, in glühend karmoisinem Lichte, wie in bengalischer Beleuchtung,
eine Gestalt, die mit ihrer Gebärde im Widerspruch, ohne daß ich es
noch wußte, wer die Gestalt, noch was ihr Tun sei. Das wurde mir erst
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allmählich klar, wie die Fabel entstand, wobei mein Wille und alle bewußte
Tätigkeit sich ruhig und passiv verhielten.“
Und im Nachlaß des Dichters I 45 heißt es:
„Mein Verfahren ist dies: es geht eine Stimmung voraus, eine musikalische,
die wird mir zur Farbe, dann seh' ich Gestalten, eine oder mehrere
in irgend einer Stellung und Gebärdung für sich oder gegeneinander,
und dies wie einen Kupferstich auf Papier von jener Farbe, oder genauer
ausgedrückt, wie eine Marmorstatue oder plastische Gruppe, auf welche
die Sonne durch einen Vorhang fällt, der jene Farbe hat. Wunderlicherweise
ist jenes Bild oder jene Gruppe gewöhnlich nicht das Bild der Katastrophe,
manchmal nur eine charakteristische Figur in irgend einer pathetischen
Stellung; an diese schließt sich aber sogleich eine ganze Reihe,
und vom Stücke erfahr' ich nicht die Fabel, den novellistischen Inhalt
zuerst, sondern bald nach vorwärts, bald nach dem Ende zu von der erst
gesehenen Situation aus, schließen immer neue plastisch-mimische Gestalten
und Gruppen an, bis ich das ganze Stück in allen seinen Szenen habe;
dies alles in großer Hast, wobei mein Bewußtsein ganz leidend sich verhält
und eine Art körperlicher Beängstigung mich in Händen hat. Den
Inhalt aller einzelnen Szenen kann ich mir dann auch in der Reihenfolge
willkürlich reproduzieren; aber den novellistischen Inhalt in eine kurze Erzählung
zu bringen ist mir unmöglich. Nun findet sich zu den Gebärden
auch die Sprache. Ich schreibe auf, was ich aufschreiben kann, aber wenn
mich die Stimmung verläßt, ist mir das Aufgeschriebene nur ein toter Buchstabe.
Nun geb' ich mich daran, die Lücken des Dialogs auszufüllen.
Dazu muß ich das Vorhandene mit kritischen Augen ansehen. Ich suche
die Idee, die der Generalnenner aller dieser Einzelheiten ist, oder wenn
ich so sagen soll, ich suche die Idee, die, mir unbewußt, die schaffende
Kraft und der Zusammenhang der Erscheinungen war; dann such' ich
ebenso die Gelenke der Handlung, um den Kausalnexus mir zu verdeutlichen,
ebenso die psychologischen Gesetze der einzelnen Züge, den vollständigen
Inhalt der Situationen, ich ordne das Verwirrte, und mache nun
meinen Plan, in dem nichts mehr dem bloßen Instinkt angehört, alles Absicht
und Berechnung ist, im ganzen und bis in das einzelne Wort hinein.“
Man sieht, der Dichter versucht hier bis ins einzelne hinein den Zusammenhang
seines Verfahrens oder richtiger seiner inneren Erlebnisse
wiederzugeben. Aber niemand wird sich dem Eindruck verschließen können,
daß in dieser Selbstschilderung zwar einige Punkte deutlich hervortreten,
wie die Farbenempfindung vor und während der Konzeption, daß aber der
Vorgang im ganzen in einem schwankenden Zwielichtbleibt, welches keinen
klaren Einblick ermöglicht. Soweit man nämlich aus dem Gesagten ein
Bild gewinnen kann, ergibt sich, daß der Dichter zunächst eine einzelne
Gestalt oder eine Gruppe, „eine charakteristische Figur in einer pathetischen
Stellung“ erblickt, die eine Szene der Dichtung darstellt; hieran sollen sich
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dann nach vor- und rückwärts die übrigen Szenen, in derselben visionären
Art plastisch erblickt, anschließen, ohne daß der Dichter sich des inneren
Zusammenhangs irgendwie bewußt wäre; denn diesen sucht und findet er
erst nachher und zwar „mit kritischen Augen“. Es liegt also zunächst ein
visionäres Erlebnis vor, das dann verstandesmäßig gedeutet wird. Nun ist
es wohl denkbar, daß sich der Vorgang so, wie geschildert, zuträgt, wo
es sich um ein einzelnes Bild, eine bestimmte Szene handelt, die entweder
für sich allein den Inhalt einer Dichtung bildet, oder an die sich die
weitere Erfindung anschließt. In Edgar Allan Poes novellistischen Schilderungen
─ man denke an die „Maske des roten Todes“ oder „den Untergang
des Hauses Usher“, in E. Th. A. Hoffmanns Erzählungen, in Andersens
Märchen ─ ist das zweifellos häufig der Fall; auch in Konr. Ferd. Meyers
Novellen scheint nicht selten solch ein visionär gesehenes Bild den Ausgangspunkt
zu bilden, ─ man denke an die Schlußszene in Jürg Jenatsch
oder in der Richterin. Wie aber auf die von Ludwig geschilderte Weise
eine große psychologisch entwickelnde Dichtung zustande kommen soll,
ist sicherlich nicht einzusehen. Schon daß der Dichter den „tragischen
Widerspruch“ im Ausdruck seiner Gestalt sinnlich angeschaut haben will,
ohne ihn seinem Inhalt nach zu kennen, ist schwer glaublich; auch sagt
er ja gelegentlich von seiner Bernauerin das Gegenteil. Noch schwerer
verständlich aber ist der weitere Vorgang. Denkbar ist, daß den Ausgangspunkt
für den Dichter eine einzelne gesehene Situation oder Gestalt
bildet; wie sich daran aber Bilder reihen sollen, ohne daß ein Zusammenhang
mit jenem ersten sie heraufführte oder doch, ohne daß dieser Zusammenhang
dem Dichter irgendwie zum Bewußtsein käme, ist mindestens
nicht verständlich. Denkbar ist, daß bei einem frei erfundenen Stoff, wie
„Zwischen Himmel und Erde“, die erste Konzeption als halluzinatorisches
Bild auftritt; nach dem Anblick etwa eines hohen Turms bildet die Phantasie
des Dichters zwei Männer auf der Höhe: der eine sucht in jähem
Anlauf den andern herunterzureißen und stürzt, da jener ausweicht, an ihm
vorbei in die Tiefe. Sieht nun aber der Dichter auf dem gleichen Turm
einen dritten oder einen beliebigen Mann unter Lebensgefahr die brennenden
Dachsparren herabreißen, oder sieht er denselben, der vorher der
Überlebende war? Offenbar ist das letztere gemeint. Dann aber muß ein
innerer Zusammenhang bereits zugrunde liegen. Der Held sühnt den Tod
des Bruders, den er selbst nicht verschuldet, durch eine Heldentat an der
Stelle, wo die Katastrophe vor sich ging. ─ Es ist dasselbe Weib, die Mutter
der Makkabäer, seine gewaltige Leah, die der Dichter sich in königlichem
Stolze zum Siegesreigen erheben sieht, die nachher, hilflos an den Baum
gebunden, nach ihren weggerissenen Kindern ohnmächtig die Arme ausstreckt
und die endlich an der Marterstätte ihrer Söhne sich zum höchsten
Heldentum emporrafft. Solche Bilder können, wenn sie einmal aufgetaucht
sind, so lebendig in den Einzelheiten, so halluzinatorisch greifbar werden,
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daß ihre Bedeutung für den Augenblick in dem Bewußtsein des Dichters
zurücktreten mag, daß er sozusagen nur inneres Auge ist und sich auf die
Bedeutung und den Zusammenhang dessen, was er sieht, zurückbesinnen
muß. Daß sie aber unabhängig von diesem Zusammenhang in ihm auftauchen
sollen, so daß er ihre Deutung erst nachträglich suchen und finden
müßte, ist, wenn nicht unglaublich, so doch jedenfalls verstandesmäßig
nicht begreiflich und daher auch nicht als psychologische Einsicht verwertbar.
Otto Ludwig selbst scheint darüber keine rechte Klarheit zu besitzen;
braucht er doch den verräterischen Ausdruck: „die Idee, die mir
unbewußt die schaffende Kraft und der Zusammenhang der Erscheinungen
war“. Über nichts aber dürfte eine Selbsttäuschung leichter möglich sein
als über die halb bewußten Vorstellungen, welche äußere Wahrnehmungen
oder innere Anschauungsbilder begleiten, wie überhaupt über das Maß von
Bewußtheit, von dem innere Vorgänge begleitet werden. Und um so leichter
wird diese Selbsttäuschung, wie jede andere, aufkommen, wenn sie durch
ein persönliches Interesse gefördert wird. Ein solches liegt aber sehr wahrscheinlicherweise
hier vor. Das unbewußte Produzieren erschien seit Schillers
naiver und sentimentalischer Dichtung, seit den Theorien der Romantiker als
das Zeichen der eigentlichen Dichterkraft, und daß gerade ein reflektierender
Dichter, wie Otto Ludwig, die bewußten oder halbbewußten Elemente
seiner Phantasietätigkeit besonders betonte, in ihnen die Bürgschaft für
sein dichterisches Vermögen sah und daher sich gern überredete, daß sie
die wesentlichsten Momente seiner dichterischen Art zu schaffen bildeten,
ist sehr begreiflich. Bedenken erweckt es schon, daß er im weiteren Verlauf
der zweiten Stelle einen mißbilligenden Seitenblick auf Hebbel wirft, in
welchem er mit Recht oder Unrecht einen ausschließlich verstandesmäßigen
Dichter sah. Es ist mithin mindestens unvorsichtig, wenn man seine Aussagen
in diesen Punkten unbesehen hinnimmt, noch unrichtiger freilich,
wenn man sich überreden will, hier ein psychologisch klares Bild des
dichterischen Vorganges zu erhalten.
Ein anderes, noch bedeutsameres Beispiel eines Selbstzeugnisses
bietet uns Goethe. Bekanntlich hat er in einer Anzahl von Äußerungen,
teils prinzipieller, teils gelegentlicher Natur, einen besonderen Ton auf den
Zusammenhang zwischen seinen Erlebnissen und seinen Dichtungen gelegt.
Am berühmtesten ist die folgende Äußerung zu Eckermann am
18. September 1823: „Die Welt ist so groß und reich und das Leben so
mannigfaltig, daß es an Anlässen zu Gedichten nie fehlen wird. Aber es
müssen alles Gelegenheitsgedichte sein, das heißt, die Wirklichkeit muß
die Veranlassung und den Stoff dazu hergeben. Allgemein und poetisch
wird ein spezieller Fall eben dadurch, daß ihn der Dichter behandelt. Alle
meine Gedichte sind Gelegenheitsgedichte, sie sind durch die Wirklichkeit
angeregt und haben darin Grund und Boden. Von Gedichten aus der
Luft gegriffen halte ich nichts.“
Noch bestimmter spricht sich Goethe über die Entstehungsart seiner
Gedichte im 7. Buch von Dichtung und Wahrheit aus:
„Und so begann diejenige Richtung, von der ich mein ganzes Lebeu
über nicht abweichen konnte, nämlich dasjenige, was mich erfreute oder
quälte oder sonst beschäftigte, in ein Bild, ein Gedicht zu verwandeln und
darüber mit mir selbst abzuschließen, um sowohl meine Begriffe von den
äußeren Dingen zu berichtigen als mich im Inneren deshalb zu beruhigen.
Die Gabe hierzu war wohl niemand nötiger als mir, den seine Natur
immerfort aus einem Extrem in das andere warf. Alles, was von mir bekannt
geworden, sind nur Bruchstücke einer großen Konfession, welche
vollständig zu machen dieses Büchlein ein gewagter Versuch ist.“
Wie ein Paradigma endlich zu diesen allgemeinen Sätzen liest sich,
was er (Dichtung und Wahrheit, Buch XIII) über die Entstehung des Werther
erzählt:
„Ich hatte mich durch diese Komposition mehr als durch jede andere
aus einem stürmischen Elemente gerettet, auf dem ich durch eigene und
fremde Schuld, durch zufällige und gewählte Lebensweise, durch Vorsatz
und Übereilung, durch Hartnäckigkeit und Nachgeben auf die gewaltsamste
Art hin und wieder getrieben worden. Ich fühlte mich wie nach einer
Generalbeichte wieder froh und frei und zu einem neuen Leben berechtigt.
Das alte Hausmittel war mir diesmal vortrefflich zustatten gekommen.
Wie ich mich aber dadurch erleichtert und aufgeklärt fühlte, die Wirklichkeit
in Poesie verwandelt zu haben“, u. s. w.
Man ist versucht, daran zu zweifeln, daß die dichterische Eigenart,
wie sie der Sechzigjährige hier rückschauend schildert, in der Tat schon
bei dem siebzehnjährigen Studenten zur Entfaltung gelangt ist, wie denn
auch die Leipziger Lieder im allgemeinen nicht eben der unbefangene
Ausdruck innerer Erlebnisse zu sein scheinen. Man möchte vielmehr
glauben, daß diese Eigenart erst unter dem entscheidenden Einfluß der
Straßburger Epoche, durch welche die erste Vollblüte des jugendlichen
Genius gezeitigt wurde, zum Durchbruch kam. Allein, sehen wir von dem
Zeitpunkt ab, so ist an der Tatsache selbst kein Zweifel möglich. Der
innere Drang, sich vom Druck leidenschaftlicher und schmerzlicher Zustände
zu befreien, den ihm äußere und innere Erlebnisse auferlegt haben,
ist es, der den Dichter zu seinen Schöpfungen treibt. Diese Schöpfungen
entstehen mithin durch eine Art Umsetzung jener Zustände und Erlebnisse.
Hier tritt also in einem klaren und faßlichen Selbstbericht ein psychologischer
Grundzug des schaffenden Vermögen unseres größten Dichters
scharf umrissen zutage. Daß sich die wissenschaftliche Behandlung Goethes
zu einer ihrer Aufgaben macht, diesen Zug in den einzelnen Werken des
Dichters nachzuweisen, ist durchaus berechtigt. Daß sie zu diesem Zweck
die Beziehungen zwischen Leben und Dichtung feststellen und hervorheben
muß, leuchtet ein. Nun aber hat die Goetheforschung der letzten Jahrzehnte
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diese Aufgabe mit einer Einseitigkeit ins Auge gefaßt und verfolgt,
als ob mit ihr das ganze Wesen der Goetheschen Dichtung beschlossen sei.
Auf diesem Wege gelangt man zu eigentümlich schiefen und jedenfalls
sehr unpsychologischen Gleichsetzungen, die uns in der modernen Goetheliteratur
überall entgegentreten. Ich habe ein paar Beispiele davon im
Goethejahrbuch 1905 zusammengestellt. „Tasso ist Goethe seiner innersten
Neigung und Anlage nach; ─ aber auch Antonio ist Goethe; ─ Goethe
hat im Widerstreit der beiden Gestalten, die sich unerbittlich abstoßen, die
Unverträglichkeit der beiden Rollen dargestellt, zu denen er während der
zehn Jahre verurteilt war.“ (Hermann Grimm.) „Ich halte für sehr wahrscheinlich
und stehe mit dieser Meinung nicht allein, daß Orest niemand
anders ist als Goethe selbst.“ (Scherer.) „Sich und seine Eltern hat
Goethe unter der Maske Hermanns und des Wirtspaares in der Erscheinung
von 1775 festgehalten; Lilli unter der Maske Dorotheens noch als
Jungfrau, aber mit der Reife und dem Schicksale der Revolutionszeit.“
(Bielschowsky.) Hermann Grimm sagt einmal: „Seine Fabeln, auch wenn
sie aus den persönlichsten Erfahrungen entstanden, sind ja niemals bloß
verhüllte Wiederholungen des Erlebnisses, sondern gestalteten sich, je mehr
ihr Wachstum sich ausbreitete und abrundete, zu neuen Schöpfungen, deren
letzte Vollendung eben darin besteht, daß der Charakter des Erlebten, auf
dem zuerst alles beruhte, zuletzt völlig vernichtet wird.“ Es kann nichts
Richtigeres geben als diesen Satz ─ aber wie wenig hat Grimm selber,
wie wenig haben seine Nachfolger die Konsequenzen daraus gezogen!
Hat ein großer Dichter wirklich nichts anderes zu tun, als nach dem Rezept
des Heineschen Schöpfungsliedes: „Ich der Herr kopier mich selber“, sich
und seine Umgebung immer unter neuen Masken darzustellen?
Wie ist denn eigentlich der „Prozeß der Selbstbefreiung“ zu denken,
den Goethe im Auge hat? Nur eben darin, daß er ausspricht, was ihn bedrückt,
ausspricht, wie andere Menschen auch, wenngleich reicher und schöner?
Aber hierdurch kann er wohl eine augenblickliche Erleichterung, schwerlich
jedoch dauernde Befreiung erzielen, wie denn auch an der berühmten
Stelle am Schluß des Tasso Melodie und Rede nur als ein Mittel, den
tiefsten Schmerz zu klagen, nicht ihn zu überwinden, bezeichnet wird.
Auch das kann nicht das Entscheidende sein, daß der Dichter etwa fremden
Personen in den Mund legt, was er selbst empfindet. Vielmehr besteht
der Vorgang offenbar darin, daß er das, was sein Inneres erregt und erfüllt,
zu bestimmter Gestaltung formt, eben hierdurch von sich ablöst und
nunmehr das, was in ihm war, das subjektiv Empfundene, gleichsam als
ein Fremdgewordenes außer sich objektiv schaut. Durch diese Loslösung
vom Persönlichen wird zugleich das Individuelle ins Allgemeine, das Einzelne
und Zufällige zum Typischen erhoben: der spezielle Fall wird allgemein
und poetisch, wie Goethe zu Eckermann sagt. So ist es verständlich,
daß der Dichter sich befreit fühlt, sei es, daß er wie sein Prometheus
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Menschen nach seinem Bilde geschaffen hat, sei es, daß er in den Melodien
und Bildern seiner Lyrik ausdrückt, was ihn erfüllt.1) Hier also tritt
ein tätiges, schöpferisches Moment deutlich hervor, und so lange die Forschung
sich dieses Moments nicht bemächtigen kann, es nicht aufzuhellen
vermag, hat sie wenig mehr als eine Vorarbeit geleistet, wenn sie die Beziehung
zwischen Erlebnis und Dichtung feststellt. An diesem entscheidenden
Punkt nun aber lassen uns die Selbstzeugnisse des Dichters im Stich,
und nur ganz gelegentlich fällt ein oder das andere Streiflicht darauf.
Goethe sprach gerne von seinem „nachtwandlerischen Schaffen“. Er liebte
bekanntlich keine Selbstanalysen, ja auch die bisher besprochene Beobachtung
soll keine Darstellung seiner Produktionsweise sein, sondern, wie sich
aus dem Zusammenhang von Dichtung und Wahrheit deutlich ergibt, nur
den Punkt hervorheben, in dem sich der Dichter am schärfsten von seinen
Vorgängern unterschieden wußte. Begreiflich ist es nun allerdings, daß die
Goetheforschung sich mit dem Erreichten oder nur vorläufig Erreichbaren
begnügt; aber ein richtiges oder gar vollständiges Bild des psychologischen
Geschehens kann auf diese Weise nicht zustande kommen. Man sucht den
Menschen im Kunstwerk und vergißt darüber den Künstler. ─
Erweist sich somit das Material, das der psychologischen Poetik zu
Gebote steht, als unzulänglich, so zeigt sich nun auch die Methode selbst,
nach der die heutige Wissenschaft versucht hat und allein versuchen konnte,
das Problem des dichterischen Schaffens zu erklären, zur Bewältigung dieses
Problems nicht zureichend noch geeignet. Diese Methode löst die Dichtung
in eine Summe von Bestandteilen auf, die nacheinander in das Bewußtsein
des Dichters eingetreten sein und dort in allmählichem oder auch
plötzlichem Zusammenschluß das Kunstwerk gebildet haben sollen: persönliche
Erlebnisse, Einwirkung literarischer Vorbilder, künstlerische Überlieferung.
Hat der Forscher die Summe dieser Bestandteile in der Hand, so
Ich darf jedoch nicht unterlassen, darauf hinzuweisen, daß A. Riehl (in der
Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie Band 21 und 22) und im Anschluß daran
Emil Geiger (Beiträge zu einer Ästhetik der Lyrik, Halle 1905) darlegen, daß zwischen dem
inneren Erlebnis zumal leidenschaftlicher Art und dem dichterischen Schöpfungsakt stets
ein größerer oder geringerer Zeitabstand liegen müsse. „In der unmittelbaren Empfindung
der Leidenschaft“, sagt Riehl, „löst sich kein Lied von der Seele des Dichters. Lust und
Leid müssen vergangen sein, ehe sie im Lied neues Leben empfangen können, ein Leben,
wie das in der Erinnerung.“ Und Geiger betont gleichfalls, „daß Erleben und Produzieren
niemals zeitlich zusammenfallen“. Er stützt diesen Satz auf eine Reihe von Selbstzeugnissen,
unter denen neben der bekannten Stelle aus Schillers Bürgerrezension besonders
der Satz Jean Pauls hervortritt: „Keine Hand kann den poetischen lyrischen
Pinsel festhalten und führen, in welcher der Fieberpuls der Leidenschaft schlägt.“ Mit
Recht betont Geiger die Wichtigkeit dieser Erkenntnis für die Charakteristik der Gelegenheitsdichtung:
ist sie richtig ─ und es erscheint das im psychologischen Sinne höchst
annehmbar ─, so würde die Dichtung nicht ein Mittel zur Selbstbefreiung, sondern vielmehr
ein Symptom der wieder errungenen Freiheit sein und Goethes Bekenntnis auf einer
Selbsttäuschung beruhen. Ein neuer Beweis von dem zweifelhaften Werte solcher Zeugnisse.
glaubt er die Entstehung der Dichtung zu kennen und damit das psychologische
Verständnis zu besitzen. Man höre etwa, wie Bielschowsky, Goethes
Leben, Band II, 374, die Entstehung des Liedes an den Mond beschreibt.
„Am 16. Januar 1778 hat sich eine junge Dame aus dem Weimarischen
Hofkreise, Christel von Laßberg, in der Ilm, nahe bei Goethes Gartenhause,
aus unglücklicher Liebe ertränkt ─ wie man sagte, mit dem Werther
in der Tasche. Goethe war tief ergriffen von diesem Fall und war ,einige
Tage in stiller Trauer um die Szene des Todes beschäftigt'. Seine Gedanken
halten sein sonst bewegliches, glühendes Herz wie ein Gespenst
an den Fluß gebannt. Ein Druck liegt wochenlang auf ihm. Er verstärkt
sich, da Frau von Stein sich vor ihm verschließt. Aber bei Beginn des
neuen Monats wendet die Geliebte sich ihm wieder zu, und in ihrem Besitze
glücklich, bemerkt er gern seine ,fortdauernde, reine Entfremdung
von den Menschen'. Ein Spaziergang mit ihr im Mondenscheine vollendet
diese schöne reine Stimmung, seine Seele fühlt sich endlich wieder
ganz befreit von dem Druck und der Spannung der letzten Wochen. Die
ersten vier Strophen des Mondliedes in seiner ursprünglichen Gestalt kristallisieren
sich. Es vergehen wieder einige Tage. Am 22. Februar besucht
ihn Plessing, der sich ,Menschenhaß aus der Fülle der Liebe trank', und
in erbitterter Entfremdung verborgen lebt. Damit sind auch die letzten
Strophen gewonnen, die der Dichter an Plessing, an Frau von Stein und
an sich selbst gerichtet. Sie lenken zugleich wieder zu Christel von Laßberg
zurück, der es nicht vergönnt war, mit einem Manne das Beste des
Lebens zu genießen.“
Man sieht, die Entstehung des Gedichts erscheint in dieser (übrigens
völlig hypothetischen) Schilderung als ein rein assoziativer Prozeß und die
Phantasie des Dichters als ein passives Medium, durch das die Erlebnisse
hindurch gehen, um künstlerische Form zu gewinnen. Dementsprechend
wäre die Dichtung selbst ein wesentlich assoziatives Gebilde, in dem sich
innere und äußere Erlebnisse aneinander reihen. Tatsächlich gibt es nun
auch Gedichte, auf die diese Bestimmung paßt. Abgesehen von manchen
Produkten der modernen Lyrik, ist Wanderers Sturmlied ein Muster
dieser Gattung. Goethe selbst bezeichnet es als „Halbunsinn“ und beschreibt
seine Entstehung folgendermaßen:
„Unterwegs sang ich mir seltsame Hymnen und Dithyramben, wovon
noch eine unter dem Titel ,Wanderers Sturmlied' übrig ist. Ich sang diesen
Halbunsinn leidenschaftlich vor mich hin, da mich ein schreckliches Wetter
unterwegs traf, dem ich entgegengehen mußte.“ (Dichtung und Wahrheit,
Buch XII.)
Aber gerade dieses Gedicht und das Urteil des Dichters darüber zeigt
deutlich, wie weit der Abstand zwischen einer Improvisation dieser Art und
einem wirklichen Kunstwerk ist. Denn ein solches ist, wie schon der
Name sagt, stets das Werk des Könnens und des Wollens. Jede Dichtung
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setzt so gut wie ein Gemälde, eine Bildhauerarbeit, eine schöpferische
Tätigkeit voraus, an der Wille und Kraftanspannung einen zum wenigsten
nicht geringeren Anteil haben als die Assoziationen, durch welche die
Phantasie befruchtet wird. Ein gelegentlicher Einfall, ein kleines lyrisches
oder auch episches Gedicht, das unmittelbar den Eindruck widerspiegelt,
dem es seine Entstehung verdankt, ist wohl ohne eine solche Tätigkeit
denkbar und kann gleichwohl bei einem genialen Dichter bisweilen eine
hohe Vollendung zeigen, wie das bei einigen Gedichten Goethes, z. B.
den Nachtliedern des Wanderers, schon im ersten Entwurf der Fall ist.
Jede größere Dichtung aber, die einen weiteren Zusammenhang von
Empfindungen und Gedanken zum Ausdruck bringt, ist ihrer Entstehung
wie ihrem Wesen nach viel zu verwickelt, als daß eine so einfache Erklärungsweise
nicht unzulänglich, ja naiv erscheinen sollte.
Die genetische Erklärung eines solchen Dichtwerks wird daher zunächst
zwischen der Konzeption und der Ausführung als den beiden wesentlichen
Phasen des dichterischen Prozesses zu scheiden haben. Die Konzeption
ist ein Moment seliger Empfängnis; so wenigstens schildern sie
fast übereinstimmend die Dichter selbst: der Gedanke dessen, was werden
soll, steht plötzlich wie ein fertiges „Bild vor dem entzückten Blick“ des
Künstlers. Dieser Gedanke erscheint ihm nicht als ein lockeres assoziatives
Gebilde, sondern als eine durchaus einheitliche Gesamtanschauung,
in welcher er das Ganze des Werks, das in seiner Seele entsteht, intuitiv
erblickt und überschaut. Hiermit aber verbindet sich nun die bestimmte
künstlerische Absicht, den Gegenstand dieser Intuition objektiv darzustellen:
der Dichter will das, was ihm lebendig und anschaulich vor der Seele
steht, anderen ebenso anschaulich und lebendig machen. Hierzu bedarf
er der Formen und Ausdrucksmittel seiner Kunst. Diese Absicht bildet
das gestaltende Prinzip der Dichtkunst im Ganzen und in den Einzelheiten,
und eben diese Gestaltung ist es, was wir künstlerische oder bildende
Tätigkeit nennen und was die dichterische Kraft und Gabe von dem bloßen
Spiel einer träumenden Einbildung unterscheidet, deren auch viele Nichtdichter
fähig sind. Wenn also die erste Konzeption als ein passives Geschehen
in der Seele des Dichters erscheint, so liegt in der Ausführung
stets ein aktives Moment. Ist die Konzeption nichts als ein Erlebnis der
Phantasie, so beruht die Ausführung auf einer planvollen Tätigkeit, in welcher
Willensakte und assoziative Vorgänge beständig ineinander greifen; zahllose
Willensakte, die doch eine einheitliche Zwecksetzung regiert, vielfältige Assoziationen,
welche eben hierdurch wie an unsichtbaren Fäden gelenkt werden.
Das künstlerische Schaffen ist eine Arbeit, die, wie wir aus zahlreichen, in
diesem Punkte gewiß vollgültigen Zeugnissen wissen, vom Künstler als
Mühe, bisweilen als Pein empfunden wird, ─ sehr im Gegensatz zu dem
stillen Behagen der träumerischen Phantasie oder der gewaltig erregenden
Wollust der ersten Konzeption. Diese Arbeit empfängt Sinn und Zweck
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nur durch die Rücksicht auf ein Publikum, sei es, daß dem Dichter, wie
Schiller, eine ganze Nation, sei es, daß ihm, wie Goethe, nur einzelne
Hörer, ein Freund, die Geliebte, vorschweben. Eine seltsame, ja paradoxe
Tatsache! Die Dichtung und ihre Form wachsen organisch aus der Konzeption
hervor, und doch ist dies Wachstum nicht zu verstehen, ja nicht
einmal zu denken ohne den natürlichen Drang des Dichters, sein inneres
Schauen und Hören anderen zugänglich zu machen. Die Charaktere, die
er schafft, leben ihr eigenes Leben; aber sie zeigen nur so viel davon, als
es nötig ist, um dieses Leben Zuschauern zum Verständnis zu bringen.
Die Verse, die er formt, scheinen ganz in sich selbst zu ruhen, und doch
sind sie für die Stimme des Sängers, des Vorlesers geschaffen, der sie
anderen zu Gehör bringen soll. Dieser ganze Prozeß nun aber ist so
wenig durchsichtig, so vielfältig verwickelt, daß die heutige Psychologie
mit den Mitteln, die ihr zu Gebote stehen, nicht daran denken kann, ihn
auf ein einfaches Schema zurückzuführen und auf diese Weise verständlich
zu machen. Und am wenigsten reichen die assoziativen Vorgänge, die
der schaffenden Arbeit vorhergehen und den Stoff für sie bilden, aus, um
die produktive Tätigkeit selbst zu erklären, ebensowenig wie man auf
dem Gebiete des Willenslebens überhaupt mit der Zurückführung auf Assoziationsprozesse
durchkommt, was nur eine rationalistisch einseitige Psychologie
für erreichbar hielt. Ohne Willenstätigkeit ist eine schöpferische
Phantasie ebenso wenig denkbar, wie der schöpferische Wille eines großen
Staatsmanns oder Feldherrn ohne Phantasie denkbar ist. Alle Versuche
also, der Psychologie des dichterischen Schaffens durch die Untersuchung
der dichterischen Assoziationen und ihrer Entstehung beizukommen, bleiben
notgedrungen einseitig und an der Außenfläche. Und alle noch so geistvollen
und scharfsinnigen Betrachtungen oder Untersuchungen über die
Verwandtschaft der Dichterphantasie mit Traum und Wahnsinn liefern nur
Analogien, die den Kern der verglichenen Vorgänge nicht erreichen; denn
der schöpferisch gestaltende Wille des Dichters hat weder im Traum noch
im Wahnsinn seinesgleichen.1) Gewiß, auch solche Untersuchungen haben
innerhalb ihrer Schranken wissenschaftlichen Wert: sie lehren uns Assoziationsmöglichkeiten
und Phantasiefunktionen kennen. Aber zu einer wissenschaftlichen
Einsicht in die Psychologie des dichterischen Schaffens wird
man niemals gelangen können, solange man genötigt ist, die Willenstätigkeit
und die Komplikationen, die sich hieraus ergeben, auszuschalten.
Was aber den Einblick in den geschilderten Prozeß am meisten erschwert,
ja entscheidend zu verhindern scheint, ist die sonderbare Verflechtung
von bewußten und unbewußten Vorgängen, aus denen er sich zusammensetzt,
oder genauer gesagt, die zahllosen Abstufungen der Bewußtseinsklarheit,
in denen er sich vollzieht.1) Schon in bezug auf die Entlehnungen
und Übernahmen, mit denen die heutige Literaturgeschichte
so gerne operiert, macht sich das geltend. Jeder Dichter, auch der selbständigste,
übernimmt von Vorgängern: Motive, Formen, Ideen. Aber es
macht für den Charakter seiner Produktionsweise noch mehr als für ihren
Wert einen erheblichen Unterschied, ob er mit bewußter Absicht wiederbringt,
was schon einmal da war, oder ob er es unbewußt aus der Fülle
dessen, was er aus den verschiedenen Quellen des Lebens und der Dichtung
in sich aufgenommen hat, noch einmal hervorbringt. Unbewußte
Reminiszenzen, namentlich wenn sie vereinzelt auftreten, sind höchstens
als Symptome von Bedeutung; an sich besagen sie gar wenig, denn wir
alle, Dichter wie Laien, leben und denken beständig in solchen. Bewußte
Entlehnungen wiederum können ebensowohl aus überlegener Meisterschaft
wie aus schülerhafter Abhängigkeit hervorgehen. Lessing entlehnte quantitativ
kaum weniger als seine stümperhaften Vorgänger und gleichwohl war
er der erste selbständige deutsche Dramatiker. Die vergleichende Literaturgeschichte
der Gegenwart verfährt in diesem Punkte viel zu gleichförmig.
Sie zählt Entlehnungen über Entlehnungen, Anklänge über Anklänge auf,
und wenn man etwa die Analyse der Schillerschen Jugenddramen in den
meisten modernen Biographien liest, so ist man versucht zu fragen, was
ihnen denn eigentlich den Ruf der Originalität verschafft habe? Aber freilich
wie sollte man es auch anders anfangen? Die Grenze zwischen Bewußtem
und Unbewußtem ist schon hier oft schwer zu finden, oft überhaupt
nicht festzustellen.
Dunkler aber und unentwirrbarer noch ist das Ineinandergreifen bewußter
und unbewußter Zustände und Vorgänge in dem rein innerlichen
Verlauf des dichterischen Schaffens. Die Konzeption selbst erscheint als
ein Moment der höchsten Klarheit, aber woher sie kommt, was sie herbeiführt,
ist in den meisten Fällen in gänzliches Dunkel gehüllt. Und die
Dichter selbst betonen immer wieder das Plötzliche und ihnen selbst Unbegreifliche
des Vorgangs. Die Fäden, die das Seelenleben des Dichters
mit der Außenwelt verbinden, schießen plötzlich zusammen; ein Eindruck
löst sie aus. Wie das geschieht, warum gerade dieser und nicht ein nächst
verwandter ─ wer vermöchte das zu sagen! Daher Goethes oben angeführter
Ausdruck von seinem nachtwandlerischen Dichten; und in
dem gleichen Sinne bezeichnet Hebbel in seinem Tagebuch den „Zustand
Wertvolles Material hierüber ─ wesentlich aus Selbstbekenntnissen von Dichtern
entnommen ─ hat O. Behaghel zusammengestellt: Bewußtes und Unbewußtes im dichterischen
Schaffen. Leipzig 1906.
dichterischer Begeisterung als einen Traumzustand: ,Es bereitet sich in
des Dichters Seele vor, was er selber nicht weiß'“. Daher die bekannten
Schillerschen Verse:
Man weiß nicht von wannen er kommt und braust,
Wie der Quell aus verborgenen Tiefen,
So des Sängers Lied aus dem Inneren schallt.“
Das ist auch ein Selbstzeugnis, noch dazu eines stark reflektierenden
Dichters. Aber Schiller hat das, was er hier nur allgemein und in einem
dichterischen Bilde ausdrückt, in einem inhaltvollen Briefe an Goethe
(27. März 1801), auf den wir noch öfter zurückkommen müssen, mit verstandesmäßiger
Schärfe ausgesprochen. „Ohne eine dunkle, aber mächtige
Totalidee, die allem Technischen vorgeht, kann kein poetisches Werk entstehen,
und die Poesie, deucht mir, besteht eben darin, jenes Bewußtlose
aussprechen und mitteilen zu können, d. h. es in ein Objekt zu übertragen.
─ Das Bewußtlose mit dem Besonnenen vereinigt macht den poetischen
Künstler aus.“
Was den Ursprung der Konzeption charakterisiert, das zeigt sich
nicht minder charakteristisch in der künstlerischen Arbeit, die ihrer Verwirklichung
dient. Diese Arbeit scheint zwar eine völlig verstandesmäßige
zu sein. Sie beruht auf einer fortgesetzten Auswahl des Zweckdienlichen;
aus einer Reihe von Möglichkeiten, die ihm seine Phantasie und seine
Darstellungsmittel gewähren, greift der Dichter diejenigen heraus, die geeignet
sind, seine Intention in anschauliche Wirklichkeit umzusetzen. Hiernach
wählt er Worte, Stimmungen und Situationen; und die Rücksicht auf
das Publikum, auf die beabsichtigte Wirkung, ist, wie wir schon oben
sahen, stets mitbestimmend, nicht selten ausschlaggebend für seine Auswahl.
Aber das ist nun das Wunderbare: diese sichtende und suchende
Verstandestätigkeit kommt ihm zum großen Teil gar nicht zum Bewußtsein;
zumal die Rücksicht auf das Publikum bleibt bei dem echten
Künstler zumeist ganz unterhalb der Schwelle. Kurz, das rätselhafte Phänomen
einer unbewußten Auswahl ist das eigentliche Wesen der künstlerischen
Tätigkeit. Allerdings tritt uns hier ein unverkennbarer Unterschied
zwischen den Dichterindividualitäten entgegen. Schon Aristoteles
sagt in der Poetik (c. 17), ein Dichter müsse entweder aus leidenschaftlicher
Begeisterung oder aus einem überlegenen Künstlerverstand heraus
schaffen;1) und wir brauchen nur etwa den Götz des jungen Goethe neben
Lessings Emilia Galotti zu stellen, um zu sehen, was er meint und daß er
recht hat. Aber doch ist der Unterschied nur ein relativer. Auch der
junge Goethe sichtete, wie uns die Entstehungsgeschichte des Götz zeigt,
εὐφυοῦς ἡ ποιητική ἐστιν \̓η μανικοῦ; τούτων γὰρ ο\̔ι μὲν εὔπλαστοι ο\̔ι δὲ ἐξεταστικοί
εἰσιν.
wenn nicht vor, so doch nach der Niederschrift. Er verwarf eine Reihe
von Szenen, nicht weil sie unwahr oder schlecht gemacht waren, sondern
weil sie die beabsichtigte Gesamtwirkung beeinträchtigten. Und wenn
anderseits der belesene und besonnene Lessing zwischen den Erfindungsmöglichkeiten,
die vor ihm liegen, den Reminiszenzen, die er verwerten
kann, den geistvollen Aperçus, die den Dialog beleben, auswählt, so sind
es doch nicht einzelne Erfahrungen oder Berechnungen, die die Wahl entscheiden,
sondern das Gefühl für das Wirksame und Wahre. Kein Dichter
rechnet mit allen Möglichkeiten, die ihm zu Gebote stehen: er ergreift
eine, und sie erscheint ihm und uns als künstlerische Notwendigkeit. Die
Sicherheit, mit der er zugreift, ist eben das, was wir künstlerischen Instinkt,
und wo dieser hochgesteigert erscheint, geniale Anlage nennen.
Und in der Tat, es ist ein Instinkt, ganz analog dem Triebe, der die
Biene oder den Vogel leitet, ihr Material auszuwählen und ihren kunstvollen
Bau daraus auszuführen. Weiß nun aber die heutige Psychologie
schon diese verhältnismäßig einfachen und völlig regelmäßig verlaufenden
instinktiven Tätigkeiten nicht mit einiger Sicherheit zu erklären, wie will
sie die unendlich verwickelteren, durch individuelle Abweichungen auf
Schritt und Tritt weiter komplizierten Äußerungen des künstlerischen
Instinkts bewältigen? Ein Beispiel: die dichterische Schöpfergabe hängt
zweifellos auf das engste zusammen mit den sprachbildenden Kräften der
menschlichen Seele, die eben in großen und selbständigen Dichtern auf
das höchste gesteigert erscheint. Diese Kräfte nun aber, die man früher
durch allgemeine Spekulationen wähnte ableiten und erklären zu können,
liegen für die heutige Psychologie zu einem großen Teil im Dunkeln; und
vor allem ist der Anteil, den der einzelne an der Bildung und Entwicklung
der Sprache hat, wie fast alle kollektiven Tätigkeiten des menschlichen
Geistes psychologisch noch sehr wenig geklärt. Wir vermögen es noch
nicht einmal festzustellen, worauf der ganz eigene Reiz so einfacher Wortgebilde,
wie es etwa die beiden Nachtlieder des Wanderers sind, beruht,
geschweige denn zu erklären, was es ist, das den genialen Dichter befähigt,
gerade solche Worte und Wendungen zu treffen, die uns, ohne daß wir
uns Rechenschaft geben warum, bis ins Tiefste rühren? Also auch hier
eine Frage, bei deren Lösung die psychologische Erklärung einstweilen
versagt.
Und das ist natürlich genug. Denn die Methoden, welche die
moderne Psychologie, soweit sie erklärend auftritt, bisher entwickelt hat,
laufen auf eine analytische Betrachtungsweise hinaus, welche die Zustände
und Abläufe des Bewußtseins nach dem Vorbild der Physik in hypothetische
und abstrakte Elementarbestandteile zerlegt und durch eine Hilfskonstruktion
dieser Art auf bestimmte Schemata und Gesetze zu bringen
sucht. Diese Methoden haben für das Gebiet der Sinneswahrnehmungen
und etwa für die einfachsten Arten des Vorstellungsablaufs wertvolle Ergebnisse
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gehabt, aber sie sind bisher weit entfernt davon geblieben, die
komplizierteren Erscheinungen des Seelenlebens, wo die verschiedensten
Äußerungen und Tätigkeiten des Bewußtseins, wo Empfindung und Denken,
Gefühl und Wille ineinandergreifen, zu erhellen: ja, im richtigen Bewußtsein
ihrer Schranken hat die wissenschaftliche Psychologie bis jetzt nicht einmal
ernstlich versucht, an diese Aufgabe heranzutreten. Nun aber ist von
allen Gebieten des Seelenlebens das des künstlerischen Schaffens vielleicht
das schwierigste und verwickeltste. Wie will man glauben, es mit den
kärglichen Mitteln, welche die erklärende Psychologie bisher der literarischen
und ästhetischen Betrachtung geliefert hat, bewältigen zu können? Die
Poetik muß, in dem Entwicklungsstadium wenigstens, in dem die Psychologie
sich heute befindet, an der Aufgabe scheitern, das dichterische Vermögen
zu erklären, es auf psychologische Elemente und Gesetze zurückzuführen.
Das Problem selbst freilich und damit die Aufgabe bleibt bestehen
und wird vielleicht von späteren Geschlechtern, die mit tiefer eindringenden
Methoden und reicheren Mitteln arbeiten, seiner Lösung näher geführt
werden. Vielleicht, daß sogar schon in solchen Einsichten, in die etwa
Wundt unter dem Namen des Prinzipes der psychischen Aktualität und
des Prinzipes der schöpferischen Synthese zusammengefaßt hat, die Ansätze
hierfür gegeben sind. Möglich auch, daß vermittelst eines rein deskriptiven
Verfahrens, wie es Dilthey vorgeschlagen und in bedeutenden Einzelanalysen
erprobt hat, die dichterische Einbildungskraft ohne den Anspruch
der Erklärung in ihren allgemeinsten Zügen beschrieben und nach ihrer
typischen Ausgestaltung bei den verschiedenen Dichtern bestimmt werden
kann. Ob eine wissenschaftlich zureichende Erklärung des dichterischen
Schaffens in Zukunft einmal möglich sein wird oder ob die Natur der menschlichen
Erkenntnis hier eine ihrer dauernden Schranken findet, das müssen
wir dahingestellt sein lassen. Ob ihr jemals mehr glücken wird, als auf die
Außenseite des Vorgangs eine Anzahl von Streiflichtern zu werfen? ob es
ihr jemals gelingen kann, den schöpferischen Akt zu belauschen, in dem
der Dichter sich selbst vergißt und vergessen muß, wenn er wirklich ein
Dichter ist? ob das, was der Schoß der Phantasie in fruchtbarer Dunkelheit
birgt, das Geheimnis des Wirkens und Wachsens, nicht immer Geheimnis
bleiben wird, auch wenn man einige der Einflüsse festzustellen
vermag, die es befördern oder hemmen? Wir wissen es nicht.
Der umfassendste Versuch, die von Scherer angeregten Prinzipien und Methoden
für eins der großen Teilgebiete der Poetik durchzuführen, ist R. M. Werners groß angelegte
Untersuchung „Lyrik und Lyriker“ (Hamburg und Leipzig 1890). Dieser
prinzipiellen Bedeutung wegen muß das Buch bereits für die allgemeine Grundlegung der
Poetik herangezogen werden. Werner will „den dichterischen Prozeß in der Lyrik so
weit als möglich erforschen“, „die Erscheinungen möglichst einfach erklären und aus dem
Wesen des lyrischen Dichters ableiten“ (Vorwort). „Er will die Natur bei ihrem heim-
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lichsten Weben belauschen, die naturwissenschaftliche Methode, soweit dies überhaupt
möglich ist, auf das Gebiet der Poesie anwenden“ (S. 21). Zu diesem Zweck betrachtet
er die Entstehung des Gedichts nach Analogie mit dem physischen Werdeprozeß des Individuums:
ein Bild, das Hebbel und andere Dichter mit Vorliebe auf ihr Schaffen anwenden,
wird hier systematisch der Betrachtung zugrunde gelegt. Für die einzelnen
Stadien des dichterischen Prozesses entnimmt Werner der Physiologie eine Anzahl terminologischer
Bezeichnungen (Befruchtung, Keim, inneres und äußeres Wachstum, Geburt), die
er nicht als eine müßige Spielerei, sondern als eine aufklärende wissenschaftliche Analogie
angesehen wissen will. Er bringt eine Fülle von Material, das nach diesem Schema bearbeitet
wird, erörtert die einzelnen Entwicklungsstadien an der Hand von Selbstzeugnissen
und fragmentarischen Überlieferungen (namentlich Hebbels Tagebücher werden stark herangezogen)
und verfolgt eine beträchtliche Reihe von Gedichten durch die ganze Entwicklung
hindurch. Alles das ist im einzelnen höchst lehrreich. Aber daß der psychologische Prozeß
selber in seinen wesentlichsten Punkten doch nicht dadurch zur Klarheit kommt, scheint
der Verfasser selbst zuzugeben. „Wir können erforschen,“ sagt er (S. 24), „was ein Gedicht
veranlaßt, wie es im Innern des Dichters wächst und endlich produziert wird, aber
wie die Veranlassung zum Keim wird, aus welchem sich das Gedicht entfaltet, das vermögen
wir nicht zu erforschen, das kann uns auch der Dichter nicht sagen, weil er es
selbst nicht weiß, hier liegt eben das Unbewußte der Kunst. Aber unser Bemühen ist
natürlich darauf gerichtet, mit unserer Erkenntnis so weit als möglich zu dringen.“ ─
Ich fürchte, die ganze Analogie zwischen dem poetischen und dem physischen Werdeprozeß
läuft eben darauf hinaus, daß das innere Wesen, die treibende Kraft, die hinter
den Erscheinungen wirkt, bei beiden gleich unverkennbar ist, wiewohl man die äußeren
Stadien des Prozesses erkennen kann. Im übrigen hat der Vergleich kaum mehr als
dichterischen Wert, ja, er führt zu gewaltsamen, zum Teil ganz unmöglichen Behauptungen
(z. B. S. 421). Man kann aus dem reichen Material, das Werner zusammenträgt und übersichtlich
ordnet, viel lernen; aber sein Werk gehört zu den Büchern, die ihren Wert trotz,
nicht wegen ihres Grundgedankens haben, und gerade die Abschnitte, in denen die
Psychologie zurücktritt, sind meines Erachtens die wertvollsten.
Dagegen bekämpft Emil Geiger in dem S. 31 Anm. angeführten Buche die Überschätzung
des Erlebnisses, die mit der Unterschätzung der formgebenden Kraft des Dichters
Hand in Hand geht, und er betont ganz im Sinne der obigen Darlegungen den Charakter der
schöpferischen Tätigkeit in der Poesie. Dieser Gedanke zieht sich als Leitmotiv durch
sein Buch und gelangt wiederholt zu glücklichem Ausdruck, z. B. S. 202: „Von der an
sich richtigen Erkenntnis ausgehend, daß das Erlebnis Grundlage des dichterischen Schaffens
sei, übersieht man, daß zwischen äußerem Erleben und innerem Bild eine tiefgchende
Wandlung liegt.“ S. 118: „Die Lyrik kann nie das bloße Spiegelbild des empirischen Erlebnisses
geben, liegt doch zwischen diesem und der Kunstform der schöpferische Akt
des Dichters.“ Von diesem Standpunkt aus gelangt Geiger zu einer Reihe wertvoller Einsichten,
die sich größtenteils gleichfalls über die Grenzen der Lyrik hinaus auf das gesamte
Gebiet der Poesie beziehen. Das verhältnismäßig kleine Buch ist inhaltreich und
scheint mir bisher von der Kritik kaum gebührend gewürdigt. Es verhält sich ungefähr
zu Diltheys „Einbildungskraft des Dichters“ wie Werners Buch zu Scherers Poetik: es
sucht eine psychologische Einsicht in das Werden lyrischer Schöpfungen zu gewinnen und
hieraaf eine Kunstlehre vom Wesen der Lyrik zu begründen. Die Darstellung würde freilich
gewonnen haben, wenn diese beiden Gesichtspunkte in der Anordnung, vielleicht
auch in der Methode, deutlicher geschieden wären.
Auch Ernst Grosse (Kunstwissenschaftliche Studien, Tübingen 1900) gelangt in dem
klar und frisch geschriebenen Kapitel über das Wesen des Künstlers zu Erwägungen und
Ergebnissen, die unserer obigen Darlegung ganz verwandt, aber noch entschiedener negativ
formuliert sind. „Künstler und Träumer sind einander völlig gleich, insofern beide ihre
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Phantasiegebilde unwillkürlich und unbewußt produzieren: aber auch nur insofern, denn
─ und hierin liegt der wesentliche Unterschied zwischen Schaffen und Träumen ─ es
sind offenbar viel tiefere und mächtigere Kräfte, welche die künstlerischen Wachträume
emportreiben. Welcher Art diese schöpferischen Kräfte sind, läßt sich allerdings weder
darlegen noch erkennen. Wer sie einer wissenschaftlichen Untersuchung und Bestimmung
für zugänglich hält, kann noch nicht einmal ein Gefühl von ihrem Wesen haben. Sie
liegen in dem Unbewußten, jenseits der Grenze, bis zu der Gedanken und Worte reichen,
und über die nur die Ahnung schweigend hinausdeutet“ (S. 66). „Da sich der schöpferische
Prozeß im Unbewußten vollzieht, so kann nicht einmal der Künstler selbst wissen,
wie er sich vollzieht.“ „Nur über die äußeren Umstände und Bedingungen der schöpferischen
Produktion und über die spätere, mehr bewußte und willkürliche Arbeit der Ausführung
vermag er Auskunft zu geben“ (S. 67).
Treffend und fein weist endlich Dessoir in seiner Ästhetik (Stuttgart 1906) auf die
„antirealistischen“ Tendenzen der Phantasietätigkeit hin, ja, er sieht hier „den tatsächlichen
Ausgangspunkt für die Seelenkenntnis des Dichters“ (S. 252). „Als das Ursprüngliche behaupten
wir demnach die Freude an der Metamorphose, an der Loslösung (,die Lust am
Anderssein' heißt es kurz vorher) und nicht etwa die Kunst, fremde Individualitäten zu
durchschauen“ (oder die eigene darzustellen, dürfen wir hinzufügen). Und zusammenfassend:
„Nein, die Beschaffenheit der äußeren Erlebnisse und des erscheinenden Charakters
sind nicht das Wesentliche ─ aus Jugend und Phantasiespiel ist geflossen, was
der Dichter von den Menschen zu sagen weiß. Und eben deshalb ist es so aussichtslos,
den Lauf der poetischen Einbildungskraft gleich dem Flug eines Geschosses berechnen
zu wollen.“
Die Zweifel an der Möglichkeit, eine
systematische Psychologie des dichterischen Schaffens durchzuführen, können
und werden die Forschung nicht verhindern, auch auf dem halb erhellten
Gebiete vorzudringen, soweit sie vermag. So viel oder so wenig sie erreichen
wird, es bleibt der Wissenschaft das Recht und die Pflicht, die
Poesie und ihre Erzeugnisse als Material für Geistesgeschichte und Psychologie
zu betrachten und zu verwerten. Und umgekehrt müssen sich aus
einer solchen Betrachtungsart, ja schon aus der bloßen Stellung der Aufgabe,
Gesichtspunkte ergeben, welche die Methoden der Literaturgeschichte
und der Künstlerbiographie aufs fruchtbarste bereichern und vertiefen.1) Allein
so viel oder so wenig nun auch das psychologische Verfahren auf diesem
Wege erreichen mag, eine Schranke ist ihm ein für allemal gezogen: es
muß seiner Natur nach eben da versagen, wo das spezifisch Künstlerische,
das eigentlich Ästhetische beginnt, bei der Betrachtung und Wertung des
Kunstwerks selber. Denn die psychologische Methode behandelt dasselbe
als das Erzeugnis einer Reihe von seelischen Vorgängen: sie löst die
In diesem Sinne bildet einen bedeutsamen Versuch, Scherers Ideen und Anregungen
weiter zu führen, das Buch von Ernst Elster: „Prinzipien der Literaturwissenschaft“,
1. Bd., Halle 1897. Elster sucht aus Wundts Psychologie die wesentlichsten Kategorien
und Grundsätze für die wissenschaftliche Methode literarhistorischer Charakteristik
zu gewinnen. Er strebt also nicht sowohl eine Systematik der Dichtkunst, als eine Methodik
der Literaturgeschichtsschreibung an und gibt für eine solche eine Anzahl
wertvoller Gesichtspunkte.
Dichtung in einen Prozeß auf, der im Innern des Dichters vor sich geht.
Die Erkenntnis dieses Prozesses ist psychologisch von höchstem Interesse,
aber sie leistet nichts, was sein Erzeugnis, das objektiv vorhandene
Kunstwerk, an sich kenntlich und seiner inneren Eigenart, man möchte
sagen, seinem eigenen Leben nach verständlich macht. Um ein Kunstwerk
als solches zu verstehen, müssen wir es unter künstlerischen Gesichtspunkten
betrachten lernen. Wir müssen es mit den Augen sehen, mit
denen der Künstler selbst es gesehen hat und mit denen er wünschte, daß
seine Hörer und Zuschauer es sehen sollten. Im Bewußtsein des Dichters
erscheint die Dichtung, wie sie allmählich entsteht und vollendet wird,
nicht als ein Teil seines Seelenlebens, sondern als ein Stück Leben für
sich, ein Ereignis, ein Gegenstand zum Anschauen und zum Eindringen.
Er glaubt, was er dichtet, nicht zu erleben, sondern mitzuerleben. Auch
wenn es sein eigenstes Schicksal ist und sein eigenstes Fühlen, das er im
Kunstwerk darstellt: zum Kunstwerk wird es erst, indem es sich objektiviert,
d. h. sich von seiner Persönlichkeit loslöst und ein eigenes Dasein in seiner
Phantasie zu entfalten beginnt. Und nicht minder selbständig lebt das
Dichtwerk in der Phantasie des verständnisvollen Hörers weiter, in der
wechselnden Auffassung der Zeiten und Völker. Es spricht zu uns im geheimnisvollen
Bunde mit unseren eigenen Erlebnissen; es sagt uns Dinge,
die es seinem Schöpfer nicht sagen konnte, weil sie aus unseren Erinnerungen,
aus unseren persönlichen Empfindungen erwachsen. Und doch
sind auch hier Unterschiede, die dem verstandesmäßigen Urteil sehr wohl
zugänglich sind. Man kann eine Dichtung falsch verstehen, indem man
ihrem objektiven Geiste widerspricht; dem, der sie richtig versteht, sagt
sie vielleicht manches, was der Dichter nicht mit Bewußtsein hineingelegt
hat, ─ und doch ist alles, was sie ihm sagt, aus dem Geist des Dichters
gesprochen.
Der künstlerischen Betrachtung erscheint das Kunstwerk als eine
lebendige Einheit, ein Organismus, der in sich entwickelt und geschlossen
ist und dessen Teile nur aus ihrem Verhältnis zu dem Ganzen,
das sie bilden, verständlich werden. Ja, auch das hat das Werk des
Dichters mit dem Lebewesen der schaffenden Natur gemein, daß es wie
diese niemals in allen seinen Teilen und in seinem innersten Wesen dem
analysierenden Verstande zugänglich ist. „Ein echtes Kunstwerk“, sagt
Goethe, „bleibt wie ein Naturwerk vor dem Verstande immer unendlich.“
In der Tat, in jeder wahren Dichtung steckt etwas Irrationales, in Begriffen
und Worten nicht Faßbares, und doch treibt uns ein unabweisbares Bedürfnis,
uns mit verstandesmäßiger Erkenntnis dessen zu bemächtigen, was
gefühlsmäßig auf uns wirkt; und auch dieser Wirkung Kraft und Samen,
soweit es möglich ist, bei hellem Tageslicht zu schauen. Aus diesem Bedürfnis
entspringt jedes ästhetische Denken, aus ihm insbesondere denn
auch die Poetik als Kunstlehre.
Eine solche Kunstlehre ist es, welche die folgende Darstellung anstellt:
eine Poetik, deren Gegenstand nicht das Subjekt des Künstlers, sondern das
objektiv vorliegende dichterische Kunstwerk ist, deren Verallgemeinerungen
nicht Typen von Dichtern, sondern von Dichtwerken bilden; kurz eine
objektive Lehre von der Dichtkunst und den Dichtungen. Etwas Ähnliches
wollte auch die alte systematische Poetik leisten. Aber freilich, wir werden
die Aufgabe tiefer und innerlicher fassen müssen, als jene es tat: es handelt
sich nicht um eine bloße Technik, um eine Systematisierung der äußerlichen
Gattungen und Formen, nicht um Einteilungen und Aufzählungen,
sondern um die Feststellung der Gesichtspunkte, nach denen die Dichtung
als Kunstwerk von innen heraus und ihren eigenen immanenten Gesetzen
gemäß zu erfassen ist, und um das Verständnis der dichterischen Form,
soweit sie organische, d. h. lebendige, von innen bedingte Gestaltung ist.
Welches wird nun die Eigenart einer solchen Betrachtungsweise sein?
Wie wird sich die Kunstlehre im einzelnen gestalten?
Der erste und entscheidende Charakterzug ─ das geht schon aus
dem eben Gesagten hervor ─ muß sein, daß sie ihren Erörterungen die
Auffassung des Kunstwerks als einer Einheit zugrunde legt. Wie die
Biologie das einzelne Lebewesen als organische Einheit betrachtet, wie sie
es vor allem darauf absieht, diese Einheit in ihren verschiedenen Funktionen
und Äußerungsweisen zu erfassen, so wird auch die Poetik von der
tatsächlich gegebenen Einheit des dichterischen Kunstwerks ausgehen
und die Dichtungen nach ihren Eigenschaften und Bestandteilen
unter dem Gesichtspunkt der organischen, d. h. eben der künstlerischen
Einheit zu verstehen suchen.
Freilich, ohne Analyse der Bestandteile gibt es nirgends Erkenntnis
einer Erscheinung, in der Kunst so wenig wie in anderen Gebieten. Auch
die Poetik als Kunstlehre wird mit einer Analyse beginnen müssen, wie es
die psychologische Poetik tut. Allein im Gegensatz zu dieser wird sie die
Elemente des Kunstwerks nicht nach der zeitlichen Folge scheiden, in der
sie sich allmählich zum Ganzen zusammengeschlossen haben, sondern das
fertige Kunstwerk selbst, so wie es vorliegt, in die Bestandteile zerlegen, die
mit der Form und dem Inhalt gegeben sind. Sie wird ferner diese Bestandteile
zwar auch an sich ins Auge fassen müssen, ihr Hauptaugenmerk aber
wird sein, durch ein synthetisches, man könnte schärfer sagen, ein rekonstruktives
Verfahren zu zeigen, wie sie in organischem Zusammenschluß das
Ganze bilden. Die Poetik verfährt darin genau wie die ästhetische Interpretation
des einzelnen Dichtwerks, die sie ja auch als induktive Grundlage benutzen
muß. Aber sie bleibt nicht, wie diese, beim einzelnen Dichtwerk stehen,
vielmehr wird sie überall, in den Bestandteilen wie in dem Gesamtwerk, das
Allgemeine, das Typische suchen. Die Feststellung bestimmter Typen und
Formen, die Erkenntnis der organischen Gesetze, durch die sie gebildet
und bestimmt werden, ist ihr Ziel. Hierdurch erst wird sie Wissenschaft.
Drei Bestandteile einer Dichtung pflegt die Analyse herkömmlicherweise
zu unterscheiden: erstens den Stoff, zweitens den Gefühls- und Gedankengehalt,
drittens die Form. Nun ist freilich sowohl diese Einteilung wie
die ihr entsprechende Ausdrucksweise nicht nur Mißverständnissen, sondern
auch berechtigten Einwänden ausgesetzt. Vor allem ist der Begriff der
Form weder eindeutig noch klar, vielmehr weicht er gleichsam zurück,
wenn man ihn greifen will. Man spricht von metrischer und sprachlicher,
aber auch von lyrischer und dramatischer Form, ja man hört nicht selten
auch von humoristischer und satirischer Form reden; ─ und die Einführung
des Begriffes der inneren Form, die Scherer von W. von Humboldt
übernommen hat, macht die Sache mindestens nicht einfacher und anschaulicher.
Mit dem Wort Form verbinden wir immer die Vorstellung von
etwas Äußerem, das als solches vom Inhalt abtrennbar ist. Dies aber paßt
höchstens auf den metrischen Bau eines Gedichtes, sofern er auf einem
Schema beruht, das auch auf andere Gedichte übertragen werden kann.
Die Elemente eines Gedichtes existieren niemals nebeneinander, sondern
immer nur eins im andern und durch das andre. Der Gegensatz des
Äußeren und Inneren hat in der poetischen Kunstlehre streng genommen
keinen Platz, und das Wort Goethes über die Naturbetrachtung gilt auch
für die Poesie:
Denn was innen ist, ist außen.
Andrerseits entspringt auch die Bezeichnung Stoff für den Gegenstand
einer Dichtung nur einem sehr ungenauen Vergleich mit den bildenden
Künsten. Denn das Material der Poesie, aus dem sie schafft wie die Malerei
aus Farben und die Musik aus Tönen, sind nicht überlieferte Inhalte irgendwelcher
Art, sondern die Worte der Sprache; und eben deshalb bleibt die
Poesie an die Gesetze der Sprache nach Seite des Klangs wie der Bedeutung
der Worte gebunden. Die Scheidung von Form und Stoff, die
hier ungenauerweise angewandt worden ist, hat lange Zeit dazu geführt,
die Bedeutung der Sprache für das Wesen der Dichtkunst zu unterschätzen.
Trotz dieser berechtigten Bedenken nun aber kann die Poetik die
überlieferte Einteilung selbst nicht völlig entbehren, und daher wird es am
bequemsten sein, auch die einmal üblich gewordene Ausdrucksweise soweit
wie möglich festzuhalten. Die Bedeutung freilich, welche den einzelnen
Teilen für das Gesamtverständnis der Poesie zukommt, sowie die Abgrenzung
der Gebiete im einzelnen, werden wir vielfach anders fassen müssen, als
es die frühere und insbesondere die klassische Zeit getan hat.
Die Poetik muß von den Gesetzen der sprachlichen und metrischen
Gestaltung ausgehen. Denn es kann nicht zweifelhaft sein, daß
diese, wie sie die festesten und greifbarsten Bestandteile aller technischen
Überlieferung sind, so auch für die theoretische Erkenntnis die sichersten
Unterlagen liefern und am ersten vollständige Induktionen und systematische
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Ausgestaltung ermöglichen. Daher sind sie denn auch schon seit dem Altertum
als Stilistik der Dichtersprache und Metrik zu eigenen Disziplinen ausgestaltet,
und als solche teils für sich, teils als Unterabteilungen der Poetik
behandelt worden. Daß sie theoretisch genommen das letztere sind, daß
sie in die Lehre von der Dichtkunst gehören, daran kann füglich kein
Zweifel sein. Aber immerhin ist es praktisch und vorteilhaft, sie, wie es
im wesentlichen auch in diesem Handbuch geschieht, für sich zu behandeln.
Denn beide Disziplinen erscheinen zunächst für sich abgeschlossen,
und auf beide wirkt die Verwandtschaft mit anderen Gebieten stark, ja
entscheidend ein: auf die Stilistik die Beziehung zu der allgemeinen Sprachwissenschaft,
besonders der Bedeutungslehre, auf die Metrik der Zusammenhang
mit der Musik. So kommt es denn, daß die Poetik zwar beide
nicht aus dem Auge verlieren, sie aber doch mehr als Hilfswissenschaft
behandeln, d. h. ihre Ergebnisse voraussetzen und ihre allgemeinen Gesetze
übernehmen darf, ohne sie im einzelnen zu begründen.
Über diese Voraussetzungen und Gesetze freilich muß Klarheit herrschen,
bevor die Poetik ihr eigentliches Werk auch nur beginnen kann. Eine
prinzipielle Erörterung dessen, was Worte, Klang und Rhythmus für
die Poesie bedeuten, und auf welchen ihrer Eigenschaften diese Bedeutung
beruht, können wir nicht entbehren, ja wir werden unsere Betrachtungen
damit beginnen müssen; denn nur hieraus wird die innere Struktur der Dichtungen,
werden die Gesetze der künstlerischen Formengebung verständlich.
Fassen wir sodann die Gebilde ins Auge, zu denen jene Elemente
sich verbinden, so treten uns zunächst gewisse allgemeine Prinzipien, Gesetze
des dichterischen Baus entgegen. Diese allgemeinsten Kompositionsgesetze
gelten für Gedichte der verschiedensten Gattungen, für alle dichterischen
Gebilde ohne wesentlichen Unterschied, und man wird sie daher
am besten in einer einheitlichen und allgemeinen Betrachtung zusammenfassen,
die sich der Behandlung der Formenelemente der Poesie anschließt.
Sie nehmen aber auch besondere Gestaltung an und tragen dann
wesentlich dazu bei, den Unterschied der überlieferten drei Gattungen
der Poesie zu begründen. Man kann diesen Unterschied zunächst ganz
äußerlich als den der monologischen, erzählenden und dialogischen Form
auffassen, aber jeder fühlt, daß das Wesen der Gattungen damit noch nicht
getroffen, ja kaum berührt ist. Denn lyrische wie epische und dramatische
Poesie, jede trägt ihre eigenen organischen Gesetze in sich. Und diese Gesetze
sind keineswegs nur solche der sprachlichen Gestaltung, vielmehr entspringen
sie bestimmten und verschiedenen Funktionen und Formen des
Phantasielebens, wie ihnen denn auch ebenso spezifisch bestimmte Wirkungsweisen
entsprechen. Daher ist die Wahl der Gattung viel weniger, als
man gewöhnlich anzunehmen pflegt, von der Eigenart des Stoffes abhängig:
sind doch die großen Stoffe der Literaturgeschichte von der Ilias
bis zum Faust fast alle sowohl episch wie dramatisch behandelt worden.
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Weit wesentlicher ist die persönliche Anlage, man kann geradezu sagen:
das Temperament des Dichters, das ihn von vornherein und zumeist
dauernd auf eine bestimmte Art der Wirkung hin und damit in eine der
drei Gattungen als in sein heimisches Gebiet hineindrängt, wenn es ihn
auch nicht ganz und gar darauf zu beschränken pflegt. Von Einfluß ist
aber auch die Richtung des Gefühls und der vom Gefühl bestimmten Anschauungsweise,
die der Dichter in seinen Schöpfungen zum Ausdruck
bringen will.
Diese Richtung der künstlerischen Intention ist überhaupt das
wesentlichste Lebenselement jeder Dichtung. Ob sie zu tragischer oder
humoristischer Lebensauffassung, zu naturalistischer oder idealisierter Wiedergabe
der Wirklichkeit führt, ist für den Charakter der Dichtung das eigentlich
Entscheidende, und wenn sie auch für die Wahl der Gattung nicht
den Ausschlag gibt ─ hier kommen, wie gesagt, andere ebenso ursprüngliche
Anlagen der Phantasietätigkeit zur Geltung ─, so bestimmt sie doch
die Darstellung im ganzen, insbesondere die sprachliche, oft auch die
metrische Gestaltung.
Wenn z. B. von zwei Dichtern der eine den Stoff der Jungfrau von
Orleans im Epos, der andere ihn im Drama behandelt, so ist das zunächst
ein Unterschied der äußeren Darstellungsart, der Gattung. Sehen wir nun
aber weiter, daß der erstere den Stoff satirisch, der andere ihn sentimentalisch-heroisch
auffaßt, so zeigt sich uns offenbar eine weit tiefer
greifende Verschiedenheit der Konzeptionen. Beide Unterschiede fallen
nicht zusammen, ja, sie sind nicht einmal unmittelbar abhängig voneinander:
es wäre möglich, einen und denselben Stoff in einem heroischen Epos und
in einem satirischen Drama zu behandeln, wie etwa Homer und Shakespeare
die Geschichte des Troilus behandelt haben. Und doch ist es deutlich,
daß die Auffassung des Stoffes auch die Wahl der Kunstgattung bei
Voltaire und Schiller beeinflußt hat. Weit tiefer freilich hat die Verschiedenheit
der Grundauffassung auf die Art der Darstellung und Stoffgestaltung
im einzelnen eingewirkt, auf die Art zu charakterisieren, die Sprache und,
bei Schiller wenigstens, auf das Metrum. Die satirische und die tragische
Richtung der Poesie treten hier in ihrer grundlegenden Bedeutung
als Typen der poetischen Auffassung hervor. Wir können daher sie und
ihresgleichen den Typen der Darstellung, den Gattungen der Poesie
zur Seite stellen.
Diese Richtung eines Dichtwerks hängt offenbar von der Gefühls-
und Anschauungsweise ab, mit welcher der Dichter seinen Stoff ergriffen
und erfüllt hat, sie steht in innigster Beziehung zu dem Gedanken- und
Empfindungsgehalt des Gedichtes. Dieser nun ist seinerseits nichts als
ein Ausfluß der gesamten individuell oder auch national bestimmten Weltanschauung
des Dichters und als solcher auch an sich genommen von
Interesse und Wert für die wissenschaftliche Betrachtung. Denn der Dichter,
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der mit und in seinem Volke lebt, erlebt in sich das, was Zeit und Volk
bewegt. Er erlebt es stärker und inniger, eben weil sein Gefühl tiefer
und kraftvoller ist als das seiner Mitmenschen, und er bringt es zum
klareren Ausdruck, als diese es vermögen, weil ihm die Gewalt der Sprache
verliehen ist, die Gabe, das in Worte zu fassen, was sie nur dunkel fühlen.
Daher ist es gewiß eine große und lohnende Aufgabe, der Empfindungsweise
und der Gedankenwelt der Dichter verschiedener Epochen nachzugehen,
die charakteristischen Richtungen ihres Gefühlslebens, die bedeutendsten
und lebenskräftigsten Ideen, die sie bewegen, herauszuheben
und ihren Weg durch die Poesie der verschiedenen Epochen und Völker
hindurch zu verfolgen, weit fruchtbarer als jenes vergleichende Verfolgen
der Stoffe und Motive jemals werden kann. Denn hier treten wirkliche
Zusammenhänge innerer Natur zutage. Die großen Ideen der Menschheit
zeigen sich in ihrer Lebenskraft, die ewigen Gefühle, um ein Goethesches
Wort zu gebrauchen, in ihren zeitlichen Erscheinungsformen und in ihrer
zeitlosen Dauer. Doch kommt das, was hierdurch geleistet wird, offenbar
mehr der allgemeinen Geistesgeschichte als der eigentlich künstlerischen
Betrachtung oder der ästhetischen Einsicht zugute. Es wäre gewiß zu
wünschen, daß die leider noch spärlichen Untersuchungen dieser Art häufiger
würden, und daß sich allmählich tiefer eindringende und sicherere
psychologische Methoden herausbildeten: ein weites Feld eröffnet sich hier.
Wirklich wissenschaftliche Untersuchungen über die geschichtlichen Formen
der Liebe oder der Freundschaft und manches ähnliche bleiben eine dringliche
und lohnende Aufgabe.1) Aber es ist klar, daß alle solche Arbeiten
die Dichtung nur als Quelle benutzen und, selbst wenn sie ausschließlich
aus dieser Quelle schöpfen, nicht für das künstlerische Verständnis selbst
arbeiten. Sie stehen ganz auf derselben Linie wie etwa die vergleichende
Religionsgeschichte, die ja auch die Poesie als eine Hauptquelle heranziehen
muß. Das Fühlen und Denken des Dichters erscheint hier nur als
der zugänglichste und faßbarste Typus des allgemein menschlichen oder
auch nationalen Denkens und Empfindens, das aus keiner anderen Quelle
mit gleicher Sicherheit erschlossen werden kann. Daher werden solche
Untersuchungen Typen des Seelenlebens und der geistigen Bewegung feststellen
können, nicht aber Typen und Gesetze der Dichtung. Die Poetik
wird ihre Ergebnisse im einzelnen heranziehen und benutzen, aber zu
ihren eigenen Aufgaben gehört weder die geschichtliche Behandlung noch
die systematische Klassifizierung solcher Ideen und Empfindungen. Das
Wesen der Poesie wie jeder Kunst liegt nicht in den Inhalten, die sie überliefern
Einen Ansatz dazu bilden z. B. die Untersuchungen über die geschichtliche Entwickelung
des Naturgefühls, wie sie sich in Jak. Burkhardts Kultur der Renaissance (4. Abschn.
Kap. 3) und in Friedlaenders Sittengeschichte Roms (Bd. I Kap. 1) finden. In zusammentragender
Darstellung hat Alfr. Biese die Entwickelung des Naturgefühls im
Mittelalter und der Neuzeit (Leipzig 1888) gebracht.
will, und weder die Kenntnis der Stoffe noch die der Gedanken
und Empfindungen vermittelt uns dieses Wesen. Erst da tritt es zutage,
wo der Inhalt unter dem befremdenden Einfluß der Phantasie eine organische
Form aus sich heraus treibt und sich eben hierdurch zum Kunstwerk
gestaltet. Was der Dichter empfindet, empfinden viele, was er denkt,
denken auch andere: daß er gestalten kann, was er fühlt und denkt,
macht den Künstler.
Der geringste Erkenntniswert für die Poetik kommt daher auch der
Betrachtung des Stoffes zu. Denn das ästhetische Interesse richtet sich
niemals auf den Stoff als solchen, sondern nur auf die Frage, was hat der
Künstler daraus gemacht? Um diese Frage zu beantworten, bedarf es freilich
des Vergleichs zwischen dem Rohstoff und der künstlerischen Gestaltung.
Aber jede Verallgemeinerung betrifft offenbar nur diese, nicht jenen; sie
fällt somit schon in das Gebiet der inneren oder äußeren Formgebung,
und nur soweit kann der Charakter der verschiedenen Stoffe unter allgemeinen
technischen Gesichtspunkten in Betracht kommen, als es sich
um die Frage handelt, ob er sich mehr für die eine oder die andere Behandlungsart
eigne, oder auch für die künstlerische Behandlung überhaupt
geeignet oder ungeeignet sei.
Die moderne Literaturgeschichte freilich hat eine besondere Vorliebe
dafür, die Stoffe der Poesie vergleichend und geschichtlich zu behandeln.
Sie löst den dichterischen Gegenstand in Grundbestandteile, Motive, auf
und verfolgt die Wiederkehr dieser Motive mit philologischem Sammeleifer
in den Schöpfungen verschiedener Dichter und Literaturen. Allein man
kann nicht sagen, daß die emsig betriebene Arbeit besonders gewinnbringend
gewesen ist. Was die Vergleichung der Stoffe im besten Falle
leisten kann, sind Fingerzeige, die auf Zusammenhänge zwischen verschiedenen
Dichtern hinweisen. Aber wo diese Zusammenhänge überhaupt
zweifellos und wesentlich sind, da erstrecken sie sich zumeist weit über
die Entlehnung einzelner Motive, ja des Stoffes überhaupt hinaus auf die
Gesamtgestaltung des Kunstwerks; und wo das nicht der Fall ist, da kann
die Ähnlichkeit des Motivs den Literarhistoriker leicht irre führen, und zwar
desto leichter, je allgemeiner es gefaßt wird. Denn das eine sollte man bei
demganzen Verfahren nicht vergessen, daß das Motiv als solches nichts als
eine Abstraktion ist. Der Dichter geht ja nicht von der allgemeinen Vorstellung
etwa eines Bruderzwistes oder eines Verbrechens aus Ehrgeiz aus,
sondern von der besonderen und weit reicheren Anschauung der feindlichen
Brüder im Fürstenhause von Messina oder der Tat Wallensteins oder
Macbeths. Ein entlegenes, ja ausgefallenes Motiv tritt uns bisweilen in
verschiedenen Literaturen entgegen, wo jeder Zusammenhang ausgeschlossen
ist, wie z. B. die Blutschande im König Ödipus und in Hartmans Gregorius
auf dem Stein. Aber auch da, wo Zusammenhänge vorliegen, sind sie
keineswegs immer so unmittelbar, wie der bloße Vergleich des Motivs zu
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ergeben scheint. Auf Schillers Räuber haben die Tragödien des Bruderzwists
aus der Sturm- und Drangperiode wohl Einfluß ausgeübt, aber das
Motiv der gegnerischen Brüder stammt bekanntlich nicht von daher, sondern
aus einer Schubartschen Novelle. ─ Immerhin ist trotz dieser Einschränkungen
die geschichtliche Behandlung und Vergleichung der
Motive von einem gewissen, wenn auch eingeschränkten Interesse für die
Literaturgeschichte; einer Systematisierung der Stoffe und Motive aber,
einem schematischen Verzeichnis, wie es Scherer als „allgemeine Motivenlehre“
vorschwebte, fehlt jeder wissenschaftliche wie praktische Wert, schon
weil, wie Scherer selbst zugeben muß, das Gebiet der möglichen Stoffe
mit dem Gebiet der gesamten Natur wie des Menschenlebens zusammenfallen
würde. ─
Wie verfährt die Poetik nun, um verständlich zu machen, wie die
Einheit des Dichtwerks in und aus den verschiedenen Bestandteilen der
Dichtung erwächst? Eine anschauliche Antwort auf diese Frage können
erst die folgenden Teile dieser Darstellung geben. Nur ein methodischer
Gesichtspunkt von allgemeiner Bedeutung soll schon hier hervorgehoben
werden. Eine organische Einheit werden wir, das liegt im Worte selbst,
immer nur als eine zweckmäßige begreifen können. Wie die Biologie
in der Erklärung der Organismen und ihrer Funktionen sich im einzelnen
des Zweckbegriffs bedienen muß, so wird auch die Poetik die Einheit des
dichterischen Kunstwerks immer nur als eine gewollte und beabsichtigte
begreifen können. Hierin steht sie nun in völliger Übereinstimmung mit
dem, was wir im vorigen Abschnitt über den psychologischen Vorgang
des künstlerischen Schaffens erfahren haben: die Gestaltung eines Kunstwerks
ist niemals ohne eine ihr voraufgehende künstlerische Absicht zu
denken, deren Verwirklichung sie ist. Wenn wir ein Kunstwerk, so wie es
uns objektiv entgegentritt, als Einheit erfassen wollen, so können wir das
nicht anders, als indem wir die einheitliche Intention erschließen, aus der
es hervorgegangen ist, und alle Einzelheiten als Bestandteile des Kunstwerks
auf diese Intention beziehen; wir betrachten, wie die Ausdrucksmittel
der Kunst im Dienste dieser einheitlichen Absicht ausgewählt und
verwendet, die äußere und innere Form durch sie bestimmt sind. Die
Intention des Dichters zielt immer auf eine bestimmte Wirkung, und sie ist
daher weder zu verstehen noch auch nur zu denken ohne ein gewisses
Maß von Erfahrung, von den Ursachen und Mitteln, kurz von der psychischen
Gesetzmäßigkeit überhaupt, der künstlerische Wirkungen unterliegen. Die
zweckmäßige Organisation des Kunstwerks entspringt keinem mystischen
Zusammenhange, sondern den psychologischen Gesetzen, die alles seelische
Geschehen beherrschen. Insofern kann auch die Poetik des steten Hinblicks
auf die Psychologie ebensowenig entbehren wie eine der anderen
Geisteswissenschaften, aber ebensowenig wie diese kann und will sie die
Erscheinung, die sie untersucht, in psychologische Elementarvorgänge auflösen.
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Vielmehr muß sie diese Aufgabe der psychologischen Wissenschaft
überlassen, deren Ergebnisse sie voraussetzt.
Bei dieser Betrachtung nun sind wir stets genötigt, die Tätigkeit des
künstlerischen Gestaltens als eine klar bewußte aufzufassen und ihre Wiedergabe
in begrifflicher Deutlichkeit anzustreben; denn nur auf diese Weise
können wir zu einem theoretischen Verständnis gelangen. In Wirklichkeit
freilich verläuft der Prozeß niemals im vollen Sonnenlicht des Bewußtseins,
sondern stets in einem Spiel zwischen Schatten und Licht, zwischen
bewußter Absicht und unbewußten Instinkten. Daß hierin für die Psychologie
eine besondere Schwierigkeit liegt, haben wir im vorigen Abschnitt
gesehen. Allein die Poetik braucht für ihre Zwecke ebensowenig danach
zu fragen, wie die Biologie danach fragt, ob die Zweckmäßigkeit der
Organismen, von der sie ausgeht, auf einer bewußten Zwecksetzung des
Weltschöpfers beruht oder nicht. Jede begriffliche Verdeutlichung ist eine
Hilfskonstruktion der erklärenden Wissenschaft und vermag niemals die
Wirklichkeit als solche wiederzugeben, sondern sie immer nur im abstrakten
Ausschnitt darzustellen und eben hierdurch verständlich zu machen.
Die Lehre von der Dichtkunst auf eine im modernen Sinne wissenschaftliche
Psychologie der dichterischen Wirkungen zu begründen, unternimmt H. Roetteken in
seiner auf drei Bände angelegten Poetik. Der bisher erschienene erste Teil (München 1902)
enthält neben einer Erörterung der Prinzipien die „Allgemeine Analyse der psychischen
Vorgänge beim Genuß einer Dichtung“. „Die ästhetisch-psychologischen Probleme muß
die Poetik so ausführlich diskutieren,“ sagt Roetteken S. 3, „daß sie für diese Dinge den
Lernenden nicht noch weiter zu schicken braucht.“ Wenn nun auch sicherlich die psychologische
Analyse des künstlerischen Genusses in weiterem Umfang durchführbar ist als
eine Psychologie des dichterischen Schaffens, so vermag sie doch ebensowenig wie diese
die besonderen Leistungen der Poetik zu ersetzen oder auch nur zu begründen und erhellen.
Denn auch sie stößt auf viel zu viele irrationale Elemente des Seelenlebens, auf
viel zu viele halb und weniger als halb bewußte psychische Vorgänge, als daß es ihr
möglich sein sollte, die Bildungsgesetze und Erscheinungsformen der Poesie auch nur in
den Hauptzügen lückenlos abzuleiten und verständlich zu machen. Der weitaus größere
Teil der Untersuchungen Roettekens gehört daher in die allgemeine Ästhetik und erweist sich
für die Kunstlehre der Dichtung und ihre besonderen Probleme bis jetzt nicht eben ergiebig.
Ein abschließendes Urteil läßt sich natürlich erst nach dem Erscheinen des ganzen
Werkes fällen.
Indem die Poetik die Bestandteile,
die innere und äußere Struktur des Dichtwerks aufdeckt, ist sie Kunstlehre;
indem sie eben hiermit zugleich die Gesichtspunkte für das künstlerische
Verständnis vorzeichnet, wird sie Methodenlehre.
Methodischer Anleitung hat die Theorie der Dichtkunst von jeher
dienen wollen. Die systematischen Lehrbücher des 17. und 18. Jahrhunderts
wollten, wie wir im Eingang gesehen haben, geradezu Anweisung
zum Dichten und in zweiter Reihe zur Kritik geben. Die
psychologisch-historische Poetik, wie sie Scherer und Dilthey vorschwebt,
ist im wentlichen eine systematische Zusammenstellung der Gesichtspunkte
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und Probleme (Scherer sagt eine „Topik“) für die Literaturgeschichte.
Ein bescheideneres Ziel haben wir uns bei der Erneuerung der Lehre von
der Dichtkunst gesetzt: nur dem Verständnis der Dichtungen soll sie den
Weg vorzeichnen und somit in praktischer Hinsicht nichts anderes sein als
eine Methodenlehre für die künstlerische Interpretation.
Die Würdigung der Poetik in diesem Sinne hängt eng zusammen
mit der Wertung der künstlerischen Erklärung überhaupt. Wird diese letztere,
wie es in der modernen Literaturwissenschaft nicht selten geschieht, zugunsten
der genetischen Untersuchung der Dichtungen beiseite gesetzt, wird
sie wohl gar als elementare und unwissenschaftliche Tätigkeit aufs Gymnasium
und in die Schulliteratur verwiesen, so wird freilich auch der Poetik
als Anleitung zum künstlerischen Verständnisse kein wissenschaftlicher Wert
beigelegt werden. Aber daß hierin eine Einseitigkeit liegt, ergibt sich
mittelbar schon aus unseren bisherigen Betrachtungen. Gleichwohl wird es
notwendig sein, auf die methodologische Frage nach dem Verhältnis der
ästhetischen zur genetischen Erklärungsart etwas näher einzugehen.
„Den Entstehungsprozeß in der Seele des Autors erforschen“, nennt
Scherer in den Aufsätzen über Goethe (Berlin 1886 S. 17) „die höchste
Aufgabe einer jeden kunstmäßigen Interpretation.“ Die Entstehungsgeschichte
umfaßt naturgemäß zunächst die literarischen Anknüpfungen und
Vorbilder, die auf eine Dichtung eingewirkt haben. Als das Hauptmittel
aber, um ihre Aufgabe zu lösen, bezeichnet er ebenda S. 128 die Beziehung
zwischen biographischen Zügen und entsprechenden Einzelheiten
der Dichtungen. „Man kann in sorgfältiger und besonnener Aufsuchung
von Ähnlichkeiten in dem Leben und der Bildung eines Dichters einerseits
und in seinen Werken anderseits gar nicht weit genug gehen.“ Wenn man
die Literaturwissenschaft der Gegenwart, insbesondere die Goetheliteratur
verfolgt, so sieht man, welche Wirkung diese Fingerzeige und das entsprechende
Vorbild des genialen Lehrers auf seine Schule geübt haben:
ja, man sollte glauben, daß die Entstehungsgeschichte nicht nur die höchste,
sondern die einzige Erklärungsart sei, die ihren Namen verdient. Eine Dichtung
scheint nur dann, dann aber auch völlig verstanden zu sein, wenn
man weiß, aus welchen Erlebnissen des Dichters sie hervorgegangen ist.
Allein dem gegenüber erhebt sich nun doch die Frage, mit welchem
Rechte so geurteilt wird? Kommt dem Einblick in die Entstehungsgeschichte
eines Kunstwerks wirklich mehr Wert und Bedeutung zu als
dem hermeneutisch und ästhetisch begründeten Verständnis seines künstlerischen
Gehalts? oder fällt etwa beides zusammen? Das letztere ist
offenbar nicht der Fall. Die beiden Wege, die uns hier entgegentreten,
führen zu zwei verschiedenen Zielen und empfangen durch diese für sich
Richtung und Bedeutung.
Wir kennen diese Ziele schon. Es sind eben die, welche durch die
psychologische und die künstlerische Poetik bestimmt werden. Auf der
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einen Seite die psychologische Erkenntnis des dichterischen Schaffens, auf
der anderen Seite das ästhetische Verständnis des Kunstwerks.
Der ersteren entspricht die genetische Erklärung, der es vor allem
um die Persönlichkeit des Dichters zu tun ist. Sie faßt das Gedicht in
seiner Entstehung als ein innerliches Erlebnis des Dichters, als einen
Prozeß, in welchem seine Wesenseigentümlichkeit zutage tritt. Der Zusammenhang
zwischen diesem und den übrigen Erlebnissen des Dichters,
inneren und äußeren, ist für sie das Hauptproblem, und ihr Ziel ist erreicht,
wenn es ihr gelungen ist, die Bestandteile der Dichtung in den Komplex von
Anlagen, Zuständen und Funktionen einzureihen, die für uns die Gesamtpersönlichkeit
des Dichters darstellen. Daher bietet auch Goethe mit seinen
Schöpfungen das Lieblingsfeld für ihre Arbeit, weil es hier in der Tat
leichter und in weiterem Umfange möglich ist, diese Aufgabe zu lösen als
bei den meisten übrigen Dichtern der Weltliteratur. Man erklärt also den
Tasso, die Iphigenie oder das Lied an den Mond, indem man für die
einzelnen Motive, für die Personen, Zustände und Stimmungen die persönlichen
Beziehungen aufsucht, die sie mit dem Leben des Dichters verbinden,
und man will die Schwierigkeiten, welche das objektive Verständnis
dieser Dichtungen darbietet, heben, indem man auf Analogien im Leben
des Dichters hinweist. So wird etwa die Heilung des Orest durch das Verhältnis
Goethes zu Frau von Stein erklärt, die Krankheit Tassos durch die
Beziehung auf Lenz und ähnliches.
Kein Zweifel, daß das Ziel, das hier erstrebt wird, erstrebenswert ist.
So gewiß es der Mühe lohnt, einer großen schöpferischen Persönlichkeit
menschlich näher zu treten, indem man sie gleichsam von innen anschaut,
sie wissenschaftlich zu erkennen, indem man den Gesetzen ihres Seelenlebens
nachgeht, so gewiß ist es auch ein erstrebenswertes Ziel, den
Künstler im Kunstwerk zu suchen, und das Kunstwerk aus der Persönlichkeit
des Künstlers abzuleiten. Aber daneben gibt es noch eine völlig
andere, nicht minder berechtigte Art, sich der Dichtung zu nähern. Sie
faßt das Kunstwerk wie ein Stück Wirklichkeit, das seine Lebensgesetze
in sich selbst trägt und nach diesen Gesetzen erkannt und erklärt werden
soll. Dies ist es, was wir künstlerisches Verständnis nennen. Für dieses
Verständnis verschlägt es nichts, daß wir von den Liebesliedern der Sappho
nicht wissen, an wen sie gerichtet sind, von den Lebensumständen und
dem Charakter der Dichter des Parzival, des Tristan kaum das Alleräußerlichste
kennen. Und um die Heilung des Orest in diesem Sinne zu verstehen,
brauchen und wollen wir nicht auf die persönlichen Verhältnisse
Goethes zurückgreifen: was da auf der Bühne vor sich geht, ist ein Stück
Leben, das wir aus sich selbst verstehen müssen, wenn es anders Leben ist.
So stehen die Ziele deutlich und gesondert nebeneinander, sich gegenseitig
ergänzend zu einem wissenschaftlich-künstlerischen Gesamtverständnis
dichterischer Erscheinungen. In streng wissenschaftlichem Sinne hat die
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genetische Erklärung vielleicht die größere Tragweite: stimmt sie doch zusammen
mit der psychologisch und historisch gerichteten Ästhetik der
Gegenwart. Die ästhetische Interpretation steht dafür unmittelbar im Dienste
der Kunst und des künstlerischen Verständnisses, und unwürdig der Wissenschaft
ist ein solcher Dienst gewiß nicht, am wenigsten einer Wissenschaft,
die mit Recht den Anspruch darauf erhebt, Führerin und Lehrerin der
Nation zum Verständnis und zur Würdigung ihrer großen Dichter zu sein.
Nicht anders wie mit den Zielen verhält es sich mit den Methoden.
Auch sie sind scharf voneinander geschieden und gerade deshalb zur Ergänzung
aufeinander angewiesen.
Die genetische Erklärung ist in mehr als einem Sinne dem Verfahren
des Künstlers entgegengesetzt: sie löst in eine Vielheit heterogener Bestandteile
auf, was der Künstler als eine Einheit gesehen und als eine
Einheit geschaffen hat, und zeigt, wie jeder einzelne dieser Bestandteile in
den Erfahrungskreis des Dichters getreten ist und auf seine Phantasie einwirken
konnte. Zwischen Form und Inhalt macht sie in dieser Hinsicht
keinen Unterschied. Auch die Form erscheint ihr als ein Bestandteil der
Dichtung, der entweder von außen übernommen oder unter irgendwelchen
äußeren Einflüssen in der Seele des Dichters entstanden ist. ─ Wenn nun
ferner der Dichter das, was er innerlich oder äußerlich erlebt hat, in eine
solche Form faßt und eben hierdurch objektiviert, d. h. von seinem Innenleben
loslöst, so macht die genetische Methode auch diesen Weg in umgekehrter
Richtung. Sie sucht von der Dichtung aus in das Subjekt des
Dichters zurückzugelangen, für sie hat das Gedicht eben nur als psychisches
Erlebnis des Dichters Bedeutung. Endlich noch ein drittes: das Wesen
der Poesie ist es, das individuell Erlebte zu verallgemeinern, ins Typische
zu erheben, das Persönliche und Zufällige auszuscheiden; die biographische
Methode übersetzt aus dem Allgemeinen wieder ins Persönliche zurück.
Daß ihr zu alle dem das wissenschaftliche Recht zusteht, ist unbestreitbar.
Aber ebenso klar ist es auch, daß ihr Verfahren nur die eine Seite der
Sache zu bewältigen vermag und einer Ergänzung nach der andern dringend
bedarf.
Diese Ergänzung ist die ästhetische Methode. Sie sucht mit den
Augen des Dichters zu sehen und geht seinem Verfahren unmittelbar nach.
Sie faßt das Kunstwerk, wie es ihm vor der Seele schwebte, als ein fertiges
Stück Leben und Wirklichkeit. Nur dann, dann aber auch in allem Wesentlichen
glaubt sie ihn verstanden zu haben, wenn es ihr gelungen ist, die
Einheit seiner Schöpfung zu begreifen, zu zeigen, wie innerhalb derselben
alle Einzelheiten organisch voneinander und von der lebendigen Einheit des
Ganzen abhängen, wie die Form der Dichtung das Mittel ist, diese Einheit
zum Ausdruck zu bringen.
Die ästhetische Erklärung wird daher zunächst in den Einzelheiten,
wie sie uns im Gang einer Dichtung nacheinander entgegentreten, den
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einheitlichen Mittelpunkt aufsuchen, der das Ganze beherrscht, um dann
von dem so gewonnenen Standpunkt aus diese Einzelheiten in ihrem
Verhältnis zur Einheit des Ganzen zu erkennen. In der didaktischen
und literarischen Darstellung wird man freilich so gut wie niemals den
Doppelweg in seiner ganzen Länge zurücklegen. Wenn man bei der
Interpretation des einzelnen von vornherein den Gesamtzusammenhang
ins Auge gefaßt hat, so wird sich nicht erst am Schluß, sondern schon
im Verlauf der Einzelerklärung, bisweilen sehr früh, die Einheit mit
steigender Deutlichkeit enthüllen, auf die dann jeder Fortschritt der Dichtung
bezogen werden muß, so daß wir am Schlusse angelangt auch schon
das Ganze überschauen. So ist es z. B. in Goethes Tasso, wo gleich in
der ersten Szene mit der Schilderung, die Leonore „fein und zart“ von
dem Wesen des Dichters gibt, das Grundthema des Ganzen angeschlagen
wird, das sich dann in den folgenden Szenen und Akten immer deutlicher
entfaltet. Wenn wir dem Gange der Handlung folgend, begriffen haben,
daß dieses „Schauspiel“ die Ansätze zu einer das eigene Selbst zerstörenden
Entwicklung, die in jedem starken Phantasieleben und zumal im Geiste
des Dichters liegen, in ihren letzten Konsequenzen darstellt und eben damit
zur Tragik steigert, so wird uns hierdurch der Zusammenhang in allem
einzelnen verständlich. Insbesondere die Krankheit Tassos erscheint uns
in ihrer innerlichen Notwendigkeit, und über die Tragik des Abschlusses,
den Goethe äußerlich im Halbdunkel läßt, kann kein Zweifel sein. Damit
aber ist zugleich Form und Wesen der Tragödie gegeben, auch wenn
ihr der übliche äußere Schluß mit dem Untergang des Helden fehlt. ─
Didaktisch ist auch der umgekehrte Weg denkbar. Der Erklärer, der sich
zunächst die Grundanschauung des Ganzen bereits erworben hat, beginnt
von vornherein damit, diese an den entscheidenden Stellen der Dichtung
aufzuweisen, um sie dann durch den Gang der Erklärung im
einzelnen zu bestätigen. Auch dies Verfahren zeichnet ihm der Dichter
bisweilen vor, zumal in lehrhaften oder reflektierenden Dichtungen. Wie
denn Goethe in den „Grenzen der Menschheit“, noch deutlicher aber in
dem Gedichte „Das Göttliche“ den Grundgedanken an den Anfang stellt,
so daß alles folgende als Durchführung desselben erscheinen muß.
Voraussetzung für eine solche Interpretation, wenn sie anders stichhaltig
und fruchtbar sein soll, ist nun freilich, daß der Erklärer die Einzelheiten des
Inhalts und der Form beherrscht, daß er an jeder Stelle festzustellen vermag,
was der Dichter gewollt und gemeint hat, kurz, daß er mit philologischer
Genauigkeit und hermeneutischer Schärfe zu erklären vermag,
auch da, wo Beziehungen vorliegen, die der Dichter im Dunkel oder Halbdunkel
gelassen hat. Zu diesem Zweck ist es nötig, daß er mit der Geschichte
des Stoffes und der Form Bescheid weiß, und in bestimmten Fällen
erweist es sich als unumgänglich, daß er die rein persönlichen Beziehungen
kennt, die zwischen dem Dichter und seinen Darstellungen vorhanden sind:
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überall da nämlich, wo der Dichter selbst im Persönlichen geblieben ist,
entweder weil er es beabsichtigte, oder weil ihm jene Loslösung und Objektivation
des Kunstwerks, die Erhebung ins Allgemeine, nicht völlig
gelungen ist. Beides ist naturgemäß besonders oft in der Lyrik der Fall,
das erstere in Gelegenheitsgedichten, wie Goethes Ilmenau; das zweite
etwa in seiner Harzreise im Winter. Niemand kann diese Gedichte
zureichend erklären, wenn er ihre persönlichen Beziehungen nicht kennt,
und so wird man allerdings die Forderung aufstellen müssen, daß jeder,
der Dichtungen künstlerisch interpretieren will, ihre Entstehungsgeschichte
im weitesten Sinne des Wortes beherrscht.
Aber auch umgekehrt bleibt für den Literarhistoriker, der eine Dichtung
genetisch erklärt, ein umfassendes und eindringendes ästhetisches
Verständnis unbedingtes Erfordernis. Wo die genetische Methode einseitig
herrscht, da bleibt nicht nur die eine Hälfte der Gesamtaufgabe unerfüllt,
die Erklärung läuft auch Gefahr, auf Irrwege zu geraten und zu schiefen
oder falschen Ergebnissen zu gelangen. Der Blick für das Kunstwerk, wie
es abgeschlossen vorliegt, wird leicht getrübt, wenn der Erklärer das Auge
beständig auf die Entstehungsgeschichte gerichtet hält; und er überträgt
dann, was er hier findet, allzu leicht auf das, was dort vorliegt. Einen Irrtum
dieser Art habe ich im Goethejahrbuch 1905 ausführlicher behandelt. Es
ist die Auslegung, die Goethes Lied An den Mond in Bielschowskys
Goethebiographie und in Litzmanns Buch über „Goethes Lyrik“ gefunden
hat; ich habe schon oben (S. 32) die Entstehungsgeschichte dieses Gedichtes,
wie sie Bielschowsky schildert, mitgeteilt und erwähnt. Weil nun
aus dieser hervorgeht, daß in der ersten, von Goethe nicht veröffentlichten
Fassung die letzten Strophen aus der Seele der Frau von Stein heraus
gedacht und geschrieben sind, schließen beide Erklärer, daß dasselbe auch
von dem vollendeten Gedichte gelte. Bielschowsky stempelt es zum „Klagelied
einer vom Geliebten verlassenen Frau“. Und auch Litzmann verlangt,
daß der Erklärer die Frage aufwerfe, wer hier spreche, und er beantwortet
sie durch den Hinweis auf die Stein. Das Gedicht enthält „die Gedanken
einer Einsamen, freilich keiner Verlassenen“. Beide Erklärer also machen,
um den geschichtlich technischen Ausdruck zu gebrauchen, eine Art von
Frauenstrophe aus dem Gedicht, die nur aus Goethes Verhältnis zu Frau
von Stein richtig verstanden werden könne. Sie bedenken nicht, daß der
Dichter in der Umarbeitung und Abrundung seines ersten Entwurfs, zweifellos
aus einer künstlerischen Absicht heraus, jede persönliche Beziehung
verwischt hat, und daß in der abschließenden Fassung nichts vorliegt,
was auf einen irgendwie nach Geschlecht oder Persönlichkeit bestimmten
Sprecher hinweist. Will ein Dichter so verstanden werden, als ob er nicht
aus seinem eigenen Mund, sondern aus dem einer anderen Person, einer
Frau rede, so wird er das kenntlich machen, wie es vom Kürenberger
bis zu Chamisso noch alle Dichter von Frauenstrophen getan haben.
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Wenn er das nicht tut, so spricht er eben zunächst im eigenen Namen,
damit zugleich aber spricht er auch, und das ist das Wichtigste, im Namen
seines Lesers. Denn wie der Zuschauer im Drama mit dem Helden, so
soll der Leser oder Hörer eines Liedes mit dem Dichter ganz unmittelbar
mitempfinden. Das Ich des Dichters muß zum Ich des Hörers werden:
auf dieser Verschmelzung beruht jede lyrische Wirkung. Nirgends ist sie
in höherer Vollendung erreicht als in dem Gedichte An den Mond, ─ und
da sollen wir uns fragen, ob hier ein Mann oder eine Frau spricht?
Über diese und ähnliche Einzelheiten hinaus aber droht der genetischen
und ganz besonders der biographischen Erklärung eine allgemeinere Gefahr:
indem sie einseitig zeigt, wie das, was der Dichter erlebt und gesehen hat,
sich in seiner Dichtung widerspiegelt, kommt das formengebende Prinzip
der dichterischen Tätigkeit nicht zu seinem Rechte, und die Erklärung leistet
gar zu leicht der schiefen Auffassung, die bereits im fünften Abschnitt gekennzeichnet
wurde, Vorschub, als sei die dichterische Phantasie ein bloß
passives Medium, die Dichtung selbst ein rein assoziativer Prozeß, an
dem Wille und Kraftanspannung wenig oder keinen Anteil haben. Schon
aus diesem Grunde ist es nötig, daß die ästhetische Erklärung mit dem
steten Hinweis auf die absichtvolle Arbeit, mit welcher der Künstler gestaltet,
der genetischen zur Seite tritt.
Zwei Einwände erheben sich nun, geeignet, die Berechtigung, ja die
Möglichkeit der ästhetischen Erklärung beträchtlich einzuschränken, wenn
nicht ganz und gar zweifelhaft zu machen. Beide erfordern es, daß wir
kurz auf sie eingehen.
Die ästhetische Interpretation, so sagt man wohl, ist überflüssig, da
sie nichts lehren kann, was nicht in der Dichtung selbst schon liegt und
aus ihr heraus unmittelbar und vernehmlich zu uns redet; sie ist schädlich,
weil sie die Dichtung, die zum Gefühl und zur Phantasie sprechen will,
wie sie aus Phantasie und Gefühl heraus geboren ist, ins Verstandesmäßige
zieht und hierdurch den Irrtum erregt, als spräche der Dichter aus dem
Verstande und zum Verstande. Ein Kunstwerk zu rationalisieren sei unmöglich,
man nehme ihm eben hierdurch den künstlerischen Charakter.
Es scheint bisweilen, als ob die philologische Wissenschaft und die neueste
poetische Modeströmung hierin übereinkämen, wenn auch von einem verschiedenen
Ausgangspunkte aus. Die letztere will in der Kunst alles in
Gefühl und Stimmung auflösen; ihr widerstrebt das Verstandesmäßige als
solches. Aber auch Wilhelm Wackernagel und Rudolf von Raumer verwarfen
die „zerklärende“ Behandlung von Dichtwerken als überflüssig. Und
es ist wahrscheinlich, daß die Mißachtung, welche die heutige Literaturwissenschaft
der ästhetischen Erklärung entgegenbringt, mit dieser Anschauungsweise
in engem Zusammenhang steht.
Allein hierauf ist zunächst zu erwidern, daß die ästhetische Interpretation
das Gefühl und die Anschauung nicht verdrängen und ersetzen,
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sondern unterstützen und aufklären will. Sie wird und muß sich bewußt
bleiben, daß sie mit ihren verstandesmäßigen Betrachtungen den unendlichen
Lebensgehalt einer echten und großen Dichtung niemals erschöpft.
Aber eben darum findet sie immer erneute Arbeit vor. Solange eine solche
Dichtung in ihrem Volke, in der Menschheit lebendig ist und wirkt, werden
immer neue Generationen das Bedürfnis fühlen, sie von ihrem eigenen
Standpunkt aus zu verstehen und zu würdigen, die Verbindung zwischen
ihren Anschauungen und Lebensgefühlen und dem Inhalt jener Schöpfungen
herzustellen. Nur für wenige Generationen spricht der Dichter unmittelbar
verständlich. Ein Jahrhundert trennt uns heute von der Blütezeit des Klassizismus.
So wie in der Sprache, so ist auch in der Anschauungsweise
unserer großen Dichter mancherlei historisch geworden, und wir müssen
uns die Vergangenheit lebendig machen, um jene ganz zu verstehen. Aber
schon unter ihren Zeitgenossen waren ihre Schöpfungen nur für Auserlesene
im ganzen Umfang zugänglich. Es ist eben falsch, zu glauben, daß in
Dichtungen, wie sie unsere klassische Literatur hervorgebracht hat, nicht
auch sehr wesentlich verstandesmäßige Elemente steckten; nicht nur die
Gedankendichtungen im engeren Sinne, sondern die gesamten Schöpfungen
unserer großen Dichter von Lessing an sind durchzogen und getragen von
sehr bestimmten Ideen, von umfassenden und durch Denkarbeit begründeten
Welt- und Lebensanschauungen. Diese zu übermitteln, zu zeigen,
wie ihnen die großen dichterischen Intentionen unserer Klassiker entstammen
oder doch entsprechen, ist sicherlich eine Aufgabe nicht nur für die
Schule, sondern auch für die Wissenschaft.
Von weniger allgemeiner Tragweite, aber um so gewichtiger erscheint
ein zweites Bedenken: es gibt eine Anzahl Dichtungen, die sich der einheitlichen
Erklärung in unserem Sinne entziehen, weil sie von vornherein
gar nicht als Einheit gedacht sind: die Volksepen etwa und Goethes Faust.
Allein im Prinzip liegt die Sache doch auch hier nicht viel anders als bei den
weniger umfangreichen Dichtungen, die vom Künstler aus einer Intention
heraus entworfen und geschaffen sind, und es lassen sich mit Leichtigkeit
eine Anzahl von Zwischengliedern feststellen, die den Übergang herstellen.
Bei Goethes Werther, bei Schillers Wallenstein wird man allerdings die
Einheit der dichterischen Absicht, den organischen Zusammenhang des
Ganzen niemals in Frage ziehen. Aber schon Werke wie der Tasso, der
Egmont bahnen den Übergang an. Bei dem ersteren wissen, bei dem
letzteren vermuten wir, daß die Dichtung ursprünglich nicht in demselben
Sinne entworfen ist, wie sie beendet ward. Im Laufe der Jahre also ist
eine andere Intuition des Dichters und dementsprechend eine andere Intention
an die Stelle der ursprünglichen getreten. Aber es kann nicht zweifelhaft
sein, daß diese neue Anschauung und Absicht in sich ebenso einheitlich
und in sich geschlossen ist wie jene, und daß der Dichter, als er
seinem Drama die endgültige Form gab, eben seine letzte Gesamtanschauung
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verwirklichen wollte, daß er die Bestandteile der ursprünglichen Dichtung
dazu entsprechend umgearbeitet oder doch mit den späteren verknüpft
hat. Diese letzte und abschließende Intention ist es, die dem objektiv vorliegenden
Gedicht die Einheit gibt und die dementsprechend den Gegenstand
der künstlerischen Erklärung bildet. Wenn hier und da Spuren des
zeitlich verschiedenen Ursprungs wider Willen des Dichters zurückgeblieben
sein sollten, so würde die Erklärung freilich genötigt sein, darauf hinzuweisen;
an solchen Stellen also würde die genetische Erklärung die
künstlerische ersetzen müssen. Allein es wird das offenbar nur ausnahmsweise
der Fall sein. In den genannten beiden Goetheschen Werken findet
sich m. E. keine Spur davon; und es ist verfehlt, wenn man, sobald sich
irgendwelche sachliche Schwierigkeiten darbieten, immer gleich bereit ist,
einen Widerspruch anzuerkennen und ihn auf die zeitliche Verschiedenheit
des Ursprungs zurückzuführen, wie das z. B. manche Erklärer gegenüber
dem freilich nicht einfachen Charakterbild des Antonio tun. Man versperrt
sich hierdurch geradezu den Weg zum künstlerischen Verständnis der
Dichtung oder, was dasselbe sagen will, der abschließenden Intention
des Dichters. Niemals hat ein großer Künstler in einem seiner Werke
Schichten aus verschiedenen Zeiten einfach übereinander gelegt, oder die
Nähte so grob geführt, daß man sie als solche ohne weiteres zu sehen
vermag.
Der Faust bildet nun freilich eine Ausnahme. Diese Dichtung ist
das Werk eines ganzen langen und reichen Lebens. Eine das Ganze
umfassende Gesamtanschauung ist dem Dichter bekanntlich erst sehr allmählich
zustande gekommen; große Teile des Werkes sind unabhängig
von dieser Anschauung geschaffen und veröffentlicht worden. Und doch
wissen wir aus dem eigenen Zeugnis des Dichters, daß er beim Abschluß
des Werkes überzeugt war, es zu einer Einheit zusammengeschlossen, ja,
den zweiten Teil wenigstens aus einer Konzeption heraus geschrieben zu
haben,1) und hieraus erwächst dem Erklärer die Verpflichtung, dieser Einheit
nachzugeben, soweit sie sich irgend durchführen läßt, ohne den Einzelheiten
Gewalt anzutun. Allerdings ist diese Aufgabe nur zum Teil erfüllbar.
Für die Bedeutung ganzer Szenen und Abschnitte sowohl, wie für eine
große Anzahl einzelner Wendungen und Gedanken wird man davon absehen
müssen, sie aus dem Zusammenhang des Ganzen verstehen zu wollen.
Viele Teile des Werks leben ihr eigenes Leben. Die Helena, die klassische
Walpurgisnacht und so manche andere Abschnitte verdanken ihren Gehalt
nicht dem lockeren Zusammenhang, der sie mit der Gesamtdichtung verbindet,
sondern sind durch diesen nur eben angeregte eigne Schöpfungen.
Im Faust also wird die genetische Erklärung ganz besonders oft der ästhetischen
Vgl. Pniower, Goethes Faust. Zeugnisse und Exkurse zu seiner Entstehungsgeschichte.
Berlin 1899. S. 267 ff. (besonders den Brief an Heinrich Meyer) und 295 (an
Wilhelm v. Humboldt).
zu Hilfe kommen müssen, und der Interpret darf hier den Literarhistoriker
niemals aus den Augen verlieren. Aber auch das Umgekehrte
ist notwendig, wie Scherers Beurteilung des ersten Faustmonologs (Aufsätze
über Goethe S. 309 ff.) zeigt, die durch Erich Schmidts Herausgabe des
Urfaust gründlich widerlegt ist. Auch was äußerlich zu verschiedenen
Zeiten entstanden ist, kann aus einer einheitlichen Anschauung und Absicht
heraus entstanden sein, und ein prinzipielles und allzu scharfsinniges Suchen
nach Diskrepanzen und Nähten, eine Auflösung in hypothetische Grundbestandteile
führen nur gar zu leicht in die Irre.
Eine weitere Übergangsstufe bildet der Fall, daß der Dichter das
Werk eines früheren überarbeitet, wie das in den Werken der mittelhochdeutschen
Epiker und in mehreren Shakespeareschen Dramen geschehen ist.
Hier ist zweierlei möglich: die Arbeit des Erneuerers beschränkt sich entweder
darauf, die ursprünglichen Intentionen deutlicher zu machen und
reicher auszugestalten, oder er benutzt das Vorhandene nur gleichsam als
halb behauenen Rohstoff, um ihm seine eigenen Intentionen aufzudrücken.
Der erste Fall ─ Hartmanns Iwein und die übrigen epischen Nachdichtungen
des 12. Jahrhunderts veranschaulichen ihn ─ bietet überhaupt keine
Schwierigkeiten. Im zweiten ist es offenbar eben die neue Intention, die
dem Gesamtwerk die Einheit gibt und aus der heraus es verstanden und
erklärt werden will. Wo die Nachdichtung vollständig gelungen ist, wie
z. B. in Shakespeares Hamlet, da muß auch die künstlerische Erklärung
im ganzen Umfange möglich sein. Wo es der jüngere Dichter nicht vermocht
hat, allen Einzelheiten den Stempel seiner eigenen Intentionen aufzudrücken,
da wird auch hier wieder die genetische Erklärung der künstlerischen
zu Hilfe kommen müssen.
Im wesentlichen ebenso verhält es sich mit den Volksepen. Auch
hier kommt es auf die abschließende Intention an, aus der die Einheit des
Gesamtgedichts hervorgeht; dieser hat die Interpretation die Erklärung des
einzelnen unterzuordnen. Daß diese Einheit eine zufällige oder daß sie
aus dem Instinkt der „träumenden Volksseele“ hervorgegangen sei, glaubt
heute niemand mehr, also muß sie von dem Dichter und Vollender beabsichtigt,
ihm klar bewußt gewesen sein. Dem künstlerischen Plan, der
hieraus entsprang, hat er das, was er vorfand, ebenso eingeordnet wie das,
was er selbst etwa hinzudichtete. Diesem Plan also gilt es auch hier nachzugehen,
um die organische Ordnung des Ganzen zu erfassen. Nun ist
allerdings in allen Volksepen eine mehr oder weniger große Anzahl unorganischer
Bestandteile mit aufgenommen und überliefert worden, in der
Ilias und der Gudrun bekanntlich mehr als in der Odyssee und dem Nibelungenlied,
allein auch in diesen immerhin genug. Hier ist denn wiederum
die Aufgabe der historischen Untersuchung, die genetische Erklärung dessen
zu liefern, was künstlerisch nicht erklärt werden kann, und es ist zweifellos,
daß ein großer Teil der Gesamtbehandlung unter diese Aufgabe fallen
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wird. Aber es zeigt sich doch auch hier wiederum, daß, wo die einheitliche
Intention grundsätzlich aus dem Auge gelassen wird, wie das in Lachmanns
Untersuchungen über die Ilias und das Nibelungenlied geschah, auch
die genetische Erklärung leicht auf schiefe Wege und zu falschen Ergebnissen
führt.
So bestätigt sich denn auch hier, daß die beiden Weisen der Interpretation
aufeinander angewiesen sind, und daß die ästhetische Erklärung wissenschaftlich
nicht weniger berechtigt und notwendig ist als die genetische.
Von besonderer Wichtigkeit ist, um zum Schluß auch hierauf hinzuweisen,
das Verhältnis beider Erklärungsweisen für den deutschen Unterricht,
besonders in den oberen Klassen. Die Grundlage für das Verständnis
der gelesenen Dichtungen wird hier stets die sachliche und künstlerische
Interpretation bleiben müssen, und die Grundzüge wissenschaftlicher
Hermeneutik zeichnen ─ hierin liegt ein nicht geringer Teil ihrer
Bedeutung ─ stets auch den Gang der didaktischen Überlieferung vor.
Ist aber durch das ästhetische Verständnis eine feste Grundlage gelegt, so
wird nun hieraus eine genetische Einsicht gewonnen werden können, indem
der Unterricht, was bisher im einzelnen behandelt worden ist, nunmehr
zusammenfaßt und in biographische und geschichtliche Zusammenhänge
bringt, und damit wird der Schüler auch das einzelne in neuem
klärenden Lichte sehen. So folgen hier naturgemäß die beiden Arten der
Erklärung als zwei Unterrichtsziele, zwei Stufen des Verständnisses auf und
auseinander. Allein ich muß mich an dieser Stelle eines näheren Eingehens
auf die didaktische Seite der Sache enthalten, einmal weil sie bereits in
diesem Handbuch ausführlich behandelt ist, und zweitens weil ich das,
was ich darüber zu sagen hätte, schon vor Jahren in meinem Buche über
den deutschen Unterricht gesagt habe.
Von der Poetik erwartete man früher nicht sowohl Einführung in das
Verständnis der Dichtung, wie Anleitung zur Kritik. Man suchte durch
sie einen Maßstab zu gewinnen, nach dem die echte Kunst von der
falschen, das Wertvolle von dem äußerlich Wirksamen, aber Nichtigen,
im ganzen und im einzelnen mit Sicherheit unterschieden werden könnte.
Das hat dereinst die Kunstlehre unserer Klassiker geleistet, und wir
haben im zweiten Abschnitt gesehen, warum sie es leisten konnte.
Diese Kunstlehre war Bestandteil einer umfassenden moralisch-ästhetischen
Welt- und Lebensanschauung, die für ihre Ideale den Anspruch auf unbedingte
Geltung erhob und in der Poesie ihren höchsten Ausdruck sah.
Eben deshalb aber konnte sie nur diejenigen poetischen Richtungen und
Schöpfungen als wertvoll anerkennen, die der Form wie dem Inhalt nach
diesen Idealen entsprachen.
Analoge Erscheinungen finden wir in dem klassischen Zeitalter der
französischen Dichtung, ja, wir finden sie bereits im hellenischen Kunstleben.
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Charakteristisch ist die Art, wie Aristophanes den Euripides bekämpft
und verurteilt; der innere Zusammenhang zwischen den Fröschen
und den Wolken des großen Satirikers liegt deutlich zutage. In der neuen
Kunst sieht er den Ausdruck eines neuen Zeitalters und seiner Gesinnung,
wie ihm die Dichtung des Äschylos die untergegangene große Epoche
Athens verkörpert. Im Athen des 5., wie im Paris des 17. und 18. Jahrhunderts
freilich wird die Einseitigkeit des künstlerischen Ideals und der
kritischen Wertung verstärkt durch nationale Geschmacksrichtungen und
technische Konventionen, wie sie unseren Klassikern fremd waren; aber
das Entscheidende ist doch, daß die Überlieferung nicht bloß äußerlicher
Natur war, sondern einer ganz bestimmten, ihrem Zeitalter angehörenden
Welt- und Wertanschauung entsprang.
Und hier liegt nun der eigentliche und letzte Grund, warum wir nicht
zu jenem Standpunkt oder einem ihm verwandten zurückkehren können,
warum eine wertende und normgebende Poetik im Sinne unserer Klassiker
heute unmöglich ist. Die Poesie der Gegenwart trägt keinen einheitlich bestimmten
Charakter; sie ist nicht mehr der Ausdruck einer einheitlichen
Weltanschauung, sondern fließt aus verschiedenen, ja entgegengesetzten
Lebensauffassungen, die mit gleicher Notwendigkeit und gleicher Berechtigung
nach künstlerischem Ausdruck suchen und diesen naturgemäß in ebenso
verschiedenen Stilrichtungen finden. Dasselbe Publikum wird heute von
dem herben Realismus Ibsenscher Menschendarstellung erschüttert und
morgen von dem leidenschaftlichen Überschwang und der phantastischen
Größe Richard Wagnerscher Heroengestalten hingerissen. Ja, ein und derselbe
Dichter schildert heute mit den stärksten Farben der Wirklichkeit und
mit der Technik des ausgesprochensten Naturalismus die soziale Bewegung
der verhungernden Weber, um uns morgen phantastische Märchengestalten
in den Formen romantischer Dichtung vorzugaukeln. Mag man in diesem
bunten Wechsel künstlerischen Reichtum bewundern, mag man Schwäche
und Unsicherheit darin tadeln, an der Tatsache selbst ist nicht zu zweifeln,
daß die schöpferischen Geister unserer Zeit in verschiedenen Richtungen
gehen, und woher könnten wir das Recht oder den Mut nehmen, eine
von diesen als die richtige, die andere als falsch zu bezeichnen? Vielleicht
daß das Lebenskräftige und Echte, was neben manchem Schwächlichen
und Gemachten in den verschiedenen Richtungen steckt, sich im Laufe
der nächsten Menschenalter zu einer höheren Einheit zusammenschließen
und eine neue, in sich abgerundete Kunst als den Ausdruck einer neuen
und einheitlichen Lebensanschauung hervorbringen wird; mancherlei Anzeichen
deuten auf eine solche Entwicklung hin. Dann würde aus dem
Ideal der neuen Kunst auch wieder eine neue Art der Wertung hervorgehen.
Aber auch dann wird die wissenschaftliche Poetik, nachdem sie
einmal induktive und psychologische Betrachtungsart geworden ist, niemals
wieder einseitig an den Gesetzen und Normen der neuen Kunst die Erscheinungen
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der Weltliteratur oder auch nur die der deutschen Dichtung
messen und bewerten können. Sie würde stets genötigt sein, auch andere
Ideale und Richtungen als die des eigenen Zeitalters zu verstehen und
anzuerkennen.
Und so müßte die Poetik gänzlich darauf verzichten, Werturteile festzustellen,
zwischen echter Poesie und Afterkunst, zwischen Geschmack und
Ungeschmack zu scheiden? Sie müßte das Bedürfnis, das ihr von den
Dichtern selbst wie vom Publikum entgegengebracht wird, das Bedürfnis
nach Sicherung und Begründung der Kritik, unbefriedigt, ja unberücksichtigt
lassen? Sie müßte sich darauf beschränken, das, was ist oder gewesen
ist, in seiner Eigenart zu erkennen, und dürfte auf das, was sein
soll, keinerlei Einfluß in Anspruch nehmen? Aber sollte nicht etwa das
Verständnis einer geistigen Eigenart, beabsichtigt oder nicht, stets eine gewisse
Abschätzung dieser Eigenart in sich schließen? Man kann ein dichterisches
Werk nicht näher betrachten, geschweige denn tiefer in dasselbe
eindringen, ohne entschieden angezogen oder abgestoßen zu werden: sollte
das subjektive Werturteil, das zunächst gefühlsmäßig entsteht, wirklich in
keiner Weise objektiv zu begründen sein, wenn es nicht von oben herab
aus allgemeinen und vorhergefaßten Prinzipien deduziert wird? Liegt nicht
schon in der Tatsache dieser persönlichen Wirkung und Wertung ein Ansatz,
der zu einem objektiven Werturteil erweitert und entwickelt werden
kann, auch wenn es kein, im metaphysischen Sinne absolut gültiges Urteil
sein sollte?
In der Tat ein Moment dieser Art, und zwar ein entscheidendes, ergibt
sich aus unseren bisherigen Betrachtungen. Wir wissen, daß nach dem
Ausdruck Schillers „jedem Dichter eine dunkle, aber mächtige Totalidee vorschwebt“,
wir sagen gewöhnlich kurz: eine Intention. Diese Intention will
er verwirklichen, d. h. er will mit den Mitteln seiner Kunst den Hörer oder
Zuschauer zwingen, was er darstellt, als Wirklichkeit zu betrachten und zu
erleben, ─ sei es, daß er uns nötigt, seine lyrisch ausgesprochenen Gefühle
und Gedanken zu unseren eigenen zu machen, sei es, daß er uns
von der Bühne herab die Illusion erweckt, durch die wir das, was wir
sehen, mit zu erleben glauben. Kurz, wenn Dilthey einmal das Erlebnis
des Dichters als den Ausgangspunkt jeder künstlerischen Schöpfung bezeichnet,
so bildet das Erlebnis des Lesers oder Zuschauers den Gegenpol
und Endpunkt des dichterischen Prozesses, und man kann das allgemeine
Wesen des dichterischen Schaffens sehr wohl dahin formulieren: es beruht
auf der Absicht des Dichters, ein eigenes inneres Erlebnis zum Erlebnis
seiner Hörer zu machen. Hieraus ergibt sich als entscheidende Frage für
den Wert einer Dichtung, ob der Dichter vermocht hat, diese Wirkung zu
erreichen, seine Intentionen zu verwirklichen.
Betrachten wir die Gesichtspunkte näher, die sich aus dieser Fragestellung
ergeben. Die Trägerin jeder künstlerischen Wirkung ist die Phantasie
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des Hörers. Auf diese will der Dichter übertragen, was er in der
eigenen Phantasie erlebt hat. Die Phantasie aber wird bekanntlich vor
allem durch die irrationalen Zustände des Seelenlebens, durch Gefühle und
Empfindungen angeregt, weit stärker als durch verstandesmäßig faßliche
Eindrücke und Gedankenreihen. Daher ist die Stimmung das Element,
das alle künstlerische Wirkung vermittelt und allein möglich macht. Die
Stimmung hervorzurufen, aus der heraus seine Schöpfungen glaubhaft und
lebendig werden, ist bewußt oder unbewußt das erste Absehen jedes Dichters.
Hierzu dient die innere Eigenart seiner Sprache, die Bilder, in denen
sie sich bewegt und die sie wachruft; hierzu vor allem aber auch die
musikalischen Elemente seiner Kunst, Wortklang und Rhythmus; ja, zu
diesem Zweck ruft er die Musik selber zu Hilfe, sei es als Vertonung
oder Begleitung seiner Worte, sei es als Vorspiel und Zwischenaktsmusik
in der dramatischen Aufführung. In einem nicht geringen Teilgebiet der
Dichtung, nämlich in der ganzen eigentlichen Gefühlslyrik, ist die Stimmung
nicht nur der erste, sondern zugleich auch der letzte Zweck des
Dichters: der Lyriker will uns eben seine Stimmungen und Empfindungen
erleben lassen. Für den epischen aber und besonders für den dramatischen
Dichter ist sie nur das Medium, in dem seine Gestalten erwachsen und
sich bewegen; dem verstandesmäßig faßbaren Erlebnis gilt hier die eigentliche
Intention des Dichters. Aber auch hier ist die Phantasie und nicht
der Verstand das tragende Element; auch hier zeigt sich die ursprüngliche
Kraft des Künstlers zunächst in der Gewalt, mit der er uns in die Stimmungen
und in die Gefühlswelt hineinzwingt, in der seine Menschen leben
und handeln. Diese Handlungen wirken wiederum auf die Stimmung der
Zuschauer zurück; ein echtes Kunstwerk will niemals bloß unseren Verstand
befriedigen. Dennoch treten im Drama und Epos neue Bedingungen
rationaler Natur auf, ohne welche die Absicht des Dichters nicht erreicht
werden kann: faßbare Bestimmtheit der Anschauung, Folgerichtigkeit der
Entwicklung und, wenigstens innerhalb gewisser Grenzen, Übereinstimmung
mit der äußeren Wirklichkeit. Ja, die Stimmung selbst wird zerstört und
kann nicht aufkommen, wo diese Forderungen nicht erfüllt werden, wo
uns Widersprüche und Verschwommenheiten entgegentreten.
Die genannten Bedingungen sind nicht alle gleich wesentlich; man
möchte sagen, je ausschließlicher verstandesmäßig sie sind, desto mehr
tritt ihre Bedeutung zurück. Am wenigsten darf man das Rationale der
äußeren Gestaltung überschätzen, wie das z. B. die Theorie und Technik
der klassischen Tragödie der Franzosen getan hat: die Phantasietätigkeit
wird um nichts gefördert noch erleichtert, wenn man den Verlauf einer
Handlung nach Stunden berechnen kann und wenn die Illusion, die das
Theater in den Schauplatz wirklichen Geschehens verwandeln muß, sich
nur auf einen solchen Schauplatz erstreckt. Aber auch die Übereinstimmung
mit der äußeren Wirklichkeit des Lebens ist von geringerem
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Wert, als man denken sollte. Da freilich, wo der Dichter eben diese
Wirklichkeit darstellen will, also in der naturalistischen oder auch realistischen
Kunst, darf er nicht in Widerspruch mit ihr kommen, denn er kommt dadurch
zugleich in Widerspruch mit sich selbst. Wen aber kümmert es,
ja wer bemerkt es auch nur, daß in Goethes Tasso wie in Kleists Prinzen
von Homburg fast alle üblichen höfischen Formen aus dem Verkehr der
Personen weggelassen sind und selbst im Verkehr mit den Fürsten nur
das Du angewandt ist? Im Märchen vollends vermag der Dichter eine
Welt zu schaffen, in der alles äußere Geschehen von der Wirklichkeit
gänzlich abweicht, und doch zwingt er uns, sie zu glauben, wenn
er es nur vermag, die Stimmung in uns zu erwecken, aus der sie
glaublich wird und sie in sich selbst anschaulich und übereinstimmend zu
gestalten.
Weit wichtiger als die äußerliche ist die innere Übereinstimmung, die
Folgerichtigkeit der Handlung und der Charakteristik. Jede Abbiegung von der
ursprünglichen Intention, jeder Bruch in der Charakterentfaltung rächt sich unerbittlich:
wie sie selbst Zeichen von Schwäche der gestaltenden Phantasie des
Dichters sind, so schwächen sie die Kraft der Wirkung, die von dem Dichtwerk
ausgeht, weil sie das Zwingende aufheben, in dem das Wesen der
Wirkung liegt. Dies zeigt sich z. B. auffallend in den meisten Wildenbruchschen
Dramen, besonders deutlich in dem Neuen Gebot, sowie in dem sonst
vielfach trefflichen Heinrich und Heinrichs Geschlecht: die Wirkung,
welche der Verlauf dieser Tragödien ausübt, bleibt trotz den gesteigerten theatralischen
Mitteln hinter dem Eindruck der ersten Akte zurück, weil sie ─ vielleicht
eben der Bühnenwirkung zuliebe ─ nicht folgerichtig durchgeführt
sind. In noch stärkerem Maße zeigt sich das in einem Bühnenstück wie Beer-
Hoffmanns Grafen von Charolais, der vor kurzem im Sturm die deutschen
Bühnen eroberte, aber sich, wie es scheint, auf keiner erhalten hat. Hier ist allerdings
die Diskrepanz zwischen den beiden Schlußakten und den drei ersten
so grob und unvermittelt, daß dem Drama dadurch, trotz unbestreitbarer
Schönheiten in den Anfangsteilen, der Charakter eines Kunstwerks genommen
wird. Allerdings scheinen jene plötzlichen Bekehrungen von Toren oder
Bösewichtern, wie sie am Schlusse von Lustspielen und Rührstücken von
jeher üblich waren und noch sind, die Wirkung solcher Stücke zu steigern.
Selbst Shakespeare hat in manchen seiner Lustspiele dieses Mittel angewandt
und Schiller hat es sich am Schluß von Kabale und Liebe gestattet,
um der poetischen Gerechtigkeit Genüge zu leisten. Die Neigung
des Theaterpublikums, die dem Rührenden und Versöhnlichen entgegenzukommen
pflegt, und der fallende Vorhang, der eine breitere Ausmalung
und weitere Besinnung verhindert, helfen darüber hinweg: aber solche
Mittel sind ein für allemal psychologisch unwahr, daher werden sie dem
tiefer Betrachtenden die künstlerische Wirkung niemals erhöhen, oft genug
stören oder gar zerstören.
Aber Widerspruchslosigkeit und innere Übereinstimmung ist doch
mehr eine Forderung negativen Inhalts. Die positive Grundlage der dichterischen
Wirkung im Epos und im Drama ist immer die, daß der
Dichter, der uns eine gegenständliche Welt, Menschen und Handlungen
schaffen will, sie mit bildender Kraft anschaulich zu machen vermag,
anschaulich nach ihren äußeren Verhältnissen, noch mehr aber in der
Lebendigkeit des seelischen Geschehens. Worauf diese Kraft der Veranschaulichung
beruht, darüber können uns im einzelnen erst die folgenden
Untersuchungen belehren; so viel aber wird man immerhin vorgreifend
sagen können, es ist erstens die Gabe des inneren Schauens und der lebendig
gestaltenden Phantasie und zweitens das sprachschöpferische Vermögen,
die Fähigkeit, das innere Erlebnis in Worten zum Ausdruck zu bringen, wodurch
der Dichter unsere Phantasie zwingt, zu sehen und zu gestalten,
was er gesehen und gestaltet hat. Hier ist der Brennpunkt seiner schöpferischen
Kraft und hier liegen auch die stärksten Unterschiede im Können,
hier scheidet sich am deutlichsten der Genius von dem bloßen Talent. Er
zwingt uns, an seine Welt und ihre Gesetze, an die Absichten und Taten
seiner Menschen zu glauben, auch da, wo unser Verstand widerstreben
möchte, während uns ein schwächerer Bildner auch da nicht immer überzeugt,
wo wir verstandesmäßig zugeben müssen, daß er das Richtige getroffen
hat. Ein rationalistisch gebildetes, von allem Wunderglauben freies
Publikum vermag er in die Welt der Wunder und Gespenster zu versetzen,
nicht weil, wie Lessing in der Dramaturgie meinte, der Samen, sie zu
glauben, in uns allen läge, sondern weil sie wirklich sind, in seiner Phantasie
nämlich und in der unseren, die er beherrscht, weil er sie erlebt und
gesehen hat und daher auch uns zwingt, sie zu sehen. Mit Macbeth erblicken
wir schaudernd, wie der tote Banquo die blutgen Locken schüttelt.
Solange wir den Geist von Hamlets Vater reden hören, glauben wir an
Hölle und Fegefeuer, an „die Stunde, wo Grüfte gähnen und Gespenster
schreiten“, nicht minder wie an die sehr lebenstreue Schilderung des Hofgesindes
und seines wurmstichigen Königs. Wir nehmen die Erscheinung
des Erdgeists im Faust ebenso widerspruchslos auf, wie die realistische
Schilderung der zechenden Studenten; und Schiller, dessen starke Seite
das Überirdische sonst nicht ist, zwingt uns durch die Worte des Gebets
seiner Jungfrau mit einer Suggestionskraft ohnegleichen, das Wunder mit
seiner Heldin zu erwarten, zu fordern, und als es eintritt, natürlich zu finden.
Aber wie kalt lassen uns schon die meisten Geistererscheinungen im zweiten
Teil des Faust, den der Dichter mit absterbender Gestaltungskraft geschaffen.
Wie herrscht z. B. in der Grablegungsszene so gar nichts von dem Grauen
der mittelalterlichen Legende, die sie verkörpert, ─ über die zum Glück
spärlichen Versuche dieser Art bei neueren Dichtern gar nicht zu reden.
Und ein entsprechender Unterschied der dichterischen Kraft und ihrer
Wirkung zeigt sich, auch wenn die Dichtung sich ganz auf einheitlichem
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realistischem Boden bewegt. Über wie viele äußere und innere Unwahrscheinlichkeiten
werden wir durch die hinreißende Gewalt der Handlung
in Schillers Kabale und Liebe hinweggetäuscht. Dahingegen regt
sich etwa in Hebbels Maria Magdalena, wo zwar der Held, der Meister
Anton, mit genialer Anschauung gesehen, die Handlung aber, wenn auch
mit klügster Berechnung, erdacht ist, gegen das Tun und Lassen der
meisten Personen fast beständig ein leiser innerer Widerspruch, obwohl
wir bei genauerer Überlegung überall zugeben müssen, daß es keinen Punkt
in dem Drama gibt, der an sich unmöglich wäre oder aus der Idee des
Ganzen nicht folgerichtig entspränge. Etwas Ähnliches ist am Schluß der
Emilia Galotti der Fall, welchem, soweit die Handlungsweise des Odoardo
in Frage kommt, das Zwingende fehlt, obschon der Dichter jeden Zug
dieses Charakters wie seiner Lage in der scharfsinnigsten Weise auf diesen
Schluß hin berechnet hat.
Man sieht, auf dem Gebiete der Kunst ist das, was man als möglich
oder unmöglich bezeichnen kann, nicht durch eine absolute Grenze
zu scheiden. Gleichwohl gibt es Schranken, die auch dem Genius gesteckt
sind. Mindestens einer Bedingung muß auch er sich unterwerfen: seine
Intentionen müssen überhaupt durchführbar und sie müssen mit künstlerischen
Mitteln durchführbar sein. Schwebt ihm etwas in künstlerischer
oder inhaltlicher Hinsicht Unmögliches vor, so ist es klar, daß die Ausführung
hinter der Absicht zurückbleiben muß und ein vollkommenes
Kunstwerk nicht entstehen kann. Inhaltlich, d. h. soviel wie psychologisch
unmöglich, ist alles, was den Grundbedingungen der menschlichen
Natur und besonders des Willenslebens widerspricht; so z. B. jene
plötzlichen Bekehrungen von Toren oder Bösewichtern, von denen oben
die Rede war. Wenn Schiller der sittlichen Idee zuliebe, die er zur Anschauung
bringen will, seinen Max, seine Thekla gegen die menschliche
Natur sich entscheiden und handeln läßt, so vermag er das nicht glaubhaft
noch anschaulich zu machen und er schädigt selbst die Wirkung dieser
Gestalten. Und in der berühmten Werbeszene Richards III. am Sarge König
Heinrichs zeigt sich, daß auch Shakespeare bisweilen etwas gewollt hat,
was er nicht durchführen konnte, weil es den Bedingungen der Menschennatur
widerspricht.
Und ebenso verhält es sich mit den rein künstlerischen Bedingungen
der Wirkung. Schillers gewaltige Geisteskraft vermochte in einem
Gedichte wie „Das Ideal und das Leben“ abstrakte Gedankenmassen, die
bei jedem anderen blutleer und verstandesmäßig hätten bleiben müssen,
mit Wärme und Leben zu erfüllen und zum tief wirkenden Kunstwerk zu
gestalten. Allein das geplante Gegenstück „Die Vermählung des Herakles“
vermochte er nicht auszuführen. „Denken Sie sich den Genuß,“ hatte er
an Humboldt geschrieben, „in einer poetischen Darstellung alles Sterbliche
ausgelöscht, lauter Licht, lauter Freiheit, lauter Vermögen. ─ Keine Schatten,
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keine Schranken ─ von Dem allen nichts mehr zu sehen.“ Aber er
wußte wohl, warum er die Ausführung unterließ: kein größeres Gedicht vermag
der Kontraste zu entbehren, die ein für allemal einen der notwendigsten
Bestandteile aller künstlerischen Wirkung bilden; auch die glanzvolle
Schlußapotheose des Faust würde jeden tieferen Eindruck verfehlen,
wenn uns nicht durch das Gebet der Büßerinnen und besonders durch die
rührenden Worte Gretchens der Gegensatz der einstigen Not zur jetzigen
Seligkeit vor Augen träte.
Die entgegengesetzte Schranke findet die Kunst des Dichters in der
Wiedergabe des physisch Abstoßenden und Widerwärtigen. Schon Moses
Mendelssohn und ihm folgend Lessing im Laokoon suchten im Begriff des
Ekelhaften eine solche Schranke festzustellen. Aber dieser Begriff ist, bei
Lessing wenigstens, nicht scharf genug von dem allgemeineren des Häßlichen
geschieden. War sich doch Lessing auch über die Berechtigung
des Häßlichen in der Kunst nicht völlig klar und selbst in der Dichtung
will er sie nur zu sehr beschränkten Zwecken gelten lassen. Für uns
Heutige unterliegt es keinem Zweifel, daß die Poesie wie die Malerei,
wenn sie charakterisieren und lebendig gestalten will, das Häßliche nicht
entbehren kann. Aber es ist auch klar, wo seine Verwendung ihre Grenzen
hat, nämlich überall da, wo es psychologisch abstoßend wirkt und unsere
Nerven in einer Weise erregt, die statt der Versenkung in das Kunstwerk
notwendig die Aufmerksamkeit auf unsere eigenen körperlichen Zustände
lenkt. Freilich die Nerven der Menschen sind verschieden, und hier zeigt
sich im Laufe der Kulturentwicklung ein Wandel in der Art der Empfänglichkeit:
kräftigere und rohere Geschlechter vertragen mehr als Zeitalter
verfeinerter Kultur. Die Blendung Glosters mit ihren Einzelheiten, die
Shakespeare ganz unbefangen darstellt, würde schwerlich irgend ein heutiges
Publikum mit ansehen mögen. Und doch haben die Leute, die vor zwanzig
Jahren Tolstois „Macht der Finsternis“ oder Gerhard Hauptmanns „Vor
Sonnenuntergang“ zujubelten, bewiesen, daß man auch ihren Nerven noch
einiges zumuten kann, was nicht jedermanns Geschmack ist. Modeströmungen
vermögen durch ihre eigentümliche Suggestionskraft die physiologische
wie die moralische Empfindlichkeit zu schärfen oder abzustumpfen
und je nachdem Verzärtelung wie Verrohung des Geschmacks zu fördern.
Gleichwohl wird sich wohl mit einiger Sicherheit und Allgemeinheit feststellen
lassen, was auf einen kultivierten, wenn auch nicht überfeinerten
Geschmack noch künstlerisch wirken kann, und die vergleichende Erfahrung
über verschiedene Zeitalter und Geschlechter kann uns das Dauernde, im Wesen
der Kunst und der Menschennatur Begründete von jenen künstlichen durch die
Mode hervorgebrachten Steigerungen scheiden lehren. Nur daß die Grenze
nicht durch eine scharfe Linie, sondern durch eine breitere Zone gebildet wird.
Diese Erscheinung führt uns auf ein Bedenken allgemeiner Art, das
man gegen den Versuch, Dichtungen künstlerisch zu werten, mit allem
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Schein des Rechts erhoben hat. Es ist dies, daß die Wirkung eines Dichtwerks
nicht sowohl von den Kunstmitteln an sich als von dem Publikum
abhängt, auf das sie wirken sollen: daher denn auch in verschiedenen
Zeiten und innerhalb derselben Zeit auf verschiedene Schichten eines Volks
die gleichen Dichtungen nicht den gleichen Eindruck machen. Danach
also scheint der Maßstab, der von diesen Eindrücken hergeleitet wird, notwendigerweise
selber relativ und unsicher zu sein.
Auf diesen Einwurf nun aber ist folgendes zu erwidern. Es ist ganz
richtig, daß alle induktiv gefundenen Werturteile von beschränkter Allgemeinheit
und bedingter Gültigkeit sind; unsicher und schwankend aber brauchen
sie darum nicht zu sein. Was zunächst die Verschiedenheit der Zeiten
und Kulturen betrifft, so findet hier freilich ─ wie wir bereits an einem
Beispiel gesehen haben ─ eine gewisse Verschiebung des Werturteils statt.
Allein im wesentlichen tritt nur die eine Tatsache deutlich hervor, daß die
Art der Wirkungen und die Mittel, durch die sie hervorgebracht werden,
sich mit der Kulturstufe des Publikums ändern und folglich bei Völkern
höherer Kultur andere sind wie bei weniger entwickelten oder gar bei
Naturvölkern. Der Unterschied aber in dem, was auf verschiedene Epochen
und Völker annähernd gleich hoher Kultur wirkt, ist weit geringer, als man
bisweilen annimmt. Wie wäre es sonst möglich, daß nicht nur Homer
und Sophokles, an denen wir uns selbst gebildet haben, sondern auch
Kalidâsa und Hafis, die auf völlig fremdem Boden erwachsen sind, Europäer
des 19. und 20. Jahrhunderts ergreifen und erfreuen können? Ja, eben
in dieser Allgemeinheit der Wirkung wird man ein wesentliches Kennzeichen
für den Wert einer Dichtung sehen dürfen: was nur auf enge
Kreise und nur in einem eng begrenzten Zeitraum Eindruck gemacht hat,
ist eben darum schon weniger wertvoll als das, was Jahrtausende hindurch
für die verschiedensten Völker lebendig ist; und der von A. W. Schlegel
und Goethe geprägte Begriff der Weltliteratur enthält an sich schon ein
Werturteil. Das Studium solcher Dichtungen, die ihr angehören, die Analyse
der Mittel, auf dem ihre dauernde Lebendigkeit beruht, muß uns Maßstäbe
in die Hand geben, nach denen wir auch für die Werke unserer
eigenen Zeit zwischen Modeströmungen und dauernden Werten zu unterscheiden
vermögen. Eben hierdurch bildet das Studium der Literaturgeschichte
das ästhetische Urteil.
Was von den Kulturabständen verschiedener Zeiträume gilt, das trifft
im wesentlichen auch auf die verschiedenen Bildungsschichten innerhalb
desselben Zeitalters und desselben Volkes zu. Auch hier herrscht eine
starke Verschiedenheit zwischen der Art des Geschmacks und der Empfänglichkeit
der verschiedenen Bevölkerungsklassen, am meisten da, wo, wie
bei den modernen Kulturnationen die oberen Klassen an einer historischen
Bildung teilhaben, von der die unteren nichts wissen. Es ist eben auch
hier ein Abstand der Kulturstufen, der sich in der Kunst wie auf allen
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anderen Lebensgebieten äußert. Auch hier wird man nicht anstehen, dem
künstlerischen Empfinden der höheren Kultur den höheren Wert beizumessen,
zumal seitdem die romantischen Vorstellungen von der Volksdichtung,
ihrem Wesen und Wert verblaßt und aufgegeben sind. Aber
auch hier wird man in der Allgemeinheit der Wirkung, wenn auch nicht
den einzigen, so doch einen bedeutsamen Wertmesser zu sehen haben.
Rohe und grobe Effekte, die auf ein naives Publikum Eindruck machen,
versagen einer höheren Stufe der Bildung und des Geschmacks gegenüber;
und vieles, was nach seinen Voraussetzungen und der Art der angewandten
Mittel nur auf verfeinerte Leser und Hörer berechnet ist, geht naturgemäß
an den breiteren Schichten des Volkes wirkungslos vorüber. Dennoch
haben die höchsten Dichtungen aller Zeiten wohl stets auf die ganze
Nation gewirkt, in der und für die sie entstanden sind: Homer und Tasso
nicht minder wie der erste Teil des Faust und die meisten Schillerschen
Dramen, und wo, wie etwa in Deutschland gegen Ende des 17. Jahrhunderts,
die beiden Sphären des Geschmacks allzu schroff und ohne Vermittlung
auseinanderklaffen, haben wir ein sicheres Zeichen künstlerischen Niedergangs
vor uns. ─
Stimmung, innere Übereinstimmung und Widerspruchslosigkeit, anschaulich
bildende Kraft: in diesen Forderungen hat die Poetik drei Gesichtspunkte
ästhetischer Natur, nach denen sie jede Dichtung auf ihren
künstlerischen Wert hin zu beurteilen imstande ist. Freilich können wir ─
nach dem Inhalte der ersten Abschnitte ist das selbstverständlich ─ nicht
hoffen noch beanspruchen, hieraus deduktive Vorschriften darüber ableiten
zu wollen, wie der Dichter seine Kunstmittel verwenden und seine Wirkung
erreichen kann. Wohl aber ist es möglich, mit Hilfe dieser Gesichtspunkte
festzustellen, worauf im einzelnen Falle die Wirkung eines Dichtwerks beruht
und warum sie in einem anderen versagt. Wir werden da zunächst
entscheiden können, ob die Wirkungen durch künstlerische Mittel oder
durch bloßen Nervenreiz erreicht sind. Das letztere geschieht namentlich
von der Bühne herab nicht selten; aber nur im ersteren Falle haben wir
Kunstwerke vor uns, deren Analyse Aufgabe der Poetik ist. Eine solche
Analyse zeigt uns dann die Eigenart der dichterischen Formen und Kunstmittel
sowie ihre Verwendung und sie begründet somit ein objektives
ästhetisches Werturteil.
Das Werturteil, das auf diese Weise entsteht, ist im engsten Sinne
ästhetisch, ja es ist technischer Natur. Nun aber gibt es noch einen
zweiten, anders gearteten Weg, nach dem man dichterische Werke einschätzt:
er beruht auf der Tiefe und Allgemeinheit der Gedanken, die sie enthält,
auf ihrem Zusammenhang mit den Lebensinteressen und den Kulturströmungen
der Zeit und der Nation, ja der Menschheit überhaupt. Denn
der Genius unterscheidet sich von geringeren Geistern nicht allein durch
das Können, nicht bloß durch die Fähigkeit, seine inneren Erlebnisse wiederzugeben,
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sondern auch durch den Inhalt dessen, was er erlebt. Zum
inneren Erlebnis wird ihm nicht nur, was ihm persönlich im Glück und
Unglück widerfährt, sondern auch die großen allgemeinen Gedanken, die
geistigen Strömungen seiner Zeit. Sie erfüllen seine Dichtungen und ihre
Gestalten, weil sie in ihm selbst kraftvoll und lebendig sind, und auch
hier zwingt er sein Publikum in seine Art anzuschauen, zu denken und
zu fühlen hinein, selbst wenn es neue und fremdartige Gedanken und Anschauungen
sind. So wird der Dichter zum Lehrer der Weisheit, zum
Verkünder einer höheren Sittlichkeit. So zogen unsere Klassiker ihr Volk
zu sich empor, so ist in unseren Tagen Henrik Ibsen ein Lehrer tiefer
und ernster Lebensanschauungen geworden. Auf diese Weise entstehen
Dichtungen, deren Inhalt der Lebensinhalt ihrer Zeit und ihrer Nation ist.
Der Faust wäre uns Deutschen nicht das, was er uns ist, wenn er nicht
das tiefste Sehnen, die bitterste Verzweiflung und das höchste Glück des
modernen Menschen zum Ausdruck brächte.
Die Höhe der Intention, der Reichtum an Ideen, die unmittelbar ausgesprochen
oder mittelbar verkörpert werden, die Weite der Anschauungen
und die Tiefe der Empfindungen, die in ihr zum Ausdruck kommen, sie
kennzeichnen den Wert eines solchen Werkes. Mit der künstlerischen Vollkommenheit
der Ausführung aber deckt sich diese inhaltliche Bedeutsamkeit
keineswegs. Wenn Gerhard Hauptmanns „Fuhrmann Henschel“ technisch
vielleicht ebenso gut gemacht ist wie Goethes Tasso, vielleicht sogar
besser, so wird man beide Werke doch kaum in einem Atem nennen
mögen, so weit überragt Goethes Tragödie der Künstlerseele die des
braven und abergläubischen Mannes aus dem Volke an Tiefe und Bedeutsamkeit.
So wird man zu dem Ergebnis kommen, daß der Gesamtwert einer
Dichtung von der künstlerischen Vollkommenheit ihrer Ausführung und
von der Bedeutsamkeit, dem Reichtum ihres Inhalts abhängt. Aber freilich
kann kein Zweifel darüber sein, daß der erste dieser Gesichtspunkte für
das ästhetische Werturteil entscheidender ist als der zweite. Die höchste
moralische Bedeutsamkeit, die edelste nationale oder soziale Tendenz vermag
die Stimmung, die Anschaulichkeit, das Zwingende und somit die
eigentliche künstlerische Wirkung nicht zu ersetzen. Und anderseits gibt
es Dichtungen von hohem künstlerischen Rang, die keine tieferen Beziehungen
und Perspektiven haben, so etwa Shakespeares Sommernachtstraum,
Kleists zerbrochener Krug, und überhaupt eine große Anzahl von
Lustspielen der Weltliteratur.
Eben dieses Verhältnis ist es, was Schiller in dem schon einmal angeführten,
höchst wichtigen Brief an Goethe vom 27. März 1801 zum Ausdruck
bringt. „Jeder, der imstande ist, seinen Empfindungszustand in ein
Objekt zu legen, so daß dieses Objekt mich nötigt, in jenen Empfindungszustand
überzugehen, folglich lebendig auf mich wirkt, heiße ich einen
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Poeten, einen Macher. Aber nicht jeder Poet ist dem Grad nach ein vortrefflicher.
Der Grad seiner Vollkommenheit beruht auf dem Reichtum,
dem Gehalt, den er in sich hat und folglich außer sich darstellt, und auf
dem Grad der Notwendigkeit, die sein Werk ausübt. ─ Es leben jetzt
mehrere so weit ausgebildete Menschen, die nur das ganz Vortreffliche befriedigt,
die aber nicht imstande wären, auch nur etwas Gutes hervorzubringen.
Sie können nichts machen, ihnen ist der Weg vom Subjekt
zum Objekt verschlossen; aber eben dieser Schritt macht mir den Poeten.
Ebenso gab und gibt es Dichter genug, die etwas Gutes und Charakteristisches
hervorbringen können, aber mit ihrem Produkt jene hohen
Forderungen nicht erreichen, ja nicht einmal an sich selbst machen. Diesen
nun, sage ich, fehlt nur der Grad, jenen fehlt aber die Art. Die ersten,
welche sich auf dem vagen Gebiet des Absoluten aufhalten, halten ihren
Gegnern immer nur die dunkle Idee des Höchsten entgegen, diese hingegen
haben die Tat für sich, die zwar beschränkt aber reell ist. Aus der
Idee kann ohne die Tat gar nichts werden.“
Hieraus ergeben sich nun einige wichtige Forderungen: zunächst die,
daß es vom ästhetischen Standpunkt aus nicht zulässig ist, von einem
Dichter hohe Intentionen, tiefe und unmittelbare Bedeutsamkeit oder gar
moralische Tendenzen zu fordern. Eine solche Forderung würde folgerichtig
durchgeführt die Poesie wiederum in den Dienst außerkünstlerischer
Mächte zurückführen, wie sie ihr, vor der befreienden Wirksamkeit unserer
Klassiker, durch die moralisierende Tendenz des 16. und den Rationalismus
des 17. und 18. Jahrhunders aufgezwungen war. „Die Dichtkunst“, schreibt
Goethe in seiner Antwort auf jenen Schillerschen Brief vom 6. April 1801,
„verlangt im Subjekt, das sie ausüben soll, eine gewisse gutmütige, ins
Reale verliebte Beschränktheit, hinter welcher das Absolute verborgen liegt.
Die Forderungen von oben herein zerstören jenen unschuldigen produktiven
Zustand und setzen, für lauter Poesie, an die Stelle der Poesie etwas,
das nun ein für allemal nicht Poesie ist, wie wir in unseren Tagen leider
gewahr werden.“ Jede echte und lebendige Dichtung, das will Goethe
sagen, besitzt eine typische Bedeutsamkeit, indem durch das, was sie darstellt,
die allgemeine Natur des Menschen und des Weltgeschehens sichtbar
wird, wenn auch nur in einem kleinen Ausschnitt. Aber eben darum darf
und braucht man die bewußte Beziehung auf das Allgemeine nicht beanspruchen,
darf man nicht fordern, daß die Dichtung den Zusammenhang
mit einer theoretischen Weltanschauung oder gar mit praktischen Tendenzen
zum Ausdruck bringe. Wo ein solcher Zusammenhang dem inneren Erlebnis
des Dichters entspringt, wie in Goethes Iphigenie oder Schillers
Don Carlos, da freilich wird er dem Kunstwerk jene tiefere Bedeutsamkeit
verleihen; und der künstlerische Wert wird um so reiner hervortreten, je
unmittelbarer dieser Ursprung ist, je weniger ihm eine bewußte lehrhafte
oder praktische Tendenz zugrunde liegt. So wirkt das patriotische und
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politische Element in Schillers Dramen, so die erzieherische Lebensweisheit
im letzten Akte des Faust, so die sozialen und sittlichen Gedanken in
Ibsens Brand oder Nora. Überall aber, wo der Dichter sein Werk mit bewußter
Absicht in den Dienst eines allgemeinen Gedankens, einer politischen
oder sozialen Richtung stellt, wird der künstlerische Wert durch
das Gewollte und Lehrhafte geschädigt werden. Seine Gestalten werden
sich nicht von innen heraus ausleben und darstellen, wie in einem echten
Kunstwerk; ihre Handlungen werden mehr oder weniger der Absicht des
Dichters, nicht der Notwendigkeit ihrer eigenen Natur entspringen. Das
ist z. B. in den sogenannten Tendenzromanen des 19. Jahrhunderts der
Fall, selbst in so hochstehenden wie Gutzkows Zauberer von Rom und
seinen Rittern vom Geist. Und auch in Gustav Freytags trefflichem
Soll und Haben ist die Schwäche mancher Partien, so das unwahrscheinliche
und sensationelle Ende seines Veitel Itzig, der Tendenz des Buches
zuzuschreiben.
Aber wir müssen noch einen Schritt weiter gehen und ganz allgemein
zugeben, daß es unmöglich ist, die Bedeutsamkeit einer Dichtung nach
einem künstlerischen Maßstab zu messen. Dieser Aufgabe gegenüber versagt
die Poetik und muß versagen; denn der Wert, um den es sich hier
handelt, hängt nicht von künstlerischen Vorzügen ab, sondern von anders
gearteten Beziehungen, von einem Zusammenhang, der durch die allgemeine
Geisteskultur, ihre Bedürfnisse und Richtungen gegeben ist. Daher kommt
es denn auch, daß die Wirkung, die durch den künstlerischen Charakter
eines Werkes hervorgerufen wird, auch dann noch dauert, wenn im Laufe
einer langen Kulturentwicklung die Bedeutsamkeit des Inhalts abgestorben
oder doch abgeblaßt ist. Was ist uns heute der Orakelglaube und überhaupt
die Götterfurcht der Hellenen? Und dennoch ist der Einfluß des
König Ödipus einer der stärksten und furchtbarsten, von denen die moderne
Literaturgeschichte weiß. Und Satiren wie Don Quichote oder Figaros
Hochzeit, deren Tendenz längst jede tatsächliche Spitze verloren hat, üben
noch heute die Wirkung auf uns, die von vollendeten Dichtungen ausgeht.
So könnte man versucht sein, einen künstlerischen Wert der Intention
als solcher, der Tiefe und Bedeutsamkeit einer Dichtung, überhaupt nicht
zuzugestehen und denselben vielmehr ausschließlich in der künstlerischen
Ausführung zu suchen. Es ist dies der Grundsatz, den man neuerdings
mit dem Schlagwort „l'art pour l'art“ zu bezeichnen pflegt: im Wesen einer
Kunst, die nichts als Technik sein will, liegt es, daß sie nur auf den berechnet
ist, der die Technik in ihren Einzelheiten zu würdigen weiß. Diese
Anschauung setzt den Artisten an Stelle des Dichters. Sie setzt den Inhalt
zurück hinter der Form, den metrischen und sprachlichen Ausdrucksmitteln.
Ja dieses Formenprinzip führt in seinem Extrem zu einer gänzlich
inhaltlosen Kunst, die nur noch durch den Klang der Worte und Rhythmen
wirken will: eine Reihe moderner und modernster französischer und
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deutscher Ästheten ─ wir werden beim Kapitel Lyrik auf sie zurückkommen
─ verkörpert diesen Typus.
Dieser Standpunkt ist freilich bequem für die Poetik, denn er zieht
keine Werte in Betracht, die sie nicht nachprüfen kann. Aber er führt zu
einer Einseitigkeit, die mit dem Wesen der Poesie unvereinbar ist; er
macht die Mittel der Poesie zum Zweck und zieht den Dichter zum Virtuosen
herab. Eine Dichtung, die in der Stimmung ihr einziges und letztes Ziel
sieht, vergißt, daß diese Stimmung nur ein Mittel ist, um den Lebensinhalt
des Dichtergeistes dem Hörer lebendig zu machen, und die Notwendigkeit,
von der Schiller spricht, hervorzurufen, nur ein Mittel also, um den Leser
zu zwingen, an den Dichter und sein Gedicht zu glauben. Wo sich freilich
der ganze Lebensinhalt des Dichters zu bloßen Stimmungen verflüchtigt,
wie das bei vielen unserer modernen Artisten und Ästheten der Fall ist,
da vermag er auch im besten Falle nichts anderes zu geben als Stimmung.
Wenn es ihm nun an Formentalent nicht fehlt, so wird er auf dem
rein lyrischen Gebiet, wo die Stimmung herrscht, mancherlei Wirksames
schaffen und auf Momente fesseln können, auf die Dauer aber wird sich
der Leser, der volleres Leben und echten Gehalt sucht, durch die Inhaltlosigkeit
dieser Poesie angeödet, von ihr abwenden. Denn daran kann
kein Zweifel sein, daß es die Persönlichkeit des Dichters ist, aus der seine
Werke Inhalt und Leben, mithin den letzten und höchsten Wert empfangen
und durch die allein Stoff und Form seiner Dichtungen ihre Bedeutsamkeit
erhalten. Gerade weil dem so ist, kann die Poetik diesen Wert nicht
im einzelnen abschätzen und wägen lehren; denn das Persönliche ist
seinem Wesen nach irrational und inkommensurabel. Eben deshalb aber
ist es in der Dichtung niemals mit der bloßen Form und auf die Dauer
auch nicht mit der bloßen Stimmung getan. Nur ein großer Mensch kann
ein großer Künstler sein: der Satz ist nicht unbestreitbar für die bildenden
Künste; für die Poesie aber gilt er zweifellos. Und wenn die Modeschätzung
Talente zweiten oder dritten Rangs, mögen sie der Gegenwart oder der
Vergangenheit angehören, weil sie Form und Stimmung beherrschen, zu
Künstlern ersten Ranges stempelt, so überdauert eine solche Schätzung die
Mode niemals. Die gewaltige Wirkung unserer klassischen Dichter ist von
ihrer Persönlichkeit losgelöst nicht zu denken. Die beste und vollste
Kraft dieser Persönlichkeit steckt und wirkt in ihren Werken, und je vollendeter
diese in künstlerischer Hinsicht sind, desto weniger braucht man
hinter ihnen und durch sie hindurch nach der rein menschlichen Individualität
des Dichters zu suchen, um die volle Macht seines Wissens zu
empfinden; man braucht das daher bei Goethe noch weniger als bei
Schiller. Aber freilich, es lohnt andrerseits schon, wenn nicht in künstlerischer,
so doch in menschlicher Hinsicht: sie gewähren, in ihrer vorbildlichen
Entfaltung höchsten Menschentums und losgelöst von dem Einzelinhalt
ihrer Werke, eine Quelle der Freude und Erhebung.
Hieraus entspringt denn auch die erzieherische Wirkung wahrer Kunstwerke,
und die pädagogischen Ziele, die wir mit der Dichterlektüre im
Unterricht verbinden, werden verständlich. Die Empfänglichkeit für dichterische
Stimmung, die Empfindung für die Schönheit dichterischer Form
zu entwickeln ist sicher ein erstes und wesentliches Ziel aller ästhetischen
Erziehung; auch der Unterricht wird es auf allen Stufen als eine wesentliche
Aufgabe betrachten müssen. Und richtig ist es, daß ein zu weit
getriebenes Eingehen auf die verstandesmäßig erkennbare Technik, eine
allzu methodische Zergliederung der dichterischen Form diese Wirkung
nicht fördert, sondern schädigt und hemmt. So weit haben die Warner
recht, die den Übertreibungen einer ästhetischen Analyse in der Schule
entgegentreten. Aber nun gibt es auch eine große Anzahl von Stimmen,
ja man kann schon fast von einer Partei unter den Schulmännern reden,
welche jede Art von verstandesmäßiger Behandlung der Poesie in der
Schule ablehnen. Empfänglichkeit anregen und Stimmung erwecken ist
das einzige Ziel, das sie als berechtigt zugestehen. Man sieht deutlich den
Zusammenhang mit dem Ästhetentum, für das sich der gesamte Gehalt der
Poesie in Stimmung verflüchtigt. Allein der Unterricht hat noch andere
Aufgaben der Jugend gegenüber und noch andere Kräfte, um ihnen gerecht
zu werden. Die Gestalten und Handlungen, die aus den Werken unserer
großen Dichter sprechen, sollen ihnen verständlich und vertraut, sollen ihnen
zu eigenen Erlebnissen werden. Der Gehalt dieser Dichtungen soll sie
bereichern und ihren Sinn erweitern, und die edle Begeisterung, der hohe
Idealismus unserer großen schöpferischen Geister soll Widerhall in der jungen
Brust finden. Das aber ist nur möglich, wenn sie über die passive Empfänglichkeit
hinweg und durch die bloße Stimmung hindurch zu einer Einsicht
in den Gehalt dieser Dichtungen kommen, wenn sie an den Dichter oder an
den Lehrer, der ihn vertreten soll, Fragen richten dürfen und in der Lehrstunde
die Anregung erhalten, solche Fragen zu stellen und zu beantworten.
Neben jenem ersten Ziel also wird der Unterricht stets und mit der zunehmenden
Reife der Schüler immer entschiedener das zweite ins Auge fassen
müssen; neben die bloße Darbietung muß die Erklärung des Inhalts treten.
Beide Aufgaben zusammen erst erfüllen den Kreis des Lektüreunterrichts
und begründen die ästhetische Bildung, die aus ihm hervorwachsen soll.
Doch wir dürfen diese Fragen, die ja an einer anderen Stelle dieses
Werkes ausführlich erörtert sind, nur eben flüchtig berühren und müssen
nunmehr dazu übergehen, unseren eigenen Aufgaben, die wir bisher nur in
ihrem Gesamtumriß überblickt haben, in ihren einzelnen Teilen ins Auge
zu fassen.
Das Wesen aller Kunst, dies hat uns
die bisherige Betrachtung gelehrt, beruht darauf, daß sie ein inneres Erlebnis
des Künstlers ─ das Wort im weitesten Sinne genommen ─ in der
Phantasie des Beschauers oder Hörers lebendig macht, ihn zwingt es nachzuerleben.
Hierzu bedarf sie äußerer Darstellungsmittel, eines Mediums,
durch dessen Gestaltung sie eine solche Wirkung erreicht. Die Verschiedenheit
dieser Darstellungsmittel scheidet die einzelnen Künste voneinander.
Ausdrucksmittel und Medium der Poesie ist die Sprache; die Dichtkunst
ist Wortkunst, wie die Musik Tonkunst und die Malerei Kunst der Farbe
ist. Hierdurch wird ihre Eigenart bestimmt.
Es wäre nun aber offenbar falsch anzunehmen, daß diese Verschiedenheit
der Künste nur äußerlicher und gewissermaßen zufälliger Art sei, daß
es die gleichen Erlebnisse wären, welche die verschiedenen Künste auf ihre
Art vermitteln wollten und könnten. Nicht jedes Erlebnis ist den verschiedenen
Darstellungsmitteln in gleicher Weise zugänglich, und es sind
zum mindesten immer verschiedene Seiten eines Vorgangs, was der Maler
in Farben, der Musiker in Tönen und der Dichter in Worten wiederzugeben
vermag. Die Verschiedenheit der Darstellungsmittel also bedingt eine Verschiedenheit
des inneren Erlebnisses, des künstlerischen Vorgangs in der
Seele des Empfangenden sowohl wie des Schaffenden. Wählt doch der
Künstler seine besonderen Darstellungsmittel nicht etwa beliebig oder nach
äußeren Zweckmäßigkeitsgründen, sondern seine individuelle Begabung
nötigt sie ihm auf; und für den Dichter ist das Wort selbst ein ebenso
wesentlicher Teil des Erlebnisses wie für den Musiker die Melodien und
für den Bildner die Form. Was also ist die innere Eigenart der Poesie,
wie sie durch die Natur der Sprache bestimmt und gegen die der übrigen
Künste abgegrenzt ist?
Die Frage läßt sich bestimmter fassen. Alles was die Phantasie in
eine zugleich lebendige und bestimmt gerichtete Tätigkeit versetzt, pflegen
wir anschaulich zu nennen, und in diesem Sinne ist Anschaulichkeit
der Darstellung das Ziel, das jeder Künstler mit den Mitteln seiner Kunst
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anstrebt. Die Bedeutung dieses Wortes geht also weit über den Umkreis des
Gesichtssinnes hinaus, von dem es ursprünglich hergenommen ist. Der
Musiker vermag Schmerz und Freude, Kampf und Sieg anschaulich darzustellen,
ja, das Meer im Sturm oder den Bach, der in friedlicher Landschaft
sanft dahinfließt (wie Richard Wagner im Fliegenden Holländer oder
Beethoven in der Symphonie pastorale.) Aber es ist klar, daß diese Art
von Anschaulichkeit eine ganz andere ist als diejenige, die der Maler oder
Bildner erstrebt. Diese Verschiedenheit hängt nicht nur äußerlich, sondern
organisch, ja, im innersten Kern mit der Natur der Darstellungsmittel zusammen,
welche dem Künstler zu Gebote stehen. Was für eine Art von
Anschaulichkeit ist es nun, die der Dichter mit seinem Kunstmittel, der
Sprache, erstreben und erreichen kann? Diese Frage ist nichts anderes als
die Frage nach dem Wesen der Poesie überhaupt.
Lessing war der erste, der den Versuch gemacht hat, die Poesie als
Wortkunst zu betrachten und einige ihrer wichtigsten Stilgesetze aus dieser
ihrer Natur abzuleiten. Und es wird dies der Ruhmestitel seines Laokoon
bleiben, auch wenn sich die Einzelheiten seiner Lehre nicht mehr als stichhaltig
erweisen. Gegenüber einer literarischen Richtung, die in der Poesie
eine redende Malerei sah und von dem Dichter Bilder verlangte, hob er so
scharf wie zutreffend hervor, daß malerische und dichterische Anschaulichkeit
durchaus verschiedene Begriffe sind und ebenso verschiedene Eigenschaften
von dem Kunstwerk voraussetzen. „Man läßt sich bloß von der
Zweideutigkeit des Worts verführen, wenn man die Sache anders nimmt.“
(Laokoon Abschnitt 14.) Indem er nun aber daran geht, diese Verschiedenheit
„aus ihren ersten Gründen herzuleiten“, zeigt sich, daß er das Wesen
der Sprache zu äußerlich und flach, zu rationalistisch faßt: er steht in dieser
Hinsicht wie in mancher anderen unter dem Banne seines Zeitalters. Worte
sind ihm Zeichen, sogar willkürliche Zeichen, die der Nachahmung von
Gegenständen dienen wie die Farben und Umrisse des Malers: der Unterschied
ist nur der, daß diese letzteren nebeneinander im Raum existieren,
während jene in der Zeit aufeinander folgen. Da nun „unstreitig die
Zeichen ein bequemes Verhältnis zu dem Bezeichneten haben müssen“, so
folgt daraus, „daß Körper mit ihren sichtbaren Eigenschaften die eigentlichen
Gegenstände der Malerei, Handlungen der eigentliche Gegenstand
der Poesie sind“. Es folgt ferner, daß der Dichter sich vergebens bemühen
wird, durch Schilderungen die Anschaulichkeit des Nebeneinander im Raum
zu erreichen, die nur dem Bilde des Malers sich eignet. Das Gebiet seiner
Kunst ist das Sukzessive. Daher muß er das Nebeneinander in ein Nacheinander
verwandeln, wenn er anschaulich wirken, Anschauungen hervorrufen
will.
Man sieht, hiernach würden die Anschauungskomplexe in der Phantasie
auf verschiedenen Wegen hervorgebracht werden, die Elemente aber,
aus denen sie sich zusammensetzen, dieselben bleiben, und die Anschaulichkeit
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des einzelnen Zuges würde in den verschiedenen Künsten doch
wieder die gleiche sein. Ob der Künstler z. B. blaue Farbe malt oder das
Wort blau schreibt, würde keinen Unterschied machen. Denn auch in der
Poesie wird soviel malerisch angeschaut, wie es in einem Moment möglich
ist, und die Verschiedenheit beider Künste wäre mithin nur relativ.
Das Unzureichende dieser Grundansicht vom Wesen der Sprache, das Unzulängliche
der auf sie begründeten Lehre hat schon wenige Jahre nach dem Erscheinen
des Laokoon Herder im ersten kritischen Wäldchen hervorgehoben.
„Das Sukzessive in den Tönen ist nicht das Wesen der Dichtkunst“, heißt es
dort (Abschnitt 15). „Die artikulierten Töne haben in der Poesie nicht
eben dasselbe Verhältnis zu ihrem Bezeichneten, was in der Malerei Figuren
und Farben zu dem ihrigen haben.“ ─ „Die Poesie wirkt durch Kraft ─
durch Kraft, die dem Worte beiwohnt, zwar durch das Ohr geht, aber unmittelbar
auf die Seele wirkt. Diese Kraft ist das Wesen der Poesie, nicht
aber das Koexistente oder die Sukzession. Bei keinem Zeichen muß das
Zeichen selbst, sondern der Sinn des Zeichens empfunden werden.“ Aus
dem Sukzessiven der Töne folgt wenig oder nichts. „Durch die Erzählung
vom Szepter des Agamemnon, vom Bogen des Pandarus wird eine anschauliche
Schilderung dieser Gegenstände nicht ersetzt, soll auch nicht
ersetzt werden. Homer erzählt nicht, um zu malen, sondern statt zu
malen, nicht weil Sukzession das Wesen dieser Kunst ist, sondern weil
dieses Wesen Energie, Kraft, nur in der Bewegung zutage treten kann.
„Lessing kann nicht sagen, es sei Homer mit seiner Geschichte des Bogens
um sein Bild und bloß um sein Bild zu tun gewesen. Um nichts minder
als hierum: die Stärke, die Kraft des Bogens war seine Sache; sie, und
nicht die Gestalt des Bogens gehört zum Gedicht, sie, und keine andere
Eigenschaft soll hier energisch mitwirken, daß wir, wenn nachher Pandarus
abdrückt, wenn nachher die Sehne schwirrt, der Pfeil trifft ─ um so mehr
den Pfeil empfinden.“ Und keinesfalls ist Lessing berechtigt, was vom
epischen Dichter gilt, ohne weiteres auf die übrigen Gedichtarten zu übertragen.
„Ich zittere vor dem Blutbade, das seine Sätze unter alten und
neuen Poeten anrichten müssen.“
Zusammengefaßt also lautet die Lehre Herders: Anschaulichkeit der
Poesie ist Energie der Rede, durch welche wirkende Kraft dargestellt wird.
Das Konsekutive ist eine bloß äußere Form, die für den Inhalt der Poesie
nicht wesentlich ist und sie daher auch nicht absolut bindet.
Man sieht: dem rationalistischen Kritiker, der aus einigen scharfgefaßten,
aber engen Begriffen sein Gebäude errichtet, tritt der künstlerisch
empfindende Denker gegenüber, der, selbst wo er noch nicht
zu voller Klarheit kommt, doch überall volles innerliches Leben statt des
abstrakten Begriffs erfaßt. Freilich, auch Herder ist klarer und siegreicher
da, wo er die Unzulänglichkeit in der Lehre seines Vorgängers
nachweist als da, wo er seine eigene begründet. Und daher ist es immerhin
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erklärlich, daß seine Kritik so wenig nachgewirkt hat und daß der
Schulästhetik noch heute die Grundanschauungen des Laokoon mit ihren
Konsequenzen, den Lehren vom fruchtbarsten Moment, von der Einheit der
malerischen Beiwörter u. s. w. als unumstößliche Wahrheiten gelten. Was
Herder unter Energie der Rede versteht, ist keineswegs klar herausgebracht,
vielmehr scheint er mit der Bedeutung des sukzessiven Charakters zugleich
auch die übrigen Wesenseigentümlichkeiten der Sprache aus dem Wesen
der Dichtkunst auszuschalten, ─ seltsam genug für den genialen Bahnbrecher
sprachwissenschaftlicher Forschung. Die Worte bleiben ihm Zeichen
und „bei keinem Zeichen muß das Zeichen selbst, sondern der Sinn des
Zeichens empfunden werden“. Die Kraft der Poesie liegt also ─ wie bei
Lessing ─ ganz und gar in dem Sinn der Worte, und noch in der Kalligone
heißt es (Werke, her. v. Suphan XXII S. 326): „Das Symbolische der Laute oder
gar der Buchstaben bleibt in einer uns geläufigen Sprache außerhalb der
Seele. Diese schafft und bildet sich aus Worten eine diesen ganz fremde,
ihr selbst aber eigene Welt, Ideen, Bilder, wesenhafte Gestalten.“
So bleibt es denn fast hundert Jahre hindurch die herrschende Meinung, daß
Worte nur Zeichen für sinnliche Anschauungen seien und solche in der
Seele erweckten, daß es mithin auch in der Poesie darauf ankomme, durch
die Mittel der Sprache anschauliche Bilder zu gestalten.1)
Allein von zwei verschiedenen Seiten wurde diese Meinung allmählich erschüttert
und in Frage gestellt. Einmal rief die wissenschaftliche, insbesondere
die psychologische Untersuchung über das Wesen der Sprache die allgemeine
Erkenntnis hervor, daß das Verhältnis des Worts zur Anschauung keineswegs
so einfach ist, wie es die frühere Theorie auffaßte, daß es mit dem Ausdruck
Zeichen nur sehr unzulänglich wiedergegeben wird, und daß die
Rede eine Reihe von psychologischen Wirkungen beabsichtigt und auslöst,
die durchaus nicht auf die Erweckung innerlicher Anschauungsbilder zurückzuführen
sind. Anderseits führte der künstlerische Gegensatz zwischen Naturalismus
und Neuromantik, wie er namentlich in der französischen Literatur
mit Schärfe hervortrat, zu der besonderen Frage, ob die Eigenart der Poesie
wirklich auf der Fähigkeit der Sprache, bestimmte Anschauungen hervorzurufen,
beruhe oder vielmehr auf ihrem musikalischen Charakter ohne Beziehung
auf inhaltliche Anschauung. Während die naturalistischen Romandichter,
Flaubert, die Brüder Goncourt und Zola mit allen Kräften des Verstandes
wie der Phantasie auf die höchste bildliche Anschaulichkeit der Sprache
hinarbeiteten und darüber vielfach in die vorlessingsche Art der Beschreibungen
zurückfielen, war den symbolistischen Dichtern, wie Mallarmé und
Verlaine, in Deutschland Stefan George und seinem Kreise, die Sprache
vor allem ein musikalisches Instrument: die Worte erwecken, freilich nicht
Eine belehrende Übersicht über die Entwicklung des Problems hat Jonas Cohn
in der Zeitschrift für Ästhetik (1907, Aprilheft) gegeben.
bloß durch ihren Klang, sondern auch durch ihren Gefühlswert, unmittelbar
Empfindungen, die sich vereinen, um eine Stimmung hervorzurufen, welche
das anschauliche Bild gleichsam unter sich läßt und sich schwebend von
ihm entfernt.
Das Verdienst nun, mit den Erfahrungen dieser künstlerischen Entwicklung
und zugleich mit den methodisch erworbenen Einsichten der
modernen Wissenschaft aufs neue an das Problem des Laokoon herangetreten
zu sein, gebührt Theodor A. Meyer, der in einem inhaltreichen
und gedankenscharfen Buche1) das Verhältnis der Dichtersprache zur Anschauung
psychologisch untersucht hat.
Was zeigt nun eine solche Untersuchung? Zunächst dies, daß Worte
und Anschauungen sich tatsächlich niemals decken. Aller sprachliche Ausdruck
beruht auf Abstraktion; Worte heben immer nur diejenigen Beziehungen
eines Gegenstandes oder Vorgangs heraus, die für den Zweck des
Sprechenden, für den Zusammenhang der Rede Bedeutung haben, und auch
diese stets in einer allgemeinen, mithin abstrakten Form: das Wort an sich
bezeichnet niemals eine konkrete und individuelle Anschauung, sondern
immer nur einen allgemeinen Begriff. Und wenn nun auch verschiedene
Begriffe einander bestimmen und zu engeren, also anschaulicheren Vorstellungen
gegenseitig determinieren, so erreichen doch auch solche Wortverbindungen
niemals die anschauliche Bestimmtheit eines konkreten Bildes,
und das Individuelle als solches bleibt immer unaussprechlich. Das wußte
schon Wilhelm von Humboldt. „Die Poesie“, sagt er,2) „ist die Kunst
durch Sprache. In dieser kurzen Beschreibung liegt für denjenigen, welcher
den vollen Sinn dieser beiden Wörter faßt, ihre ganze Höhe und unbegreifliche
Natur. Sie soll den Widerspruch, worin die Kunst, welche nur in
der Einbildungskraft lebt und nichts als Individuen will, mit der Sprache
steht, die bloß für den Verstand da ist und alles in allgemeine Begriffe
verwandelt, ─ diesen Widerspruch soll sie nicht etwa lösen, so daß nichts
an die Stelle treten, sondern vereinigen, daß aus beiden ein Etwas
werde, was mehr sei, als jedes einzelne für sich war.“ Die Schärfe der
begrifflichen Beziehungen hervortreten zu lassen, ist die Aufgabe und die
Kunst der prosaischen Sprachbehandlung. Was nun aber ist die Eigenart der
Dichtersprache und der dichterischen Darstellung, die aus ihr hervorwächst?
Kraft des innerlichen Erlebens ist der Mutterschoß der künstlerischen
Schöpfung. Alle künstlerische Wirkung beruht darauf, daß wir diese innere
Kraft und Lebendigkeit nachempfindend genießen. Das gilt für die Poesie
wie für alle übrigen Künste. Schönheit genießen heißt innere Lebendigkeit,
„die Lebensfülle und den Kraftreichtum der Welt“ nachempfinden. Auf den
Begriff der Nachempfindung überhaupt kommt es zunächst an.
Die Psychologie lehrt uns, daß Empfindungen die Elemente eines
jeden Anschauungsbildes sind. Jede Empfindung enthält mithin etwas
Objektives oder Repräsentatives; sie trägt dazu bei, eine Anschauung der
Außenwelt in uns hervorzurufen. Sie ist aber zugleich stets mit einem
mehr oder weniger starken subjektiven Gefühlston verbunden, und jeder
Empfindungskomplex, jede Anschauung löst in uns Gefühle und Stimmungen
aus. In den Eindrücken, die wir von der Außenwelt empfangen,
kann nun entweder die objektive Seite, der Inhalt der Anschauung, stärker
hervortreten, oder das subjektive, gefühlsmäßige Element das herrschende
sein. Fassen wir daraufhin die verschiedenen Künste ins Auge, so ist das
erstere der Fall bei der bildenden Kunst, das zweite bei der Musik und
der Dichtung: auf dem Objektiven der Anschauung beruht das Wesen der
Malerei und der Plastik, auf dem gefühlsmäßigen Nacherleben jede dichterische
und musikalische Wirkung. Während aber in der Musik der objektive
Anschauungsgehalt fast völlig zurücktritt, ist es die Eigenart der
Poesie, daß das Nachfühlen hier „seine volle Entfaltung erreicht, ohne
daß darum das Nachempfinden unwesentlich würde: Nachempfinden und
Nachfühlen sind in der Poesie einander besonders nahe gerückt.“ (Meyer
S. 150, 151.) Die Dichtersprache vermag ebensowenig wie die Prosa individuelle
Sinnenbilder unmittelbar zu bezeichnen oder zu erwecken, aber sie
vermag ─ und eben dies ist ihre eigentümliche Kraft und Wirkung ─ den
Gefühlston auszudrücken und wachzurufen, welchen die Anschauungen und
Eindrücke der Außenwelt sowohl wie die Vorgänge der Innenwelt in uns hervorbringen.
„Sie wecket der dunklen Gefühle Gewalt, die im Herzen wunderbar
schliefen.“ Und wunderbar genug: diese Gefühle erweckt sie ohne Vermittlung
von Sinnenbildern und Anschauungen; das Wort selbst, diese Abbreviatur
der Wirklichkeit, ihr längst abgeblaßtes Bild, besitzt diese Kraft. Ja mehr als
das, indem es das Gefühl in voller Stärke hervorruft, welches sonst nur
Anschauungsbilder in uns erregt, erweckt es die Vorstellung, daß auch
hier mit dem Gefühl zugleich das Sinnenbild, der objektive Anschauungsgehalt,
lebendig wird, daß wir, wenn auch in schwächerem und blasserem
Maße die Vorgänge sehen und hören, von denen der Dichter berichtet.
Diese Vorstellung ist eine Illusion. „Was der Dichter mit seinem unanschaulichen
Willen schafft, ist nicht innere Sinnlichkeit und innere Sinnenwahrnehmung,
sondern nur ihr Schein. Aber dieser Schein ist psychische Notwendigkeit
und darum ist die Täuschung für lebhafter empfindende Naturen
so unentrinnbar.“ Auch Herder spricht schon in demselben Sinne von der
Täuschung der Phantasie durch die Energie der Dichtersprache. Dichterische
Kraft und Gabe, Sprachgewalt und poetische Wirkung besteht mithin
darin, Gefühlstöne anzuschlagen, aus denen heraus die Illusion der
Anschauung erwächst. Der Dichter weiß in der Bezeichnung der Gegenstände,
in der Darstellung der Vorgänge diejenigen Elemente herauszuheben,
die in unserem Gefühlsleben den stärksten Widerhall finden; dadurch entsteht
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in uns die lebendige Vorstellung, und wir glauben anschauliche Bilder
zu sehen, weil wir das Leben empfinden, das den Inhalt solcher Bilder erfüllt
und das der Dichter uns vorempfunden hat. „Der Dichter bringt also
auch das scheinbar Tonlose zum Klingen.“ Man wird an den schönen
Eichendorffschen Vers erinnert:
Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu klingen,
Sprichst du aus das Zauberwort.“
In Wirklichkeit freilich sind es nicht die Dinge, die in uns tönen, sondern
unser eigenes Gefühlsleben ist es, das ihnen Leben verleiht, wenn es durch
die Sprachkunst des Dichters geweckt ist.
Nicht ein Bild, sie sind ein Schatten.
Sagen herbe, deuten mild,
Was wir haben, was wir hatten.“
So steht die Poesie als Wortkunst zwischen den bildenden Künsten
und der Musik in der Mitte. Vermitteln jene im wesentlichen Anschauungsgehalt
und Sinnenbilder, erweckt diese Gefühl und Stimmungen ohne Anschauungsgehalt;
so vereinigt die Dichtung beides, aber doch so, daß sie
statt greifbarer Anschauungen äußerer Wirklichkeit vielmehr, indem sie lebendige
Kraft, inneres Leben verkörpert, die Illusion solcher Anschauungen
schafft. Das Leben, in seinen Zusammenhängen gefühlsmäßig erfaßt, ist
der Gegenstand der Poesie, denn es ist das, was die Dichtersprache auszudrücken
und wiederzugeben vermag.
Hieraus ergibt sich denn auch die Antwort auf die besonderen Stilfragen,
die im Laokoon gestellt sind, und es zeigt sich, daß Herder im
wesentlichen gegen Lessing recht behält. Poesie kann nicht Bilder ohne
Bewegung malen, wie die bildende Kunst. Diese These Lessings ist richtig,
aber nicht weil der sukzessive Charakter der Sprache sie verhindert, einheitliche
Vorstellungen hervorzubringen, sondern vielmehr weil sie Leben
im Zustand der Erregung und Bewegung braucht, um anschaulich zu wirken.
Denn nicht an unsere Sinne, sondern an unsere Lebensgefühle muß sich
die Dichtung wenden, wenn sie anschauliche Vorstellungen wachrufen will.
Wo das pulsierende Leben fehlt, wo das Gefühl nicht erregt und genötigt
wird, die aufeinander folgenden Reihen von Zuständen zu durchleben und
hierdurch zu verknüpfen, da ist es ganz gleichgültig, ob der Dichter Koexistierendes
oder Sukzessives darstellt: was er schreibt, bleibt immer bloße
Beschreibung und als solche matt und unwirksam. Dies zeigen eben jene
Schilderungen Zolas und der modernen Naturalisten überhaupt. Wo sie
wirken, wirken sie durch lebendige Züge, nicht aber durch die Fülle der
aufgehäuften Einzelheiten. Diese sind vielmehr oft genug ein Hindernis,
„weil dabei notwendigerweise eine Masse gehaltloser Züge mit unterlaufen
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müssen“. „Für alle Beschreibungen des Dichters gilt nur die eine Regel:
er bilde jeden einzelnen Zug so lebensvoll als möglich und sorge dafür,
daß die Gehaltssumme der einzelnen Züge sich zu einer lebendigen Gehaltseinheit
zusammenschließt; dann stellt sich Illusion des einheitlichen
Bildes ein, und diese Illusion möglichst kräftig zu erzeugen, ist seine Aufgabe.“
) Insbesondere Dessoir hat ihr lebhaft beigestimmt und in einem der besten Abschnitte
In der jüngsten Zeit hat Jonas Cohn in der bereits angeführten Abhandlung einige
Auch H. Roetteken hat im Eingangskapitel seiner oben angeführten Poetik der
Dies ist in ihren wesentlichen Zügen die Theorie Theodor A. Meyers.
Sie hat überall Beachtung, vielfach Anklang gefunden.1) Und in der Tat,
wie sie mit sich selbst übereinstimmt, so steht sie auch in Übereinstimmung
mit dem, was jeder an sich selbst erleben kann und was sich uns
im vorigen Abschnitt ergeben hat: der Dichter erweckt nicht durch anschauliche
Bilder, die er entwirft, so wenig wie durch den Inhalt seiner
seiner Ästhetik (S. 353─368) in dem gleichen Sinne über die Anschaulichkeit
der Sprache gehandelt. „Unser seelisches Leben ist so eigentümlich entwickelt, daß an
Worte dieselben Folgen sich anschließen, wie an das Erleben einer Wirklichkeit, der die
Worte entsprechen; ja es gibt Menschen, bei denen der durch die Rede hervorgerufene
Eindruck stärker ist als der aus der Realität stammende Eindruck.“ „Darnach braucht die
Schilderung eines Menschen oder einer Gegend keineswegs optische Vorstellungen zu
wecken und kann doch so eindrucksvoll sein wie ein Gemälde.“ Wenn freilich Dessoir
die Auffassung der Poesie als Wortkunst so auf die Spitze treibt, daß der ästhetische
Genuß ihm ein für allemal „an den Wort- und Satzvorstellungen selber haftet“, so klingt
das doch gar zu sehr nach artistischer Einseitigkeit, die über der Form den Gehalt vergißt,
und der Versuch, Redekunst (im Sinne von Rhetorik) und Drama in enge Verbindung
zu bringen, der sich für ihn als Folgerung dieser Anschauungsweise ergibt, muß
mißglücken, weil er den Wesensgehalt dieser Kunstform unberücksichtigt läßt; ─ wiewohl
nicht zu verkennen ist, daß ein rhetorisch dialektisches Element in der griechischen
Tragödie oft stark hervortritt.
Einwendungen und Einschränkungen Meyer gegenüber erhoben. Indessen, wenn er „den
Erlebnischarakter“ des poetischen Eindrucks hervorhebt, so setzt er sich damit sachlich
nicht in Widerspruch zu Meyer, der ja Wiedergabe des Lebens als die Aufgabe der Kunst
und Nachempfinden des Lebensgehalts als das Wesen der dichterischen Wirkung betrachtet.
Und die These, mit der Cohn seine Kritik schließt, daß nämlich, wenn man nur unter
Anschauung im ästhetischen Sinne „vollständiges bewußtes Erleben“ verstehe, die poetische
Sprache sehr wohl im Stande sei, Anschauungen zu erzeugen, kann Meyer von seinem
Standpunkte durchaus gelten lassen. Schwerer wiegt, was Cohn S. 9 hervorhebt: „Die
ganze Trennung des Seelischen und Körperlichen, die in der Wissenschaft notwendig ist,
geht im Grunde die Kunst nichts an. Für den Künstler besteht überall die volle Einheit
der Erscheinung wie für den naiven Menschen. Die ausdrucksvolle Gebärde und
das ausgedrückte Gefühl, der blühende Baum und der Eindruck fröhlichen Lebens, den
er erweckt, sind für ihn nicht zwei Dinge, die vereint werden sollen, sondern sie sind
unmittelbar dasselbe.“ Aber auch dies trifft doch mehr die Formulierung Meyers als den
Inhalt seiner Lehre, die ja gerade auf der Untrennbarkeit seelischer und sinnlicher Eindrücke
beruht. ─
Frage eine eingehende Erörterung gewidmet und besonders die psychologische Selbstbeobachtung
herangezogen.
Darstellung überhaupt, Stimmung und Gefühl, sondern durch die Stimmung,
die er zu erwecken versteht, zwingt er uns, zu erleben, zu glauben und
schließlich zu sehen, was er darstellt. Diese Gefühle und Stimmungen aber
zu erregen vermag er nur durch die unmittelbare Kraft der Sprache, die
Kraft, inneres Leben zu lebendigem Ausdruck zu bringen und eben hierdurch
unsere Seele mit in Schwingungen zu versetzen. Was wir als
Anschaulichkeit dichterischer Darstellung empfinden, ist auf dieses innere
Leben zurückzuführen.
Ein Beispiel möge den Gedanken veranschaulichen:
Den leisen Schlaf, der mich gelind umfing,
Daß ich, erwacht, aus meiner stillen Hütte
Den Berg hinauf mit frischer Seele ging;
Ich freute mich bei einem jeden Schritte
Der neuen Blume, die voll Tropfen hing;
Der junge Tag erhob sich mit Entzücken,
Und alles war erquickt, mich zu erquicken.
Diese Schilderung des Frühlingsmorgens, der erwachenden Natur, wird
jedem, der sie liest, als ein höchst anschauliches Bild erscheinen. Und
doch, wenn wir die Worte und Wendungen Goethes näher betrachten, so
finden wir, daß kaum eines darunter unmittelbar eine sinnliche Anschauung
hervorruft. Die neue Blume, die voll Tropfen hing, ist die einzige
im hergebrachten Sinne anschauliche Wendung und „neue Blume“ ist wahrlich
kein besonders sinnlich packender Ausdruck. Was die Worte bezeichnen,
ist nur der Widerhall, das Erlebnis in der Seele des Dichters,
die Morgenstimmung, die durch die Eindrücke der Natur hervorgerufen ist.
Und eben hierdurch wird in dem Leser selbst diese Morgenstimmung so
kraftvoll erweckt, daß er glaubt, das Bild der taufrischen Bergwiese vor
sich zu sehen, über die der Dichter schreitet.
Ein entsprechendes Beispiel aus der epischen Poesie geben uns die
ersten Strophen der Braut von Corinth:
Kam ein Jüngling, dort noch unbekannt.
Einen Bürger hofft' er sich gewogen;
Beide Väter waren gastverwandt,
Hatten frühe schon
Töchterchen und Sohn
Braut und Bräutigam voraus genannt. ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─
Und schon lag das ganze Haus im Stillen,
Vater, Töchter; nur die Mutter wacht;
Sie empfängt den Gast mit bestem Willen,
Gleich ins Prunkgemach wird er gebracht.
Wein und Essen prangt,
Eh' er es verlangt;
So versorgend wünscht sie gute Nacht.
Wird die Lust der Speise nicht erregt;
Müdigkeit läßt Speis' und Trank vergessen,
Daß er angekleidet sich aufs Bette legt;
Und er schlummert fast,
Als ein seltner Gast
Sich zur offnen Tür hereinbewegt.
Denn er sieht, bei seiner Lampe Schimmer
Tritt, mit weißem Schleier und Gewand,
Sittsam still ein Mädchen in das Zimmer,
Um die Stirn ein schwarz- und goldnes Band.
Wie sie ihn erblickt,
Hebt sie, die erschrickt,
Mit Erstaunen eine weiße Hand.
Auch diese Strophen wirken im hohen Maße anschaulich plastisch, und
doch sind die Bezeichnungen, die der Dichter wählt, fast alle ganz allgemeiner
Natur und entbehren im einzelnen jeder sinnlichen Bestimmtheit:
ein Jüngling, die Mutter, Wein und Essen; ─ man vergleiche diese Darstellungsweise
mit den entsprechenden Szenen der Gastfreundschaft bei
Homer, mit ihrem Reichtum an anschaulichen Einzelheiten! Die weiße
Kleidung, das schwarz und goldene Band um die Stirn des Mädchens ist
bei Goethe das einzige unmittelbar Sinnenfällige. Aber von vornherein
werden wir in den Seelenzustand des Jünglings versetzt, und das innerliche
Wesen der Personen tritt lebhaft hervor. Die Mutter sagt vorsorgend
gute Nacht; das Mädchen tritt still und sittsam ins Zimmer; so ruft der
Dichter eine lebendige Mitempfindung hervor, und eben diese ist es, was
uns die Illusion der Anschauung erregt.
Wir sehen: diese Beispiele stimmen. Nun aber erhebt sich gleichwohl
die Frage, ob und wieweit man das Recht hat, ihre Geltung zu verallgemeinern.
Ist das Verhältnis zwischen Gefühl und Anschauung in der
Tat immer das gleiche? Erweckt eine kraftvolle Stimmung, wo sie uns
in einem Gedicht entgegentritt, stets anschauliche Bilder? Und umgekehrt:
erwächst anschauliche Wirklichkeit stets und einzig aus der Lebendigkeit
eines Gefühlstons? Auch hier sollen ein paar Beispiele der Zweifel veranschaulichen
und begründen. Ich setze zunächst ein Gedicht von Paul
Verlaine hierher, das in freier Übertragung folgendermaßen lautet:
Am rot erglühten Abendhimmel schwanken,
Die einst als Tageshoffnungen mich riefen!
Es wächst die Glut im Weichen: sieh' da ranken
Narzissen, Tulpen, Lilien auch, die schlanken,
Geheimnisvoll empor an gold'nen Schranken.
Betäubend süße Düfte ringsum triefen,
Die in der Blumen stillen Kelchen schliefen,
─ Narzissen, Tulpen, Lilien auch, den schlanken ─
In tiefe Ohnmacht Geist und Sinne tauchend, ─
Erinn'rungsträume fahl in Dämmertiefen!
Niemand wird sich dem Eindruck verschließen, daß in diesen Versen eine
tiefe und starke Empfindung zu lebensvollem, tief wirksamem Ausdruck
kommt. Aber irgendwelche greifbare Anschauung hat der Dichter offenbar
weder erreicht noch erstrebt. Das Gedicht ist ein Abbild dunkel wogender
Empfindungen und Gefühle, hervorgerufen durch den Anblick des rotglühenden
Abendhimmels, beim Einbruch der dämmernden Sommernacht
mit ihren schwülen Blumengerüchen. Leise verschweben in diesem Chaos
von Farben und Düften vergangene Erlebnisse, Hoffnungen, die nun zu
Erinnerungen geworden sind, und mit dem Abendrot dämmernd verschmelzen.
Aber nirgends ein Bild, alles wogt und schwankt wie die Seele
des Dichters selbst, in der die Träume der Vergangenheit verschwimmen. ─
Nicht ganz so gegenstandslos, aber doch nahe verwandt dieser Kunst
reiner Stimmung sind einige Gedichte Mörikes, vor allem eines seiner
schönsten, der „Gesang zu Zweien in der Nacht“. Auch hier fast nirgends
ein fest umrissenes Bild, und wo ein solches flüchtig auftaucht wie das
von den „seligen Feen, die im blauen Saale silberne Spindeln hin und
wieder drehen“, da gibt es keine Anschauung, bei der wir verweilen sollen:
eine sanft verschwebende süße Musik, das ist der Charakter dieser Verse.
Man sieht, es kann ein Gedicht tiefe und echte Stimmungen zu sprachgewaltigem
Ausdruck bringen und doch von jeder Anschaulichkeit entfernt
sein.
Und nun eine lyrische Schilderung gänzlich anderer Art. Die erste
Strophe von Matthias Claudius' Abendlied:
Die goldnen Sternlein prangen
Am Himmel hell und klar.
Der Wald steht schwarz und schweiget,
Und aus den Wiesen steiget
Der weise Nebel wunderbar.
Hier ist wahrlich von Gefühlsleben wenig zu spüren. Fast sachlich trocken
stehen die Sätze nebeneinander. Nur das eine Schlußwort „wunderbar“
deutet eine Stimmung an. Und doch ist es zweifellos, daß der Dichter
ein hohes Maß wirklicher Anschaulichkeit erreicht hat: die meisten Leser
werden den dunklen Wald, die sternbeschienene Wiese, von der er sich
abhebt und aus der die weißen Nebel aufsteigen, scharf umrissen vor sich
zu sehen glauben. Woher nun aber diese kraftvolle Anschaulichkeit,
wenn sie nicht aus der Stimmung, dem bewegten Gefühl heraus, erklärt
werden kann?
Auch hier möge ein hübsches kleines Gedicht Mörikes die Beobachtung
unterstützen:
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Septembermorgen.
Noch träumen Wald und Wiesen:
Bald siehst du, wenn der Schleier fällt,
Den blauen Himmel unverstellt,
Herbstkräftig die gedämpfte Welt
In warmem Golde fließen.
Es muß doch wohl so sein, daß in diesen Gedichten die Bezeichnung
der Sinneseindrücke, besonders der Farben der Landschaft unmittelbar entsprechende
Anschauungen in uns erweckt, und offenbar sind es die starken
Kontrastwirkungen, durch die sie verschärft und belebt werden: der schwarze
Wald und der weiße Nebel, der blaue Himmel und das warme Gold der
Herbstlandschaft. Das schließt keineswegs aus, daß diese Sinneseindrücke
mit einem starken Gefühlston verbunden, in der Seele des Dichters lebendig
geworden sind und gerade hierdurch auch seine Sprache so kraftvoll und
wirksam gestaltet haben. Aber es ist doch deutlich, daß diese Verse nicht
zunächst Stimmungen und Gefühle und hierdurch erst die Illusion der
bestimmten Anschauung wachrufen, sondern daß es umgekehrt bestimmte
Elemente sinnlicher Farbenanschauungen sind, die in uns erweckt werden
und aus denen die Stimmung vielmehr erst hervorgeht.
Diese Möglichkeit wird durch eine allgemeinere Erscheinung bewährt.
Es gibt eine Anzahl epischer Dichter und Romanschriftsteller, deren Darstellung
in besonders hohem Maße den Eindruck sinnlicher Anschaulichkeit
hervorruft. Je nach der Richtung, der sie angehören, eignet ihren Bildern
eine komische Drastik oder eine unheimlich visionäre Deutlichkeit. Für
das erste ist Dickens, für das zweite E. A. Poe typisch, während E. Th. A.
Hoffmann beide Wirkungen vereinigt. Konrad Ferdinand Meyers Gestalten
und Szenen besitzen vor allem plastische Festigkeit und monumentale Größe,
während die seines Landsmanns Keller mehr malerische als plastische Eigenschaften
zeigen: lebendige Frische und künstlerische Harmonie der Farben,
feine Abtönung der Landschaft und liebevolle Anschaulichkeit des charakteristischen
Details. Bei allen Genannten aber hat man den Eindruck, daß
sie scharf umrissene Bilder gesehen und wiedergegeben haben, und jeder
einigermaßen phantasievolle Leser wird bei ihrer Lektüre ähnliche, wenn
auch schwächere Bilder zu sehen glauben. Nun mag hieran immerhin die Kraft
des Gefühlslebens, welche Worte und Darstellungen durchtränkt, einen starken
Anteil haben. Vergleicht man aber die genannten Dichter mit anderen, die ihnen
der Gefühlsweise nach verwandt sind, so sieht man bald, daß die Stärke des
Gefühls es nicht allein macht, daß vielmehr noch etwas anderes hinzukommen
muß, um die Eigenart dieser Bildlichkeit zu erklären. Denn Jean Paul empfindet
an sich gewiß nicht schwächer als Dickens, das innere Leben, das
Hölderlins Hyperion erfüllt, ist nicht minder intensiv als das im Grünen
Heinrich, und W. Alexis' Fähigkeit zu phantasievollem Nachempfinden geschichtlicher
Persönlichkeiten und Ereignisse ist nicht geringer als die
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Konrad Ferdinand Meyers. Wenn nun gleichwohl die Bilder und Szenen,
welche die drei letztgenannten entworfen, so beträchtlich schärfere Umrisse
und anschaulichere Farben aufweisen, so kann das nicht ausschließlich
durch die Intensität des inneren Nacherlebens und Nachempfindens bewirkt
sein; vielmehr muß in der Art dieses Erlebens und Empfindens
eine Verschiedenheit liegen. Offenbar verläuft bei einer Reihe von Dichtern
das künstlerische Erlebnis selbst mehr im Inneren und Unanschaulichen,
bei anderen wahrt es mehr den Zusammenhang mit der sinnlichen Anschauung.
Mit anderen Worten: auf die Innenwelt der einen wirken die
anschaulichen Eindrücke der Außenwelt stärker nach, auf die anderen
schwächer, ohne daß darum die innere Lebendigkeit selbst, die Kraft der
Phantasie an sich stärker oder schwächer zu sein brauchte. Sie nimmt
eben nur eine andere Richtung, trägt einen anderen Charakter. Natürlich
genug: wenn wir der Poesie die mittlere Stelle zwischen Musik und bildender
Kunst eingeräumt haben, so kann das nicht heißen, daß sie auf einer
scharf bezeichneten Linie ein für allemal festliegt: sie bewegt sich vielmehr
in einem weiten Zwischenraum auf und ab und nähert sich je nachdem
mehr dem einen oder dem anderen Extrem. Jeder Dichter zwar ist, wie
die Psychologie es ausdrückt, auditiv veranlagt, d. h. Gefühle und Empfindungen
setzen sich ihm unmittelbar in Wortklänge um, die er innerlich
hört und in seinen Versen wiedergibt: sonst wäre er eben kein Dichter.
Hierzu aber gesellt sich ein sehr verschiedenes Maß visueller Begabung.
Der eine sieht scharf und deutlich, wo der andere nur schwache Umrisse
erblickt, aber vielleicht um so stärker und innerlicher ergriffen und bewegt
ist, und ihre Schöpfungen tragen deutlich den entsprechend verschiedenen
Charakter.
Die Verschiedenheit haftet nicht ausschließlich an der Persönlichkeit
des Dichters; sie hängt bisweilen einfach von dem Gegenstande der Darstellung,
dem Inhalt des dichterischen Erlebnisses ab. Derselbe Goethe
schreibt in derselben Epoche seines Lebens den subjektiv innerlichen
Werther und den durchaus plastisch anschaulichen Wanderer. Auch die
Gattung des Gedichts übt Einfluß aus: das Epische erfordert mehr anschauliches,
Drama und Lyrik mehr innerliches Erleben; man vergleiche
den Tasso mit Hermann und Dorothea. Das Entscheidende aber bleibt
gleichwohl die individuelle Anlage des Dichters. Die gefühlsbetonte Empfindung,
aus der die Dichtersprache und die poetische Darstellung überhaupt
hervorgeht, ist nicht bei allen Dichternaturen die gleiche. Sie kann
mehr oder weniger objektiven Anschauungsgehalt, mehr oder weniger subjektive
Gefühlstöne enthalten, wie das auch im Gebiete der elementaren
Sinnesempfindung der Fall ist. Dort steht beides zumeist im umgekehrten
Verhältnis; in den höheren ästhetischen Erscheinungen entsprechen sie sich
mindestens nicht einfach. Auch hier besteht nicht selten ein deutlicher
Gegensatz zwischen ausgesprochen visuellen und ebenso ausgesprochen
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innerlich gewendeten Dichtern: bei E. Th. A. Hoffmann z. B. und mit einseitiger
Schärfe bei E. A. Poe tritt die visuelle Anlage hervor, an Klopstock
vermißte schon Schiller mit Recht jedes anschauliche Element.
Bei den größten Dichtern freilich finden wir fast stets einen Ausgleich
zwischen den Extremen: äußere Anschauung und inneres Leben halten
sich hier die Wage, und Goethes künstlerischer Wirklichkeitssinn bleibt
von Klopstocks oder Jean Pauls subjektiver und gefühlsmäßiger Art ungefähr
ebenso weit entfernt wie von der drastischen Anschaulichkeit Hoffmanns
oder Poes. Und was vom Dichter, das gilt gleichermaßen auch vom
Leser. Auch hier hängt es von der Veranlagung des einzelnen ab, ob er
beim Lesen und Hören mit mehr oder weniger bildlicher Deutlichkeit sieht,
ob ihm die nachschaffende Phantasie mehr in anschaulichen Bildern oder
in gefühlsmäßigen Vorstellungen verläuft. Leser von ausgeprägt visuellen
Anlagen sehen eben mehr als andere, die gleichwohl ebenso stark nachfühlen
und nacherleben, und das Maß von bildlicher Anschauung, das die
Worte eines Dichters erwecken, ist keineswegs für alle seine Leser das gleiche.
Jene ausgeprägt visuellen Dichter, von denen oben die Rede war, üben
freilich eine Art von suggestiver Wirkung auch auf schwächer anschauende
Leser, aber die Bilder, die sie wachrufen, werden sich vermutlich immerhin
an Schärfe und Kraft der Einzelzüge sehr verschieden gestalten. Erst durch
das Zusammentreffen der Eigenart des Dichters mit der des Lesers wird
die Eigenart der Wirkung völlig bestimmt.
Wenn mithin Th. A. Meyers Lehre vom Verhältnis des Gefühls zur Anschauung
in der Hauptsache richtig ist, so trägt sie doch den individuellen
Eigentümlichkeiten des künstlerischen Schaffens und Genießens zu wenig
Rechnung.
Ganz richtig schildert Meyer das Wesen des sprachlich dichterischen
Prozesses. Alle schaffende und nachschaffende Phantasie wird durch Bilder
früherer Anschauungen erfüllt und getragen. Das Anschauungsbild verlischt
mit der sinnlichen Erscheinung des Angeschauten und wird als Erinnerungsbild
niemals wieder in vollem Umfang und mit allen einzelnen
Zügen aufs neue erweckt; nur die hervorragendsten Merkmale werden
wieder lebendig, diejenigen, „mit deren Vorstellung die Gehaltsempfindung
am engsten und unmittelbarsten assoziiert wird“. Daher „kann der Dichter
das im engsten Sinne Individuelle nicht erreichen, aber er bringt es doch
zu vollständig bestimmten und kräftigen Eindrücken, falls er uns nur
glücklich an die den Gehalt spiegelnden Züge der Erscheinung zu erinnern
weiß“. Nun aber dürfen wir nicht übersehen, daß die Schärfe und
Intensität der Sinneseindrücke und dem entsprechend die Kraft, mit der
das Gedächtnis sie in den Einzelzügen festhält, bei den verschiedenen
Menschen sehr verschieden abgestuft ist. Daher gleichen sich die Erinnerungsbilder
nicht: sie sind bei dem einen abstrakter und blasser, bei
dem andern frischer und reicher. Gleichwohl ─ und in diesem entscheidenden
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Punkte hat Meyer recht ─ kann sich ein gleich starker Gefühlsgehalt
an die allgemeine Vorstellung wie an das konkrete Bild knüpfen.
Und dieser Gefühlsgehalt ist es, den die Sprache zuerst und unmittelbar
erweckt. Auch die Anschauung gewinnt Leben und Kraft immer nur aus
dem inneren Erlebnis, der Empfindung. Aber die Eigenart dieser Empfindung
und dieses Lebens wird wesentlich mit bestimmt durch das Maß
von Anschaulichkeit und Schärfe, das den Erinnerungsbildern und den
daraus hervorwachsenden Phantasiebildern eignet.
So erklärt es sich auch, daß die auffallendsten Eindrücke, d. h. solche,
die sich von dem gewöhnlichen Erlebnis am stärksten abheben, im allgemeinen
auch am anschaulichsten wirken; also scharfe Kontraste in
Farben und Tönen, abnorme Körperformen, absonderliche Bewegungen.
Daher finden wir bei den meisten stark visuellen Dichtern die Neigung
zu dieser Art von Drastik, die ihre Wirkung niemals ganz verfehlt. Ein
Beispiel scharfer Farbenkontrastierung gab uns schon Matthias Claudius'
Abendlied. Viel weiter gehen die späteren Novellisten darin. Poes „Maske
des roten Todes“ ist ein Virtuosenstück in dieser Art, das fast ganz und
gar auf eine grobe, aber sichere Farbenwirkung gestellt ist. Dickens wirkt
vor allem durch die eigentümlich charakteristischen Bewegungen, die er
seinen Menschen beilegt: wir haben doch alle mehr als einen bloßen Gefühlseindruck,
wenn wir im Copperfield lesen, wie Uriah Heep seinen langen
Körper in beständigen Verbeugungen und Verdrehungen krümmt und dabei
die feuchten langen Finger ineinander windet, oder wie Betsey Trotwood
mit dem Rücken ihres Daumens die Nase reibt.
Was hier von der dichterischen Darstellung im allgemeinen gesagt
ist, das findet seine Erklärung in dem Wesen ihres Ausdrucksmittels, der
Sprache. Dasselbe Wort, dieselbe sprachliche Vorstellung bedeutet zwar dasselbe
für jeden, der es schreibt oder liest, aber es hat darum keineswegs
auch für jeden den gleichen Reichtum des Inhalts und die gleiche Färbung.
Das Wort „Meeresrauschen“ oder „Waldeinsamkeit“ wird in verschiedenen
Seelen vermutlich sehr verschiedene Bilder und Empfindungen erwecken.
Gewiß das Individuelle als solches läßt sich nicht aussprechen. Aber es
ist ebenso zweifellos, daß das allgemein Ausgedrückte, die sprachlich fixierte
Vorstellung, eben weil sie allgemeiner Natur ist, beim Sprechen und Hören
mit individuellem Inhalt erfüllt wird. Die Sprache gestattet ihrer Natur
nach dem Dichter das, was er voll und reich in sich erlebt hat, immer
nur in Umrissen und Grundschattierungen wiederzugeben. Er muß es
dem Leser überlassen, dieselben aufs neue mit individuellem Inhalt zu erfüllen
und zu beleben. Jedes Gedicht ist eine Art von Aufforderung hierzu
und stellt in diesem Sinne dem Leser eine Aufgabe. Daher ist künstlerisches
Aufnehmen und Verstehen niemals ein rein passives Empfangen
und Genießen: es erhebt stets Anspruch an die tätige Kraft der Phantasie
und des Denkens.
Das Gleiche zeigt sich uns endlich, wenn wir die besonderen
Ausdrucksmittel der Dichtersprache betrachten, von denen Vergleichung
und Metapher1)
nebst ihrer Abart, der Personifikation, für
unsere Fragen die wichtigsten sind.
Die Übertragung also, ebensowohl wie der ausgeführte Vergleich, trifft
immer nur einzelne Züge des Verglichenen. Dies aber sind zumeist gerade
solche, die an sich schon stark und anschaulich hervortreten und keiner
neuen Veranschaulichung bedürfen.
Die Worte werden bei jedem Hörer wirken, und doch kommen sie zu
keinem deutlichen Bild: womit werden die Verwünschungen verglichen, die
tränenschwer vom leuchtenden Himmelsgewölbe herabsinken?
Der Hauptzug, das Streben nach entgegengesetzten Richtungen des Seelenflugs
wird deutlich, aber ein einheitliches Bild ergeben die Einzelzüge
gewiß nicht. Und doch welche Wirkung ist von dieser Stelle ausgegangen
und erneuert sich bei jedem erneuten Lesen!
Nur aus dieser Natur des sprachlichen Bildes kann auch die Wirkung
der Hyperbel erklärt werden.1) Die sprachliche Übertreibung bedeutet
stets ein Durchbrechen des Bildes. Sie würde zumeist rettungslos ins
Lächerliche verfallen, wenn man sie als Bild ausmalen wollte: „O, daß ich
tausend Zungen hätte und einen tausendfachen Mund!“ Sie ist also nur
dazu da, um den gefühlsmäßigen Eindruck zu verstärken und nur deshalb
erträglich, weil sie nichts weiter will als dies.
Das Gleiche gilt endlich von der Personifikation. Sie ist nur
wirksam, wenn sie unmittelbar aus einem starken Empfinden hervorgeht,
von innen heraus durch die Stimmung belebt wird; sonst bleibt sie eine
rein rhetorische Wendung, die nichts als die Geschlechtsbezeichnung des
Worts zum Ausdruck bringt: Walthers „frouwe Mâze“, „frô Unfuoge“ kamen
seinen Hörern schwerlich als lebendige Wesen zum Bewußtsein, während
der „hêr Stock“, eine Ausgeburt grimmigen Hohnes, eben als solche eine
Art persönlichen Lebens empfängt. Wie aber aus der vollen Stimmung
heraus die Vorstellung persönliche Gestalt und lebendiges Dasein gewinnt,
zeigen besonders schön eine Anzahl Stellen in Goethes Iphigenie.
Des größten Vaters, endlich zu mir nieder:
Wie ungeheuer steht dein Bild vor mir!
Kaum reicht mein Blick dir an die Hände, die
Mit Frucht und Segenskränzen angefüllt,
Die Schätze des Olympus niederbringen.
Ganz ähnlich ist es, wenn Zweifel und Reue leise aus den Winkeln
herbeischleichen, und zum anmutigsten Bilde wird die Vorstellung des Friedens
in Schillers Braut von Messina:
Liegt er gelagert am ruhigen Bach.
So zeigt sich auch hier überall, daß Gefühl und Empfindung die Quellen
sind, aus der die Bilder des Dichters Anschaulichkeit und Leben empfangen.
Aber auch hier wird das Maß der Anschaulichkeit, das der Sprache aufgeprägt
ist, abhängen von der persönlichen Anlage des Dichters und
zwischen den ins einzelste gesehenen Bildern Homers und den nicht
minder zahlreichen, aber stets nur dämmerschwach umrissenen Vergleichen
Klopstocks dehnt sich eine Stufenleiter aus, die für zahlreiche Dichterindividualitäten
Raum gibt.
Es war eine Lieblingsvorstellung
des 18. Jahrhunderts, daß die Gewalt gesteigerter Empfindungen die Menschen
zum musikalischen Ausdruck getrieben und dieser wiederum der
Sprache rhythmischen Charakter aufgeprägt habe. Und auch wir sind
noch gern geneigt, mit dem Wort: „Es ist der Geist, der sich den Körper
baut“ den Ursprung der dichterischen Formen zu erklären. Wir betrachten
es wohl als natürlich und selbstverständlich, daß die Form eines Gedichtes
durch seinen Inhalt bedingt ist, und daß der Klang der Verse diesen Inhalt
oder zum mindesten die Stimmung, die ihn beherrscht, wiederspiegeln und
zum Ausdruck bringen soll. Allein wenn diese Auffassung einem verfeinerten
künstlerischen Empfinden entspricht, so drückt sie doch keineswegs
das Verhältnis aus, das dem Ursprung nach zwischen den beiden
Elementen der Dichtung besteht. Im Gegenteil: die neuere Forschung
hat es mehr als wahrscheinlich gemacht, daß die rhythmische Form der
ältesten Dichtungen nicht aus dem Wesen der Sprache, ja, nicht einmal
aus dem der gesungenen Sprache zu erklären, sondern ihr vielmehr als
ein fremder Bestandteil von außen her aufgeprägt ist. „Das rhythmische
Element“, sagt Bücher in einem bedeutenden Werke über diesen Gegenstand,1)
„wohnt weder der Musik noch der Sprache ursprünglich inne.
Es kommt von außen und entstammt der Körperbewegung, welche der
Gesang zu begleiten bestimmt ist und ohne welche er überhaupt nicht
vorkommt.“
Die Tendenz zur rhythmischen Bewegung erwächst, wie schon ältere
Forschung wahrscheinlich gemacht hat, aus den anatomischen und physiologischen
Verhältnissen unseres Körpers: „Lungen und Herztätigkeit, die
Bewegung der Arme und Beine vollziehen sich unter gewöhnlichen Umständen
rhythmisch.“ Aber die Arbeit oder das, was ihr bei den primitiven
Völkern entspricht, ist es nach Büchers Theorie, wodurch diese Tendenz sich
Arbeit und Rhythmus. 3. Aufl. Leipzig 1902. S. 42.
zuerst entwickelt hat. Die Arbeit, die durch den Rhythmus erleichtert, weil
„mechanisiert“ wird, bedurfte zur Regulierung des Bewegungsrhythmus der
menschlichen Stimme, des primitiven Chorgesangs, aus dem Musik und
Dichtung in weiterer Entwicklung hervorgegangen sind. Damit gelangt
Bücher zu dem Schluß, daß ursprünglich „Arbeit, Musik und Dichtung
in eins verschmolzen gewesen sein müssen, daß aber das Grundelement
dieser Dreieinheit die Arbeit gebildet hat“ (S. 348). So entscheidend ist
ihm dieser unmittelbare Zusammenhang, daß ihm selbst der Tanz in seiner
Verbindung erst als eine Nachahmung oder Übertragung der Arbeitsbewegung
zu sein scheint, während man bisher geneigt war, in der Verbindung von
Reigen und Chorlied die primitive Form der Dichtung zu sehen.1) Und
in der Tat dürfte es nicht möglich sein, den Ursprung des Tanzes aus der
Arbeitsbewegung nachzuweisen. Vielmehr ist es wahrscheinlich, daß der
Marschbewegung und dem Reigen eine ebenso ursprüngliche und schöpferische
Bedeutung zukommt wie der Arbeit, und K. Bruchmann2) vermutet
sehr annehmbar: „Der Rhythmus, weil in der menschlichen Organisation
begründet, hat sich bei zwei Tätigkeiten herausgebildet, aus Arbeit und
aus Tanz.“
Wie dem nun auch sein mag, ob der Rhythmus aus der Arbeit, dem
Tanz oder aus beiden hervorgegangen ist, oder ob noch andere Faktoren
an seiner Ausbildung beteiligt waren: an die Sprache ist er von außen
herangetreten und nicht aus ihrem inneren Wesen hervorgewachsen; er ist
der Rede an sich ein fremdes Element. Daher folgt auch seine Entwicklung
ihren eigenen Gesetzen und bildet mithin für die wissenschaftliche
Forschung ein eigenes Gebiet, die Metrik. Auch in diesem Werke ist
demselben eine besondere Abteilung zugewiesen, und meine Aufgabe kann
es nicht sein, die dort erreichten Ergebnisse noch einmal zu erörtern.
Wohl aber hat die Poetik die Frage zu beantworten, wie weit sich, trotz
der selbständigen Entwicklung der metrischen Form ein innerer Zusammenhang
zwischen ihr und dem inhaltlichen Wesen der Dichtung feststellen
läßt, und welches die Gesetze dieses Zusammenhanges sind. Dies soll
denn im folgenden geschehen. ─
Der dichterische Rhythmus also ist der Sprache ursprünglich wesensfremd,
er bindet sie im eigentlichen Sinne des Worts, an Formen nämlich,
die nicht ihre eigenen sind. So erklärt sich die Tatsache, daß die älteste
Poesie, von der wir wissen, einen organischen Zusammenhang zwischen
der metrischen Form einer Dichtung und ihrem Inhalt nicht kennt. Nur
ein Gesetz allgemeiner Art läßt sich hier aufstellen, das, soviel wir sehen,
So auch W. Wundt, Völkerpsychologie I S. 269 ff. Nach ihm ist „das Tanzlied
die aller Wahrscheinlichkeit nach ursprünglichste Form des Gesanges. Aus dem Tanzlied
sind, wie wir annehmen dürfen, als die zwei nächsten Formen menschlicher Gesangsrhythmik
in divergierender Entwicklung die Arbeits- und Kultgesänge hervorgegangen“.
K. Bruchmann, Poetik. Naturlehre der Dichtung. Berlin 1898. S. 31.
überall zur Geltung kommt und mithin ein natürliches Verhältnis bezeichnet,
dieses nämlich, daß größere rhythmische und inhaltliche Abschnitte einander
entsprechen, einander stützen und stärken. Ja, es gibt Gliederungen,
denen der rhythmische Charakter in eigentlichen Sinne ganz abgeht, und
die ausschließlich durch die Gegenüberstellung ungefähr gleich langer Sätze
gebildet werden: das ist in dem sogenannten Parallelismus der hebräischen
Poesie der Fall, wie sie uns im Psalter und im Hohen Lied entgegentritt:
Mir wird nichts mangeln,
Er weidet mich auf einer grünen Aue,
Er führet mich zu frischem Wasser. ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─
Du breitest vor mir einen Tisch gegen meine Feinde,
Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein.
Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang,
Und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.
Auch da, wo sich ausgesprochne Rhythmen und feste Maße, wo sich Verse
und Strophen herausgebildet haben, ist es die Regel, daß Verseinschnitt
und Versende durch entsprechende Abschnitte in Sinn und Rede bezeichnet
werden. Ist es auch nicht immer ein Satzende, mit welchem der metrische
Abschluß eintritt, so ist es doch der Regel nach die natürliche Pause, die
nach einer enger zusammengehörigen Wortgruppe entsteht. Das sogenannte
Enjambement, die Versüberschreitung, oder wie wir vielleicht deutlicher
sagen können, die Versverschleifung, ist immer nur eine Ausnahme.1) Freilich
ist sie in der antiken Poesie immerhin weit häufiger als in der germanischen
und modernen, wie aus dem Charakter der beiden Arten der
Versmessung ohne weiteres erklärlich ist. Denn wo, wie in der germanischen
Poesie, Wortton und Verston zusammenfallen, da wird auch die Satzbetonung
eine Störung durch das Versende nicht wohl ertragen, und auch
der Versrhythmus selbst muß durch eine solche Diskrepanz gestört werden.
Wo aber das Prinzip des Versakzents mit dem Wortton an sich nichts zu
tun hat und daher selbständiger und schärfer hervortritt, wie es in der
antiken Verskunst geschieht, da wird es auch leichter dem Satze Gewalt
antun können, ohne selbst darunter zu leiden. Daher findet sich bei Homer
die Versverschleifung nicht selten, im Nibelungenliede niemals. Daß vollends
das Strophenende durch Satz und Sinn überschritten wird, kommt auch in
der antiken Dichtung sehr wenig vor und unser modernes Ohr empfindet
es selbst hier als eine kaum erträgliche Härte.
Sehen wir nun aber von diesen Gesetzen der Vers- und Redescheidung
ab, so fehlt der älteren Dichtung und insbesondere der Volkspoesie das
Gefühl für den inneren Zusammenhang der Form mit dem dargestellten
Inhalt durchaus. Das Volksepos zeigt uns überall feste metrische Formen.
In dem einmal gebildeten oder überlieferten Metrum wird jeder Inhalt
gleichmäßig dargestellt: „fröuden, hôchgezîten, weinen und klagen“ sprechen
aus denselben Rhythmen zu uns. Und das zweite Element der Melodie
des Verses, die Klangfarbe, ist in ihrer charakteristischen Eigenart noch gar
nicht zum Bewußtsein des Dichters gekommen. Nur ganz vereinzelt taucht
im Homer oder im Nibelungenlied einmal ein Vers auf, in dem man die
Absicht der Tonmalerei mit einiger Deutlichkeit erkennt.
Dies also das ursprüngliche Verhältnis. Versform und Inhalt gehen
parallel, aber fremd nebeneinander her, nur die Abschnitte und Pausen sind
ihnen gemeinsam. Eine zweifache Entwicklung nun ist von hier aus
möglich und hat sich tatsächlich vollzogen.
Zunächst sehen wir, daß die Kunst der metrischen Form sich steigert
und zu vielfältiger Gestaltung der Verse und Strophen führt, aber gleichwohl
nach wie vor ohne Rücksicht auf den Inhalt behandelt wird. Der
Rhythmus wechselt: mannigfache Reihen und Strophen werden gebildet.
Sie tragen ausgesprochenen rhythmischen Charakter, aber dieser Charakter
bleibt unabhängig von dem Inhalt und der Stimmung des Gedichts. Das
tritt zunächst in der melischen Lyrik der Alten hervor. Wir sehen, daß
die gleichen Formen für alle möglichen Gegenstände und Empfindungen verwandt
werden; daß Horaz die Alcäische Strophe, die uns so pathetisch und
erhaben klingt, ebensowohl in Trink- und Liebesliedern anwendet, wie in
den majestätischen Römeroden des dritten Buchs, daß er die Sapphische
Strophe, die für unser Ohr einen leidenschaftlich schmachtenden Charakter
echt südlicher Natur trägt, ebenso wie die verschiedenen Asklepiadeischen
Strophen der Klage und der Freude, der Liebe und der Politik gleichmäßig
dienstbar macht. Ganz ähnlich bei den mittelhochdeutschen Minnesängern.
Auch hier ist die Strophenform und der rhythmische Charakter
der Verse im allgemeinen unabhängig vom Inhalt, ja die Einförmigkeit
dieses letzteren ruft deutlich das Bestreben hervor, die Form möglichst
mannigfaltig zu gestalten, ohne daß man doch danach strebte, ihrem Charakter
innere Notwendigkeit zu geben.
Je eigenartiger und durchgebildeter nun aber die metrische Form wird,
desto anspruchsvoller tritt sie auf. Anspruchsvoll in einem doppelten Sinne.
Denn sie lenkt nicht nur die Aufmerksamkeit der Hörer auf sich, sondern
auch die des Dichters. Sie beeinflußt die Wahl seiner Worte und ihre Stellung
und sie wirkt dadurch mittelbar selbst auf den Gedankeninhalt der Dichtung.
Eine derartige Einwirkung des Metrums auf den Stil findet auf allen
Stufen, auch der ursprünglichsten statt. Zwar geht Bücher wohl zu weit,
wenn er die Eigenart der Dichtersprache ausschließlich auf diesen Ursprung
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zurückführen will,1) aber daß die Akkomodation an das Metrum die Sprache
nach den bestimmten Richtungen hin beeinflußt, zur Erhaltung alter Sprachformen
oder zur Aufnahme mundartlicher Bildungen führt, können wir bei
Homer noch deutlich verfolgen. Und die vielen formelhaften Wendungen,
die alle älteren Epen enthalten, erklären sich auf diese Weise.
Schon der oben veranschaulichte Parallelismus läßt den gleichen Vorgang
erkennen. Er nötigt den Dichter sehr oft, seine Gedanken zweifach auszudrücken,
einem Bilde ein anderes gegenüber zu stellen, eine Vorstellung
durch eine andere zu ergänzen. Wie schon die vorhin angeführte Psalmenstelle,
so zeigen das viele andere; besonders deutlich der Anfang des 21. Psalms:
Und wie sehr fröhlich ist er über deine Hilfe!
Du gibst ihm seines Herzens Wunsch,
Und weigerst nicht, was sein Mund bittet.
Denn du überschüttest ihn mit gutem Segen,
Du setzest eine goldene Krone auf sein Haupt.
Ähnlichen Charakter tragen die Satzvariationen der altgermanischen
Epen. Weit stärker aber ist hier die Wirkung, die Stabreim und Reim auf die
Sprache ausgeübt haben; zahllose Formeln, Wendungen, die noch heute im
Volksmunde lebendig sind, zeugen davon (Stock und Stein, Stein und Bein
u. s. w.), und es ist daher kein Wunder, wenn die Dichtungen, in denen
diese Bindemittel erscheinen, über einzelne Worte und Wendungen hinaus in
ihrem Gesamtcharakter durch sie beeinflußt werden. Der knappe und markige
Stil des altgermanischen Epos ist durch den Stabreim, der die Stammsilben
stark betonter Worte auch metrisch zum Mittelpunkt der Verse machte,
zweifellos noch wuchtiger geworden.2) Der Reim der späteren Dichtungen
hingegen hat eher zu einer breiteren Darstellung geführt, bisweilen auch
wohl verführt: er veranlaßt nicht nur eintönig formelhafte Umschreibungen,
wie sie z. B. das mittelhochdeutsche Volksepos und Hans Sachs' primitive
Verskunst so oft aufweist, sondern auch steigernde Wiederholungen und
nähere Ausmalung begleitender Umstände, wie das in der lockeren und
wortreichen Erzählungsweise des höfischen Epos besonders hervortritt.
Wo nun verwickelte Strophen erscheinen oder gar ein zusammenhängendes
geregeltes Schema ein ganzes Gedicht umfaßt, da wird es
deutlich, wie die innere Form der Dichtung von der äußeren beherrscht
oder doch geregelt wird. Wo eine solche Steigerung der Form stattfindet,
ohne daß sie von einem starken Gefühl für Sprache und Rhythmus getragen
wird, da entstehen freilich üble Entartungserscheinungen, wie etwa
die Bare der Meistersinger, die zugleich verkünstelt und roh waren, „stolze
Strophengebäude aus Knittelversen“, wie man sie mit Recht genannt hat.
a. a. O. S. 346, 348.
Vgl. Heinzel, Über den Stil der altgermanischen Poesie (Quellen und Forschungen,
Heft 10). Straßburg 1895.
In den Formen dagegen, die aus der italienischen Poesie in die Weltliteratur
und speziell durch die Romantik in die deutsche Dichtung gedrungen
sind, tritt der gestaltende Einfluß der Strophe in seiner künstlerischen
Bedeutung hervor. Im Triolett, im Ritornell und wie die Tändeleien
alle heißen ─ man mag sie bei Minor, Neuhochdeutsche Metrik, S. 490 ff.
oder auch in Viehoffs Poetik S. 376 ff. im einzelnen nachlesen ─ ist der
Inhalt zumeist dem Reimspiel vollkommen untergeordnet. Aber auch in
der ernsten achtzeiligen Stanze tragen die drei ersten Reimpaare einen ausgesprochen
ansteigenden rhythmischen Charakter, um mit dem letzten Reimpaar
gleichsam auf der erreichten Höhe zu verweilen und hierdurch einen
beruhigenden Abschluß herbeizuführen. Der Dichter ist dadurch genötigt,
auch die Sprache und damit Stimmung und Gehalt dreifach zu steigern,
um dann beruhigend abzuschließen. Die letzten zwei Zeilen verhalten sich
zu den ersten sechs wie die Antwort auf die Frage oder der Nachsatz zum
Vordersatz. Besonders schöne Beispiele bietet Goethes Zueignung, vor
allem in der Strophe:
Dem aller Lieb' und Treue Ton entfloß,
Erkennst du mich, die ich in manche Wunde
Des Lebens dir den reinsten Balsam goß?
Du kennst mich wohl, an die zu ew'gem Bunde
Dein strebend Herz sich fest und fester schloß.
Sah ich dich nicht mit heißen Herzenstränen
Als Knabe schon nach mir dich eifrig sehnen?“
Das gleiche zeigt uns der prächtige Schwung der Verse in dem ersten
Monolog der Jungfrau von Orleans.
Hält man dagegen eine Stanze, in der diese innerliche Steigerung nicht
stattfindet, so fühlt man die Unvollkommenheit heraus; die lange Strophe
ermüdet, auch wenn die einzelnen Verse tadellos gebaut sind. Man vergleiche
die beiden folgenden Strophen aus Goethes „Geheimnissen“ miteinander:
Der seinen Geist mit Ruh und Hoffnung füllt,
Und auf dem Bogen der geschlossnen Pforte
Erblickt er ein geheimnisvolles Bild.
Er steht und sinnt und lispelt leise Worte
Der Andacht, die in seinem Herzen quillt;
Er steht und sinnt, was hat das zu bedeuten?
Die Sonne sinkt und es verklingt das Läuten.
Das Zeichen sieht er prächtig aufgerichtet,
Das aller Welt zu Trost und Hoffnung steht,
Zu dem viel tausend Geister sich verpflichtet,
Zu dem viel tausend Herzen warm gefleht,
Das die Gewalt des bittern Tods vernichtet,
Das in so mancher Siegesfahne weht:
Ein Labequell durchdringt die matten Glieder,
Er sieht das Kreuz und schlägt die Augen nieder.
Wie matt verläuft die erste Strophe, und wie kraftvoll und wirksam
steigert sich die zweite! Und doch ist jene bei weitem die inhaltsreichere
und die sechs ersten Zeilen der anderen drücken nichts aus, als was nachher
mit den einfachen Worten: „Er sieht das Kreuz“ gesagt wird.
Lehrreich ist es, mit der Stanze die nahverwandte Form der Siziliane
zu vergleichen. Hier nämlich, wo im letzten Zeilenpaar die gleichen Reime
wie in den drei ersten wiederkehren, fehlt der Abschluß nach der Steigerung;
das Ganze bleibt für unser Gefühl in der Schwebe und klingt in
eine gewisse Monotonie aus. Daher ist die Strophe denn besonders geeignet,
eintönige, dauernde Eindrücke oder Stimmungen wiederzugeben.
Man höre Rückert:
Aus quellgetränkten Frühlingsbüschen schallen,
Wo schwellend nur des Meeres Möven fliehn,
Und drunterhin die schäum'gen Wogen schwallen,
Ruh' ich an meerhauchfeuchtem Rosmarin
Und hör' im Wind und in der Woge Wallen
Ein Lied eintöniger Melancholien,
Dazwischen fernher teure Namen hallen.
Unter den zeitgenössischen Dichtern hat besonders Detlef von Liliencron
die Siziliane gern und mit feinem Gefühl für ihren wahren Charakter
gebildet. So in der humoristischen Strophe:
Sphinx in Rosen.
Liegt eine Sphinx, die greulichste der Katzen.
Es küssen ihr die zierlichsten Standarten,
Zwei Rosen, windgeschaukelt, leicht die Tatzen.
Das Untier schweigt, die Lippen offenbarten,
Wie schon zu Ramses' Zeiten, leere Fratzen.
Und schweigt, und schweigt und läßt auf Antwort warten, ─
Im stillen Garten schwatzen nur die Spatzen.
Die ausgesprochene metrische Eigenart des Sonetts wirkt mit der gleichen
Entschiedenheit auf den architektonischen Aufbau und den Charakter des
Gedichts. Man lese die Charakteristik, die A. W. Schlegel in seinen Vorlesungen
1803/1804 von dieser Dichtungsform gibt.1) „Man sieht leicht ein,
daß durch so feste Verhältnisse, eine so bestimmte Gliederung das Sonett
gewaltig aus den Regionen der schwebenden Empfindung in das Gebiet
des entschiedenen Gedankens gezogen wird. Dadurch ist es unstreitig für
manche Freunde des melodischen Hin- und Herwiegens in weichen Gefühlen,
welche eine solche Herrschaft des Gemüts über seine eigene, es
Abgedruckt bei Welti, Geschichte des Sonetts in der deutschen Dichtung. Leipzig
1884. S. 249 ff.
ganz erfüllende Bewegung nicht begreifen noch dulden mögen, abschreckend
geworden. Im Sonett hingegen ist aller unbestimmte Fortgang abgeschnitten:
es ist eine in sich zurückgekehrte, vollständige und organisch artikulierte
Form. Deswegen steht es auf dem Übergang vom Lyrischen und Didaktischen,
daher erkläre man sich's, daß es zuweilen ganz epigrammatisch
wird und werden darf. Auf der anderen Seite sieht man auch im Sonett
den Typus der dramatischen Gattung ausgedrückt: die drei Teile des
Dramas, Exposition, Fortgang und Katastrophe, scheiden sich ganz deutlich.
Durch die gebundene Beschränkung wird das Sonett nun ganz besonders
bestimmt, ein Gipfel in der Konzentration zu sein.“ In der Tat ist ein
Sonett, das nur Ausdruck von Stimmung und Gefühlen ohne jedes schärfer
zugespitzte Gedankenelement wäre, nicht wohl denkbar. Man vergleiche
nur Goethes Sonette an Minna Herzlieb mit seinen sonstigen Liebesgedichten
und man wird den Unterschied sofort empfinden.
Auch die orientalischen Gedichtformen, die seit Goethes westöstlichem
Divan durch Rückerts und Platens Einfluß in die deutsche Dichtung eingedrungen
sind, besonders die Ghasele, zeigen einen ähnlichen Einfluß.
Das Ghasel ist weit freier gebaut als die romanischen Strophen; es reiht
einfach Distichen aneinander, die durch den gleichen Reim der zweiten
Zeile verbunden sind, und kann somit zu beliebiger Länge ausgedehnt
werden. Diese lockere Dehnbarkeit gestattet dem Dichter Einfall an Einfall
zu knüpfen, und oft genug wird hier der Reim nicht nur der Führer
für die einzelne Wendung, sondern auch für den Gedankengang selbst:
auch hier liegt dann wie in jenen italienischen Formen das Spiel mit
Worten und Bildern nahe. Daher eignet sich das Ghasel im allgemeinen
nicht dazu, einen streng geschlossenen Gedankengang zum Ausdruck zu
bringen, wiewohl Rückert in einigen prächtig erhabenen oder tief innigen
„Hymnen“, und Platen in einigen ernsten, reflektierenden Gedichten
auch diese widerstrebende Aufgabe gelöst haben. Zumeist aber reihen
die Ghasele in loser Verschlingung Bilder für denselben Gedanken aneinander,
sei es in leidenschaftlicher Widerholung und Steigerung erotischer
Gefühle, sei es, wie namentlich bei Platen und seinem späten Nachahmer
Bodenstedt, in einer graziösen Mischung von Ernst und Scherz; zuweilen
erscheinen sie ganz und gar als anmutiges Spiel mit einem an sich unbedeutenden
Gedanken. Den Einfluß der Form auf die Erfindung mögen
zwei kleinere Ghasele Platens, die zu den besten ihrer Art gehören, veranschaulichen.
1.
Der Vogel, dessen Lied ich lauschte, wo ist er nun?
Wo ist die Rose, die die Freundin am Herzen trug,
Und jener Kuß, der mich berauschte, wo ist er nun?
Und jener Mensch, der ich gewesen und den ich längst
Mit einem andern Ich vertauschte, wo ist er nun?
2.
Sommerlicher Schmetterlinge,
Flüchtig sind sie, sind vergänglich
Wie die Gaben, die ich bringe,
Wie die Kränze, die ich flechte,
Wie die Lieder, die ich singe:
Schnell vorüber schweben alle,
Ihre Dauer ist geringe,
Wie ein Schaum auf schwanker Welle,
Wie ein Hauch auf blanker Klinge.
Nicht Unsterblichkeit verlang' ich,
Sterben ist das Los der Dinge:
Meine Töne sind zerbrechlich
Wie das Glas, an das ich klinge.
In solchen Gedichten also trägt die metrische und strophische Form
den Dichter und seine Gedanken; sie selbst bringt Gegensatz und Steigerung
hervor und lenkt die Stimmung. So kommt hier gleichsam von
außen her ein Zusammenklang von Form und Inhalt zustande. Aber die
künstlerische Entwicklung kann nun auch den umgekehrten Weg nehmen,
und unserem deutschen Empfinden erscheint dies als das natürliche:
der Inhalt des Gedichts sucht seinen Ausdruck in der Form. Hier nun
aber ist es zunächst nicht der Rhythmus, der sich vielmehr als das sprödere
und selbständigere Element erst später dem Geist der Dichtung beugt,
sondern der Klang an sich, welcher zum Ausdruck der Stimmung wird.
Vokale und Konsonanten leihen dem Dichter die Farben für charakteristische
Tongemälde,1) Reime und Stabreime verstärken und entscheiden
den Charakter.
In der deutschen Literatur tritt uns zum erstenmal bei Gottfried von
Straßburg die Kunst der Stimmungsmalerei durch den Klang entgegen. Die
leicht geschürzten kurzen Reimpaare bilden hier nur die Unterlage, auf der
sich in leuchtender Farbenpracht die melodischen Töne abheben. Aber
ihr Wohlklang ist nicht oder doch nicht immer Zweck an sich, sondern er
bezeichnet und charakterisiert vielfach den Inhalt. Man höre die Schilderung
der Frühlingsaue, auf der das Pfingstfest König Markes stattfindet:
[Beginn Spaltensatz]
diu hete ir süeze unmüezekeit
mit süezem flîze an sî geleit. ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─
man vant dâ, swaz man wolte,
daz der meie bringen solte:
den schate bî der sunnen,
die linde bî dem brunnen,
die senften, linden winde,
die Markes ingesinde
diu süeze boumbluot sach den man
sô rehte suoze lachende an,
daz sich daz herze und al der muot
wider an die lachende bluot
mit spilnden ougen machete
und ir allez widerlachete.
u. s. w.[Ende Spaltensatz]
Diese Kunst der Lautcharakteristik ist in der mittelhochdeutschen
Literatur nicht wieder erreicht; sie bleibt so gut wie vereinzelt. Nur in
einer Anzahl von Liedern Walthers herrscht die gleiche Harmonie von
Klang und Stimmung, von Form und Inhalt. Die Reimkunststücke
Konrads von Würzburg dagegen sind bloße Formspielereien ohne charakteristische
oder überhaupt inhaltliche Beziehungen. Überhaupt ergeht sich
der spätere Minnesang, wie schon oben bemerkt, in kunstvollen Spielen
mit Klang und Reim ohne Rücksicht auf Inhalt und Stimmungsausdruck.
In den Zeiten des verwilderten Formengefühls oder der ihnen folgenden
der unselbständigen Anlehnung an romanische Muster wird niemand erwarten,
die Vers- und Klangkunst Walthers oder Gottfrieds erneuert zu
sehen. Ganz ausgestorben scheint freilich die Neigung zur Lautmalerei
und das Gefühl für ihre Mittel niemals gewesen zu sein: im 17. Jahrhundert
wenigstens finden wir beides gelegentlich auftauchend, am deutlichsten
in einer Anzahl niederdeutscher Gedichte. Aber erst seitdem
Klopstocks musikalisches Genie die deutsche Dichtersprache zu neuem
Wohlklang erweckte, gelangten auch die alten Mittel der musikalischen
Charakteristik wiederum zu tiefgreifender und allgemeiner Wirkung.
Süße Freude, wie du, gleich dem beseelteren
Schnellen Jauchzen des Jünglings,
Sanft, der fühlenden Fanny gleich! ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─
Treuer Zärtlichkeit voll, in den Umschattungen,
In den Lüften des Walds und mit gesenktem Blick
Auf die silberne Welle,
Tat ich schweigend den frommen Wunsch:
„Wäret ihr auch bei uns, die ihr mich ferne liebt,
In des Vaterlands Schoß einsam von mir verstreut,
Die in seligen Stunden
Meine suchende Seele fand.“
Solche Strophen riefen begreiflicherweise die Begeisterung des jungen
künstlerisch veranlagten Geschlechts hervor, das den Dichter als Vorbild
verehrte. Sie bedeuten eine Epoche in der Geschichte der dichterischen
Form.
Derjenige seiner Nachfolger, der die Klangmalerei am entschiedensten
zum charakteristischen Ausdruck der Situation und Stimmung gesteigert
hat, ist bekanntlich Bürger. Er verfügt über die größte Reihe starker,
zum Teil freilich auch grober Mittel der Lautmalerei. Onomatopoetische
Wortbildungen, Interjektionen und direkte Schallnachahmungen verwendet
er skrupellos zu seinem Zweck. Mit „Horrido und Hussassa“ und „Hurre
hurre hopp hopp hopp“ füllt er ganze Zeilen. Goethe ist viel vornehmer
in der Verwendung der Klangmittel als Bürger und erreicht gleichwohl
nicht minder tiefe Wirkung. Schallnachahmungen und Interjektionen vermeidet
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er ganz: nur in dem humoristischen Hochzeitlied bedient er sich
Bürgerscher Mittel. Die meisten späteren Dichter sind ihm gefolgt, und
selbst in der Romantik, die so stark dem Musikalischen zuneigt, findet
man nur selten Versgebilde wie jener Refrain in Brentanos Lustigen
Musikanten:
Das Tamburin,
Es prasseln und rasseln
Die Schellen drin;
Die Becken hell flimmern
Von tönenden Schimmern.
Um Kling und um Klang,
Um Sing und um Sang
Schweifen die Pfeifen und greifen
Ans Herz
Mit Freud' und mit Schmerz!
Klopstock benutzte, wie das oben angeführte Beispiel zeigt, die Klangmalerei
zunächst, um antike Odenschemata neu zu beleben. Seine Nachfolger
wählen zumeist volkstümlichere Formen, und wir finden, daß sie mit
Vorliebe Versmaße benutzen, die an sich wenig charakteristisch sind und
daher, wie die kurzen Reimpaare bei Gottfried, nur als unentbehrliche
rhythmische Unterlage für das Tongemälde selber dienen. Goethe liebt
die einfachen jambischen oder trochäischen Reihen, oft nur zur vierzeiligen
Strophe verbunden, so im Fischer, einem der berühmtesten Vorbilder der
Tonmalerei. Und besonders die jüngere Romantik ist hierin seine gelehrige
Schülerin gewesen. Rhythmus und Strophe sind in solchen Gedichten an
sich ausdruckslos, sie bleiben gleichsam neutral und vermögen daher nicht
nur die verschiedensten Stimmungen, sondern auch die verschiedenartigsten
Klangwirkungen gleichmäßig zu tragen:
[Beginn Spaltensatz]
Träumend, ein halb Gehör!
Bei meinem Saitenspiele
Schlafe! was willst du mehr?
(Goethe.)[Spaltenumbruch]
Es regnet, stürmt und schneit,
Ich sitze am Fenster und schaue
Hinaus in die Dunkelheit.
(Heine.)[Ende Spaltensatz]
Auch die späteren Dichter suchen fast durchweg mehr durch die Klangfarbe
als durch den Rhythmus zu malen und zu wirken und legen daher
im allgemeinen wenig Wert auf rhythmisch-metrische Eigenart und Charakteristik.
Am auffallendsten ist das bei den Formenkünstlern der Gegenwart,
von denen besonders Hugo von Hofmannsthal, der den gereimten
oder auch ungereimten fünffüßigen Jambus bisweilen mit wunderbarem
musikalischen Leben zu erfüllen weiß. So im „Tod des Tizian“:
Aus der Najade triefend weißen Händen
Sich seine Nahrung küßt, so bog ich mich
In dunklen Stunden über seine Hände
Um meiner Seele Nahrung: tiefen Traum.
Den wesenlosen, einen Sinn gegeben:
Der blassen weißen schleierhaftes Dehnen
Gedeutet in ein blasses, süßes Sehnen;
Der mächt'gen goldumrandet schwarzes Wallen
Und runde, graue, die sich lachend ballen,
Und rosig silberne, die abends ziehn:
Sie haben Seele, haben Sinn durch ihn.“
Es erscheint an sich nur natürlich, daß das Streben nach charakteristischer
musikalischer Wirkung sich mit der Klangfarbe zugleich auch den Rhythmus
dienstbar macht. Freilich liegt es, wie wir oben sahen, eben in der Natur
und dem Ursprung des Rhythmus, daß er sich dem Inhalt der Dichtung
gegenüber selbständiger und spröder verhält als der lautliche Klang, der
mit der Sprache selbst unmittelbar gegeben ist. Daher dürfen wir uns
nicht wundern, wenn uns das Zusammenwirken beider Elemente auch auf
hohen Entwicklungsstufen der Poesie immer nur verhältnismäßig spät und
selten entgegentritt.
Die Lyrik der Alten kannte, soweit sie Einzelgesang war ─ daß
es sich mit den Chorliedern anders verhielt, werden wir später sehen ─,
die Verwendung der metrischen Form zur Charakteristik des Inhalts so gut
wie gar nicht: höchstens einzelne Gattungen konnten durch die Wahl des
Versmaßes bezeichnet werden, wie z. B. die Elegie. Auch im Minnesang
blieb die Erfindung neuer Rhythmen und Strophen, so viel Wert auch
darauf gelegt wurde und so sehr sie sich zur Virtuosität steigerte, so
ziemlich unabhängig vom Inhalt und Stimmung des Gedichts. (Ob das
auch für die Weise gilt, in denen die Lieder gesungen wurden, ist nach
der Überlieferung schwerlich festzustellen.) Höchstens, daß sich der allgemeine
Charakter des Inhalts in der Schwere oder Leichtigkeit des Metrums
abschattiert, aber auch um das herauszufühlen, muß man schon so verschiedenartige
Gedichte zusammenstellen, wie etwa Hartmanns kleines
Frühlingslied: „In dem aberellen“ und die Marschrhythmen seines Kreuzliedes.
Aber nur Walther versteht die Kunst, seine Rhythmen und Strophen
zum intimeren Ausdruck seiner Gedanken und Empfindungen zu verwenden,
und einzig von einer Anzahl seiner Gedichte erhalten wir den Eindruck
eines tief künstlerischen Zusammenklangs von Inhalt und Form. So etwa
in den abwechselnd langsam ansteigenden und dann wieder schnell fallenden
Versen jenes Frühlingsliedes, in dem sich so ergreifend der Wechsel
zwischen der Erinnerung an vergangenes Leid und die schüchterne Hoffnung
auf ein neues Glück mischt:
daz si niht ensungen.
Nû hôrt ichs aber wünneclîche als ê,
nû ist diu heide entsprungen. ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─
vil getân ze leide.
Ich wânde, daz ich iemer bluomen rôt
gesaehe an grüener heide.
Doch schâte ez guoten liuten, waere ich tôt,
die nach fröuden rungen
und die gerne tanzten unde sprungen.
ausklingend in das schwermütige:
wünschet noch, daz mir ein heil gevalle.1)
Und ähnliche Eindrücke erhält man, wenn man die frische und fröhliche
Weise „Ir sult sprechen willekommen“ mit dem langgezogenen melancholischen
Rhythmus jenes späten Klagegesangs vergleicht: „Owê war sint
verswunden alliu mîniu jâr!“
Im allgemeinen muß ein regelmäßig wiederkehrendes Metrum, muß
insbesondere die Strophenbildung die rhythmische Charakteristik erschweren.
Denn was charakterisiert werden soll, Stimmung und Inhalt des Gedichtes,
ist bei weitem beweglicher als eine solche feste Form, und diese vermag
daher nicht, sich ihm im einzelnen anzuschmiegen. Daher wird für gewöhnlich
nur in kleineren Gedichten, in denen die Stimmung wesentlich
die gleiche bleibt, eine durchgehende Übereinstimmung möglich sein, wie
in dem angeführten Gedicht Walters oder dem S. 125 abgedruckten Goetheschen
„Nähe des Geliebten“. Auch Heine sind ein paar vollendete kleine
Stimmungsbilder dieser Art gelungen:
[Beginn Spaltensatz]1.
Wohl über das wilde Meer;
Du weißt, wie sehr ich traurig bin
Und kränkst mich doch so schwer.
Dein Herz ist treulos wie der Wind
Und flattert hin und her.
Mit schwarzen Segeln segelt mein Schiff
Wohl über das wilde Meer.
2.
Segelt trauervoll dahin.
Die vermummten und verstummten
Leichenträger sitzen drin. ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─
Aus der Tiefe klingt's, als riefe
Eine kranke Nixenbraut,
Und die Wellen, sie zerschellen
An dem Kahn, wie Klagelaut.
Auch die S. 129 angeführten Verse gehören hierher. In größeren strophischen
Gedichten jedoch, zumal erzählenden, die eine fortschreitende Handlung darstellen,
Eine auffallende, wenn auch natürlich rein zufällige Ähnlichkeit nach Stimmungsgehalt
und Form weist dieses Lied mit dem schönen Horazischen Frühlingsgedicht auf:
Arboribusque comae
Mutat terra vices et decrescentia ripas
Flumina praetereunt.
In beiden Gedichten mischt sich der schwermütige Gedanke der Vergänglichkeit in die
Frühlingslust, und in beiden wird die Doppelstimmung durch den Wechsel längerer und
kurzer entschieden fallender Verse rhythmisch wiedergegeben. So durchaus antik auch
das eine empfunden ist und so entschieden das andere die Sprache des ritterlichen Spielmanns
spricht, die beiden großen Lyriker verschiedener Zeiten reichen sich hier die Hände.
wird die Durchführung einer rhythmischen Charakteristik im allgemeinen
nicht möglich sein. Ein paar gläzende Ausnahmen freilich kennt die
deutsche Dichtung. Schon in Bürgers Leonore malt der aufgeregte Rhythmus
gleich anschaulich das atemlose Tempo des Totenritts wie die wilde Verzweiflung
des Mädchens, die ihm vorangeht, und wohl das höchte Meisterwerk
dieser Art ist Goethes Ballade Der Gott und die Bajadere. Die
Rhythmen sind auch hier höchst einfach, die Strophe keineswegs verwickelt;
aber es bleibt auch bei genauerem Studium immer wieder erstaunlich, wie
völlig entgegengesetzte Stimmungen und Situationen, etwa das jambisch
anapästische Metrum der zweiten Strophenhälfte gleich anschaulich zu malen
vermag:
Sie weiß sich so lieblich im Kreise zu tragen,
Sie neigt sich und biegt sich und reicht ihm den Strauß. ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─
Es singen die Priester: Wir tragen, die Alten,
Nach langem Ermatten und spätem Erkalten,
Wir tragen die Jugend, noch eh' sie's gedacht.
Das Allegro grazioso des Tanzes, wie das Maestoso des Leichenmarsches
und der Jubel des triumphierenden Finales wird von demselben Rhythmus
getragen. Wie ist das möglich? Das Rätsel löst sich dadurch, daß es
nicht allein das rein klangliche Moment ist, aus welchem die Wirkung
hervorgeht, die wir als Tonmalerei empfinden. Vielmehr vermischt sich
der Stimmungsgehalt der Worte ─ von dem wir im vorigen Kapitel ausführlich
gehandelt haben ─ so unmittelbar mit der Klangwirkung, daß wir
zumeist gar nicht imstande sind, sie auseinander zu halten. Worte, die
stärkere Gefühlstöne erregen, fallen an sich auch stärker ins Gewicht. Sie
werden beim Sprechen unwillkürlich schwerer betont, und auch beim stillen
Lesen schiebt sich die Stärke des psychischen Vorgangs unmerklich an
die Stelle der Intensität des Klanges. Worte wie „weich“, „Saitenspiel“
in jenem oben angeführten Goetheschen Verse, Wendungen wie „Wir
tragen die Alten ─ wir tragen die Jugend, noch eh sie's gedacht“ wirken
nicht bloß durch ihren Klang musikalisch, sondern auch durch die Vorstellungen,
die sich mit ihnen verbinden. In den farbensatten Bildern,
die Hofmannsthal von Tizians zauberreichem Wolkenhimmel entwirft,
spielen Klang und Bedeutung beständig ineinander, um uns den Wechsel
von Dunkel und leuchtender Helle empfinden zu lassen. Allein nur die
höchste Meisterschaft vermag es, dieses Verhältnis innerhalb eines fester
strophischen Gebildes durch ein ganzes größeres Gedicht durchzuführen.
Im allgemeinen wird auch das völlig frei und zum Zweck der Charakteristik
erfundene Metrum, sobald es sich in fester Strophenform wiederholt,
nur dem ungefähren Charakter nach oder auch an einzelnen Stellen, wo
dieser Charakter besonders deutlich hervortritt, seinem Zwecke genügen.
Besonders belehrend ist das Beispiel Klopstocks, den sein tiefes musikalisches
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Gefühl über die metrische Konvention heraushob. Wie wir sahen,
belebte er zuerst die antiken Odenmaße, die er bei Horaz fand, durch die
Klangmittel der Lautmalerei. Dann ging er dazu über, selbst Strophen zu
erfinden, deren rhythmischer Charakter den Inhalt malen sollte. Es ist
ihm das bisweilen auch glücklich gelungen, so namentlich in kleineren
Gedichten, wie „Die frühen Gräber“; in längeren Oden jedoch sieht man,
daß der erfundene Rhythmus, wiewohl er dem Charakter der Grundanschauung
entspricht, sich im einzelnen doch nur in einer oder der
anderen Strophe unmittelbar dem Inhalt anschließt, sonst aber ihm ebenso
fremd bleibt, wie ein überliefertes Schema, ja, daß er eben seiner charakteristischen
Eigenart wegen unter Umständen hemmt und stört. So im Eislauf,
wo das Versmaß, freilich nicht mit allzu viel Glück, das Gleiten des
Schlittschuhs malt:
Also nun fleuch schnell mir vorbei.“
Aber wie wenig entspricht dieser Rhythmus dem Inhalt einer Stelle wie die:
Sanft den See! Glänzender Reif Sternen gleich
Streute die Nacht über ihn aus.
Oder dem reflektierenden:
Aber belohnt Ehre sie auch?
Einen ähnlichen Eindruck erhält man von der Ode: „Unsere Sprache“,
wo das Rauschen des Waldbachs rhythmisch gemalt wird.
Daher drängt das Streben zur rhythmischen Charakteristik mit innerer
Notwendigkeit zur Auflösung der Strophe in freie Rhythmen hin. Klopstocks
Frühlingsfeier gab das berühmteste Beispiel. Noch ist die Vierzahl
der Zeile in der Schreibart festgehalten. Aber ihre Länge ist so verschieden,
daß von einer Strophenform für das Ohr nicht mehr die Rede sein kann.
Dafür schließen sich nun die Rhythmen auf das engste den Bildern und
Gedanken an, und, erfüllt von den reichsten und sattesten Klangfarben,
entfalten sie sich unter dem Einfluß der machtvoll sich steigernden Stimmung
mit ihren Gegensätzen und Höhepunkten zu einer Wortsymphonie von
musikalischer Gewalt und Größe, die doch ihren Zusammenhang mit dem
Gedankengang im einzelnen an keiner Stelle verliert. Nur die chorische
Lyrik der Griechen hatte, vor allem bei Äschylos, von der Musik getragen,
ebenso charakteristische und vielleicht noch gewaltigere Wirkungen
hervorgebracht. Unter dem unmittelbaren Einfluß dieser und einiger
anderen Klopstockschen Schöpfungen, hat Goethe seine Gedichte in freien
Rhythmen gebildet, durchweg Meisterwerke der musikalisch rhythmischen
Wortgestaltung; die Wirkung meist nicht so klanggewaltig wie bei Klopstock,
aber dafür um so intimer und zarter. Gedichte wie die Seefahrt oder
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die Harzreise im Winter verhalten sich zur Frühlingsfeier wie ein Streichquartett
zu einer Symphonie mit großem Orchester.
Die Rhythmik der Romantiker beschreitet vielfach die hier vorgezeichnete
Bahn. Hölderlin im Schicksalslied und anderen großzügigen
Gedichten, Novalis in den Hymnen an die Nacht, die freilich in unabgesetzter
rhythmischer Prosa gedruckt wurden, aber als Verse gedacht und
niedergeschrieben sind, haben besonders gewaltige und tiefe Töne angeschlagen.
Heines Zyklus „Die Nordsee“ verdankt der rhythmisch charakterisierenden
Kunst einen Teil seines lebensfrischen Reizes. Auch in der
Gegenwart treten Versuche auf, die hier anknüpfen. Richard Dehmel besonders
hat die Form der freien Rhythmen mehrfach mit Glück verwandt.
Er schreibt sie, wie einst Klopstock, gern in strophenartigen Absätzen von
gleicher Reihenzahl. Der Eingang eines seiner besten Gedichte möge das
veranschaulichen:
Faltet hoch die Nacht die blassen Hände;
Funkeläugig durch die weiße, weite,
Kalte Stille starrt die Nacht und lauscht.
Schrill kommt ein Geläute.
Dumpf ein Stampfen von Hufen, fahl flatternder Reif
Ein Schlitten knirscht, die Kufe pflügt
Stiebende Furchen, die Peitsche pfeift,
Es dampfen die Pferde, Atem fliegt;
Flimmernd zittern die Birken.
Dreifach, so hat uns die vorhergehende Betrachtung gelehrt, können
sich metrische Form und Gehalt der Dichtung zueinander verhalten:
1. Beide sind nur äußerlich aneinander geknüpft, und die Form bewahrt
ihre selbständige Eigenart,
2. die Form wirkt auf den Inhalt ein,
3. sie hängt von ihm ab, geht organisch aus ihm hervor.
Dieses letztere Verhältnis ist offenbar das höchste, das einzige, das den
verfeinerten künstlerischen Sinn völlig befriedigen wird, aber es treibt auf
eine Auflösung der geschlossenen metrischen Form hin und es steht nicht,
wie man wohl geglaubt hat, als das einzig natürliche am Anfang, sondern
vielmehr als letzter Höhepunkt am Ende der künstlerischen Entwicklung.
Der zuletzt geschilderten Entwicklung gegenüber ist es wenig berechtigt, wenn Arno
Holz in einem öfters genannten Buche für sich in Anspruch nimmt, mit der Durchführung der
freien Rhythmen eine „Revolution der Lyrik“ begründet zu haben. Er behauptet freilich, seine
Vorgänger Goethe und Heine seien erst bis zu den sogenannten „freien, noch nicht aber
schon zu den natürlichen Rhythmen gelangt“. Er selbst sucht „eine Lyrik, die auf jede
Musik durch Worte als Selbstzweck verzichtet und die, rein formal, lediglich durch einen
Rhythmus getragen wird, der nur noch durch das lebt, was durch ihn zum Ausdruck ringt.“
(Revolution der Lyrik. Berlin 1899. S. 26.) Was er will, ist offenbar eine Sprache, die
von jedem Streben nach irgend welchem Gleichmaß, von jedem Überrest metrischer An-
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klänge völlig befreit ist und nur den Inhalt dessen, was sie ausdrückt, auch in ihrem
Tonfall zur Geltung bringt. Das pflegt man sonst Prosa zu nennen, noch nicht einmal
rhythmisierte Prosa. Daher vermag denn Holz seinen Begriff von Poesie nur durch die
Behauptung aufrecht zu erhalten: „Die Prosa kümmert sich um Klangwirkungen überhaupt
nicht,“ was offenbar grundfalsch ist. Und wie Prosa wirken denn auch seine Verse, abgesehen
von solchen Stellen, in denen trotz ihrem Verfasser ein gleichmäßiger Rhythmus
herrscht, oder auch, was bisweilen der Fall ist, die Schönheit des Ausdrucks oder der
Klangfarbe uns den fehlenden Rhythmus verschmerzen läßt. Man höre einen Anfang wie den:
den Rockkragen hoch, die Hände in den Taschen,
schlendre ich durch den frühen Märzmorgen.“
Kann es etwas Prosaischeres geben? Andrerseits ist der Vers:
singt ein Vogel.
Still hör ich zu; mein Herz vergeht.
Er singt,
was ich als Kind besaß
und dann ─ vergessen.
gewiß ein zierliches kleines Gedicht! Was aber darin revolutionär sein soll, wird niemand
entdecken. Der größere Teil der Holzschen „Phantasus“ gedichte freilich zeigt eine solche
Verwilderung des Formen- und Stilgefühls, ja eine solche Roheit des Geschmacks, und
die Gedichte seiner Schüler, die Holz in seinem Buche mitteilt, tragen außer diesen Eigenschaften
noch durchweg eine so klägliche Impotenz zur Schau, daß die allgemeinere Ausbreitung
einer freien Form, die eine derartige Produktion begünstigt oder doch erleichtert,
auf keinen Fall wünschenswert sein kann.
Wenn Sprache und rhythmische
Form im Irrationalen wurzeln, wenn alle ihre Wirkungen durch
das Gefühl vermittelt sind und sich daher der wissenschaftlichen Einsicht
immer nur zum Teil zugänglich erweisen, so erscheint die Gestaltung
des künstlerischen Aufbaus wesentlich als das Geschäft des ordnenden
Verstandes und daher für die verstandesmäßige Erkenntnis beträchtlich
durchsichtiger. Allerdings ist auch diese architektonische Tätigkeit nicht
das Werk bewußter Reflexion oder gar eines schematischen Verfahrens.
Nur von der Einteilung eines Dichtwerks in Gesänge oder Akte kann man
das sagen: sie kommt hauptsächlich aus praktischen Erwägungen zustande
und erfolgt oft erst, wenn der Dichter sein Werk innerlich abgeschlossen
hat und als Ganzes übersieht; äußere Rücksichten, z. B. auf die Länge
der einzelnen Abschnitte, nicht selten auch auf überlieferte Schemata, wie
die üblichen fünf Akte der Tragödie, sind maßgebend. Daher ist denn auch
hier für das tiefere Verständnis der Dichtwerke und ihrer Wirkungen wenig
Belehrung zu gewinnen. Die eigentlich architektonische Arbeit aber, die
weit wesentlicher und innerlicher ist als die Einteilung, wird weder dem
Dichter noch seinem naiv aufnehmenden Leser oder Zuschauer in all
ihren technischen Einzelheiten zum Bewußtsein kommen, und je ursprünglicher
sein gestaltendes Talent ist, desto unmittelbarer wird er das
Richtige treffen und die beabsichtigte Wirkung erzielen. Dennoch lassen
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sich die allgemeinen Gesetze, denen er folgt, fast durchweg verstandesmäßig
erkennen und aussprechen. Die psychologische Grundlage der organischen
Bildungsgesetze poetischer Werke ist in keinem anderen Punkt so
faßbar und zugänglich wie hier.
Aus diesem Grunde ist es belehrend und vorteilhaft, die Gesetze der
Komposition in ihrer allgemeinen Form aufzustellen und zusammenzufassen.1)
Ihre ganze Bedeutung erhellt allerdings erst aus den besonderen Modifikationen,
die sie innerhalb der einzelnen Dichtungsgattungen annehmen.
Das gilt ganz besonders von demjenigen Prinzip, das man als erstes
und unumstößliches Gesetz dichterischer Komposition aufzustellen pflegt:
dem der Einheit. In der Tat kommt darin die allgemeinste Voraussetzung
eines jeden Kunstwerks zum Ausdruck, daß es nämlich aus einer einheitlich
bestimmten Intention des schaffenden Künstlers hervorgegangen sein
muß und dementsprechend wirken soll. Nun wird freilich eine solche einheitliche
Intention immer vorhanden sein, wenn ein Dichter ein Werk beginnt,
nur daß dieselbe durch äußere oder innere Umstände gestört und
verschoben werden kann, zumal wenn über der Ausführung lange Zeit vergeht.
Daß in einem solchen Falle auch die Wirkung beeinträchtigt wird,
ist allerdings klar, und man sieht das beispielsweise am Don Carlos oder
am zweiten Teil des Faust. Aber solche Umstände werden immer nur
ausnahmsweise und wider Willen des Dichters eintreten, und die Verschiebung
wird ihm im allgemeinen nicht zum Bewußtsein kommen. So erscheint
das Gesetz der Einheit in seiner allgemeinen Form als selbstverständlich
und daher wenig ergiebig. Die besonderen Formen aber, die
es innerhalb der einzelnen Gattungen annimmt, bilden gleichwohl mehrfach
Probleme, von deren Auffassung die künstlerische Gestaltung und das
ästhetische Urteil wesentlich mit bestimmt wird. Wir werden im Anschluß
an die ältere Ästhetik schon hier den allgemeinen Satz aufstellen dürfen,
daß alle lyrische Darstellung die Einheit eines Zustandes, alle epische
die Einheit der Entwicklung, alle dramatische die der Handlung voraussetzt
und fordert. Allein diese Begriffe sind an sich keineswegs eindeutig
und zweifelsfrei; sie können erst aus den späteren Erörterungen
volles Licht empfangen, und dann werden uns auch die Fragen deutlich
werden, die sich an sie knüpfen, wie z. B. die, ob die Einheit des Helden
für das Epos ausreichend ist oder ob wir Aristoteles noch heute recht
geben müssen, wenn er auch für die epische Dichtung die Einheit der
Handlung in dem gleichen Sinne wie für das Drama fordert. Auch die
Einheit des Stils und seiner Formen, die an sich ebenso selbstverständlich
erscheint, wie die des Inhalts, kann zu Zweifeln Anlaß geben: ist es künstlerisch
In diesem Sinne hat G. Th. Fechner in der Vorschule der Ästhetik eine
Anzahl Gesetze des dichterischen Baues unter dem Namen „Prinzipien des ästhetischen
Kontrasts, der ästhetischen Folge und Versöhnung“ aufgestellt (Bd. II S. 231 ff.). Die
folgende Betrachtung lehnt sich zum Teil an ihn an, ohne ihm ganz zu folgen.
berechtigt, wenn ein Dichter wie Shakespeare seine Personen in
zweierlei Sprachen sprechen läßt: die Vornehmen im deklamatorischen Stil
der Renaissance, das Volk in der naturalistisch wiedergegebenen Redeweise
der Wirklichkeit.
Diese besonderen Fragen werden die späteren Untersuchungen zu beantworten
haben. Wenden wir uns für jetzt zu der Aufgabe zurück, die
Prinzipien dichterischer Komposition in ihrer allgemeinen Gestalt zu betrachten.
Das Gesetz der Einheit erhält einen tieferen Sinn dadurch, daß ihm
ein zweites von nicht geringerer Tragweite gegenüber und zur Seite tritt:
das Prinzip des Kontrastes. Eine allgemeine psychologische Tatsache
ist es, daß jede Empfindung, jede Anschauung intensiver und deutlicher
wird, wenn ihr eine entgegengesetzte, aber der gleichen Kategorie angehörige,
unmittelbar folgt; und hiermit verbindet sich in den meisten
Fällen ein Lustgefühl ästhetischer Art. So ist nicht nur in der Poesie, sondern
auf dem Gesamtgebiete der Kunst der Kontrast ein Mittel zur stärkeren
Hervorhebung, zur deutlicheren Veranschaulichung des Dargestellten.
Wie die Farben auf dem Gemälde, so heben sich Stimmungen und Gestalten
in der Dichtung schärfer und wirkungsvoller voneinander ab, wenn
sie in einem Gegensatz stehen, als wenn sie verwandten Charakter tragen.
Aber man darf weiter gehen. Ein nicht minder allgemeines psychologisches
Gesetz ist es, daß jedes, insbesondere aber jedes ästhetische Lustgefühl,
lebhafter empfunden wird, wenn ihm eine Unlustempfindung voraufgegangen
ist, ja, daß jeder ästhetische Genuß nur dann andauernd und kraftvoll
ist, wenn ihm Unlustempfindungen kontrastierend beigemischt sind. Ob
in der Tat, wie Fechner es ausdrückt, „eine metaphysische Unmöglichkeit
vorliegt, daß Quellen der Lust ohne solche der Unlust in der Welt bestehen“,
dürfen wir dahingestellt sein lassen; aber sicher ist und von höchster Bedeutung,
daß die Poesie den Genuß, den sie bereitet, zum Teil aus Unlustgefühlen
schöpft; ja, daß sie die Unlust braucht, um auf die Dauer Lust
zu erregen.1) In diesem Sinne ist die Kontrastwirkung mehr als ein bloßes
Kunstmittel, das der Dichter instinktiv oder bewußt zur Verstärkung seiner
Wirkungen verwendet: man darf vielmehr sagen, daß nahezu alle dichterische
Kunst auf der Hervorhebung und dem Ausgleich von Gegensätzen
beruht, ähnlich wie alle Farbenwirkung in der Malerei auf einem Nebeneinander,
jede Akkordfolge in der Musik auf einem Nacheinander von
Kontrastwirkungen begründet ist.
Schon in der Lyrik sind Lieder und Gedichte, die ganz aus einer
einfachen Stimmung heraus empfunden sind und in denen ein Kontrast
nur gelegentlich oder gar nicht eingeführt ist, verhältnismäßig selten. Goethes
Hierüber hat Viehoff, Poetik S. 24 ff., eine Anzahl treffender Bemerkungen
gemacht.
Mailied „Wie herrlich leuchtet uns die Natur“, wie überhaupt eine Anzahl
kleiner Frühlings- und Liebeslieder, aber namentlich auch ein Gedicht wie
Schillers „An die Freude“ können uns zeigen, daß solche dichterische
Darstellung eines einheitlichen Gefühls nicht unmöglich ist. Aber sie sind
vereinzelt gegenüber der unendlich größeren Anzahl von Gedichten, die
aus dem Gefühl eines Kontrasts entsprungen sind oder in die doch stärker
oder schwächer ein solches Gefühl hineinklingt. Solche Gedichte erregen
unser Interesse in stärkerem Maße. Selbst in so kurzen und scheinbar so
einfachen Gefühlsäußerungen, wie es Goethes Nachtlieder sind, beruht ein
großer Teil der tiefen und innigen Wirkung auf der Empfindung eines
schmerzlichen Kontrasts, und zwar ist es der Gegensatz zwischen dem
leidenschaftlich aufgewühlten Inneren des Dichters und dem ersehnten
Frieden, der sich in der Natur, in einem Bilde der Phantasie oder der Erinnerung
verkörpert. In dem ersten Lied „Über allen Wipfeln ist Ruh“
klingt diese leidenschaftliche Stimmung nur als ein leiser Unterton am
Schlusse hinein; im zweiten „Der du von dem Himmel bist“ wird der
schmerzlich empfundene Gegensatz schon deutlich ausgesprochen; am
stärksten aber und wirksamsten tritt er in „Jägers Abendlied“ hervor, das
er auch der Form nach ganz beherrscht. In jedem größeren Gedicht vollends
ist der Kontrast unentbehrlich und wenn wir oben den Satz aufgenommen
haben, daß jedes lyrische Gedicht der Ausdruck eines inneren
Zustandes ist, so werden wir nunmehr genauer sagen können: es ist, zumeist
wenigstens, ein Zustand kontrastierender Gefühle, der darin zum
Ausdruck kommt. Man betrachte daraufhin Gedichte wie „Willkommen
und Abschied“, „Neue Liebe, neues Leben“, „An Belinde“, alles sehr einfache
lyrische Schöpfungen ohne jeden Beisatz von Reflexion. In der Gedankenlyrik
tritt der Gegensatz als begriffliche Antithese hervor; freilich
muß dieselbe, wie wir später sehen werden, entsprechend dem Charakter
der Poesie überhaupt, ganz und gar mit Gefühls- und Stimmungsgehalt
durchtränkt und erfüllt sein. Schillers philosophische Gedichte bewegen
sich fast sämtlich in solchen Antithesen, die zugleich Gegensätze des Begriffs
und des Gefühls sind; man denke an Die Götter Griechenlands, Die
Ideale, Das Ideal und das Leben, Die Worte des Glaubens.1) Aber auch
Gedichte wie Goethes Harzreise, Grenzen der Menschheit und Das Göttliche
weisen genau denselben Charakter auf.
In noch weit ausgesprochenerem Maße als die lyrische, beruht alle
epische und dramatische Wirkung auf Kontrasten. Hier sind es nicht mehr
bloß Stimmungen und Gedanken, sondern Schicksale und Charaktere, durch
die sie gebildet werden. Die Handlung entwickelt sich durch den Gegensatz
von Glück und Unglück, von Gelingen und Mißlingen hindurch, und
die Wirkung der Peripetien, auf die Aristoteles so viel Gewicht legte, ist
Vgl. Viehoff, Poetik S. 160.
wesentlich Kontrastwirkung, daher auch um so wirksamer, je schärfer und
unvermittelter die Gegensätze sind. Die Personen jeder tieferen Dichtung
stehen einander nicht nur äußerlich gegenüber, durch Umstände und Zufälle
getrennt und verfeindet, sondern sie sind durch innere, im Wesen der
Individuen begründete Gegensätze voneinander geschieden, ja auch diejenigen,
die im Streit der Parteien auf derselben Seite stehen, die einander
befreundet sind und das gleiche Schicksal erleiden, müssen in ihren Eigenschaften
kontrastieren, wenn sie uns nicht auf die Dauer ermüden sollen.
In der Jungfrau von Orleans z. B. ist es eine Schwäche, daß die französischen
Ritter gar nicht oder doch nur unbedeutend voneinander abstechen
und alle gleich hingebungsvoll und ritterlich sind. In dieser Hinsicht
steht die Ilias weit hinter dem Nibelungenlied zurück. Ein großer
Teil der homerischen Helden sind nur durch Alter oder dem Grad ihrer
Körperstärke voneinander unterschieden und Gegensätze von so leuchtender
Farbenkraft wie Hagen und Siegfried, Volker und Rüdiger wird man
dort vergeblich suchen. Die individuelle Eigenart des Helden wird durch
kein anderes Mittel so deutlich, wie durch den Kontrast mit Personen, die
neben ihm stehen und jeden Augenblick zum Vergleich herausfordern. Daher
stellt Sophokles neben seine Antigone ihre Schwester Ismene, neben
Elektra die weichere Chrysothemis; daher rückt Shakespeare die Nebenperson
des Cassius in ein nicht minder helles Licht wie seinen Helden
Brutus, und Goethe stellt seinem Egmont nicht nur den finsteren Gegner
Alba, sondern auch den besonnenen Freund Oranien gegenüber.
Das Drama ist überhaupt, wie wir späterhin sehen werden, das Kunstwerk
des Kontrasts in besonderem Sinne und mehr als alle übrigen Dichtungsformen.
Denn im Epos werden die gegensätzlichen Wirkungen durch
die Kunst des objektiven Erzählers immer bis zu einem gewissen Grade
gemildert und ausgeglichen; im Drama aber stehen sie schroff und unvermittelt
nebeneinander, und man darf hier tatsächlich sagen, daß alle
Wirkung Kontrastwirkung ist. So ist denn auch die Sprache des Dramas
abweichend von der des Epos durchaus auf die Antithese gestellt; die
Gegensätze der Stimmung kommen in der dramatischen Kunst, die hierin
der Lyrik näher steht als das Epos, nicht selten stark zur Geltung und
Wirkung; endlich beruhen auch eine Anzahl spezifisch dramatischer Kunstmittel
auf Kontrastwirkung. So besonders die „tragische Illusion“, wie
Gustav Freytag sie nennt; der Wahn des Helden, der sich im Glücke oder
zeinem Ziele nahe glaubt, während er in Wirklichkeit bereits dem unvermeidlichen
Untergang preisgegeben ist. Berühmt als Beispiel ist der
vorletzte Chor im König Ödipus, nicht minder der in der Antigone: beide
geben unmittelbar vor dem Hereinbrechen der Katastrophe der Zuversicht
auf ein glückliches Ende Ausdruck. Unter den neueren Tragikern versteht
keiner im gleichen Maße wie Schiller durch den Gegensatz zwischen Wahn
und Wirklichkeit die tragische Stimmung zu vertiefen. Dies zeigt am
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meisten der Schluß des Wallensteins, wo der ahnungslose Held all den
Warnungsstimmen Hohn spricht, denen er früher nur zu oft und lange gelauscht
hat; tief ergreifend wirkt es auch, wenn in der Braut von Messina
die Fürstin-Mutter in dem Augenblick, wo sich alles zur Katastrophe ihres
Hauses zusammenzieht, mit stolzer Überhebung die Worte der Niobe ausruft:
Von allen Weibern, die geboren haben,
Die sich mit mir an Herrlichkeit vergleiche?
Aber selbst die Kontrastwirkung würde, wenn sie sich stets in gleichen
Formen erneuerte oder in ähnlichen wiederholte, nicht vor Ermüdung
schützen. Denn nach einem psychologischen Gesetz, das nicht minder unabänderlich
ist wie das des Kontrastes selbst, stumpft sich auf die Dauer
jede Wirkung ab, wird mit der Erneuerung schwächer und verflüchtigt sich
endlich ganz. Daher bedarf jedes größere Gedicht als eines weiteren
wesentlichen Kunstmittels der Steigerung, ja, man kann sagen, daß hierin
das eigentlich herrschende Prinzip für den Aufbau einer Dichtung liegt.
Auch dieses tritt in den verschiedenen Gattungen auf verschiedene Weise
hervor: in der Lyrik als Erhöhung oder auch Vertiefung der subjektiven Stimmung
─ man denke an Klopstocks Frühlingsfeier, an Mahomets Gesang ─,
im Epos und Drama als Steigerung der dargestellten Affekte und Erhöhung
der Spannung auf den weiteren Ablauf der Handlung. Besonders deutliche
Beispiele sind das Wachsen der Eifersucht in Shakespeares Othello, der
beginnende und zunehmende Wahnsinn im Lear. In jedem Drama muß
sich der Affekt bis zum Eintritt der Katastrophe steigern, wie denn in jeder
Tragödie die Gefahr für den Helden beständig zunimmt und Furcht und
Mitleid des Zuschauers dementsprechend wachsen.1) In allen Gattungen
sind es zumeist die der Entwicklung zugrunde liegenden Gegensätze selbst,
durch deren schärferes und entschiedeneres Hervortreten die Steigerung
herbeigeführt wird. Anschauliche Beispiele dieser Kontraststeigerung sind
auf lyrischem Gebiete Goethes „Trost in Tränen“, Heines „Gestrandet“,
auf dramatischem und epischem Kleists Penthesilea und die meisten Novellen
desselben Dichters, der seinem Naturell nach besonders zu starken
Kontrastwirkungen neigt. Besonders wirksam werden in der Ballade Stimmung
und Spannung durch Wechselwirkung erhöht, so in Bürgers Leonore,
Goethes Erlkönig und noch dramatischer in Der Gott und die Bajadere;
auch Fontanes Archibald Douglas ist ein schönes Beispiel dichterischer
Steigerung.
Aber die Steigerung bedarf eines Abschlusses, der Kontrast eines Ausgleichs,
wenn beide eine künstlerische Wirkung zurücklassen, d. h. wenn
Daher ist Gustav Freytags Ausdruck „Fallende (sinkende) Handlung“ (Technik
des Dramas10 S. 102, 116 ff.) nicht glücklich gewählt, da in Wirklichkeit auch der zweite
Teil der Tragödie eine beständige Steigerung bedeutet.
das Gedicht als letztes Ergebnis ästhetische Lust hervorrufen soll. Diese
Forderung aber wird man billigerweise stellen dürfen; sie liegt im Wesen
aller Kunst begründet, und es ist daher berechtigt, wenn Fechner auf sie
das „Prinzip der ästhetischen Versöhnung“ begründet. Da aber der Ausdruck
Versöhnung immerhin ein Mißverständnis hervorrufen kann, so
bezeichne ich das, was hier gemeint ist, lieber als Prinzip des Abschlusses
und stelle es den drei vorher veranschaulichten Gesetzen der
dichterischen Komposition als letztes zur Seite. Zwar kann es scheinen,
als ob dieses Prinzip etwas ebenso Selbstverständliches ausspreche, wie
das der Einheit. Denn wie diese im Wesen der künstlerischen Intention
begründet ist, so liegt es auch in der Natur der Sache, daß sich jede Entwicklung
auf einen bestimmten Zielpunkt richtet: wenn dieser erreicht ist,
ist die Intention des Dichters verwirklicht und eben damit der Abschluß
gefunden. Unzweifelhaft deutlich zeigt sich das im Epos und im Drama,
wo man mit Recht von einem „Ziel der Handlung“ zu sprechen pflegt.
Es wird hier immer nur ganz ausnahmsweise vorkommen, daß der Dichter
abbricht, ehe ein solches Ziel erreicht oder wenigstens in unzweideutiger
Aussicht ist. (In Goethes Tasso scheint es freilich der Fall zu sein, allein
doch auch hier nur, weil der Dichter es absichtlich oder unabsichtlich
unterlassen hat, den Zustand völliger Zerrüttung, in dem der Held am
Schlusse erscheint, unzweideutig zu kennzeichnen; vergleiche S. 53). Aber
nicht ebenso selbstverständlich ist das Prinzip für die Lyrik. Immerhin
leuchtet auch hier ein, daß ein bloßes Aufhören der Steigerung, ein bloßes
Nachlassen der Stimmung am Ende eines Gedichts unwirksam und unkünstlerisch
ist. Die Steigerung muß zum Abschluß kommen. Dies geschieht
am einfachsten dadurch, daß ein Höhepunkt erreicht wird, jenseits
dessen ein weiteres Zunehmen, eine stärkere Intensität des Gefühls nicht
möglich ist. So bei Goethe im Ganymed und in Mahomets Gesang; so,
um einige moderne Beispiele zu nennen, viele Gedichte Konrad Ferdinand
Meyers, der das Crescendo der Stimmung ungemein sicher handhabt: der
Gesang des Meeres, Michel Angelo, die Ketzerin. Der künstlerische Abschluß
kann aber auch auf die entgegengesetzte Weise erreicht werden:
durch ein allmähliches Abschwellen oder ein plötzliches Absetzen tritt eine
lösende Beruhigung ein. Nicht minder wirksam als das gewaltige Fortissimo,
mit dem Mahomets Gesang schließt, ist das sanfte Piano, das den
Schluß der Frühlingsfeier bildet, oder das Maestoso am Ende der Harzreise.
Wie verhält sich's nun aber da, wo Inhalt und Stimmung eines Gedichts
durch einen deutlich hervortretenden Kontrast bestimmt werden?
Auch hier tritt uns zunächst die fast befremdliche Tatsache entgegen, daß
die höchstmögliche Steigerung des Kontrasts, das schärfste Hervortreten
des Gegensatzes einen Abschluß herbeiführen kann, der im künstlerischen
Sinne durchaus befriedigt. So in Goethes Prometheus, in Hölderlins Schicksalslied,
in Heines „Frage“. Der Vergleich mit der Disharmonie in der
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Musik ist also nicht im ganzen Umfange zutreffend: dort ist ein anderes
Ende als die Auflösung in einen harmonischen Schlußakkord künstlerisch
einfach unmöglich. Aber immerhin wird man auch von der Dichtung sagen
müssen, daß der Abschluß auf einer Dissonanz nur selten und ausnahmsweise
künstlerisch wirkt und jedenfalls nur in lyrischen Gedichten kleineren
und mittleren Umfangs denkbar ist, wenn sie eben ganz auf die Hervorhebung
des Kontrastzustandes gestellt sind. Im allgemeinen wird auch hier
eine Lösung der Disharmonie, eine Aufhebung des Kontrasts erforderlich
sein, wenn uns das Gedicht befriedigt entlassen soll. Dies geschieht nun
am einfachsten dadurch, daß eine der gegensätzlichen Stimmungen oder
Vorstellungen die andere besiegt und das Feld behauptet. So tritt in
Jägers Abendlied der Gedanke an die Geliebte siegreich und beruhigend
aus dem Zwiespalt der Leidenschaft hervor, so entläßt uns das Gedicht An
den Mond mit dem vollen Gefühl der schmerzlichen Seligkeit, welche die
endlich einmal gelöste Seele empfindet. Besonders wirkungsvoll und schön
ist es, wenn die Schlußwendung überraschend kommt und eine versöhnende
Kontrastvorstellung neu einführt oder doch plötzlich zur Deutlichkeit erhebt:
so in Goethes Seefahrt, wo die ruhige Festigkeit des Schiffers der
vorher geschilderten Erregung und Bewegung tröstlich gegenübersteht (die
gleiche Wendung wiederholt sich bei Uhland in König Karls Meerfahrt);
so, wenn Walter von der Vogelweide die Klage um den Verfall der Zeit
mit der Hoffnung auf die „liebe Reise über Meer“ schließt; so weiter ausgeführt
in der Marienbader Elegie, wo nach dem leidenschaftlich bewegten
Mittelsatz die „Aussöhnung“ in tief empfundenem und ergreifendem Kontrast
eintritt, ─ freilich etwas äußerlich und zufällig eingeführt als Wirkung der
Musik. Innerlicher und tiefer ist die versöhnende Kontrastwendung in
Schillers Idealen; etwas künstlicher und nicht ganz so zwingend in den
Göttern Griechenlands.
In all diesen Gedichten ist es leicht erklärlich, daß der Schluß befriedigend
wirkt, da eine lustvolle oder doch beruhigende Vorstellung die
entgegengesetzte verdrängt. Nun aber ist es eine auffallende Tatsache, daß
dies keineswegs immer notwendig ist. Man braucht gar nicht erst zu Gedichten
von der trostlosen Melancholie der Harfnerlieder hinabzusteigen:
fast jede Seite im Buche der Lieder und zahlreiche Gedichte Lenaus zeigen,
daß auch das Überwiegen eines schmerzlichen Affekts den künstlerisch befriedigenden
Abschluß herbeiführen kann. Es ist klar: wir verlangen von
einem lyrischen Gedicht nicht, daß es versöhnlich endet und uns mit einer
lustvollen Vorstellung zurückläßt; die künstlerische Befriedigung ist hier
nicht die Folge der Gefühle, die sich an den Inhalt des Dargestellten anknüpfen,
sie wird vielmehr durch die Form hervorgerufen. Es ist die
Kraft des Lyrikers, seinen und unseren Gefühlen Worte zu geben und
Rhythmus zu leihen; hierdurch erweckt er ästhetische Lust, und diese Lust
ist so groß, daß sie schmerzliche Empfindungen, die der Inhalt erregt,
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überwiegt. Ja, mehr als das, sie wird erhöht, wenn wir empfinden, wie
der Dichter auch Leidenschaften und Leiden zu überwinden, zu Kunstwerken
zu gestalten weiß.1)
Freilich das eben Gesagte gilt, wie die Erfahrung zeigt, nur von lyrischen
Gedichten und zwar wesentlich von solchen kleineren Umfangs, die
nichts weiter wollen, als eine gegebene Stimmung durchführen, und die
keinen eigentlichen Fortschritt des Gedankens oder der Stimmung enthalten.
Bei allen größeren Dichtungen aber, bei allen denen, die uns aus
dem Bereich der bloßen Gefühle hinausführen, verlangen wir mehr: hier
muß in der Tat zum Schluß ein inhaltlich versöhnendes Element hervortreten;
das Endergebnis muß uns über die Unlustgefühle hinwegheben, die
im einzelnen in uns erweckt sind. Am deutlichsten zeigt sich das in der
gegenständlichen Dichtung, also dem Drama und dem Epos. Keine noch
so hohe formale Schönheit kann uns darüber hinweghelfen, wenn der Abschluß
innerlich unbefriedigend ist. Daher wird die „Frage“ wie eine Dichtung,
die mit dem Untergang des Helden schließt, trotzdem oder gar eben
hierdurch Lust erwecken kann, zu dem schwerwiegenden Problem des Tragischen,
dem wir späterhin eine besondere Betrachtung widmen werden.
Aber wir können zunächst an den einfacheren Formen der lyrischen Dichtung
noch weitere Beobachtungen machen.
Wo der Kontrast zweier Vorstellungen oder Gefühle uns lebhaft und
scharf zum Bewußtsein kommt, da wird es nicht immer erreichbar sein,
daß eines der beiden entgegengesetzten Glieder am Schluß völlig ausgelöscht
und verschwunden erscheint. Daher sucht und findet der Dichter
die Versöhnung häufig darin, daß der Kontrast durch eine dritte Vorstellung
ausgleichender Natur überwunden und aufgehoben wird, so daß Pein und
Zwiespalt am Schluß einer erhebenden oder doch beruhigten Stimmung
Platz machen. Dazu genügt bisweilen schon, daß der schmerzliche Kontrast
ins allgemeine erhoben und dadurch in seiner Notwendigkeit erkannt
wird: hierdurch verliert er, auch wenn er fortbesteht, seinen Stachel; an
die Stelle peinvoller Unruhe tritt eine sanfte Resignation. Ein typisches
Beispiel bildet Lenaus Herbstklage:
[Beginn Spaltensatz]
Nirgends, nirgends darfst du bleiben!
Wo ich sah dein frohes Blühn,
Braust des Herbstes banges Treiben
Wie der Wind so traurig fuhr
Durch den Strauch, als ob er weine;
Sterbeseufzer der Natur
Schauern durch die welken Haine.
Mir ein Jahr dahingeschwunden.
Fragend rauscht es aus dem Wald:
„Hat dein Herz sein Glück gefunden?“
Waldesrauschen, wunderbar
Hast du mir das Herz getroffen!
Treulich bringt ein jedes Jahr
Welkes Laub und welkes Hoffen.
Aus dem Gefühl derselben Wirkung entspringt der sentenziöse Schluß vieler
Trauerspiele, so die Schlußworte der Oberpriesterin in Kleists Penthesilea:
Doch die gesunde stürzt er schmetternd nieder,
Weil er in ihre Krone greifen kann.
Und ganz ähnlich in Heines Almansor:
Doch Ahnung sagt mir: ausgereutet wird
Die Lilie und die Myrte aus dem Wege,
Worüber Gottes goldner Siegeswagen
Hinrollen soll in stolzer Majestät.
Tiefer freilich und befriedigender ist es, wenn eine neue höhere Vorstellung
den Gegensatz in sich aufnimmt und eine Harmonie hervorruft, in welcher
der Kontrast verschwindet. Schon die Schlußwendung von Willkommen
und Abschied nähert sich dieser Wirkung, und deutlicher tritt sie in den
Versen an Belinden hervor; der Gegensatz zwischen Natur und geselligem
Flitterglanz erscheint hier aufgelöst durch die Liebe:
Wo du bist Natur!
Aber besonders in reflektierenden Gedichten ernsten und erhabenen Charakters
erhebt uns der Dichter gern über das Schmerzvolle eines Zwiespalts
der Gedanken- und Gefühlswelt durch den Hinblick auf eine höhere
Idee. So tritt in Schillers Worten des Wahns im Schlußverse der himmlische
Glaube versöhnend den vorangegangenen Verneinungen gegenüber.
So wird in Rückerts „Sterbender Blume“ die Klage um die Vergänglichkeit,
der Schauer vor dem Tode, durch eine erhabene pantheistische Wendung
überwunden; und in ganz ähnlicher Weise, aber in der Form noch
kunstvoller, verwandeln sich in dem „Trauerliede“ desselben Dichters die
Worte der Klage selbst in solche des Trostes und der Beruhigung. Unter
den neueren Dichtern hat Arthur Fitger in ähnlicher Weise durch den pantheistischen
Gedanken tief empfundenen Zwiespalt überwunden und in freudige
Erhebung ausklingen lassen; am schönsten im „Gottesurteil“. Da die
beiden letztgenannten Gedichte sehr unverdientermaßen wenig bekannt sind,
so soll wenigstens das erste von ihnen zum Schluß dieses Abschnittes angeführt
werden:
Von mir gekannt einst unterm Namen Tau!
In Frühlingsnächten wecktest du mich schlau,
Verhießest Pflege süß ohn' Unterlaß.
Wie hat sich nun in Haß
Verkehrt dein Schmeicheln lau?
Als Herbstreif machst du mir die Wangen blaß.
Warum hat mich ins Leben
Gerufen dein Gebot,
Wenn du dafür nur geben
Mir willst den bittern Tod!
Als ich verhüllt in meiner Knospe lag:
„Willst du nicht aufstehn, Kind? Es ist ja Tag!“
So riefest du, und kos'test weich und lind.
Wie kommst du nun geschwind
Und gibst den Todesschlag
Mit deiner eis'gen Schwinge deinem Kind!
Warum hat mich ins Leben
Gerufen dein Gebot,
Wenn du dafür nur geben
Mir willst den bittern Tod!
Es spricht ein Herz: O Liebe, Himmelslicht!
Wie kamest du zu meiner Kindheit Ruh,
Und rütteltest und flüstertest mir zu,
Und wobest mir ein glänzendes Gedicht.
Ich folgt in Zuversicht;
Und nun zertrümmerst du
Die kurze Täuschung, und mein Leben bricht.
Warum hat mich ins Leben
Gerufen dein Gebot,
Wenn du dafür nur geben
Mir willst den bittern Tod!
Kommt, laßt uns klagen mit vereintem Mund,
Ein Blatt, ein Menschenherz, ein Blumensproß:
Tau, Windesspiel, Licht, das vom Himmel floß,
Die ihr uns habt in ungetreuem Bund
Vernichtet in den Grund!
Treu ist allein dein Schoß,
O Mutter Erde! Nieder nimm uns: Und
Es soll hinfort ins Leben
Uns rufen kein Gebot,
Das doch zuletzt nur geben
Uns will den bittern Tod!
Still, still, ihr unzufriednen Kindelein!
(Die Mutter Erde spricht) was klagt ihr sehr?
Auf die dort oben scheltet mir nicht mehr;
Sie lassen euch, dafür nehm' ich euch ein.
Ihr habt mit ihnen fein
Gespielt nach Herzbegehr,
Und gerne tut ihr's wieder, wenn's kann sein.
Nun wohl! Euch wird ins Leben
Neu rufen ihr Gebot.
Jetzt wollt euch mir ergeben!
Nicht bitter ist der Tod!
Was sich in unseren bisherigen Betrachtungen
über das Wesen der Dichtkunst und ihr Verhältnis zur Sprache
ergeben hat, das zeigt sich am deutlichsten, weil in den einfachsten und
reinsten Linien, in der Lyrik. Poesie ist die Kunst, innere Erlebnisse
in Worten wiederzugeben, in Worten, die der unmittelbare Ausdruck eines
solchen Erlebnisses sind und den Hörer zwingen, dasselbe in sich zu
erneuern. Während es nun in der epischen und dramatischen Poesie
Gestalten und Vorgänge der Außenwelt sind, die in der Dichterphantasie
ein neues Leben empfangen, bleibt die Lyrik ganz und gar im subjektiven
Gefühlsleben des Dichters beschlossen, und nur dieses ist es, was in seinen
Versen zum Ausdruck kommt. Während Epiker und Dramatiker stets auf
Beobachtung und anschauliche Wiedergabe der Außenwelt angewiesen ist,
braucht der Lyriker nur in sein eigenes Inneres hineinzulauschen und auszusprechen,
was ihm da kund wird: die unmittelbare Umsetzung des Gefühlserlebnisses
in Worte ist sein einziges oder doch wesentliches Geschäft,
und die Gestaltungskraft des Dichters äußert sich nur in der schöpferischen
Herrschaft über die Sprache. „Den lyrischen Dichtern“, sagt Dilthey
treffend,1) „ist gegeben, den stillen Ablauf innerer Zustände, der sonst
von dem Getriebe der äußeren Zwecke gestört und von dem Lärm des
Tages übertönt wird, in sich zu vernehmen, festzuhalten, zum Bewußtsein
zu erheben.“ Auch die Wirkung lyrischer Gedichte ist in einem
weit entschiedeneren Sinne subjektiv, als sie jene anderen Dichtungsgattungen
hervorbringen können: denn der Leser erlebt die dargestellten
Gefühle nicht als die des Dichters, sondern als seine eigenen. Er denkt
bei einem Liebesgedicht an seine Liebe, bei einer Klage über die Vergangenheit
In seinem ebenso schönen wie lehrreichen Buche: Das Erlebnis und die Dichtung,
Leipzig 1906, S. 273.
des Glücks an Verluste, die er selbst erlebt und erlitten hat ─
wenn er nicht etwa das Gedicht als philologisch geschulter Literarhistoriker
betrachtet.
Nun ist freilich auch das Gefühlserlebnis des Dichters stets durch
einen äußeren Vorgang angeregt, sei es, daß ein solcher tief in sein
Schicksal eingegriffen hat, sei es, daß er nur ein flüchtiges Gekräusel im
Flusse des Alltagslebens darstellt, sei es ein Spaziergang oder ein Bruch
mit der Geliebten. Aber eben dies ist das Charakteristische für die lyrische
Gestaltung, daß das äußere Erlebnis nur in seiner Wirkung auf das
Innenleben erscheint. Die Einzelheiten werden ausgemerzt, die bestimmten
Umrisse aufgelöst. Wo das Gefühl sich in dieser Weise von dem bestimmten
Vorstellungsinhalt, durch den es erregt ist, losgelöst hat und den
einzelnen Eindruck überdauert oder überwiegt, da sprechen wir von
Stimmung. Stimmung zu erwecken ist also das eigentliche Wesen der
lyrischen Kunst. Was in den anderen Dichtungsgattungen nur eine Ingredienz
der Wirkung, das ist hier letzter Zweck. Während die epische
und dramatische Kunst in der plastisch scharfen Gestaltung von Charakteren
und Handlungen besteht, verlangt das Wesen der Lyrik gerade umgekehrt
die Auflösung und Verwischung der äußeren Umrisse. Und eben hierdurch
vollzieht sich zugleich jene Verallgemeinerung des Individuellen, die
im Wesen jeder künstlerischen Darstellung liegt. Nur so viel äußeres und
individuelles Erleben wird der echte Lyriker unmittelbar aussprechen und
darstellen, wie nötig ist, damit wir den Gefühlsvorgang verstehen und nacherleben
können. Aus dem individuellen Erlebnis wird auf diese Weise der
typische Inhalt eines allgemein menschlichen Empfindens: hierauf beruht
das Wesen aller lyrischen Dichtung.
Die literarhistorische Forschung kennt bis ins einzelne die individuell
bestimmten Anlässe, die Gedichten, wie „Willkommen und Abschied“,
„Wandrers Nachtlied“, oder der Marienbader Elegie zugrunde liegen: was ist
davon in das Gedicht selbst übergegangen? Nichts als die unbestimmten
und allgemeinen Umrisse von Situationen, die jeder so oder ähnlich erlebt
hat oder erleben kann, die aber genügen, tiefe und leidenschaftliche Gefühle
hervorzurufen und verständlich zu machen: Glück des Wiedersehens
und Schmerz der Trennung, Sehnsucht nach Frieden und Seligkeit der Erinnerung.
Das Gesagte gilt gleichmäßig von den verschiedenen Anlässen und
Eindrücken, welche Gefühlserlebnisse hervorrufen und damit zum Gegenstand
lyrischer Gedichte werden können: Liebe und Natur, Religion und Vaterlandsliebe,
überall ist es nur das Allgemeine und Gefühlsmäßige, das den
Inhalt der Dichtung bildet. Ob das Gefühlserlebnis des Dichters durch
die Sehnsucht nach der Geliebten oder den Anblick einer geliebten Landschaft,
durch die Vergänglichkeit des Lenzes oder den Tod eines Freundes
hervorgerufen wird, ob es in dem Verlangen nach Liebe oder in dem nach
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Freiheit wurzelt, macht für das künstlerische Wesen des Gedichts keinen
Unterschied.1)
Die Außenwelt wird in aller wahren Lyrik nur in schwachen Umrissen,
in einigen für das Gefühl wesentlichen Zügen erscheinen. Am
deutlichsten zeigt sich das in der Wiedergabe von Natureindrücken und
Landschaftsbildern. Ihre Darstellung wird, um einen Ausdruck der modernen
Malerei anzuwenden, immer etwas Impressionistisches haben und eingehendere
Schilderungen ausschließen. Daher war die beschreibende
Dichtung alten Stils gerichtet, sobald mit Klopstocks Oden die ersten
wahrhaft lyrischen Gedichte ihren Siegeszug durch die deutsche Jugend
hielten, fast zwei Jahrzehnte, bevor Lessing im Laokoon der Poesie das
Malen verbot. Es sind hier freilich verschiedene Abstufungen möglich, je
nachdem das Gefühl des Dichters sich der Einzelheiten des Naturbildes
bemächtigt, die ihm das Auge bietet oder nur am Gesamteindruck haften
bleibt. In der klassischen wie in der romantischen Dichtung treten Landschaftsbilder
und Naturvorgänge bisweilen in bestimmten Umrissen auf:
so die Schilderungen des Gewitters in der Frühlingsfeier, der Ruinen in
Goethes Wanderer, des Stillen Grundes bei Eichendorff; weit öfter aber
finden wir bloße Andeutungen. Klopstocks Ode an den Züricher See
skizziert die Landschaft mit ein paar lebendigen Strichen; Goethes Harzreise
und Lied an den Mond lassen sie nur eben erraten. Und die moderne
Lyrik neigt ─ wie wir später sehen werden ─ noch weit entschiedener
zur Auflösung aller bestimmten Züge. ─
Gefühle in Worten wiederzugeben und beim Hören oder Lesen lebendig
zu machen, ist die besondere Aufgabe des Lyrikers. Wie versucht und
vermag er es, sie zu erfüllen? Werfen wir zunächst einen Blick auf das
Bild, das uns die Literaturgeschichte darbietet, so zeigt sie uns einen dreifach
verschiedenen Charakter der lyrischen Sprache. In den älteren Epochen
literarischer Überlieferung tritt uns überall eine starke Neigung zu formelhaft
konventionellem Ausdruck entgegen. Bestimmte Vergleichungen
und Umschreibungen kehren immer wieder und bilden den Grundstock,
aus dem der Dichter schöpft und dem er dann je nach Vermögen neue
Wendungen abgewinnt oder hinzugesellt. Dieses Bild zeigt uns der größte
Teil der höfischen Lyrik des Mittelalters, vielfach aber auch das lyrische
Volkslied der späteren Jahrhunderte. Wie die Persönlichkeit der Dichter,
so erscheint auch ihre Ausdrucksweise eingeschränkt und konventionell
gebunden. Wir müssen annehmen, daß dieser Charakter bereits eine gewisse
Erstarrung bedeutet und eine Zeit frischerer und ungebundenerer
Daher ist auch die herkömmliche Einteilung der Lyrik nach dem äußeren Anlaß
(z. B. Liebes-, Natur- und politische Lyrik) für das Wesen der lyrischen Kunst belanglos,
und die sehr eingehende Einteilung, die R. M. Werner S. 110─157 seines oben angeführten
Buches entwirft, mag zwar für die äußere Übersicht über das Vorhandene praktisch brauchbar
sein, aber für das Wesen der Lyrik ist sie wenig belehrend.
poetischer Sprachschöpfung voranging, von der nur eine schriftliche Überlieferung
nichts weiß. Die Poesie der Renaissance, die in den Kulturländern
Europas die volkstümliche Dichtung ersetzte und verdrängte, zeigt,
wie begreiflich, den Zug zum konventionellen und überlieferten Ausdruck
noch weit entschiedener. Aus den antiken Sprachen sind ihre Redefiguren
und Metaphern zu einem großen Teil übernommen, zum mindesten sind
sie diesen nachgebildet. Die antiken Götter personifizieren in herkömmlicher
Weise Gefühle und Eigenschaften; und der Gefahr, zur Schablone zu
erstarren, durch die wahres Gefühl nicht ausgedrückt, sondern erstickt
wird, ist auf die Dauer keine dieser Dichtungen entgangen.
Das Mittel nun, die Erstarrung im Konventionellen zu überwinden,
zu einer neuen und echteren Weise des Gefühlsausdrucks zu gelangen, war
nicht selten eine pathetische Sprache. So war Klopstocks Stil durchweg
pathetisch und deklamatorisch: durch die hinreissende Gewalt leidenschaftlich
bewegter Worte schwemmte er gleichsam die eingetrocknete Überlieferung
hinweg und gelangte zu einem individuellen Ausdruck für die
Gedanken und Gefühle, die sein Inneres bewegten. Allerdings war dieser
Ausdruck ebenso wie das Gefühlsleben, das ihm entsprach, nicht frei von
einer künstlichen und gewaltsamen Steigerung über sich selbst und das
natürliche Maß hinaus. Dies ist es, was uns heute den größten Teil
von Klopstocks Dichtungen ungenießbar macht, gerade dies aber ist es,
wie es scheint, was auf seine Zeitgenossen, die aus den Niederungen
deutschen Philisterlebens und seiner Sprache emporstrebten, so mächtig
gewirkt hat. Eine ganz ähnliche Erscheinung bietet in der französischen
Literatur die Lyrik Victor Hugos: gewaltiges und gewaltsames Pathos,
echte Leidenschaft noch künstlich erhitzt und im Ausdruck gesteigert; das
wenigste von dauernder Wirkung, aber das Ganze ein machtvoller und
fruchtbarer Triumph über die eingehende und öde Bindung an konventionelle
Formen, welche den dichterischen Ausdruck beherrscht und gefesselt
hatten.
Allein es ist klar, daß mit diesem Pathos nicht die höchste Stufe
dichterischer Ausdrucksfähigkeit erreicht ist. Diese tritt uns vielmehr erst
da entgegen, wo die Sprache nichts als der natürliche Ausdruck gesteigerten
Empfindens ist und sein will, wo das schlichteste Wort unmittelbar
die Persönlichkeit des Dichters und sein inneres Erleben widerspiegelt:
das scheinbar Leichteste ist in Wahrheit das Schwierigste, das
scheinbar Selbstverständliche bezeichnet auch hier, ähnlich wie wir es bei
der metrischen Behandlung gesehen haben, die letzte erreichbare Höhe
der Kunst. Diese Dichtung erneuert die Zeiten des Ursprungs und der
Frische, die der Entstehung der Konvention voranging, aber sie hat
ihre Ausdrucksfähigkeit unendlich gesteigert und verfeinert. Gedichte wie
Walters „Herzeliebez frouwelîn“ oder „Unter der linden auf der heiden“
stehen auf dieser Höhe. In der modernen deutschen Dichtung hat bekanntlich
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Goethe den Weg zu ihr gebrochen und sie als erster erreicht.
Eichendorff, Heine, auch Mörike haben ihm zu folgen vermocht. In
Jägers Abendlied, in den beiden Nachtliedern des Wanderers, in dem Gedicht
An den Mond ist das künstlerisch Zwingende des Wortes aufs höchste
gesteigert. Jeder Hörer und Leser steht unter dem Eindruck: so habe
ich's auch empfunden und erlebt, doch nicht ausdrücken können, unter
dem Eindruck: nicht anders, nicht besser kann ausgesprochen werden, was
durch das Labyrinth der Menschenbrust wandelt. ─
Versuchen wir nunmehr näher in das Geheimnis dieser Sprachkunst
und ihrer Wirkung einzudringen, so müssen wir uns dessen erinnern, was
uns das sechste Kapitel über das Wesen der Dichtersprache gelehrt hat.
Jedes innere Erlebnis besteht aus einem lebendigen und einheitlichen Zusammenhang
von Gedanken und Empfindungen. Indem der Dichter nun
einen solchen darstellt, ist ihm das Wort entweder ganz unmittelbar Ausdruck
seiner Gefühle, oder es tritt ihm zwischen Stimmung und Klanggebilde
die bildliche Anschauung als vermittelndes Glied. In diesem Sinne
konnten wir sagen, daß alle poetischen Schöpfungen sich auf einer Skala
zwischen der rein akustischen und der anschaulich bildenden Wirkung
bewegen und zumeist von beiden etwas an sich tragen. Sinn, Klang und
Bild erscheinen somit als die drei Elemente eines jeden Gedichtes, und mit
Recht unterscheidet Geiger in seinem schon öfter angeführten Buche drei
Wirkungsmöglichkeiten, die er als gnomische, anschauliche und
musikalische bezeichnet.1) Der Dichter strebt entweder nach einer unmittelbaren
und einfachen Wiedergabe dessen, was in ihm vorgeht: das
Wort ist der schlichte Ausdruck des Gefühls. Oder es vermittelt vielmehr
eine Anschauung, die den Sinn bildlich ausdrückt. Oder endlich, ─ womit
Geiger die Reihe beginnt, ─ er sucht die rein klangliche Wirkung seiner
Worte in ein unmittelbares Verhältnis zum Empfindungsinhalt zu bringen
und auf diese Weise eine Art von musikalischer Wirkung zu erreichen.
Die schlichte Aussprache eines inneren Vorgangs gehört eigentlich
der Prosa an. Wo es aber ein tiefes inniges Gefühl ist, das durch sie
zum Ausdruck kommt, vermag sie gleichwohl mit dichterischer Kraft zu
wirken. Das Gefühl, daß Wort und Sinn einander in innerster Verwandtschaft
decken, die Wahrheit des Ausdrucks also, ist es, was hier zwingt
und künstlerische Wirkung hervorruft. Mit Recht führt Geiger Mignons
Lied „Nur wer die Sehnsucht kennt“ an, und manche andere Goethesche
Verse können diesem zur Seite gestellt werden. Unter den großen deutschen
Lyrikern ist es besonders Heine, der sich auf diese Kunst des schlichten
Ausdrucks versteht. Ein Beispiel mögen die schönen Verse aus der „Heimkehr“
geben:
Beiträge zu einer Ästhetik der Lyrik (Halle 1905) S. 9. Der Ausdruck gnomisch
ist offenbar verfehlt, aber was er bezeichnen will, ist an sich richtig.
Und ertrage dein Geschick.
Neuer Frühling gibt zurück,
Was der Winter dir genommen.
Noch wie viel ist dir geblieben,
Und wie schön ist noch die Welt!
Und mein Herz, was dir gefällt,
Alles, alles darfst du lieben!
Freilich ist es nicht zu leugnen, daß eine so einfache und scheinbar kunstlose
Ausdrucksweise leicht Gefahr läuft, ins Prosaische zu verfallen, und
auch dies zeigt uns Heine, bisweilen unfreiwillig, öfter freilich mit bewußter
künstlerischer Absicht; das letztere z. B. in dem bekannten Gedicht: „Ein
Jüngling liebt ein Mädchen, die hat einen anderen erwählt“, ─ wo die
ersten Strophen in alltäglichen Ausdrücken eine Alltagsgeschichte wiedergeben,
um erst mit der Schlußwendung ins Poetische umzuschlagen.
Im allgemeinen wird daher die schlichte gedankenhafte Wiedergabe
des inneren Erlebnisses verhältnismäßig selten sein, denn es liegt im Wesen
der Poesie wie aller Kunst überhaupt, daß der Inhalt, den sie ausdrücken
will, nicht durch sich selbst, sondern durch die Form wirken will. Hierzu
kommt, daß lyrische Gedichte, wenigstens soweit sie der reinen Gefühlslyrik
angehören und nicht reflektierenden Charakters sind, zumeist einen
sehr einfachen, nichts weniger als reichen Gedankengehalt haben und daß
auch die Gefühle, die sie ausdrücken, durch Kraft oder Innigkeit gefangen
nehmen, nicht aber durch Mannigfaltigkeit oder Neuheit interessieren können.
Die künstlerische Wirkung solcher Gedichte wird daher zumeist auf dem
musikalischen oder bildlichen Charakter des Ausdrucks beruhen. Die Mittel,
die dem Dichter hierfür zu Gebote stehen, sind im achten und neunten
Abschnitt unserer Betrachtungen ihrem Wesen nach erörtert. Hier ist die
Frage, wie weit sie in der lyrischen Dichtung zusammengehen können,
wie weit sie einzeln oder gar im Gegensatz zueinander zur Geltung kommen.
Es gibt eine Anzahl lyrischer Schöpfungen ─ und wir werden sie zu den
höchsten ihrer Art rechnen müssen ─, in denen beide Wirkungen sich vollkommen
die Wage halten, und wo die Stimmung zu gleicher Zeit durch
den Klang wie durch die Bilder, welche er erweckt, erregt und gesteigert
wird. Goethes Lyrik gehört zum größten Teil hierher, aber angeführt werden
soll nur ein kleines und weniger bekanntes unter seinen Gedichten, das
gleichwohl ein besonders belehrendes Beispiel dieses Doppelcharakters gibt.
Vom Meere strahlt;
Ich denke dein, wenn sich des Mondes Flimmer
In Quellen malt.
Ich sehe dich, wenn auf dem fernen Wege
Der Staub sich hebt;
In tiefer Nacht, wenn auf dem schmalen Stege
Der Wandrer bebt.
Die Welle steigt.
Im stillen Haine geh' ich oft zu lauschen,
Wenn alles schweigt.
Ich bin bei dir; du seist auch noch so ferne,
Du bist mir nah!
Die Sonne sinkt, bald leuchten mir die Sterne.
O wärst du da!
Hier wird die Sehnsucht, welche die Grundstimmung des Gedichtes ist,
in einer Reihe von Naturbildern wiedergegeben, deren jedes von anschaulichem
Leben erfüllt ist; zugleich aber dienen Sprache und Metrum dazu,
durch den Klang die Empfindung selbst sowohl wie das Bild zu charakterisieren.
So wird der lang und langsam ansteigende und schnell fallende
Rhythmus unmittelbar zum Ausdruck sehnsüchtiger Empfindung und veranschaulicht
doch zugleich den aufwirbelnden Staub und die sprudelnde
Quelle. Noch höher ist die Kunst in dem Elfenchor, mit dem der zweite
Teil des Faust beginnt: „Wenn sich lau die Lüfte füllen um den grün
umschränkten Plan.“ Hier werden in den vier aufeinander folgenden Zeiten
der Nacht vom Abend bis zum Morgen vier Stimmungen: Müdigkeit, Glück
des Ruhens, allmähliches Erwachen und neue Tatkraft in vier anschaulichen
Bildern mit allen Mitteln des Rhythmus und der sprachlichen
Klangwirkung musikalisch eindrucksvoll gemacht. Man glaubt, eine Wortsymphonie
in Versen zu hören und gleichzeitig eine entsprechende Reihe
herrlicher Bilder vor Augen zu sehen, zusammengehalten durch einen einfachen,
aber tiefen und schönen Gedanken.
Es erscheint als das Natürliche, daß alle lyrischen Gedichte diese
doppelte (oder dreifache) Wirkung erstreben. Gleichwohl ist das nicht
durchweg der Fall; wir finden vielmehr, daß das musikalische Element
nicht selten einseitig hervortritt, und es wird das begreiflich, wenn wir an den
Einfluß und das Vorbild der Musik denken. Diese nämlich vermag am unmittelbarsten
wie am stärksten von allen Künsten auf das Gefühl zu wirken;
sie erregt ganz ohne gedankenmäßigen oder anschaulichen Inhalt Stimmungen
des verschiedensten Charakters und von der größten Kraft und
Tiefe. Daher ist es ein begreifliches Streben der Lyrik, es der Schwesterkunst
gleichzutun, in Wortmusik überzugehen und zu diesem Zweck nicht
nur auf bildliche Anschaulichkeit, sondern auch auf einen greifbaren gedanklichen
Zusammenhang zu verzichten. Die Lyrik der Romantiker, besonders
Tiecks und Brentanos, zeigt diese Neigung. Ihre Worte und Sätze
haben oft nicht mehr den Zweck, einen bestimmten Inhalt von Vorstellungen
zu vermitteln, sie sollen unmittelbare musikalische Empfindungen hervorrufen,
die sich an keinen festen Gegenstand heften. Tiecks bekannte Verse
„Liebe denkt in süßen Tönen“ bezeichnet fast programmatisch diese Richtung.
Noch einseitiger und entschiedener sind ihr die lyrischen Schulen
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der modernen Franzosen, die Dekadenten und Symbolisten, sowie ihre
deutschen Nachahmer darin gefolgt. Was wir bei der allgemeinen Betrachtung
der Dichtersprache im neunten Kapitel als einen möglichen Fall
berührten, daß der bestimmte Inhalt einer Empfindung und die Stärke des
Gefühls, das sie begleitet, in einer Art von gegensätzlichem Verhältnis
stehen, daß mithin die Stärke des Gefühls die Bestimmtheit der Anschauung
beeinträchtigen kann und umkehrt, wird von ihnen als ein allgemeines Dogma
verkündet. Daher suchen sie eine Wirkung, die ganz der Musik entspricht
und ohne vermittelnde Vorstellung auf Gefühl und Stimmung gerichtet ist.
Die letzten Umrisse bestimmter Erlebnisse und Vorgänge werden aufgelöst,
und der Zusammenhang ist in den Strophen Mallarmés und oft auch
Stefan Georges kein festerer, als ihn etwa der musikalische Gedanke
eines Sonatensatzes gibt. Eben hierdurch aber fordert diese Lyrik eine
Konkurrenz heraus, der sie von vornherein unterlegen ist. Die elementare
Kraft der Gefühlswirkung, die der Musik eignet, erreicht das Wort als
solches niemals. Und eben deshalb ist die Dichtung ihrem Wesen nach
darauf angewiesen, durch das Wort sich an die anschauende Phantasie und
das denkende Vermögen zu wenden. Es ist wahr, die lyrische Poesie
sucht die Musik, wie die Musik ihrerseits das deutende Wort sucht, aber
es ist eben die Ergänzung, nicht die Steigerung der eigenen Wesenskraft,
die sie anstreben. Daher wird der lyrische Dichter immer wieder auf die
andere Hälfte seiner Kunst, auf die Wirkung durch bildliche Anschauung
gewiesen werden. Seine Bilder entnimmt er der Außenwelt, vor allem der
Natur, aber sie haben Bedeutung und Wert ─ das hat uns die bisherige
Betrachtung gezeigt ─ niemals in der bloßen Wiedergabe dessen, was
Natur und Landschaft den Sinnen bietet. Vielmehr sind alle Bilder und
Vorgänge der äußeren Natur für ihn nur Sinnbilder innerer Vorgänge: so
fordert es das Gesetz der Verinnerlichung, das, wie wir sahen, das Grundgesetz
der lyrischen Kunst ist, und hierauf beruht der symbolische Charakter,
welcher zwar aller Poesie überhaupt, in besonderer Weise aber der
Lyrik eignet.
Von zwei Seiten aus wird die Symbolik Bedürfnis des lyrischen
Dichters. Die meisten inneren Vorgänge bedürfen eines äußeren Sinnbildes,
um anschaulich zu werden, d. h. um überhaupt nachempfunden
werden zu können. Das liegt schon im Wesen der Sprache, die viel zu
arm an Ausdrücken für das Gefühlsleben ist, um es in seinen feineren
Nuancen unmittelbar widerspiegeln zu können und zu diesem Zweck fast
stets des Vergleichs mit Vorgängen der äußeren Welt bedarf. Die Fähigkeit,
solche Symbole zu ergreifen und mit Leben zu erfüllen, macht offenbar einen
wesentlichen Teil lyrischer Begabung aus. Sie ist nicht identisch, aber doch
im innersten Kern verwandt mit der metapherbildenden Kraft des Sprachgeistes.
Andrerseits liegt es auch im Wesen jedes starken Gefühls, daß
es auf die Außenwelt übergreift, sie in seine Bahnen zieht und erfüllt: der
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Liebende sieht, wie Goethe einmal sagt, alles mit Bezug auf die Geliebte;
der Trauernde findet überall Beziehung zu seinem Schmerz. Jenes macht
uns das Bedürfnis des Dichters nach sinnbildlicher Ausdrucksweise verständlich;
in diesem liegt der größte Teil der Erscheinung, die heutige
Ästhetiker als Einfühlung zu bezeichnen pflegen, begründet. Der Dichter
belebt die Gegenstände der Natur mit seinen eigenen Gefühlen, er belebt
sie, bis sie ihm als selbständige Wesen, als Personen erscheinen. Das bedeuten
die Schillerschen Verse:
Mir sang der Quellen Silberfall;
Es fühlte selbst das Seelenlose
Von meines Lebens Wiederhall.“
„Wo das Objekt auch nur von Ferne an Menschliches gemahnt“, sagt
du Prel,1) „beseele ich es menschlich, vermöge der wunderbaren Fähigkeit
der Phantasie, sich in äußere Objekte hineinzuleben. Ein steiler Fels
scheint trotzig die Stirne zu erheben; ein Bach springt fröhlich den Wiesenhang
hinab; Blumen lachen uns freundlichen Auges an. ─ In der Naturbeseelung
decken sich also die äußeren Formen der Dinge mit den ihnen
untergelegten Empfindungen. Die Formen mögen starr sein oder veränderlich,
immer sind sie uns der äußerliche Ausdruck eines geheimnisvollen
Innern, das wir uns in menschlicher Art vorstellen, weil wir außer
dieser Analogie gar keinen anderen Maßstab des Verständnisses haben.
Wir, deren Mienen und Geberden so innig verflochten sind mit unseren
Seelenzuständen, daß das jeweilige äußerliche Verhalten unseres Leibes bis
in die Fingerspitzen durchgeistigt ist, wir schauen auch aus den Gestalten
der Naturobjekte und aus ihren Tätigkeiten, wenn sie noch so leise an
menschliches Verhalten mahnen, die korrespondierenden menschlichen Empfindungen
heraus. Kurz, weil unsere Leiblichkeit immer ganz und gar
der äußere Ausdruck eines ganz bestimmten Innern ist, so erscheinen uns
auch die leblosen Dinge bis in die letzten Ausläufer ihrer Formen beseelt.
Darauf beruht die ästhetische Wirkung aller landschaftlichen Objekte; auch
leblose Dinge erfüllen wir mit Freud und Leid, mit Liebe und Haß, und
dadurch erst treten sie uns ästhetisch nahe.“ Und durchaus dichterisch
empfunden ist, was Hebbel einmal in sein Tagebuch schreibt (Tagebücher,
herausg. von R. M. Werner Nr. 1083): „Welch hohe Freudigkeit der Seele,
welch ein Mut für alle Zukunft im Menschen erwacht, wenn ihm die
zwischen den ewigen, den Fundamentalgefühlen in seinem Innern und den
Erscheinungen der Natur bestehende untrennbare Harmonie in klarem Lichte
aufgeht, das scheint niemand zu wissen.“
Die Atmosphäre der Poesie ist gewissermaßen voll von dichterischen
Symbolen, viele in ihre Entstehung hinein nicht zu verfolgen, viele in langer
Überlieferung schon bis zu einem gewissen Grade abgetrocknet und leicht
von einem zum anderen übertragbar. Die ritterliche Lyrik und das spätere
Volkslied zeigen uns das in gleichem Maße. Immer wieder dieselben
Bilder, immer wieder Vogelsang und Blumen. Dazwischen freilich ursprünglichere
Wendungen:
und ähnliches. Starrer als das Volkslied zeigt sich auch hier die Poesie der
Renaissance. Ihre Symbole und Personifikationen, vor allem der Olymp
mit seinen stereotypen Gestalten, dauern bis in die Zeit jugendlich neuer
Dichtung hinein fort, und selbst in einem Gedicht so voll ursprünglicher
Frische und eigenen Sprachlebens wie Goethes „Willkommen und Abschied“
mutet uns ein „Götter!“ in der letzten Zeile an wie ein abgestorbenes
Stück Holz zwischen blühenden Zweigen. Denn die Kunst
des lyrischen Genius, vor allem Goethes, besteht eben darin, neue Symbole
zu schaffen, alte neu zu beleben. Der Mond und die Sterne gewinnen
neuen Glanz, Wind und Welle werden zu Sinnbildern für Menschenseele
und Schicksal. Am farb'gen Abglanz des Wasserfalls haben wir das
Leben; das Haideröslein und das im Wald gefundene Blümchen spiegeln
Mädchenseele und Frauengeschicke wieder. ─ Den Geist volkstümlicher
Symbolik wissen die Romantiker, zumal die jüngeren, wohl zu treffen („In
einem kühlen Grunde da geht ein Mühlenrad“), und Heine hat besonders
mit Bildern des Meeres und seiner Bewegung die lyrische Symbolik bereichert.
Der eigentümlichste Reiz dieser Darstellungsart besteht nun darin, daß
die symbolische Bedeutung abwechselnd bald hinter dem Bilde selbst
zurücktritt, bald wieder stärker zum Bewußtsein kommt. In Mahomets
Gesang z. B. läßt sich dieser Wechsel deutlich verfolgen. Im Gesang der
Geister über den Wassern tritt der gedankenhafte Sinn des Gedichtes, den
wir freilich schon im Verlauf der Schilderung immer deutlicher ahnen, erst
am Schluß hervor, und mit besonders überraschender Anmut erfolgt die
Wendung vom rein Bildlichen zum Sinnbildlichen in folgenden Versen
Heines:
[Beginn Spaltensatz]
Wohl nach dem Strand;
Sie schwellen und zerschellen
Wohl auf dem Sand.
Ohn' Unterlaß;
Sie werden endlich heftig ─
Was hilft uns das?
Umgekehrt richtet Gottfried Keller in einem ebenso graziösen wie tiefsinnigen
kleinen Gedicht die Spannung auf einen Gedanken, den er dann
mit einer nicht minder überraschenden Wendung nur symbolisch ahnungsvoll
ausdrückt:
|#f0143 : 129|
[Beginn Spaltensatz]
Wie siehst du mich an?
Was haben deine Augen
Für eine Frage getan!
Und alle Weisen der Welt
Bleiben stumm auf die Frage,
Die deine Augen gestellt!
Schau, liegt dort im Gras;
Da halte dein Ohr dran,
Drin brümmelt dir was!
Man kann in der Tat sagen, daß für den echten Lyriker alles, was
ihm die Außenwelt bietet, zum Symbol des Innenlebens, jeder Eindruck
der Natur zum Sinnbild seiner Gefühle wird. Ja, es gibt einige wertvolle
lyrische Gedichte, deren Thema eben diese Tatsache bildet. Schon die
S. 124 f. angeführten Verse gehören in diese Reihe; aber bis ins Mystische
vertieft und erweitert gibt den Gedanken der All-Symbolik das letzte Gedicht
des Buches Suleika im westöstlichen Divan wieder:
Doch, Allerliebste, gleich erkenn' ich dich;
Du magst mit Zauberschleiern dich bedecken,
Allgegenwärt'ge, gleich erkenn' ich dich.
An der Zypresse reinstem, jungen Streben,
Allschöngewachs'ne, gleich erkenn' ich dich;
In des Kanales reinem Wellenleben,
Allschmeichelhafte, wohl erkenn' ich dich.
Wenn steigend sich der Wasserstrahl entfaltet,
Allspielende, wie froh erkenn' ich dich;
Wenn Wolke sich gestaltend umgestaltet,
Allmannigfalt'ge, dort erkenn' ich dich.
An des geblümten Schleiers Wiesenteppich,
Allbuntbesternte, schön erkenn' ich dich;
Und greift umher ein tausendarm'ger Eppich,
O Allumklammernde, da kenn' ich dich.
Wenn am Gebirg der Morgen sich entzündet,
Gleich, Allerheiternde, begrüß' ich dich;
Dann über mir der Himmel rein sich ründet,
Allherzerweiternde, dann atm' ich dich.
Was ich mit äußerm Sinn, mit innerm kenne,
Du Allbelehrende, kenn' ich durch dich;
Und wenn ich Allahs Namenhundert nenne,
Mit jedem klingt ein Name nach durch dich.
Ihm entspricht ein vielleicht unter seinem Einfluß entstandenes Gedicht
Heines, das wie das oben angeführte zu seinen unbekannteren gehört und
deshalb gleichfalls hier abgedruckt werden mag.
[Beginn Spaltensatz]
Bin ich stets in deiner Nähe,
Aber immer bin ich leidend,
Und du tust mir immer wehe.
Wandelnd in des Sommers Tagen,
Einen Schmetterling zertreten ─
Hörst du mich nicht leise klagen?
[Beginn Spaltensatz]
Und mit kindischem Behagen
Sie entblätterst und zerstückest ─
Hörst du mich nicht leise klagen?
Böse Dornen einmal wagen
In die Finger dich zu stechen ─
Hörst du mich nicht leise klagen?
Selbst im Ton der eignen Kehle?
In der Nacht seufz' ich und stöhne
Aus der Tiefe deiner Seele.
Wie diese Verse zeigen, kann es vorkommen, daß der Gedanke eines Gedichts
eine Vielheit der Symbole fordert, um zu anschaulichem Ausdruck
zu kommen. Wir werden sehen, daß dies in der reflektierenden Poesie
weit öfter der Fall ist, als in der rein gefühlsmäßigen Lyrik. Hier wird
im allgemeinen das einheitliche Erlebnis, das zum Ausdruck kommen soll,
auch eine gewisse Einheitlichkeit der Symbolik, einen Zusammenschluß der
Bilder zu einem Ganzen fordern. Man betrachte z. B. die Eichendorffschen
Verse:
[Beginn Spaltensatz]
Schaurig rühren sich die Bäume,
Wolken ziehn wie schwere Träume ─,
Was will dieses Graun bedeuten?
Hast ein Reh du lieb vor andern,
Lass' es nicht alleine grasen,
Jäger ziehn im Wald und blasen,
Stimmen hin und wieder wandern.
Trau ihm nicht zu dieser Stunde,
Freundlich wohl mit Aug' und Munde,
Sinnt er Krieg im tück'schen Frieden.
Was heut' müde gehet unter,
Hebt sich morgen neu geboren.
Manches bleibt in Nacht verloren ─
Hüte dich, bleib wach und munter!
Eine Reihe an sich verschiedener sinnbildlicher Anschauungen, die sich
gleichwohl zu einem ganz einheitlichen Stimmungsbild zusammenschließen.
Wo diese Einheit fehlt oder nicht deutlich erkennbar ist, da wird das Gedicht
als Ganzes etwas Undeutliches und Unklares erhalten, das nicht nur
das Verständnis im engeren Sinne, sondern auch das Nachfühlen erschwert
und den Eindruck zersplittert. Dies ist z. B. in Goethes Harzreise
der Fall; man vergleiche sie nur mit dem so viel fester gefugten
Schwager Kronos, der ihr der Anlage nach verwandt ist. In dieser einheitlichen
Ausgestaltung beruht ein wesentlicher Teil der formgebenden
Arbeit des lyrischen Dichters.
Nach allem, was wir von der Bedeutung des Symbolischen für die
Lyrik gesehen haben, kann sich nun wohl die Frage aufdrängen, welchen
Sinn es hat, wenn eine moderne Richtung die Bezeichnung Symbolismus
annimmt und damit zugleich den Anspruch erhebt, die Kunst sinnbildlicher
Darstellung in besonderer Weise verstanden und durchgeführt zu
haben. Über diese Erscheinung mögen einige Worte aufklären; sie gehört
eigentlich in die Geschichte der modernen Literatur, ist aber doch
auch prinzipiell für das Wesen der Lyrik bedeutsam.
Der Symbolismus ist zunächst eine spezifisch französische Erscheinung,
eine Reaktion gegen die allzu ausgeprägte Verstandesmäßigkeit,
welche der französischen Lyrik im allgemeinen eignet, gegen die allzu
ausgeprägte Klarheit und Schärfe der Umrisse, welche insbesondere die
sogenannten Parnassiens anstrebten. Daher ruft er, wie wir oben sahen,
zunächst das musikalische Element zu Hilfe als ein Gegengewicht gegen
das rhetorische, das die französische Poesie bis dahin fast ausschließlich
beherrschte. „De la musique avant toute chose“, heißt es in
einem programmatischen Gedicht Paul Verlaines. Aber wesentlicher ist
noch, daß die Symbolisten überhaupt nach Auflösung der festen Umrisse
streben, daß sie sich gegen die allzu scharfe Deutlichkeit der Bezeichnungen
und Schilderungen wenden. „La contemplation des objets“, sagt
Stephan Mallarmé, „l'image s'envolant de rêveries suscitées par eux, sont
le chant: les Parnassiens, eux, prennent la chose entièrement et la montrent;
par là, ils manquent de mystères; ils retirent aux esprits cette joie délicieuse
de croire qu'ils créent. Nommer un objet, c'est supprimer les troisquarts
de la jouissance du poème qui est faite du bonheur de deviner
peu, le suggérer voilà le rêve.“1) Und in demselben Sinne heißt es in dem
oben angeführten Gedichte Verlaines:
Choisir tes mots sans quelque méprise,
Rien de plus cher que la chanson grise
Où l'Indécis au Précis se joint ...
Hiermit hängt denn auf das engste zusammen, daß statt des eigentlichen
und verstandesmäßigen Ausdrucks das Symbol zu Hilfe gerufen wird.
Soweit ist der Symbolismus nichts anderes als die Einführung der
Prinzipien echter Lyrik in die französische Poesie, die sie bisher kaum gekannt
hatte. Das Gedicht soll dem Verstande nichts sagen, sondern
nur dem Gefühl und der Phantasie vermitteln, was es sagen will. Dieser
an sich richtige Satz nun aber wird von den Symbolisten mit der Einseitigkeit
durchgeführt, die Reaktionserscheinungen eigen zu sein pflegt.
Jede gedankenhaft faßbare Einheit wird ausgeschlossen. Der Symbolist
reiht nicht nur verschiedene Bilder aneinander, sondern er löst das einzelne
auch noch in seine Elemente auf und setzt an Stelle der Bedeutung,
welche dem Gesamtbild zukommen kann, die Gefühle, welche die einzelnen
Elemente, Farbe, Ton, Gerüche u. s. w., erwecken. Zwischen den elementaren
Eindrücken der verschiedenen Sinne entdeckt er sodann Verwandtschaften,
Parallelen, die selbstverständlich nicht verstandesmäßig erfaßt,
sondern nur nachgefühlt werden können.
Laissent parfois sortir de confuses paroles;
L'homme y passe à travers des forêts de symboles
Qui l'observent avec des regards familiers.
Comme de longs échos qui de loin se confondent,
Dans une ténébreuse et profonde unité,
Vaste comme la nuit et comme la clarté,
Les parfums, les couleurs, et les sons se répondent.1)
Diese Verse Beaudelaires bezeichnen die charakteristische Grundanschauung.
Bisweilen wird diese Methode mit einer eigentümlichen Mischung von
Raffinement und Pedanterie durchgeführt; das berüchtigte Sonett Artur
Rimbauds über die Bedeutung der Vokale gibt eine naiv drastische Anleitung
dazu. Bisweilen auch gelingt es einem wirklichen Dichter wie Verlaine,
der übrigens keineswegs im Banne der Schule geblieben ist, ein
echtes Gedicht auf dieser Grundlage zu schaffen; das S. 83 angeführte
ist ein Beispiel davon. Im ganzen aber fehlt dieser Art von Poesie der
Inhalt. Jedes Sinnbild bedarf eines Sinnes, wenn es nicht, wie ein loses
Märchen verklingend, täuschen soll: und gerade dieser wird ihm hier versagt.2)
Es ist die bloße Stimmung, die hier die verschiedensten Elemente
zusammenhalten soll. Nichts als der Ausdruck einer solchen Stimmung
will das symbolistische Gedicht sein und es nähert sich auch hierin wieder
der Musik.
Die Einseitigkeit der französischen Lyrik erklärt sich, wie gesagt, aus
ihrer Vorgeschichte. Dem französischen Dichter kann es, wenn er die ältere
Lyrik seiner Literatur betrachtet, wohl scheinen, als ob Faßlichkeit des Inhalts
und Bestimmtheit der Anschauung ein für allemal Kraft und Tiefe der
Stimmung beeinträchtigen müssen. Nicht so dem Deutschen. Ihm müssen
die großen Lyriker seines Volks von Goethe bis Heine, ihm müssen besonders
Eichendorff und Mörike, deren Formbehandlung sehr oft der der
modernsten Dichtung nahe kommt, gelehrt haben, daß sich Bestimmtheit
des Erlebnisses und der Anschauung sehr wohl mit jener Zartheit der Umrisse,
jener Tiefe der Stimmung, jenem musikalischen Elemente der Poesie
vereinigen lassen, die der Symbolismus sucht. Es ist daher eine Verirrung,
Interessant ist es, mit diesen Versen folgende Zeilen Friedrich de la Motte
Fouqués zu vergleichen:
Und im süßen Himmelsglanze
Bilden spielend sich zum Kranze
Töne, Worte, Farb' und Düfte.
Sehr richtig sagt Ferd. Brunetière (L'évolution de la poésie lyrique en France.
Paris 1901. S. 253): „Tout symbole suppose une idée sans le support de laquelle il n'est
qu'un conte de nourrice; et toute symbolique implique ou exige, à vrai dire, une métaphysique,
j'entends une certaine conception des rapports de l'homme avec la nature
ambiante ou, si vous l'aimez mieux, avec l'inconnaissable.“
wenn sich lyrische Talente wie Stefan George und in seinen Anfängen
auch Hugo von Hofmannsthal durch das Vorbild und die Theorie der
Franzosen zur Nachahmung verführen lassen, statt die große deutsche
Tradition fortzusetzen.
Ein Gedicht von Stefan George, das keineswegs zu seinen schlechtesten
gehört, möge die Beziehung zu der symbolistischen Theorie, besonders
zu den S. 131 (zweiter Absatz) angeführten Sätzen veranschaulichen
und das ausgesprochene Urteil bestätigen:
[Beginn Spaltensatz]
Ein balsam das sprocke holz?
Verspäteter sonnen erglühn
Die herbstlichen farben verschmolz
Rotgelb. gesprenkeltes braun
Scharlach und seltsames grün.
Der fern von der menge sich härmt?
In mattblauen kleidern ein kind ..
So raschelt ein schüchterner wind
So duften sterbende rosen
Von scheidenden strahlen erwärmt.
Bei dorrenden laubes geknister
Und lichter wipfel sang
Führen wir uns bei der hand
Wie märchenhafte geschwister
Verzückt und mit zagendem gang.
Jedes lyrische Gedicht ist, wie wir sahen, die Darstellung eines Gefühlserlebnisses,
eines inneren Zustandes, einer Stimmung. Dieses innere
Erlebnis wird, soweit wir es bisher verfolgten, durch einen äußeren Vorgang
hervorgerufen. Es kann nun aber auch einen rein innerlichen Ursprung
haben, durch einen Vorgang in der Gedankenwelt des Dichters
verursacht sein.1) Philosophische Gedanken, Reflexionen und allgemeine
Anschauungen sind an sich verstandesmäßig und bilden daher so wenig
unmittelbar einen Gegenstand für die Lyrik wie Ereignisse der äußeren
Welt. Aber wo sie tief in der Persönlichkeit des Dichters wurzeln, wo sie
für sein ganzes Seelenwesen Bedeutung haben, da vermögen sie nicht
minder starke Affekte auszulösen, wie jene Ereignisse des äußeren Lebens.
Für den denkenden Dichter ist ein neuer Gedanke unter Umständen ein
ebenso entschiedenes und entscheidendes Erlebnis wie eine neue Liebe.
Daher ist denn auch die Grenze zwischen Gefühls- und Gedankenlyrik
Es kann vorkommen, ist aber keineswegs notwendig, daß dieses „Gedankenerlebnis“
seinerseits auf einen äußeren Vorgang zurückzuführen ist, so daß diesem dann
doch ein indirekter Einfluß auf die Entstehung zukommt. R. M. Werner scheint diese
Notwendigkeit allerdings vorauszusetzen (Lyrik und Lyriker S. 100 f.). Gleichwohl schränkt
er im Folgenden die Bedeutung des äußeren Erlebnisses für die Gedankenlyrik so vielfach
ein, daß nichts Greifbares mehr übrig bleibt, und jedenfalls pflichte ich von meinem
Standpunkt aus dem Ergebnis vollständig bei, zu dem Werner S. 172 kommt: „Daß für
den Dichter die Gedankenerlebnisse wie die äußeren Erlebnisse wirken müssen, daß sie
Gefühlserlebnisse in ihm erregen und daß erst dadurch ein lyrisches Gedicht entsteht.“
Der Abschnitt über Gedankenlyrik gehört zu den wertvollsten Teilen des Wernerschen Buches.
keine feste und starre, wie es überhaupt in der Kunst nirgends starre
Grenzlinien gibt. Je stärkere und tiefere Gefühle ein Gedanke auslöst,
desto mehr schwindet sein abstrakter Charakter, und diese Wirkung hervorzurufen,
ist die Kunst des Gedankendichters; je tiefer und echter also diese
Kunst, desto enger berühren sich beide Gattungen der Lyrik. Gehören
Gedichte wie „Prometheus“ und die „Grenzen der Menschheit“, gehört
Rückerts „sterbende Blume“ der einen oder der anderen an? Allgemeine
Gedanken sind hier zu so tief ergreifenden Gefühlserlebnissen geworden,
daß solche Gedichte ganz den Charakter der Gefühlslyrik tragen, und
Schillers Dichtung zeigt uns, daß die Tiefe der Gefühlsresonanz noch weit
abstraktere Ideen künstlerisch gestalten und zu echt lyrischer Wirkung zu
bringen vermag. Nur wo dieses Verhältnis zwischen Gedankenwelt und
Gefühlsleben vorhanden ist, kann eine philosophische Lyrik entstehen.
Andernfalls bleibt die Reflexionspoesie im Didaktischen stecken;1) es entstehen
Lehrgedichte im alten Sinne des Wortes, die mit der Poesie nichts
gemeinsam haben als die äußere Form. Wir kennen sie aus dem siebzehnten
und der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts; aber auch
Rückert hat, besonders in der Weisheit des Brahmanen, vielfach trockene
und lehrhafte Gedankengänge moralischen oder metaphysischen Inhalts in
glatte Verse gebracht. Nur große und bedeutsame Ideen können es sein,
die das Gefühlsleben tief berühren, Ideen, welche die Begeisterung des
Dichters und seiner Leser zu erwecken vermögen und eben hierdurch dem
Verstandesmäßigen die künstlerische Wendung geben. Sehr richtig drückt
Körner dieses Verhältnis in einem Brief an Schiller aus (Briefwechsel I
S. 282). „Wahrheiten können ebenso gut begeistern als Empfindungen,
und wenn der Dichter nicht bloß lehrt, sondern seine Begeisterung mitteilt,
so bleibt er in seiner Sphäre. Was der Philosoph beweisen muß,
kann der Dichter als einen gewagten Satz, als einen Orakelspruch hinwerfen.
Die Schönheit der Idee macht, daß man es ihm aufs Wort glaubt.“
Wo aber ein Kreis solcher Ideen vorhanden ist, aus dem der Dichter schöpft,
da kann sogar ein einzelner scheinbar trockener und fachwissenschaftlicher
Gedanke Gefühlswärme empfangen und Begeisterung erregen, wie das
Goethes beide Gedichte „Die Metamorphose der Pflanzen“ und „Die
Metamorphose der Tiere“ mit schöner Deutlichkeit zeigen.
Zwei solche Gedankenkreise sind es nun, die in der deutschen
Dichtung besonders bedeutungsvoll hervortreten: die moralisch ästhetische
Ideenwelt Schillers und die pantheistische Weltanschauung Herder-Goethes.
Sehr richtig scheidet Werner gelegentlich zwischen reflektierender Gefühlslyrik
und gefühlsmäßiger Gedankendichtung; nur hätte er hinzufügen sollen, daß die erstere
immer eine Abschwächung der Gefühlswärme, die zweite jedoch eine Erwärmung der
Gedankenwelt bedeutet. Das erstere zeigt z. B. die Liebeslyrik Shakespeares, nicht selten
auch Platens und Rückerts (wie die Form des Sonetts, was wir oben schon sahen, der
Reflexion besonders entgegenkommt). Das Gegenteil beweist Schillers Lyrik.
„Schiller“, sagt Dilthey,1) „fand einen eigenen lyrischen Ausdruck für die
große Emotion der Zeit, die auf die Verwirklichung der idealen Werte in
einer neuen Menschheit gerichtet war. Der lyrische Stil, den er entdeckte,
war gänzlich verschieden von dem, welchen Pindar, Klopstock und Goethe
für den Seelenvorgang gefunden haben, der von großen Gegenständen aus
im Gemüt hervorgebracht wird. Schiller löste seine Aufgabe durch eine
der Gedankenlyrik gemäße Behandlung des gereimten Verses. Er verband
wirkungsstarke Perioden zu einem einzigen breit ausladenden Ganzen. Dabei
bediente er sich jedes Mittels der Sprache, die Gliederung des inneren
Vorgangs durch einen äußeren Zusammenhang sichtbar zu machen. Das
starke, aber dunkle Gefühl, das ein großer Gegenstand hervorruft, wird an
dessen Teilen entfaltet, bis alle seine Momente zum Bewußtsein erhoben
sind und nun so im Gemüt zusammengehalten werden. Besonders wirkungsvoll
ist das Anschwellen des Gemüts, welches Teil auf Teil der
ideellen Anschauung aneinanderfügt in lauter parallelen großen Perioden,
bis dann in der Mitte des Gedichts die seelische Bewegung gemäß der
Gesetzlichkeit des Gefühls wieder sinkt. So durchläuft das Gedicht „Die
Götter Griechenlands“ zuerst alle Bestandteile dieser göttlichen Welt, mit
jedem derselben steigert sich das Gefühl ihrer Schönheit, immer wieder
erfüllt und bestätigt dies Gefühl sich an neuen Teilen der Anschauung:
bis dann plötzlich hieraus die unendliche Sehnsucht und ein grenzenloses
Gefühl des Verlustes hervorbricht und sich die Seele nun hineinwühlt in
jede Tatsache, die diesen Verlust verdeutlicht. So entsteht ein neuer großzügiger
Rhythmus, die Energie im Wachstum des Gefühls ausdrückend,
das aus der Vertiefung in die Teile des ideellen Gegenstandes hervorgeht,
aus dem leidenschaftlichen Vorgezogenwerden von Teil zu Teil.“ Schiller
fand nur einen Nachfolger, der diese Höhe zu behaupten vermochte:
Hölderlin. „Niemand“, so schreibt Dilthey mit Recht, „neben oder nach
Hölderlin ist dieser Form Schillers gewachsen gewesen.“ Wenn Schillers
dichterische Unmittelbarkeit so oft verkannt wird, wenn die meisten Literarhistoriker
der Gegenwart dazu neigen, in seiner Gedankenlyrik nur Erzeugnisse
des Willens und der Reflexion zu sehen, so liegt das daran, daß
sie verkennen, wie tiefes Erlebnis für ihn das Ringen um philosophische
Erkenntnis mit seinen Zweifeln und Siegen war, was der Wechsel der Lebensanschauung
von Shaftesbury zu Kant für sein Gefühlsleben bedeutete.
Leichter freilich als in diesen abstrakten Gedankengängen ist in
einer Weltanschauung, die in allen Teilen der Natur, in allen Vorgängen
der menschlichen Seele unmittelbare Äußerungen göttlicher Kräfte sucht
und findet und alle diese Kräfte zu einer unendlichen, welterfüllenden Einheit
zusammenfaßt, das gefühlsmäßige Element und die begeisternde Macht
zu entdecken. Sind doch die mystische Gottesliebe Spinozas und zugleich
Das Erlebnis und die Dichtung, S. 301.
die Schönheitstrunkenheit einer durch und durch künstlerischen Weltanschauung
die Lebensquelle, aus denen die Lehre des Pantheismus, wie sie sich
in und mit unserer klassischen Dichtung entwickelt hat, ihre Kräfte zieht.
Von Goethes herrlicher Jugendschöpfung, dem Wanderer, an bis zu den
tiefsinnigen Dichtungen, die der Greis in „Gott und Welt“ zusammenfaßte,
zeigt uns seine Gedankenlyrik durchweg jene Fülle und Wärme der Empfindung,
jenen Enthusiasmus des Schauens, welcher die Reflexion zur Poesie
macht. Und wie seine Weltanschauung, so hat auch ihr dichterischer Ausdruck
tief ins neunzehnte Jahrhundert hinein nachgewirkt. So viel Trockenes
und Undichterisches die allzu zahlreichen Bände Rückertscher Lyrik enthalten,
so sollte man doch nicht vergessen, daß er in einer Reihe von Gedichten
wahrhaft ersten Ranges die Tradition Goethescher Gedankenlyrik
aufgenommen und ihres Begründers würdig fortgesetzt hat: die sterbende
Blume, Waldstille, Trauerlieder, Kindertotenlieder u. ähnl. Unter den heute
noch lebenden Dichtern ist es besonders der viel zu wenig gewürdigte
Arthur Fitger, der mit ähnlicher Tiefe der Gedanken und Kraft der Empfindungen
die gleiche Weltanschauung, wenn auch in modernen Wendungen,
zum künstlerischen Ausdruck gebracht hat. In allen diesen Gedichten hat
der Pantheismus die Wärme und den gefühlsmäßigen Inhalt der Religion,
und wenn man das Wort nur allgemein genug nimmt, so kann man diese
Art der Gedankenlyrik wohl als religiöse Dichtung bezeichnen.
Tatsächlich zeigt ein Blick auf die geistliche Dichtung im engeren
Sinne das gleiche Gesetz. In ihren wertvollsten Erzeugnissen, wie Luthers
und Paul Gerhards Liedern, ist sie echte Lyrik, und die allgemein christlichen
oder dogmatischen Gedanken dienen nur dazu, religiöse Empfindung
und Begeisterung auszulösen. Wo dagegen die Reflexion, insbesondere
die moralisierende, allzu entschieden und scharf hervortritt, wie
bei Gellert, da bleibt sie lehrhaft und unpoetisch, selbst wenn sie Gedanken
behandelt, die an sich, wie z. B. die Liebe zu den Mitmenschen,
gar wohl einer dichterischen Behandlung fähig wären.
Während nun aber in der Gefühlslyrik das äußere Erlebnis von dem
inneren gleichsam aufgezehrt erscheint und nur in seinen allgemeinsten
Umrissen noch sichtbar ist, bleiben in der Ideendichtung die Gedanken
notwendigerweise in voller Schärfe und Klarheit erkennbar, nur daß sie
von den Gefühlen, die sie hervorrufen und beherrschen, gleichsam getragen
werden. Ein Verschwimmen der Umrisse, das in der Gefühlslyrik reizvoll
sein kann, wird hier immer als peinliche Unklarheit empfunden werden.
Gleichwohl bedarf die Gedankendichtung im allgemeinen nicht weniger wie
die Gefühlslyrik der symbolischen Darstellung. Nur wo, wie in Goethes
Metamorphose der Tiere und der Pflanzen, der Gedanke an sich im Anschaulichen
bleibt, braucht der Dichter das Sinnbild nicht, sonst aber fordert
gerade der abstrakte Gedanke in der poetischen Behandlung die symbolische
Anschaulichkeit, wenn er nicht lehrhaft und unkünstlerisch wirken
|#f0151 : 137|
soll. Schiller war sich darüber völlig klar. „Wenn“, schreibt er an Goethe,
„etwas Intellektuelles oder überhaupt Vernunftmäßiges schön werden soll,
so muß es erst sinnlich und ein Gegenstand der Einbildungskraft werden.“1)
Während indessen die Darstellung des reinen Gefühlserlebnisses im allgemeinen,
wie wir oben sahen, der Einheit oder wenigstens Einheitlichkeit
des Symbols bedarf, um selbst zusammenhängend und einheitlich zu wirken,
wird dem reflektierenden Gedicht diese Einheit durch den Gedanken selbst
gegeben, und es ist sehr wohl möglich, diesen Gedanken in seinen verschiedenen
Wendungen durch sehr verschiedene Sinnbilder zur Darstellung
zu bringen, ohne daß der Zusammenhang dadurch locker oder unklar
würde. Schiller verfährt fast immer so; in Ideal und Leben wie im
Glück drängt geradezu ein Bild das andere, ohne daß die Einheitlichkeit
des Eindrucks dadurch verlöre. Wo es freilich der Gedanke und die Natur
des Symbols zulassen, wird es die künstlerische Wirkung erhöhen, wenn
ein einheitliches Sinnbild in seinen verschiedenen Teilen und Wendungen
den Gedankengang ganz und gar aufnimmt. Das ist in den früheren Gedankendichtungen
Goethes „Adler und Taube“, „Mahomets Gesang“,
„Prometheus“ u. s. w. der Fall. Und Rückert hat in der sterbenden Blume,
Fitger im Gottesurteil, um nur einige Beispiele anzuführen, diese Einheit
des Sinnbildes aufs schönste durchgeführt. ─
Zur Gedankenlyrik zählen auch die kurzen Versgebilde, die man als
Epigramme oder Sinngedichte zu bezeichnen pflegt. Der Name wird
herkömmlicherweise sehr allgemein gebraucht und auf jedes kurze Gedicht
angewendet, das nur einen Gedanken zum Ausdruck bringt. So faßt
Vortrefflich stellt R. M. Werner im Anschluß hieran das Verhältnis zwischen Gefühls-
und Gedankenlyrik dar. „Vergleichen wir Gefühls- und Gedankenlyrik miteinander,
so zeigt sich augenblicklich die Verschiedenheit des Weges, den beide zurücklegen, aber
die Gleichheit des Ziels. Das Gefühlserlebnis geht von einem zufälligen Individuellen
aus: das Bestreben des Dichters muß sein, daraus das Allgemeingültige herauszuschälen.
Das Gedankenerlebnis geht vom notwendigen Allgemeinen aus: das Bestreben des Dichters
ist darauf gerichtet, es mit individuellem Leben zu umkleiden. Das Gedankenerlebnis ist
eine abstrakte Wahrheit, das Gefühlserlebnis eine Erscheinung der Wirklichkeit; jenes hat
Notwendigkeit, dieses hat Freiheit; jenes Klarheit, dieses Fülle. Sie könnten sich also
gegenseitig ergänzen, und die Phantasie des Dichters läßt beiden, was sie haben, und
sucht ihnen zu geben, was ihnen fehlt: das notwendig Allgemeine muß individuelles
Leben erhalten, die abstrakte Wahrheit muß in wirkliche Erscheinung treten; der Notwendigkeit
muß sich Freiheit gesellen, der Klarheit die Fülle; mit einem Worte: das Gedankenerlebnis
soll dem Gefühlserlebnis genähert werden, was vom Geiste seinen Ausgang
nahm, wird durch die Phantasie dem Gemüte nahe gebracht. Das Umgekehrte hat beim
Gefühlserlebnis statt: das individuelle Lebendige muß zum notwendig Allgemeingültigen
erhoben werden, die Erscheinung der Wirklichkeit zur Wahrheit, mit der Freiheit muß
sich die Notwendigkeit paaren und in aller Fülle die Klarheit sichtbar werden; das, was
vom Gemüte kommt, wird durch die Einbildungskraft dem Denker erschlossen. Weder
das Gefühls- noch das Gedankenerlebnis an sich ist Lyrik, sondern wird durch die Phantasie
zum Lyrischen erst gemacht.“
Goethe unter der Überschrift Epigrammatisch die mannigfaltigsten kurzen
Einfälle zusammen, und auch in Logaus Sinngedichten finden wir Verse
verschiedensten Inhalts und Charakters. Allein eine deutliche Scheidung
läßt sich gleichwohl ohne Schwierigkeit und mit Vorteil für das Verständnis
durchführen.1) Wo der Gedanke in seiner allgemeinen Bedeutung kurz
und einfach vorgetragen wird, ist die Bezeichnung Spruch oder Sentenz
(Gnome) besser am Platz als der Name Epigramm. So Logau's:
Wo beides nichts zu reiben hat, wird beides selbst zerrieben.“
Oder Goethes:
Nur nicht eine Reihe von guten Tagen.“
Ebenso Schillers Führer des Lebens und zahllose andere.
Für das Epigramm im engeren Sinne aber ist charakteristisch, daß
der Gedanke stets mit einer überraschenden Wendung auf eine kurze Exposition
folgt, somit als Schlußspitze erscheint. Schon Lessing hat die
Zweiteilung des Epigramms und seine Zuspitzung als die wesentlichen
Eigenschaften dieser Gedichtform angesehen. Die Namen Erwartung und
Aufschluß, mit denen er die beiden Teile bezeichnete, passen freilich
nicht überall, und Werners Ausdrücke Erlebnis und Einfall (S. 179 f.)
sind treffender, obgleich sie nur die subjektive Seite, die Entstehung des
Gedichts, bezeichnen. Grundlage und Spitze, Exposition und Pointe
dürfte das Verhältnis am besten bezeichnen. Goethe, „Den Originalen“:
Kein Meister lebt, mit dem ich buhle;
Auch bin ich weit davon entfernt,
Daß ich von Toten was gelernt.“
Das heißt, wenn ich ihn recht verstand:
„Ich bin ein Narr auf eigne Hand.“
In der Natur solcher überraschender Wendungen liegt es, daß sie zumeist
auf komische Wirkungen abzielen. Und in der Tat ersetzt in den meisten
Epigrammen der Witz das Stimmungselement, welches jeder Gedankendichtung
eignen muß. Wenn das Epigramm mehr als ein belangloser
Einfall sein soll, so wird seinem Witz eine tiefere Bedeutung zukommen
müssen; so faßt es auch Goethe:
Tiefen Sinnes heitre Wendung.
Mit diesem Motto überschreibt er seine epigrammatischen Gedichte. Daher
wird das Epigramm im engeren Sinne hauptsächlich der Satire dienen, die
Eine eingehende Einteilung des Epigramms im weiteren Sinne des Worts hat
Herder (Anmerkungen über das griechische Epigramm) unternommen. Doch macht R.
M. Werner mit Recht dagegen geltend, daß sie das Einteilungsprinzip nicht wahrt.
witzige Spitze wird zugleich eine aggressive sein, die überraschende Wendung
eine polemische, sei es, daß sie sich gegen einzelne Personen richtet
(Invektive), sei es, daß sie allgemeine Richtungen und Zustände trifft. Sehr
häufig werden diese letzteren in fingierten Personen gegeißelt, da Witz und
Angriff dadurch schlagender und wirksamer erscheint. Schon Martial verstand
sich auf diese Methode, und Lessing ahmt sie ihm in fast allen seinen
Sinngedichten nach. Goethe macht es sich mit der Überschrift Mamsell
N. N. einigermaßen leicht, aber auch er bewegt sich fast durchweg einem
fingierten Du oder Ihr gegenüber. Ihre gemeinsamen Xenien freilich haben
Schiller und Goethe direkt an bestimmte persönliche Gegner gerichtet.
Mit dem Epigramm in seiner ausgesprochen verstandesmäßigen Natur
haben wir uns der Grenze der Poesie genähert: wir wenden uns nunmehr
wiederum ihrem zentralen Gebiete zu und fassen zunächst die epische
Dichtung ins Auge.
Während die lyrische Dichtung nichts als
der reine Ausdruck innerer Zustände des Dichters, seiner Gefühle, Stimmungen
und Gedanken ist, stellen Epos und Drama eine gegenständliche
Welt und zwar in lebendiger Bewegung, Menschen und ihre Handlungen
dar. Beide bilden mithin der Lyrik gegenüber eine gemeinsame Kategorie,
und man hat sie denn auch mehrfach unter einen gemeinsamen Namen
zusammengefaßt. Schiller und Goethe bezeichnen sie als pragmatische
Dichtungsarten (z. B. Schiller an Goethe am 25. April 1797), W. v. Humboldt
als plastische (über Goethes Hermann und Dorothea S. 245 Anm.).
Objektive Dichtung würde treffender bezeichnen, was beiden der subjektiven
Gattung der Lyrik gegenüber gemeinsam ist. Indessen ist dieses
Wort, wie wir sehen werden, schon in so mannigfachem Sinne von der
Poetik in Anspruch genommen, daß es nicht ratsam ist, noch einen neuen
Gebrauch hinzuzufügen. Ich werde daher im Folgenden die Übersetzung
gegenständliche Dichtung gebrauchen.
Auch die gegenständliche Dichtung geht, wie die Lyrik, aus inneren
Erlebnissen des Dichters hervor. Aber diese Erlebnisse bleiben nicht, wie
dort, in der Sphäre des Empfindens und Denkens: die Phantasie des
Epikers und Dramatikers schafft Gestalten und Charaktere, die, wiewohl
von seinem Herzblut getränkt, sich doch gleichsam von ihm loslösen und,
plastisch ausgeprägt, die Züge selbständig eigenen Wesens tragen. Der
Dichter erlebt ihre Handlungen und Schicksale mit, wie die seiner Kinder,
seiner nächsten Freunde; aber er selbst bleibt außerhalb der Welt, die
seine Schöpfung ist: er verschwindet hinter ihr, oder besser, er geht
in ihr auf, und seine Persönlichkeit, in der Lyrik der Brennpunkt, in
welchem die Strahlen des Gefühls wie der Idee zusammentreffen, erscheint
hier gleichsam ausgelöscht. Und ganz dem entsprechend muß auch der
Zuschauer und Leser sein eigenes Ich, das ihm in der Lyrik zum Träger
der Empfindungen wird, hier vergessen; er muß ganz in der Welt leben, die
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sich vor ihm aufbaut. Solange ich mir bewußt bin, daß ich im Theater
sitze oder ein Buch in der Hand habe, ist die höchste Wirkung nicht erreicht.1)
Wenden wir uns nun zuerst der epischen Dichtung zu und suchen
wir festzustellen, worin das Wesen dieser Gattung besteht, so tritt uns eine
Reihe von falschen oder doch schiefen Vorstellungen hinderlich in den Weg,
die sich durch das ganze Jahrhundert, das seit dem Höhepunkt unserer
klassischen Dichtung vergangen ist, hindurchziehen. Denn in seltsamer
Weise ist die Theorie des Epos durch vorgefaßte Meinungen und moralische
Anschauungen getrübt und verwirrt worden, und unsere großen
Dichter selbst sind nicht ohne Schuld daran. Die einseitige Schätzung
des Griechentums, die ganze absolut wertende Methode, welche die Poetik
der klassischen Epoche beherrschte, tritt in ihren Ursachen wie ihren
Folgen nirgends so klar zutage wie hier. Seit Lessings Laokoon erscheint
es als ein unerschütterliches Dogma, daß nur aus dem Homer das Wesen
und die Gesetze des wahren Epos zu erkennen und mit dem Anspruch
auf absolute und dauernde Geltung abzuleiten sind. Es ist von hohem
Interesse, zu verfolgen, durch welche Faktoren dieses Werturteil, das heute
noch auf unseren Gymnasien wie in unserer ästhetischen Theorie herrscht,
entstanden und zur unbestrittenen Herrschaft gelangt ist. Zuerst war es offenbar
der einheitliche und organische Charakter des künstlerischen Stils, was
die Pfadfinder des deutschen Klassizismus ergriff und gefangen hielt. Eben
ein solcher Stil war es ja, den sie für die deutsche Dichtung suchten und
in der Zerfahrenheit der einheimischen Überlieferung, in der Nachahmung der
verschiedenen modernen Literaturen nicht zu finden vermochten. Deshalb
verwandte Klopstock die homerische Form für sein christliches Epos,
und Lessing orientierte seine Kritik der epischen Darstellungsweise an der
Methode Homers. Mit der jüngeren Generation aber, mit Herder, Goethe,
Schiller kommt ein zweites, ganz anders geartetes Element in die Beurteilung:
der moralische oder auch kulturphilosophische Gesichtspunkt.
Ihnen sind diese Gesänge vor allem die Erzeugnisse einer primitiven
Epoche der Menschheit und in ihrem, durch Rousseau angeregten, enthusiastischen
Glauben an den idealen Wert des Naturzustandes und des
natürlichen Menschen, finden sie im Homer und nur hier das reine und
wahre Menschentum in einer ebenso reinen und natürlichen künstlerischen
Darstellung. Aus den ungebrochenen Instinkten der homerischen Helden
konstruiert Schillers moralisch-ästhetische Spekulation die absolute Verkörperung
der Harmonie zwischen Geist und Natur, und selbst die Roheit,
Es ist hier nicht die Stelle, zu erörtern, wie weit diese Sätze, die der herkömmlichen
Aufassung entsprechen, im Widerspruch zu der „Illusionstheorie“ stehen, die
Konrad Lange in seinem Buche „Das Wesen der Kunst. Grundzüge einer realistischen
Kunstlehre“ aufgestellt hat, und wie weit sie etwa mit Langes Auffassung vereinbar wären.
Hingewiesen möge jedenfalls auf das geistvolle Werk hier werden.
die ungebändigte Selbstsucht, mit der diese Instinkte sich äußern, verhindern
ihn nicht, eine Art von höherer Sittlichkeit gegenüber dem modernen
Leben hier verkörpert zu finden. Der Irrtum eines Zeitalters, dem der
historische Sinn mangelte, ist begreiflich: durch die Entfernung wird der
Blick geblendet; Begebnisse, die sich auch im modernen Leben abspielen
können und oft genug abgespielt haben, wie z. B., daß der gefährdet
heimkehrende Herr der heimliche Gast seines treuen alten Dieners ist, erschienen
nun als ein einzigartiger Ausfluß höchster Sittlichkeit, die keinen
Standesunterschied kennt. Naivität in der Äußerung des Gefühls, die der
Süden Europas noch heute jedem Reisenden sichtbar darbietet, galten
dem Nordländer als eine Offenbarung der Natur, die nur vor Tausenden
von Jahren möglich war, ─ wie denn auch heute noch in unserer Auffassung
der Antike vieles dem Zeitunterschied zugeschoben wird, was tatsächlich
auf Rechnung des Breitengrades zu setzen ist. Diese Beurteilung
des Inhalts wirkte auf das Werturteil über die Form zurück und trieb es
noch mehr in eine einseitige Höhe: die Mängel, die besonders der Ilias
infolge ihrer Entstehungsweise anhaften, wie die endlosen Wiederholungen
und Variationen des Zweikampfmotivs, das Unbefriedigende des Schlusses
und überhaupt das Episodische der Handlung wurden nicht übersehen,
sondern geradezu als Vorzüge betrachtet, die das Ideal des Epos konstruieren
sollten. Geschichtliche und philosophische Kritik haben längst
gezeigt, daß alle Voraussetzungen jener absoluten Schätzung irrtümlich
sind, daß die homerischen Gedichte, wiewohl sie allezeit zu den wertvollsten
Erzeugnissen der Poesie gehören werden, weder eine ursprüngliche
Offenbarung der Natur noch auch nur in ihren einzelnen Bestandteilen
künstlerisch gleichwertig sind, daß die Menschen, deren Handlungen
und Erlebnisse darin geschildert werden, durchaus historisch bedingt und
eng genug begrenzt sind. Trotzdem steht das Dogma der Wertherperiode
heute noch in Geltung. Denn auch die Romantiker, die in so manchen
anderen Punkten die Einseitigkeit des Klassizismus berichtigten und ausglichen,
haben in diesem gemeinsame Sache mit ihm gemacht. Es war
besonders ihre Verehrung der Volkspoesie, ihre mystische Vorstellung
von der schöpferisch träumenden Phantasie des Volksgeistes, die ihnen
den Blick trübte. So kam es, daß sie in ihren Bemühungen, den absoluten
Charakter des wahren Epos aus den homerischen Dichtungen abzuleiten,
den klassisch gerichteten Ästhetikern zur Seite traten und mit
ihnen zugleich der epischen Theorie die Richtung gaben. Nicht einmal
die eingehendere Beschäftigung mit dem deutschen Volksepos hat ihnen
den Blick wesentlich erweitert. Friedrich Schlegel fast gleichzeitig mit
Wilhelm v. Humboldt und ein bis zwei Menschenalter später Wackernagel
wie Friedrich Vischer verfolgen in dieser Hinsicht die gleiche Methode.
Ja, noch ein moderner Schriftsteller wie Friedrich Spielhagen, dessen
Beiträge zur Theorie des Romans und des Epos das belehrendste sind,
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was in vielen Jahrzehnten über diesen Gegenstand geschrieben ist, zeigt
sich von dieser Überlieferung nicht frei.1)
Nun stimmen freilich alle diese Ästhetiker darin überein, daß die
volkstümliche Epopöe, antike und altdeutsche zusammengenommen, eine
geschichtlich abgeschlossene Erscheinung sei, die unter modernen Verhältnissen
sich nicht wiederholen könne. Man sollte daher meinen, daß
mit den von dort abgeleiteten Gesetzen der Weiterentwicklung der epischen
Poesie und ihrer Technik nicht vorgegriffen werde, daß die moderne Dichtung
durch sie weder beherrscht noch erklärt werden könne. Dennoch
haben jene Anschauungen mannigfache Verwirrung und Trübung in der
Theorie, ja zum Teil auch in der dichterischen Praxis hervorgebracht.
Die Grundzüge, welche die Lehre vom Wesen des Epos, wie sie
sich unter den geschilderten Einflüssen gebildet hat, beherrschen und die
ihren Begründern wie den meisten ihrer späteren Vertreter gemeinsam
sind, treten zuerst und mit systematischer Klarheit in Wilhelm von Humboldts
schon mehrfach angeführter Abhandlung über Hermann und
Dorothea hervor ─ bis heute der umfassendste und am tiefsten angelegte
Versuch, das Wesen der epischen Dichtung in seinen letzten Grundzügen
zu klären. Humboldt unterscheidet (a. a. O. S. 228 ff.) zwei große
Klassen ästhetischer Zustände oder Stimmungen: „den Zustand allgemeiner
Beschauung und den einer bestimmten Empfindung“. Auf den zweiten
führt er die lyrische und die dramatische Poesie zurück; beide gehen
darauf aus, subjektive Empfindungen oder Mitempfindungen beim Hörer
oder Zuschauer zu erregen. Die beschauende Stimmung des Gemüts
dagegen ist davon abhängig, daß es sich „zu einer gewissen Höhe über
seinen Gegenstand erhebt und ihn von da aus gleichsam beherrscht“.
Diese Höhe der Betrachtung aber kann nur dadurch hervorgebracht werden,
daß der Blick beständig vom Einzelnen auf das Ganze, den allgemeinen
Zusammenhang der Dichtung, gerichtet wird. „Aus der Totalität seiner
Darstellungen muß die Ruhe, die der Epiker bewirkt, hervorgehen, und
diese Totalität ist also das zweite Erfordernis seiner Gattung.“ Der
epische Dichter muß unseren Blick „so viel umfassend und allgemein, als
nur immer möglich, machen, ihn immer auf die ganze Lage der Menschheit
in der Natur richten“. Andrerseits verlangt das Gemüt in dem Zustand
der Beschauung ausgeprägteste Gegenständlichkeit; wenn das Objekt
uns beherrschen soll, so muß es in Gestalt und Bewegung anschauliches
Leben sein: „Die höchste Objektivität fordert die lebendigste Sinnlichkeit.“
„Objektivität, Parteilosigkeit und Umfang (Totalität der Ansicht) sind
die Hauptmerkmale der beschauenden Stimmung“, und aus ihnen fließen
daher die Gesetze der epischen Poesie. In der Tat sind es diese drei
Friedrich Spielhagen, Beiträge zur Theorie und Technik des Romans, Leipzig
1883. Neue Beiträge zur Theorie und Technik der Epik und Dramatik, Leipzig 1898.
Forderungen, die, wenn auch verschieden formuliert und zum Teil unabhängig
von Humboldt, bis auf die Gegenwart immer wieder erhoben
worden sind. Es ist nötig, sie näher zu betrachten.
Von diesen Gesetzen ist offenbar das der Totalität das auffallendste
und am schwersten verständliche. Was bedeutet es? Alle Dichtung hat,
wie Humboldt sagt, eine Tendenz, „die Welt als den geschlossenen Kreis
alles Wirklichen zu umfassen“, indem sie „entweder den Kreis der Objekte
oder den Kreis der Empfindungen durchläuft, den sie hervorbringen“. Im
besonderen Maße aber soll diese Tendenz der epischen Poesie eignen:
sie strebt innerhalb der einzelnen Dichtung danach, die Welt oder doch
die Menschheit in all ihren wesentlichen Phasen und Erscheinungen zu
umfassen und ist „erst mit der Vollendung des ganzen Kreises befriedigt“.
„Wie ist es z. B. möglich, das Alter des Jünglings lebendig zu schildern,
ohne daß der Phantasie zugleich das Kind, aus dem er hervorgeht, der
Mann, dem seine Kraft entgegenreift, und der Greis, in dem die letzten
Funken seines auflodernden Feuers verglimmen, gegenwärtig wären? Wie
den Helden zu malen, der auf dem Schlachtfelde, mitten unter Leichnamen,
den Tod gebeut und das Verderben planmäßig anordnet, ohne den ruhigen
Denker, der zwischen seinen einsamen Wänden, fern von aller ausübenden
Tätigkeit und den Ereignissen des Tages fremd, nur Wahrheiten nachspäht,
die vielleicht erst kommenden Jahrhunderten segenvolle Früchte versprechen,
oder den ruhigen Pflüger, der, nur für das Bedürfnis des Tages besorgt,
nur auf den Wechsel der sich immer von neuem abrollenden Jahreszeiten
beschränkt, bloß der künftigen Ernte gedenkt, zugleich vor die Seele zu
rufen?“ (S. 139 ff.)
Diese Behauptung ist an sich so wenig einleuchtend, daß man sich
unwillkürlich fragt, wie ein so scharfsinniger Denker auf sie gekommen sein
mag. Vermutlich ist sie durch Schillersche Ideen, wie sie namentlich in den
Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen zum Ausdruck gekommen
sind, beeinflußt, obgleich dieselben dann freilich eine wesentliche
Umbildung erfahren haben. Schiller fand, daß in dem ästhetischen Zustand
überhaupt die Totalität der menschlichen Natur zum Ausdruck komme,
alle geistigen Kräfte, alle Stimmungen des Gemüts im Spiel sich entfalten.
Aber er bezog diese Vorstellung nur auf die Gesamtwirkung der Kunst
und auf den subjektiven Zustand des Schaffenden oder Genießenden.
Wenn Humboldt das Epos ganz besonders für den Ausdruck dieser universellen
Tendenz in Anspruch nimmt und dabei eine Universalität der
dargestellten Objekte vorschreibt, so ist, wie die zuletzt angeführte Stelle
zeigt, seine Auffassung der homerischen Gedichte maßgebend gewesen.
Hängen doch die einzelnen Sätze seiner Theorie so stark von diesem Vorbild
ab, daß er z. B. behauptet: „Der Kampf, in welchem der epische
Dichter den Menschen mit dem Schicksal zeigt und ohne den es nie eine
große sinnliche Bewegung gibt, muß sich in Sieg oder in Frieden und
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Versöhnung, nicht in Niederlage und Verzweiflung endigen. Denn sonst
wird die Ruhe aufgehoben, welche die erste Bedingung jenes rein beschauenden
Zustandes ist.“ (S. 231 f.) Hier ist es eigentlich nur der Schluß
der Odyssee, der die Unterlage gibt. Schon auf die Ilias paßt die Behauptung
nur gezwungen, und das Nibelungenlied ist überhaupt noch nicht
in den Gesichtskreis Humboldts getreten.
Auch Friedrich Schlegel leitet aus dem Vorbild Homers ebensowohl
wie aus allgemeinen Spekulationen die universelle Tendenz der epischen
Poesie ab. „Ist der Umfang der epischen Dichtart durchaus unbegrenzt,
so darf es einem Dichter oder einer Dichterschule dieser Gattung nur nicht
an Raum und Zeit fehlen; und die stetige Erzählung wird nicht eher aufhören,
als bis der Stoff erschöpft und eine ungefähr vollständige Ansicht
der ganzen umgebenden Welt vollendet ist, etwa wie sie die
homerische Poesie gewährt.“ (Fr. v. Schlegels Ges. Werke. Wien 1846.
III. S. 93.) Schon für ihn wird das Wesen des modernen Romans wie der
romantischen Dichtung überhaupt durch diese Tendenz einer „progressiven
Universalpoesie“ bestimmt. Aber auch noch bei dem so viel nüchterneren
und historisch geklärteren Spielhagen lautet der erste der „Fundamentalsätze
der Theorie der epischen Dichtkunst“, daß, „in notwendiger Folge
der der epischen Phantasie immanenten, ruhelosen Tendenz nach größtmöglicher
Ausdehnung des Horizontes, ihr Objekt nichts Geringeres als
die Welt und somit das ─ gleichviel, ob ihm bewußte oder unbewußte ─
Streben des epischen Dichters ist, ein Weltbild zu geben“. (Beiträge S. 133.)
Es wäre unschwer zu zeigen, daß diese Auffassung schon geschichtlich
auf die homerischen Gedichte nicht zutrifft. Sie ziehen freilich die
Welt der Götter und gelegentlich auch die der Toten in ihre Erzählung,
aber nur soweit das durch die religiösen Anschauungen des Dichters
vom Einfluß dieser Mächte auf das Leben der Menschen notwendig gemacht
wird, und ganz ohne den Anspruch, ein umfassendes Bild der
Götterwelt in die Darstellung hineinzuziehen. Aber auch nur ein Bild
der Menschheit im ganzen Umkreis ihrer Lebenstätigkeit und ihrer Zustände
zu geben, hat dem Dichter offenbar völlig fern gelegen. Die Handlung
der Ilias spielt sich ausschließlich in den aristokratischen Kreisen der
Fürsten und ihrer nächsten Umgebung ab. Nicht einmal um den Zustand
ihrer Krieger kümmert sich der Dichter; nur in allgemeinen Zügen wird
die Stimmung des Heeres gelegentlich gekennzeichnet. Noch enger ist,
wenn man von der Wundersphäre der Märchenerzählungen absieht, der
Kreis, in dem sich die Handlung der Odyssee bewegt. Und nicht anders
hält sich das Nibelungenlied ausschließlich in dem engen Umkreis höfischen
Fürstentums und seines Adels. Man könnte in der Tat mit mehr Recht jene
Behauptung umkehren und die Einschränkung des Schauplatzes wie der
Handlung auf die Höhe der Menschheit oder der Gesellschaft als charakteristische
Eigenschaft der Epopöe betrachten.
Aber auf diese geschichtliche Frage kommt es für die Poetik nicht
eigentlich an; weit wichtiger ist, daß der sachliche Begriff der Totalität,
wie er uns hier entgegentritt, offenbar auf einem seltsamen Mißverständnis
beruht. Die Tendenz zur allgemeinen Betrachtung des Weltgeschehens
ist allerdings, wie Humboldt richtig behauptet, eine Grundeigenschaft der
Poesie überhaupt. Überall „schiebt sich, ohne daß wir selbst es merken,
das Bild der Menschheit den wenigen Personen unter, die wir vor uns
handelnd erblicken“. Aber dieser Zug geht nicht ins räumlich oder sonstwie
quantitativ Universelle, er trifft in keiner Weise den „Umfang der Objekte“,
die uns der Dichter vorführt. Vielmehr das ist der Charakter dichterischer
Betrachtung, daß sie uns im Einzelnen das Allgemeine, in wenigen
Menschen und Handlungen das Bild der Menschheit zeigt. Hierin beruht
insbesondere der symbolische Charakter der gegenständlichen Poesie, wie in
der Übereinstimmung menschlichen Wollens und Fühlens mit den Vorgängen
der Natur der der Lyrik, den wir im vorigen Abschnitt kennen gelernt haben.
Jede episch oder dramatisch dargestellte Menschengestalt wird uns zum
Sinnbild der Menschheit, weil sie einen oder mehrere ihrer ewig wiederkehrenden
Züge verkörpert. Jede dichterische Handlung interessiert uns
nicht bloß an sich, sondern weil wir ihren Zusammenhang mit unseren
Eigenschaften, mit dem allgemeinen Wollen und Streben der Menschen
dunkel empfinden oder deutlich sehen. Ohne diese Tiefe der Perspektive
gibt es keine künstlerische Wirkung. Aber es ist eine Verwirrung der Begriffe,
wenn man an die Stelle der Tiefe die Breite setzen will; eine Verwirrung,
die denn auch auf die Praxis der modernen Romandichtung mehrfach
schädigend gewirkt hat. Spielhagens Forderung, daß ein Roman
mehrere Bände umfassen müsse, ist gewiß an sich schon bedenklich. Und
was eine solche Anschauung bei einem ideenreichen Dichter, der aber nicht
im gleichen Maße wie dieser Meister der Romantechnik die Form beherrscht,
für beklagenswerte Folgen haben muß, sehen wir in Gutzkows großen
Romanen, deren Wert und Wirkung gleichmäßig durch die verwirrende
Ausdehnung der Handlung geschädigt ist.
Neben der Forderung der Totalität erscheint in den meisten Theorien
des Epos die der Objektivität. Mit diesem Worte aber werden fast
durchweg zwei an sich verschiedene Begriffe zusammengeworfen: einmal
nämlich die positive Forderung gegenständlicher Anschaulichkeit, zweitens
die mehr negative, das Zurücktreten der Subjektivität des Dichters. Beides
fällt weder an sich noch auch für die epische Darstellung zusammen;
Humboldt hat daher ganz recht getan, diesen zweiten Begriff mit dem Worte
Unparteilichkeit ─ besser wäre vielleicht noch Unpersönlichkeit ─ zu bezeichnen,
und es ist zu bedauern, daß ihm die späteren Ästhetiker gerade
hierin zumeist nicht gefolgt sind.
Was ist nun das Wesen dieser Unpersönlichkeit der Darstellung, die
man gleichfalls vor allem in Homers Dichtungen fand und die man, hierauf
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fußend, zum zweiten allgemeinen Gesetz des Epos erhoben hat? Zunächst,
sehen wir, wird sie von einigen bedeutenden Theoretikern dahin verstanden,
daß der Dichter der Epopöe, weil er mitten in einem ungebrochnen und
einheitlichen Volksleben steht, auch immer nur aus diesem Volksleben
heraus dichtet und denkt und daher als Individuum nicht hervortritt. „Da
das Zeitalter der Nation, in welches die Entwicklung des Epos fällt, eben
ein Zeitalter der Nation, nicht der Individuen ist; da zu dieser Zeit die
Individuen noch nicht vereinzelt für sich bestehen, sondern im Volke und
durch das Volk als untrennbare Glieder desselben leben und wirken: so
können auch die altepischen Anschaungen nicht das Werk eines in vereinzelter
Tätigkeit dastehenden Dichtergeistes sein: sie sind Anschauungen
des gesamten Volkes; nicht Einer, sondern die ganze Nation ist der Dichter
gewesen. Natürlich kann jede Schöpfung zuerst nur auf einem Punkte
entsprungen sein; einen ersten Dichter muß jede Sage, jedes Märchen besessen
haben: aber dieser Eine schuf aus der Seele des Volkes, nicht als
Einer, sondern nur als Organ und als zufälliges Organ der Gesamtheit.“
So Wackernagel (Poetik S. 57 f.). Und Spielhagen: „Bei dem Dichter der
homerischen Zeit kann von einer Welt- und Lebensanschauung, die nur
ihm eignete, nicht die Rede sein. Er ist, wie ich es an einer andern Stelle
ausgedrückt habe, nicht sowohl der dichterische Mund seines Volkes als der
Mund seines dichterischen Volkes.“ (Beiträge S. 143). „Und wenn wir nun
auch so unsere obige Behauptung, daß die homerischen Gedichte ein volles
Weltbild geben, dahin werden einzuschränken haben, daß es ein Bild der
Welt, angeschaut durch das Griechenauge, so ist doch diese nationale Einseitigkeit
himmelweit verschieden von jener individuellen, zu welcher der
moderne epische Dichter ein für allemal verurteilt ist.“ (S. 141 f.) Tatsächlich
ist die Auffassung der Dichter des Volksepos nicht so ausschließlich,
wie hier behauptet wird, durch nationale, sondern, wie namentlich
in der Ilias deutlich ist, auch durch soziale Schranken begrenzt und
bedingt. Es ist die Gesinnung und Lebensanschauung der aristokratischen
Klassen des damaligen Griechenlands, die darin zu Worte kommt. Im
übrigen aber haben beide Beurteiler recht, wenn sie in dieser Gebundenheit
des Individuums einen charakteristischen Zug, ja, mehr als das, die entscheidende
Lebensbedingung des Volksepos überhaupt erkennen: eben weil
mit fortschreitender Kulturentwicklung diese Gebundenheit stets einer
freieren Entfaltung der Individualität Platz macht und die Einheit des
Volksinstinktes stets mehr oder weniger vielfältig gespalten wird, deshalb
kann das Volksepos nur auf verhältnismäßig früher und bestimmt begrenzter
Entwicklungsstufe entstehen und blühen und ist unter modernen
Lebensverhältnissen ein für allemal unmöglich. Allein so richtig das ist,
so ist die Abhängigkeit des Einzelnen vom Geist der Gesamtheit zwar
für die Entstehungsweise des Volksepos und seine kultur- oder sozialgeschichtliche
Bedeutung, nicht aber für das künstlerische Wesen der epischen
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Dichtung entscheidend. Vielmehr macht es in letzterer Hinsicht offenbar
gar keinen Unterschied, ob der Dichter aus persönlichen Meinungen und
Empfindungen oder aus denen seines Volkes heraus seine Gegenstände
betrachtet und darstellt.
Etwas anderes nun aber als diese vermeintliche Objektivität der
Anschauung ist die Unpersönlichkeit der Darstellungsweise. Es liegt im
Wesen der gegenständlichen Dichtung, daß der Dichter hinter seinen
Gegenstand verschwindet: das Hervortreten seiner Persönlichkeit mit
ihren Gedanken und Empfindungen unterbricht die Kontinuität der Darstellung
und wirkt wie ein Eingriff in die gegenständliche Welt, die er
gestalten und beleben will. Friedrich Schlegel hatte also recht, wenn er
jedes derartige Hervortreten als eine unangenehme Störung verurteilt,
und ebenso ist Friedrich Spielhagen im Recht, wenn er unter Berufung
auf ihn sich vor allem dagegen wendet, daß der Dichter statt der unmittelbaren
Anschauung von Menschen und Handlungen seine Reflexion
über dieselben darstellt, wenn er statt lebendiger Charaktere, die sich
vor unsern Augen entwickeln, Charakteristiken gibt. (Beiträge S. 68 f.)
Die Forderung der Unpersönlichkeit in diesem Sinne ist zweifellos berechtigt,
aber freilich im Epos nicht mehr und nicht weniger wie im
Drama; und wenn sie dem epischen Dichter gegenüber stärker hervorgehoben
wird als dem dramatischen, so ist das nur deshalb angebracht,
weil dieser leichter als jener dagegen verstößt. Denn die technische Möglichkeit,
persönlich hervorzutreten, ist dem Erzähler jeden Augenblick gegeben,
dem Dramatiker aber nur da, wo er allgemeine Gedanken ausspricht
oder allenfalls, wo er verstandesmäßig motiviert. Ja, man darf
sagen, daß dieser Fehler beim Dramatiker weit größer ist, weil er notwendigerweise
die Illusion völlig zerstört und aufhebt, während das beim
Epiker nicht ebenso unausbleiblich ist. Er kann sich unter Umständen,
wie z. B. zahlreiche Stellen des mittelhochdeutschen ritterlichen Epos beweisen,
gelegentlich ganz wohl als Betrachter oder Erzähler einführen,
wenn er nur nicht durch Moralisieren oder altkluges Erklären den Eindruck
stört oder nicht etwa gar Betrachtungen an die Stelle der Erzählung setzt.
Im übrigen aber ist es doch auch hier eine Übertreibung, wenn man
behauptet, daß der epische Dichter seinem Gefühl und seinem Urteil keinerlei
Einfluß auf seine Darstellung verstatte, daß er seinen Helden und ihren
Erlebnissen kalt und teilnahmslos zuschauend gegenüber stände. Auch
Spielhagen macht die richtige Bemerkung, daß Licht und Schatten zwischen
den kämpfenden Parteien der Ilias ungleich verteilt sind (a. a. O. S. 140).
Ohne persönlich hervorzutreten zeigt Homer nicht selten durch die Wahl
der Beiwörter, die Gruppierung der Tatsachen, die Wendung der Reden
seiner Personen deutlich genug, auf welcher Seite sein Herz ist, und ─
für den echten Dichter charakteristisch ─ er fühlt zumeist mit dem Unterliegenden
und ist daher von dem Wechsel der Handlung abhängig. Auch
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das Mitgefühl des Nibelungendichters ist nach Siegfrieds Tod ebenso entschieden
bei Kriemhilden, wie es beim Untergang der Nibelungen auf Seite
der letzteren ist und sich gegen die „valentine“ richtet.
Ist somit die Forderung der Unparteilichkeit nicht absolut verbindlich
und zudem mehr negativer Natur, so bleibt uns von jenen drei Gesetzen
noch das der Objektivität im eigentlichen Sinne: dem der Gegenständlichkeit
oder, wie es Humboldt bezeichnet, der „höchsten Sinnlichkeit der
Anschauung“. Hiermit ist nun in der Tat das Prinzip ausgesprochen, das als
das eigentlich entscheidende das Wesen der Epik bestimmt. Denn Gegenständlichkeit
der Anschauung ist, wie uns der Eingang dieses Abschnittes belehrt
hat, ja wie es schon aus dem Worte selbst hervorgeht, das wichtigste Merkmal
der gegenständlichen Poesie überhaupt: Gestalten und Vorgänge müssen
uns, eine eigene Welt bildend, plastisch ausgeprägt und belebt erscheinen
und die Illusion selbständiger Wirklichkeit erwecken. Dieses Ziel nun kann
der Dichter, wie sich bald zeigen wird, auf verschiedenen Wegen erreichen,
und eben auf dieser Verschiedenheit beruht die besondere Eigenart epischer
und dramatischer Kunst. Daher ist es für das Wesen der epischen Poesie
offenbar die entscheidende Frage, durch welche Prinzipien dichterischer
Technik der Dichter den Eindruck der Objektivität, d. h. die Illusion einer
selbständig gestalteten und belebten Welt erreicht.
Für die Beantwortung dieser Frage ist Humboldt mit seiner allen
technischen Gesichtspunkten allzu abgewandten ästhetischen Spekulation
offenbar ein schlechter Führer, wiewohl seine Darstellung zahlreiche Lichtblicke
und bedeutsame Ideen enthält. Eine weit bessere Anleitung zu
einer Kunstlehre des Epos, wie wir sie suchen, finden wir an einer Humboldt
nicht eben fern stehenden Stelle, wo man sie gleichfalls kaum vermuten
würde: in dem Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe. Denn
es ist die Eigenart dieses Briefwechsels, daß beide Dichter sich hier über
die technischen Bedingungen und Mittel ihrer Kunst klar zu werden versuchen
durch einen Gedankenaustausch, wie er eben nur zwischen
schaffenden Geistern möglich ist. Die allgemeinen Prinzipien jener ethischästhetischen
Weltanschauung, die namentlich Schiller in seinen für die
Öffentlichkeit bestimmten Prosaschriften aller dichterischen Wertung zugrunde
legt, treten hier zurück gegenüber den verhältnismäßig schlichten
Fragen technischer Natur, und nicht über die sittliche Bestimmung des
Epos und des Dramas, sondern von der technisch künstlerischen Eigenart
beider Gattungen handelt der inhaltreiche kleine Aufsatz über epische und
dramatische Dichtung, den Goethe am 23. Dezember 1797 an Schiller geschickt
hat, und die ergänzenden Bemerkungen, die Schiller in seinem
Antwortschreiben dazu macht. Ich gebe die Hauptsätze im folgenden
wieder. „Der Epiker und Dramatiker sind beide den allgemeinen Gesetzen
unterworfen, besonders dem Gesetze der Einheit und dem Gesetze der
Entfaltung; ferner behandeln sie beide ähnliche Gegenstände und können
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beide alle Arten von Motiven brauchen; ihr großer wesentlicher Unterschied
beruht aber darin, daß der Epiker die Begebenheit als
vollkommen vergangen vorträgt und der Dramatiker sie als vollkommen
gegenwärtig darstellt. Wollte man das Detail der Gesetze,
wonach beide zu handeln haben, aus der Natur des Menschen herleiten,
so müßte man sich einen Rhapsoden und einen Mimen, beide als Dichter,
jenen mit seinem ruhig horchenden, diesen mit seinem ungeduldig schauenden
und hörenden Kreise umgeben, immer vergegenwärtigen.“ „Die
Behandlung im ganzen betreffend wird der Rhapsode, der das vollkommen
Vergangene vorträgt, als ein weiser Mann erscheinen, der in ruhiger Besonnenheit
das Geschehene übersieht; sein Vortrag wird dahin zwecken,
die Zuhörer zu beruhigen, damit sie ihm gern und lange zuhören, er wird
das Interesse egal verteilen, weil er nicht imstande ist, einen allzu lebhaften
Eindruck geschwind zu balancieren, er wird nach Belieben rückwärts und
vorwärts greifen und wandeln; man wird ihm überall folgen, denn er hat
es nur mit der Einbildungskraft zu tun, die sich ihre Bilder selbst hervorbringt
und der es auf einen gewissen Grad gleichgültig ist, was für welche
sie aufruft. Der Rhapsode sollte als ein höheres Wesen in seinem Gedicht
nicht selbst erscheinen; er lese hinter einem Vorhang am allerbesten, so
daß man von aller Persönlichkeit abstrahierte und nur die Stimme der
Musen im allgemeinen zu hören glaubte.“
„Der Mime dagegen ist gerade in dem entgegengesetzten Fall; er
stellt sich als ein bestimmtes Individuum dar, er will, daß man an ihm
und seiner nächsten Umgebung ausschließlich teilnehme, daß man die
Leiden seiner Seele und seines Körpers mitfühle, seine Verlegenheit teile
und sich selbst über ihn vergesse. Zwar wird auch er stufenweise zu Werke
gehen, aber er kann viel lebhaftere Wirkungen wagen, weil bei sinnlicher
Gegenwart auch sogar der stärkere Eindruck durch einen schwächeren vertilgt
werden kann. Der zuschauende Hörer darf sich nicht zum Nachdenken
erheben, er muß leidenschaftlich folgen, seine Phantasie ist ganz
zum Schweigen gebracht, man darf keine Ansprüche an sie machen, und
selbst was erzählen wird, muß gleichsam darstellend vor die Augen gebracht
werden.“ „Es stimmt dieses“, so ergänzt Schiller, „sehr gut mit
dem Begriff des Vergangenseins, welches als stillstehend gedacht werden
kann, und mit dem Begriff des Erzählens: denn der Erzähler weiß schon
am Anfang und in der Mitte das Ende, und ihm ist folglich jeder Moment
der Handlung gleichgeltend, und so behält er durchaus eine ruhige Freiheit.“
Mit diesem unbefangenen sachlich technischen Gesichtspunkt ist nun
ein fester Ansatz und Ausgangspunkt zur Ergründung der dem Epos
wesentlichen Gesetze gegeben. Vergangenheitsdichtung und Gegenwartsdarstellung,
die Kunst des ruhigen Erzählens und des affektvollen Darstellens,
hiermit ist der entscheidende Gegensatz zwischen Epos und Drama
allgemeingültig ausgesprochen. Nacherleben und Miterleben, so können
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wir die Wirkungsarten bezeichnen, welche die beiden Dichtungsformen
anstreben.
Jetzt erst wird das sachlich Berechtigte völlig klar, das in dem Humboldtschen
Begriff der Beschauung steckt. Der Erzählung gegenüber
behält der Hörer eine gewisse Ruhe. Mag er auch hingerissen werden,
er geht niemals so völlig in den einzelnen dargestellten Momenten auf
wie der Zuschauer vor der Bühne, und jedenfalls bleibt ihm stets die
Möglichkeit, nicht nur zu schauen, sondern auch zu überschauen,
d. h. das Bild, das der Erzähler entrollt, nach seinen Hauptmomenten
und in seinem ganzen Umfang zu überblicken. Das ist es, was Schiller
ungemein scharf und richtig in dem oben angeführten Satze zum Ausdruck
bringt. Diesem Bedürfnis ist der epische Dichter genötigt entgegenzukommen.
Seine Kunst muß in der Tat eine besondere Art von
Totalität anstreben, freilich keineswegs eine Universalität der Ausdehnung
nach, wie sie Humboldt und Schlegel vorschwebte, wohl aber eine umfassende
Berücksichtigung der Momente, die für die Anschauung wie für
das Verständnis in Betracht kommen. Diese Momente nun sind zweierlei
Art: äußere Ereignisse und innere Vorgänge. Sinnliche und psychologische
Anschaulichkeit müssen sich vereinigen, um die Forderung der Gegenständlichkeit
im ganzen Umfang zu erfüllen. Treffend kennzeichnet Humboldt
(a. a. O. S. 214 f.) diese Grundeigenschaft der epischen Kunst: „Die
Gedanken und Empfindungen, welche sie schildert, sind nur die Seele
der Gestalten, dienen nur, ihnen Leben und Sprache einzuhauchen.
Indem wir aber nur diesen Gestalten zuzusehen glauben und überall Bewegung
und Umrisse vor uns erblicken, werden wir dennoch eigentlich
nur von ihrem innern geistigen Wesen gerührt. Jene Gestalten scheinen
uns jetzt nur der zartgebildete Körper der Seele, die so lebendig aus
ihnen hervorstrahlt.“ Dieses eigentümliche zugleich von außen und von
innen Sehen ist ein entscheidender Charakterzug für die epische Poesie.
Der Blick umfaßt zugleich eine sich drängende Menge äußerer und innerer
Züge. Schon aus diesem Grunde wird die epische Darstellung zu einer
gewissen Fülle neigen, sie wird, mit dem Drama verglichen, langsam vorwärts
gehen, bei wichtigern äußeren wie inneren Momenten zu verweilen
geneigt sein.
Nun aber werden sowohl äußere wie innere Vorgänge erst dann
völlig verständlich, wenn wir sie nicht isoliert, sondern im Zusammenhang
mit der sie umgebenden Welt sehen können. Und genau so viel von
dieser Welt wird uns der Epiker zeigen müssen, wie es nötig ist, jenen
Zusammenhang zu verstehen. Hierzu bedarf es im allgemeinen keineswegs
einer Totalansicht der Natur oder der Menschheit, wohl aber eines dem
Zweck entsprechend begrenzten Ausschnitts aus beiden. Eben dieser Ausschnitt
ist es, den wir uns seit einigen Jahrzehnten gewöhnt haben als
Milieu oder Umwelt zu bezeichnen ─ ein neues Wort für eine Sache,
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die so alt ist wie die Poesie überhaupt. „Es ist“, sagt Spielhagen mit
Recht, „eine Eigentümlichkeit der epischen Phantasie, den Menschen immer
auf dem Hintergrunde der Natur, immer in Zusammenhang mit der Abhängigkeit
von den Bedingungen der Kultur, d. h. also so zu sehen, wie
ihn die moderne Wissenschaft auch sieht“ (a. a. O. S. 41). Auch diese
Eigenschaft wirkt notwendigerweise retardierend auf den Gang der epischen
Darstellung. Sie nötigt, wie jene erste Forderung, zu einer gewissen Breite,
zur Einführung z. B. einer größeren Anzahl von Nebenpersonen, zur Erwähnung
oder Darstellung von Ereignissen, die auf den Hauptgang der
Handlung keinen unmittelbaren Einfluß haben, aber sie gleichwohl in ihrem
weiteren Zusammenhang verständlicher machen. Eingehendere Schilderungen
von Örtlichkeiten und Gegenständen werden freilich für diesen
Zweck so wenig wie für jenen nötig sein. Lessing untersagt bekanntlich
im Laokoon dem Epiker das Beschreiben ganz und gar; er verlangt, daß
jede Schilderung in Handlung umgesetzt werde. In dieser Allgemeinheit
ausgesprochen ist das Gesetz etwas äußerlich und zudem nicht frei von
Pedanterie; und nicht ganz ohne Pedanterie haben sich auch unsere
Klassiker daran gebunden, wie z. B. Schiller im Kampf mit dem Drachen
statt des wirklichen Ungetüms, das er nur beschreiben konnte, den Kunstdrachen
schildert, an dem der Ritter sich übt, weil dieser vor unseren Augen
hergestellt werden kann. Soviel aber ist an Lessings Lehre vollkommen
richtig, daß der Epiker durch Schilderungen von Örtlichkeiten und Gegenständen,
sei es der Natur, sei es der Kunst, uns immer nur soweit interessieren
wird, wie er sie in unmittelbaren Zusammenhang mit den Interessen
und Handlungen seiner Menschen zu bringen vermag. Und dies wird in
der Tat am sichersten geschehen, wenn er sie in ihrer Wirkung oder,
wo das möglich ist, in ihrer Entstehung darstellt. Die indirekte Schilderung
wird unter allen Umständen der direkten vorzuziehen sein, eben weil sie
von vornherein in jenem Zusammenhang erscheint, den die andere erst
nachträglich herstellt.1)
Diese Grundeigentümlichkeiten des epischen Stils treten nun allerdings,
darin hat die ältere Ästhetik recht, im Volksepos am deutlichsten hervor.
Die großzügige Einfachheit der Handlung, die in der Epopöe herrscht, ermöglicht
es dem Dichter, sie zugleich äußerlich vollkommen anschaulich
und in ihrer inneren Motivierung vollkommen klar darzustellen. In dem
lebhaft beweglichen Antlitz der Achäischen Helden scheint sich jede Regung
ihres leicht aufbrausenden Südländer-Temperaments widerzuspiegeln. Aber
auch die starren Charaktere des nordischen Heldengesangs erscheinen wie
durchsichtig. Einfache und starke Instinkte herrschen durchweg und
setzen sich rasch und vollkommen in Worte, ebenso rasch in Taten um.
Vgl. Herders und Th. A. Meyers kritische Betrachtungen zum Laokoon, oben
S. 76 und 80.
Komplizierte Seelenzustände erscheinen nirgends, und auch die Örtlichkeit
wie das Äußere der Personen ist durch einfache große Züge typisch gekennzeichnet.
Dabei aber ist die Methode der Darstellung selbst bei den hellenischen
und deutschen Epikern durchaus verschieden. Wir wissen, wie Homer die
wichtigeren Momente äußerer Anschauung an Personen und Gegenständen
durch charakteristische Beiwörter hervorhebt, durch Vergleiche lebendig
macht, wie oft er sich formelhafter Wendungen bedient, um wiederkehrende
Situationen immer wieder aufs neue zu kennzeichnen. Alles das ist im
Nibelungenlied sehr eingeschränkt. Die Beiwörter nehmen weit weniger
Raum ein, die Vergleiche sind verhältnismäßig spärlich und kurz, die
formelhaften Wendungen, an denen die ältere germanische Poesie so reich
ist, sind gering an Zahl, wenn sie auch zum Teil oft wiederkehren. Die
indirekte Schilderung des Schauplatzes ─ direkte kommt hier ebensowenig
vor wie beim Homer ─ ist auf die allernotwendigsten Züge beschränkt.
Wie wenig erfahren wir z. B. über die Etzelburg und den Saal, in welchem
Burgunden und Hunnen den Todeskampf kämpfen. Immerhin genug freilich,
um dem, der einmal eine größere Burg gesehen hat ─ und auf solche
Hörer durfte der Dichter rechnen ─, den Kampf mit seinen Einzelheiten
völlig anschaulich zu machen.
Plastische Greifbarkeit der äußeren Gestalten und Ereignisse, lebendige
Anschaulichkeit der seelischen Zustände und Vorgänge, lichtvolle Deutlichkeit
der umgebenden Welt: das sind die Mittel, auf denen alle epische
Wirkung beruht, denn sie sind es, durch welche die Erzählung des epischen
Dichters gegenständliches Leben erhält.
Jede dieser drei Wesenseigenschaften des Epos ist nun einer besonderen
Entwicklung und Steigerung fähig; und in der Tat zeigt uns die
Literaturgeschichte zumeist eine solche gesonderte Fortentwicklung. Zunächst
können wir noch im Altertum und nicht minder in den Zeiten der
ritterlichen Literatur deutlich den Unterschied zwischen solchen epischen
Dichtungen wahrnehmen, die ihre Wirkung in der Häufung und Ausmalung
äußerer Ereignisse, Abenteuer und Wunder suchen, und solcher, die darnach
streben, die Psychologie der Vorgänge zu vertiefen und zu verfeinern.
Die erstere Richtung führt bald zu dem, was wir nicht ohne Geringschätzung
Unterhaltungslektüre zu nennen pflegen, wie denn die Romane
und Novellen des späteren Altertums fast ganz zu dieser zu rechnen sind.
Im höfischen Mittelalter wird der Unterschied zwischen dem Streben nach
Vertiefung des Inneren und nach äußerer Buntheit und Mannigfaltigkeit
durch den Gegensatz anschaulich, in dem die Entwicklung der deutschen
Epik, von Heinrich und Hartmann zu Gottfried und Wolfram, gegenüber
der Trouverspoesie steht, von der diese Dichter ausgegangen sind. Zwar
ist auch in den Dichtern des deutschen Tristan und Parzival der echt
epische Instinkt lebendig, der sie treibt, in der Veranschaulichung der Taten
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und Ereignisse gleichen Schritt zu halten mit der innerlichen Vertiefung.
Allein deutlich wird doch auch, daß dies letztere Interesse das eigentlich
herrschende ist.
Zur entschiedensten Versenkung in das Seelenleben ist erst der moderne
Roman gelangt, und in dem letzten Menschenalter hat das Interesse
für psychische Vorgänge und Entwicklungen nicht selten mit einseitiger
Stärke die Freude an der sinnlich anschaulichen Gestaltung der
äußeren Erscheinungen zurückgedrängt. Andrerseits freilich hat gerade im
Zusammenhang mit diesem psychologischen Interesse die Schilderung des
Milieu gleichfalls erst in neuerer Zeit eine durchgreifende, zum Teil ganz
selbständige Bedeutung gewonnen. Bevor wir aber auf diese Entwicklung
der epischen Poesie eingehen, müssen wir noch einen Augenblick bei
ihren älteren Formen verweilen.
Die Epopöe nämlich ist bekanntlich keineswegs die Urform der
epischen Poesie; sie ist vielmehr, wie wir wissen, überall aus Reihen von
kleineren epischen Liedern entstanden. Wir kennen den Charakter solcher
Lieder besonders aus der nordischen und deutschen Überlieferung. Die
meisten von ihnen tragen einen halb lyrischen oder dramatischen Charakter,
und wir würden sie in moderner Ausdrucksweise als Balladen bezeichnen;
ein Teil jedoch weist deutlich die Charakterzüge rein epischer
Darstellung auf, wie besonders das Hildebrandlied und unter den Eddaliedern
z. B. das Lied von Rig.1) Der Unterschied zwischen beiden Formen
wird erst im 15. Abschnitt deutlich werden, wenn wir das Wesen der
Ballade zu erörtern Gelegenheit haben. Hier kommt es nur darauf an,
hervorzuheben, daß die kleinere, mehr oder weniger in sich geschlossene
poetische Erzählung eine ursprüngliche Erscheinung der epischen
Poesie ist, daher sie denn auch in den verschiedensten Epochen der Literatur
neben dem großen Epos hervortritt. Die nordfranzösische und provençalische
Poesie des 12. Jahrhunderts hat ihr besondere Pflege gewidmet,
und die ausgehende höfische Epik, zumal Konrad von Würzburg,
bevorzugt sie beinahe. In der modernen deutschen Literatur ist die poetische
Erzählung von der Mitte des 18. Jahrhunderts an aufs lebhafteste
gepflegt worden. Zunächst ─ bei Hagedorn und Gellert ─ dem Geist der
Zeit entsprechend mit einer platt moralisierenden Tendenz, Vorgängen des
täglichen Lebens entnommen, durch Herder auf den religiösen Boden verpflanzt,
durch Bürger mit mächtigem, echt volkstümlichem Leben erfüllt,
wurde sie durch Schiller und zum Teil auch durch Goethe ganz in den
hohen epischen Stil erhoben und unter den unzutreffenden Bezeichnungen
Romanze und Ballade zur Trägerin bedeutsamer moralischer oder geschichtlicher
Ideen gestaltet. In dieser Form ist sie das ganze 19. Jahrhundert
hindurch von nahezu allen deutschen Dichtern gepflegt worden,
Edda, übersetzt von Gehring S. 113.
besonders seit dem Ausgang der romantischen Epoche, welche die echte
Ballade bevorzugte. Noch in den letzten Jahrzehnten haben ihr Konrad
Ferdinand Meyer, Ernst v. Wildenbruch im Hexenlied und mancher andere
neues Interesse zu verleihen gewußt. Man darf sagen, daß die kleinere
poetische Erzählung die größere Form des Epos überdauert hat. Die
letztere hat für das moderne Gefühl etwas Veraltetes. Nur vereinzelt
haben seit Goethes Hermann und Dorothea größere epische Dichtungen in
gebundener Rede ein weiteres und stärkeres Interesse wachgerufen, wie z. B.
Kinkels Otto der Schütz, Scheffels Trompeter von Säckingen und Julius
Wolffs Dichtungen. Im allgemeinen nicht gerade durch ihre künstlerischen
Qualitäten, sondern dadurch, daß sie das Unterhaltungsbedürfnis einerseits,
eine gewisse flache Sentimentalität des größeren Publikums andrerseits befriedigten.
Tiefere Bestrebungen, wie die Hamerlings oder Jordans, sind
nicht durchgedrungen. Und im ganzen ist es richtig, was H. Mielke1)
mit hübscher Wendung sagt: „Dem Epos erging es wie jenem Greise in
der griechischen Mythologie: ihm war Unsterblichkeit, aber nicht die zweite,
ebenso notwendige Gabe der ewigen Jugend beschieden, und während es
in seinem alten Ruhme verkümmerte, war für Roman und Novelle jede
neue Zeitbewegung das Bad, welches sie verjüngte.“
Es wird uns Heutigen nicht ohne weiteres
verständlich sein, daß die ältere Ästhetik dem Roman den künstlerischen
Charakter ganz oder teilweise absprach, am wenigsten, wenn es
aus einem so äußerlichen Grunde geschah, wie bei Wackernagel, der den
Roman als Dichtungsform ablehnt, weil er in Prosa geschrieben den Untergang
des Epos bezeichne, „so daß man hier die unkünstlerische Form der
Rede wohl eine Ungehörigkeit nennen darf“. „Nur dieselbe Bequemlichkeit,
die ja dergleichen Auflösungen veranlaßte, hat ihm bis auf unsere
Zeit seinen Bestand sichern können.“ (Wackernagel, Poetik S. 81.) Ein
seltsames Kunsturteil! Steht doch schon die Erzählungsweise der ritterlichen
Epiker, deren Fluß durch die kurzen Reimpaare nur lose gebunden
und wenig beengt ist, der Prosa vielfach näher als den in schweren
pathetischen Strophen dahin strömenden Rhythmen des Volksepos. Wahr
ist es allerdings, daß die Auflösung der älteren Heldengedichte in Prosa,
mit der vom 14. Jahrhundert an der Ritterroman einsetzt, ein Sinken des
Formensinns bezeichnet: das Interesse für den Stoff verdrängt offenbar
dasjenige für die poetische Gestaltung. Es mag dies mit der weiteren Verbreitung
der Literatur zusammenhängen: es war nicht mehr ausschließlich
das aristokratische Publikum der ritterlichen Fürstenhöfe mit seinem an der
Tradition geschulten Formensinn, das den Rittermären lauschte. Andrerseits
mag etwas von der Ungeduld und dem Stoffhunger des modernen
Lesers auch damals schon die Kreise ergriffen haben, für die geschrieben
Der deutsche Roman des 19. Jahrhunderts. Berlin 1898. S. 12.
wurde. In der Tat bezeichnen die Volksbücher des folgenden Jahrhunderts
gegenüber den ritterlichen Epen nicht minder einen Rückgang wie die
Abenteurer- und Schelmenromane des 17. Jahrhunderts. Dennoch zeigt
sich vereinzelt schon in diesem letzteren, daß mit der prosaischen Form
auch ein künstlerischer Vorteil gegenüber der gereimten Dichtung verbunden
ist: die leichtere Beweglichkeit, die dem Dichter ermöglicht, schneller
und vollständiger alle Einzelheiten des äußeren, alle Nüancen des inneren
Geschehens zum Ausdruck zu bringen und vor allem den Dialog weit charakteristischer
zu gestalten, als das in gebundener Rede möglich war. Den
Simplicissimus könnte man sich nicht in Versen vorstellen, ohne daß er
auch künstlerisch verlieren würde. Es zeigt sich bereits hier, daß die
Kraft zu realistischer Wiedergabe der Welt und der Menschen die starke
Seite des modernen Romans bilden wird.
Freilich solange der Roman wesentlich stoffliches Interesse darbot,
solange er nichts anderes als Unterhaltungslektüre sein wollte, kamen die
künstlerischen Vorzüge der Prosaform naturgemäß nicht zu ihrem Recht.
Auch der moralisierende Familienroman des 18. Jahrhunderts ist noch weit
davon entfernt, eine neue Kunstform darzustellen. Eine solche entsteht
erst durch die psychologische Wendung, welche die Romandichtung mit
der neuen Heloise und dem Werther genommen hat. Hier erscheint der
Roman zum erstenmal als ein Seelengemälde. Das innere Geschehen ist
durchaus das Wesentliche, wiewohl, wenigstens im Werther wie im echten
Epos, die äußere Anschaulichkeit durchweg der inneren parallel läuft, die
Natur in ihrem Wechsel, die Menschen in ihrem Tun und Treiben stets
sinnfällig zur Anschauung kommen. Aber zugleich wird es klar, daß der
epische Charakter in solchen Dichtwerken, soweit es überhaupt möglich
war, nur durch die Prosaform gewahrt werden konnte. Eine Umsetzung
des Werther in Verse würde seiner Auflösung in eine Reihe lyrischer Gedichte
gleichkommen.
Die Richtung auf das Charakteristische und insbesondere das Psychologische
ist dem Roman als Kunstgattung von da an geblieben: Bücher,
die an dieser Richtung keinen Teil haben, zählen nicht mehr zur Literatur
und gelten eben nur als Unterhaltungslektüre. Und Goethes zweiter Roman,
der Wilhelm Meister, weist der neuen Richtung ein noch festeres Ziel und
entschiedenere Bahnen. Der Roman wird zur Geschichte eines
werdenden Charakters, und dieses Werden ist es, was das Interesse
des Erzählers wie des Lesers hauptsächlich beschäftigt und die einzelnen
Teile der Handlung als Phasen der Entwicklung organisch zusammenhält.
Von Wilhelm Meister an nähert sich jeder moderne Roman mehr oder
weniger entschieden der Form der Lebens- oder genauer der Jugendgeschichte.
Diesen biographischen Charakter trugen schon die besten unter den
höfischen Epen, Tristan und besonders Parzival; nicht minder der Simplicissimus,
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und in das gleiche Bett wird nun der Strom der modernen
Romandichtung gelenkt. Die Künstlerromane der Romantiker folgen dem
Wilhelm Meister. Sie haben ihren letzten bedeutsamsten Ausläufer in Gottfried
Kellers Grünem Heinrich. Auf anderen Lebensgebieten führen Jean
Pauls große Romane das Thema der Bildungsgeschichte durch; tiefer noch
und künstlerischer als diese, die eine Zeitlang die deutsche Lesewelt beherrschten,
Hölderlins erst spät voll gewürdigter Hyperion. Und auch aus
den letzten Jahrzehnten ist es nicht schwer, eine Anzahl so bedeutsamer
wie erfolgreicher biographischer Romane der deutschen und besonders
auch der skandinavischen Literatur zu nennen. So Raabes ausgeglichenstes
Werk, der Hungerpastor, Jacobsens tiefes und feines Buch Niels Lyhne,
so in allerjüngster Zeit Frenssens Jörn Uhl und Hilligenlei. ─ Die Biographie
ist begreiflicherweise in vielen Fällen Autobiographie. Der Dichter schildert
seine eigene Entwicklung, seine eigenen Erlebnisse, oder er leiht doch
seinem Helden so viel von der eigenen Persönlichkeit, daß der Roman
dem Inhalt nach einen stark subjektiven Charakter erhält. Hiermit hängt
zusammen, daß die Darstellung sich gern und häufig der ersten Person
bedient, auch da, wo die unepische Form des Briefromans, die noch der
Werther trägt, der Erzählung Platz gemacht hat. Auch diese Eigentümlichkeit
gehört nicht erst der letzten Entwicklungsphase des Romans an, schon
der Simplicissimus weist sie auf, aber erst dem modernen Problem der
Bildungsgeschichte entspricht sie völlig. So ist der Roman in der Tat
zu einer „subjektiven Epopöe“ geworden, wie Goethes Ausdruck lautet.
Und Spielhagen konnte mit verzeihlicher, wenn auch nicht berechtigter
Einseitigkeit den „Ich-Roman“, als den Ausdruck der persönlichen Lebenserfahrungen
des Dichters, für die einzige vollgültige Form der modernen
Romandichtung erklären.
In der Tat ist die Entwicklungsgeschichte eines werdenden Charakters
diejenige Form, in welcher die Vorzüge epischer Darstellung am vollständigsten
und bedeutsamsten zur Geltung kommen. Zunächst ist das Motiv
an sich schon von unerschöpflichem Interesse. So mannigfaltig und zahlreich
die verschiedenen Individualitäten, die ein hoher Entwicklungsstand
der Kultur in den verschiedenen sozialen Kreisen hervorbringt, so mannigfaltig
und zahlreich sind auch die Wege, auf denen sie sich entwickeln.
Und wiewohl die Lebensformen der modernen Gesellschaft diesen Bildungswegen
äußerlich eine gewisse Gleichmäßigkeit aufprägen, so sind
es doch immer wieder neue Wendungen, die der Weg des Einzelnen
nimmt, immer neue Höhen und Tiefen, die sich darbieten; psychologische
und moralische Probleme treten uns in immer erneuter Gestalt entgegen.
Wie uns der Anblick eines Kindes, eines Jünglings, eines Mädchens in
der Frische und Fülle der Jugend ein ästhetisches Wohlgefallen abgewinnt,
ein Wohlgefallen, das sich leicht mit einer stillen Frage nach der Zukunft
verbindet, so ruft auch die Entwicklungsgeschichte eines jungen Menschenkindes
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immer aufs neue menschliche Teilnahme hervor. Andrerseits kreuzt
und berührt sich in dieser Entwicklung beständig das Typische mit dem
Individuellen, die symbolische Bedeutsamkeit des Geschehens tritt kaum
aus einer anderen Grundform so deutlich hervor. An dieser Bedeutsamkeit
erhalten nun auch die Ereignisse und Zustände, durch welche die Entwicklung
beeinflußt oder gehemmt wird, ihren Anteil. Eben durch diese
Beziehung gewinnen sie eine gefühlsmäßige Teilnahme, die ihnen sonst
leicht versagt bleibt. Hieraus ergibt sich denn auch der rein technische
Vorteil, den der Romanschriftsteller durch die biographische Form gewinnt.
Sie verbindet die einzelnen dargestellten Objekte, Zustände und Ereignisse
zu einer festeren und interessanteren Einheit, als es die meisten Formenmotive
vermögen, aus denen die Romane früherer Zeiten ihren Zusammenhalt
fanden, wie z. B. der Abenteuerroman der Ritterzeit oder der Reiseroman
des späteren Altertums, der im 18. Jahrhundert mit neuem Inhalt
wiederkehrt.
Die Einheit der Handlung, die Aristoteles vom Epos forderte, wird
hier durch die Einheit der Entwicklung ersetzt: es ist das freilich eben
jene biographische Einheit, die der antike Denker als unzureichend bekämpft,
aber in einer Vertiefung und Bedeutsamkeit, die er weder kannte
noch voraussah, als er den Satz schrieb: „Viele Handlungen eines einzigen
ergeben noch keine einheitliche Handlung.“1)
Daher bedienen sich denn auch diejenigen modernen Romandichter
mit Vorliebe der biographischen Form, denen es tatsächlich weniger auf
die innere Entwicklung des Individuums als auf die Schilderung der Umwelt
ankommt, die in ihren verschiedenen Erscheinungen auf den Helden
einwirkt. Am auffallendsten tritt uns das vielleicht im geschichtlichen
Roman entgegen, in der Form, die wir durch Walter Scott und seinem
deutschen Nachfolger Willibald Alexis erhalten haben. Zumeist sind hier
nicht die großen geschichtlichen Persönlichkeiten die Träger der Handlung,
vielmehr wird ihr Wesen und Wirken, wird vor allen Dingen das Wesen
der Zeit, die durch sie beeinflußt ist, in der Lebensgeschichte eines jugendlichen
Helden reflektiert. So in Walter Scotts Quentin Durward und Ivanhoe,
so in Willibald Alexis' prächtigem Hans Jürgen, („Die Hosen des Herrn
von Bredow“), im Cabanis u. a. Aber schon hier ist die Lebensgeschichte
doch nicht eigentlich das, was unser Interesse hauptsächlich in Bewegung
setzt, sondern eben die großen Ereignisse, die auf sie wirken, die geschichtliche
Umwelt, in der sie sich abspielt. Die Entwicklung des Milieu-Romans
steht im engsten Zusammenhang mit der biographischen Dichtung. Man
darf sagen, daß im Wilhelm Meister die Keime zu beiden gleichmäßig
Poetik c. 8: „μῦθος δ'ἐστὶν εἷς, οὐχ, ὥσπερ τινὲς οἶονται, ἐὰν περὶ ἕνα ᾖ ..... πράξεις
ἑνὸς πολλαί εἰσιν, ἐξ ὧν μία οὐδεμία γίνεται πρᾶξις. διὸ πάντες ἐοίκασιν ἁμαρτάνειν ὅσοι τῶν
ποιητῶν Ἡρακληίδα, Θησηίδα καὶ τὰ τοιαῦτα ποιήματα πεποιήκασιν. οἴονται γάρ, επεὶ εἷς ἦν
ὁ Ἡρακλῆς, ἕνα καὶ τὸν μῦθον εἶναι προςήκειν.“
liegen, daß, wenn das Werk seiner Idee nach durchaus Bildungsgeschichte
des Helden ist, so doch in der Ausführung das Milieu der Schauspielertruppe
und das des Grafenschlosses in ihrer Kontrastwirkung mehr Interesse
erregen als die Schicksale des Helden. Und so ist denn auch in den
meisten Romanen von Dickens die Schilderung von Sitten und Zuständen,
von landschaftlichen und gesellschaftlichen Eindrücken bedeutsamer und
interessanter als die Geschichte des Helden an sich: zumeist die Lebensgeschichte
eines braven und normalen Jungen, dem die Hindernisse und
Schwierigkeiten nicht von innen, sondern von außen erwachsen. Auch der
„Zeitroman“ der fünfziger und sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts, der
wesentlich Schilderung sozialer und politischer Zustände, oft mit ausgesprochener
Tendenz, im Auge hat, trägt in seinen bedeutendsten Vertretern
biographische Form. Mindestens sind es die Jahre der entscheidenden
Entwicklung zum Manne, die uns geschildert werden und deren Verlauf
den Faden bildet, an den sich die Schilderungen aufreihen, wie Gustav
Freytags „Soll und Haben“, Spielhagens „In Reih' und Glied“ und „Hammer
und Ambos“, und, wenigstens in demjenigen Motiv, das aus dem Wirrwarr
des Nebeneinander von Handlungen am deutlichsten hervortritt, Gutzkows
„Zauberer von Rom“.
Endlich erscheint auch der französische Naturalismus, der dem Milieu-
Roman einen besonders ausgeprägten Charakter gegeben hat, gerne als
Biographie; so Flauberts Madame Bovary, das berühmte Muster seiner
Gattung, so die meisten der großen Romane Zolas, die schon durch den
Grundgedanken des Zyklus („Histoire naturelle et sociale d'une famille“)
auf die Entwicklungsgeschichte ihrer Helden hinweisen.
Die Entwicklung des Milieu-Romans in seiner extremen Form führt
uns zu einer letzten Frage, die für das Wesen der Romandichtung von
prinzipieller Bedeutung ist. Daß in der epischen Poesie überhaupt mehr
als in den beiden anderen Gattungen Verstandesforderungen zu Worte
kommen, haben schon Goethe und Schiller wiederholt hervorgehoben. „Da
das epische Gedicht“, schreibt Goethe am 19. April 1797, „in der gleichen
Ruhe und Behaglichkeit angehört werden soll, so macht der Verstand vielleicht
mehr als an andere Dichtarten seine Forderungen.“ Und Schiller
geht in seinem Urteil über den Roman bekanntlich so weit, daß er ihn
nur als ein halbes Kunstwerk gelten lassen will. „Die Form des Wilhelm
Meister,“ schreibt er am 20. Oktober 1797, „wie überhaupt jede Romanform,
ist schlechterdings nicht poetisch, sie liegt ganz nur im Gebiete des
Verstandes, steht unter allen seinen Forderungen und partizipiert auch von
allen seinen Grenzen.“ Dieses allgemeine Urteil scheint nun da, wo der
Roman Schilderung des Lebens in seinen einzelnen Kreisen, Darstellung
realer Verhältnisse, Lebensberufe u. s. w. sein will, eine besondere Bedeutung
und Berechtigung zu erhalten. Wenn Humboldt die „Beschauung“ oder die
Betrachtung der Welt als den eigentlichen Zustand des epischen Schaffens
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und Genießens ansieht, so korrigiert ihn Spielhagen, indem er statt „Betrachtung“
vielmehr Beobachtung setzen will (a. a. O. S. 153─156). Der
epische Dichter strebt nach einem „Weltbild, dessen Material durch unablässige
scharfe Beobachtung der realen Welt zusammengebracht wird.“ Und
an einer anderen Stelle: „Denn dies ist das Bezeichnende des epischen Verfahrens,
daß es von Anfang an induktorisch ist und bis zum Ende induktorisch
bleibt“ (S. 168). Schon durch diese Wendung ist die schöpferische
Tätigkeit des Romandichters bedenklich nahe an die Grenzen wissenschaftlicher
Forschung und Beobachtung gerückt.1) Aber ganz und gar in eine
Reihe stellt Zola beide mit seiner Theorie des experimentellen Romans.2)
Nicht nur als Beobachter steht der Romanschriftsteller dem wissenschaftlichen
Psychologen völlig gleich, sondern seine Methode ist genau dieselbe,
welche die moderne Naturwissenschaft auf ihre Höhe geführt hat: die des
Experiments, das sich hier auf die menschliche Seele erstreckt. Zola spricht
und schreibt genau wie ein moderner Experimentalpsychologe. „Le problème
est de savoir ce que telle passion, agissant dans tel milieu et dans telles
circonstances, produira au point de vue de l'individu et de la société. Nous
faisons en quelque sorte de la psychologie scientifique.“ Und nicht nur die
Methode auch das Ziel teilt er mit der Wissenschaft: „Ce rêve du physiologiste
et du médecin expérimentateur est aussi celui du romancier qui applique
à l'étude naturelle et sociale de l'homme la méthode expérimentale. Notre
but est le leur; nous voulons, nous aussi, être les maîtres des phénomènes,
des éléments intellectuels et personnels, pour pouvoir les diriger. Nous
sommes, en un mot, des moralistes expérimentateurs, montrant par l'expérience
de quelle façon se comporte une passion dans un milieu social.
Le jour où nous tiendrons le mécanisme de cette passion, on pourra la
traiter et la réduire, ou tout au moins la rendre la plus inoffensive possible.
Et voilà où se trouvent l'utilité pratique et la haute morale de nous oeuvres
naturalistes, qui expérimentent sur l'homme, qui démontent et remontent
pièce a pièce la machine humaine, pour la faire fonctionner sous l'influence
des milieux.“ Wie in einem Vergrößerungsspiegel sieht man in diesem
Zerrbild einer ästhetischen Theorie den Fehler, der in der allzuscharfen Betonung
des Verstandesmäßigen im Roman liegt. Was bei Zola sofort auffällt
und seine Lehre von vornherein unbrauchbar macht, ist, daß er die
Tätigkeit der schöpferischen Phantasie völlig ausschaltet, oder doch nur in
der Form der Betätigung anerkennt, wie sie ein geistreicher Naturforscher
Wiewohl Spielhagen an andrer Stelle mit Recht gegen die Verwirrung der Grenzen
sich ausspricht. „Und doch sind diese Wege himmelweit verschieden; so weit wie es der
einzelne konkrete Fall von der Regel ist, die aus der Fülle sämtlicher konkreter Fälle abstrahiert
wurde; so verschieden, wie die Tätigkeit der Phantasie von der reinen Vernunft
und Urteilskraft; so verschieden, wie die künstlerische Darstellung von der wissenschaftlichen
Analyse der Synthese.“ (S. 55.)
Emile Zola, Le Roman expérimental. Paris 1876.
und Experimentator gleichfalls bedarf. Ein Kunstwerk könnte auf diese
Weise offenbar niemals zustande kommen, sondern eben nur eine Reihe
von psychologischen Versuchen. Aber auch Spielhagen befindet sich offenbar
in ähnlichem Irrtum, wenn er glaubt, daß Beobachtung und induktive
Erkenntnis des Weltlaufs die dichterisch phantasievolle Anschauung jemals
ersetzen könnte.1) Es ist richtig, daß der Romandichter, der das Leben
schildern will, es kennen muß, und daß zumal der moderne Schriftsteller,
der die verschiedenartigsten menschlichen Kreise und Tätigkeiten in ihrer
Einwirkung auf das Seelenleben seines Helden zu schildern unternimmt,
ohne Scharfblick und Fleiß, ohne Beobachtung und Studium seine Aufgabe
niemals erfüllen kann. Allein diese Studien sowohl wie die Kenntnisse,
die daraus hervorgehen, liefern doch nur das Material für die schöpferische
Tätigkeit seiner Phantasie. Diese selbst setzt erst da ein, wo jene vorbereitende
Beobachtung aufhört. Dann wird das Wissen zum Schauen, das
Gedächtnis wandelt sich in die schaffende Phantasie, die nach ihren eigenen
Gesetzen mit dem Erfahrungsstoffe schaltet und in freier Schöpfung die
Wirklichkeit wiederholt. Wie überall, so entsteht auch hier ein Kunstwerk
erst dann, wenn der Kampf mit dem Stoff siegreich beendet ist, wenn der
Künstler den Stoff, den er braucht, wie umfangreich er auch immer sein
mag, sich völlig angeeignet und bewältigt hat. Der Romandichter ist freilich
kein Lyriker; seine Dichtung erwächst ihm nicht nur aus dem inneren
Erleben und Empfinden. Seine Probleme also mögen ihm immerhin
aus der Außenwelt kommen, natürlich nur, soweit sie sein Innenleben
mit in Anspruch nimmt, ihm selbst zum Erlebnis wird, denn sonst wäre
er kein Dichter. Die Mittel zu ihrer Lösung muß er aus Erfahrung und
Beobachtung gewinnen. Aber eine Dichtung schafft er erst dann, wenn
aus Problemen und Erfahrungen eine neue gegenständliche Welt vor seinem
inneren Blick erstanden ist, denn nur eine solche vermag die Dichtung
widerzuspiegeln. In dieser Hinsicht ist nur ein quantitativer Unterschied
zwischen dem Maß von Wissen und Beobachten, das der Romandichter
und das der Dramatiker braucht. Wenn man z. B. die Studien kennt, die
Schiller zum Demetrius gemacht hat, wenn man weiß wie sehr er sich in
die Einzelheiten des Milieus vertieft hat, wie er etwa russische Bauten
studierte, so sieht man, daß seine Arbeit sich im wesentlichen nicht von
der des modernen Romandichters unterscheidet. Aber in seiner Dichtung
ist dieser ganze Stoff gleichsam aufgezehrt und, um Schillers eigenen Ausdruck
zu gebrauchen, von der künstlerischen Form vertilgt; seine Phantasie
schaltet frei schaffend über das Wissen, das er aufgehäuft hat. Und genau
das Gleiche gilt vom Roman. Mag der Beobachtungs- und Wissensstoff, den
der Dichter braucht, noch so detailliert, noch so technisch trocken, noch so
Er gerät dadurch in einen offenbaren Widerspruch mit der unter der voriger
Seite angeführten Äußerung über die Eigenart dichterischer Produktion.
umfangreich sein, nur dann wird sein Werk eine Dichtung, wenn der Stoff
nicht mehr als Stoff hervortritt und sich nicht als Gegenstand der Belehrung,
sei es technischer, sei es psychologischer Art, gibt, sondern einzig als
Mittel, um die phantasiemäßige Anschauung lebendig und vollständig zu
gestalten, auf der die dichterische und speziell epische Wirkung beruht.
Die großen Zeitromane Zolas verfolgen bekanntlich eine bestimmte
gleichartige Technik; zum Untergrunde dient ihnen nicht nur im allgemeinen
das soziale Leben des zweiten Kaiserreichs, sondern in jedem einzelnen derselben
erwächst die Handlung aus einem bestimmten Berufskreise, und es
wird dieser Kreis, es werden die einzelnen Tätigkeiten, die er umschließt,
bis ins kleinste hinein verfolgt und geschildert. Eine Überfülle von Einzelheiten,
die aus Beobachtung und Studium hervorgegangen und mit gewissenhaftestem
Fleiße gesammelt sind, versetzen den Leser in die geschilderte
Welt. Sie erfüllen uns zuweilen mit bewunderndem Erstaunen, oft freilich
ermüden sie und lähmen den künstlerischen Genuß. Es gibt einen deutschen
Roman ersten Ranges, der, um die Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden,
in auffallender Weise der Kunst Zolas vorgreift: Otto Ludwigs „Zwischen
Himmel und Erde“. Wie bei Zola, so erwächst auch hier die äußere Handlung
und die innere Entwicklung des Helden in stetem Zusammenhang
mit seinem Gewerbe, dem des Schieferdeckers. Diese Tätigkeit wird uns
bis in die kleinsten technischen Einzelheiten vorgeführt. Wir sehen, wie
der Dachdecker sein Schwebegerüst baut, wie er es verwendet, welche besonderen
Schwierigkeiten er überwinden muß. Aber von Anfang bis zu
Ende ist auch für den Leser alles technische Detail nur ein Hilfsgerüst,
um ihn zwischen Himmel und Erde hinaufzutragen in das Reich der Phantasie,
wo nichts unanschaulich, nichts unverstanden, aber auch nichts ohne inneres
Leben, ohne unmittelbare Erwärmung und Erleuchtung durch Gefühl und
inneres Schauen bleibt. Die Berufsarbeit selbst wird zum Symbol des
inneren Lebens, das sich in seiner sinnbildlichen Bedeutung immer deutlicher
enthüllt. Solange er sein Gewissen belastet fühlt, vermag der Held
den Turm nicht zu besteigen, auf dem der verbrecherische Bruder den
Untergang gefunden hat. Als er, um seine mutige Rettungstat zu wagen,
sich selbst überwindet, ist sein allzu empfindliches Gewissen wieder frei.
Diese Dichtung ist ein weit reineres Kunstwerk als einer der großen Zolaschen
Romane, weil hier Anschauungsstoff und geistiger Gehalt sich vollkommen
decken, weil genau soviel Einzelheiten, die der Beobachtung und
dem Studium entstammen, verwendet sind, wie die innere Entwicklung bedarf,
nicht mehr und nicht weniger. Auch bei Zola tritt die symbolische Verwendung
des äußeren Anschauungsstoffes und besonders des berufsmäßigen
Milieus deutlich und bisweilen mit einer gewissen Großartigkeit hervor:
die Lokomotive in der Bête humaine, die große Bergwerkspumpe im Germinal
werden zu dämonischen Symbolen der vernichtenden Kräfte, die in der
Arbeit selbst und in den Seelen der Menschen, die sie vollführen müssen,
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lauern. Auch bei Zola werden Handlungen, Wollen und Empfinden seiner
Menschen nur aus dem Einfluß ihrer Lebenskreise und ihrer Berufsarbeit
verständlich. Aber die Fülle des aufgehäuften und ausgebreiteten Details
geht weit über das künstlerische Bedürfnis, anzuschauen und zu verstehen,
hinaus und überschreitet den Kreis dessen, was für jene Symbolik verwertet
werden kann. So bleibt in all diesen Dichtungen ein starker prosaischer
Rest, und es mag dahin gestellt sein, ob das verfehlte Streben des Dichters
nach einer vermeinten Wissenschaftlichkeit die Schuld daran trägt, oder ob
die falsche Theorie nur entstanden ist, um die künstlerische Unzulänglichkeit
der M
ethode zu rechtfertigen.
Ähnlich wie die kleinere epische Erzählung zum Epos verhält sich
die Novelle zum Roman. Auch sie wurde, die ursprünglichste Form der
Prosadichtung, schon im Altertum gepflegt, und in der Renaissancezeit war
sie besonders auf romanischem Boden beliebt und gewürdigt. Seit der
Romantik ist sie in Deutschland immer mehr in den Vordergrund getreten;
neben dem Roman nimmt sie seit zwei Menschenaltern das Interesse des
literarischen Publikums zweifellos am stärksten in Anspruch.
Fragt man nun nach dem Wesen der Novelle, so ist es gewiss, daß sie
sich nicht bloß durch die Ausdehnung vom Roman unterscheidet. Goethe
bezeichnete sie zu Eckermann (29. Januar 1827) mit einer sprachlich allerdings
übeln Wendung als „eine sich ereignete unerhörte Begebenheit“, und
Spielhagen charakterisiert sie (Beiträge S. 245) folgendermaßen: „Die Novelle
hat es mit fertigen Charakteren zu tun, die, durch eine besondere Verkettung
der Umstände und Verhältnisse, in einen interessanten Konflikt gebracht
werden, wodurch sie gezwungen sind, sich in ihrer allereigensten
Natur zu offenbaren, also, daß der Konflikt, der sonst Gott weiß wie hätte
verlaufen können, gerade diesen, durch die Eigentümlichkeit der engagierten
Charaktere bedingten und schlechterdings keinen anderen Ausgang nehmen
kann und muß.“
Will man das Wesen der Novelle richtig treffen, so wird man in dem
Goetheschen Satz das Wort „eine“ besonders unterstreichen müssen. Denn
ihr Gegensatz zum Roman beruht in der Tat darauf, daß hier eine
strengere Einheit der Handlung nur ausnahmsweise vorhanden, im modernen
Bildungsroman sogar völlig unmöglich ist: denn die Entwicklung kann
sich immer nur durch eine Reihe von Handlungen und Ereignissen vollziehen.
Die Novelle dagegen wahrt die Einheit der Handlung, sie ist,
im Anschluß an Goethe gesprochen, nichts als die Erzählung einer Begebenheit.
Daher schließt sie Episoden, Parallelhandlungen und dergleichen
aus. Die ältere, namentlich die italienische Novelle sucht in der Tat nur
durch den Reiz der Begebenheit und die Anmut der Erzählungsweise zu
interessieren. Die neuere deutsche Novelle hat sich tiefere Aufgaben gestellt.
Seit Kleists Michael Kohlhaas ist es auch hier das psychologische
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Interesse, das sie erwecken will; nicht die seltsame Verkettung äußerer Zufälle
und Ereignisse, sondern eigenartige und problematische Vorgänge des
inneren Lebens sind es, die unseren bedeutenden Novellisten zum Vorwurf
dienen. Dabei ist die eigentliche Entwicklung des Charakters ausgeschlossen;
sie gehört dem Roman an. Vielmehr kommt der fertige
Charakter in einer Tat, einem entscheidenden Ereignis zum Ausdruck, und
eben dieses Verhältnis bildet den Inhalt der Novelle. Sehr gut führt
dies Mielcke aus (a. a. O. S. 354): „Von dem alten Novellenstil hat die
moderne Novelle übernommen, eine einzelne ,wunderliche' Begebenheit
auch jetzt noch als ihren Rohstoff zu betrachten. Aber sie erzählt sie nicht
bloß und sie hüllt sie nicht allein in Stimmungsfarben. Das Seltsame der
Tat setzt auch in den Charakteren ein Seltsames der Empfindung oder des
Willens voraus. Die Romantiker sahen diesen psychologischen Untergrund
gern als etwas Mystisches an und erzielten dadurch oft bedeutende Wirkungen.
Die moderne Psychologie geht dem Mystischen nicht aus dem
Wege, aber sie sucht es dafür natürlich zu deuten, den dunklen Kern der
Seele gleichsam in seine einzelnen Elemente aufzulösen, und die moderne
Novelle schloß sich ihr hierin an. Dadurch gewann sie den Hang zum
Problematischen, sie baute absonderliche Begebenheiten aus absonderlichen
Willensäußerungen auf und verwandte alle ihre Kunst darauf, für eine gespannte
Situation eine möglichst überraschende Auflsösung zu finden.“
Auch auf das Milieu vermag die moderne Novelle nicht zu verzichten.
Denn aus ihm wird das psychologisch Wunderbare ja zum größten
Teil erst verständlich. Aber sie hat nicht Zeit und Raum, es eingehend
zu schildern, sie kann es nur andeuten. Sie kann nur, wie Mielcke
(S. 353) sagt, „durch starke Betonung des einzelnen ersetzen, was er
an Fülle desselben nicht bieten kann, und aus dieser starken Betonung
entsteht jener schwingende Zauber des Details, den wir Stimmung nennen.
Die Gegenstände klingen in der Novelle, und ihr Klang durchzittert die
Ereignisse, er dämpft oder erhöht ihre Wirkung, er vermählt sich mit dem
seelischen Leben der Charaktere.“ Wie richtig dies ist, erkennen wir an
vielen der Meisternovellen Heyses und Storms. So ist die Arrabiata ganz
von dem Gluthauch südlicher, die Erzählung „Am toten See“ ganz von
der stillen und innigen Melancholie nordischer Landschaft durchzittert, und
in „der Stickerin von Treviso“ atmet der Geist der Frührenaissance. Ist
das Milieu ein phantastisches oder ein in großen Zügen gezeichnetes geschichtliches
Gemälde, so nähert sich die Novelle bisweilen dem Balladencharakter,
besonders deutlich in einigen der schönsten Dichtungen Storms:
so in Eekenhof und Aquis submersus.
In den Weihnachtstagen 1797 antwortete
Schiller an Goethe auf die Übersendung des Aufsatzes, dessen Hauptstellen
wir zu Anfang des vorigen Kapitels kennen gelernt haben: „Daß der
Epiker seine Begebenheit als vollkommen vergangen, der Tragiker die
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seinige als vollkommen gegenwärtig zu behandeln habe, leuchtet mir sehr
ein.“ „Die dramatische Handlung bewegt sich vor mir, um die epische
bewege ich mich selbst, und sie scheint gleichsam stille zu stehen. Nach
meinem Bedünken liegt viel in diesem Unterschied. Beweg ich mich um
die Begebenheit, die mir nicht entlaufen kann, so kann ich einen ungleichen
Schritt halten, ich kann nach meinem subjektiven Bedürfnis auch
länger oder kürzer verweilen, kann Rückschritte machen oder Vorgriffe tun
u. s. f. Bewegt sich die Begebenheit vor mir, so bin ich streng an die
sinnliche Gegenwart gefesselt, meine Phantasie verliert alle Freiheit, es
entsteht und erhält sich eine fortwährende Unruhe in mir, ich muß immer
beim Objekt bleiben, alles Zurücksehen, alles Nachdenken ist mir versagt,
weil ich einer fremden Gewalt folge.“
Das Drama also ist Gegenwartskunst: auf der Illusion der Gegenwart,
auf dem Miterleben der dargestellten Vorgänge beruht alle dramatische
Wirkung. Ungemildert durch das Gefühl des Zeitabstandes, der das Vergangene
bei noch so lebhafter Vorstellung in die Ferne rückt, folgt unser
Affekt der Handlung mit der ganzen Lebhaftigkeit und Stärke, welche
gegenwärtiges Geschehen, Handeln und Erleiden zu entfesseln vermag.
Mitleid und Furcht, aber auch Bewunderung und Hoffnung, Sympathie
und Abneigung erwachen mächtiger und ausschließlicher. „Der zuschauende
Hörer muß leidenschaftlich folgen.“ Er ist ganz durch die schnelle Folge
dessen, was sich vor seinen Augen abspielt, in Anspruch genommen und
findet, solange die dramatische Wirkung dauert, keine Zeit zu ruhigem Verweilen
und Betrachten, keine Zeit, rückblickend zu vergleichen und zu
erwägen, ja nicht einmal Zeit, die Gegenwart, die rasch in die Zukunft
weiter schreitet, nach allen ihren Momenten zu überschauen. Nur das
Wesentlichste und Wichtigste fällt ihm ins Auge, nur dies vermag er im
unaufhaltsamen Fortschritt der Handlung aufzunehmen; wie für die epische
Dichtung beschauliche Breite, so ist für die dramatische Kunst Konzentration
auf die Hauptmomente des Geschehens das innerste Prinzip. Daher die Unbedenklichkeit
in den Voraussetzungen, zum Teil auch in der Motivierung
von Einzelheiten und Äußerlichkeiten der Handlung, die man bei Schiller
oft bemerkt hat, die aber bei Shakespeare und Kleist ebenso ausgeprägt
ist. Der Epiker hat wie seine Zuhörer Zeit, den seelischen Vorgang und
das äußere Bild in seinen Einzelheiten mit und neben einander zu betrachten;
der miterlebende dramatische Schöpfer hat wie der Zuschauer, den
er fortreißt, dazu nicht die Ruhe. Seine Aufmerksamkeit ist auf die Hauptmomente
der Handlung gerichtet, und diese sind wesentlich seelischer
Natur. Nur ihr äußerer Ausdruck als Wort, Gebärde und Tat wird von
diesem Interesse notwendig mitergriffen. Aber das Gegenständliche an
sich und noch mehr die äußere Umwelt seiner Personen, das Landschaftliche
u. s. w. bleibt, sobald die Handlung lebhaft wird, unter der Schwelle
des Bewußtseins oder wird, wo sie zögert und den Zuschauer ruhiger läßt,
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doch nur als schmückendes Beiwerk empfunden. Daher ist auch die Möglichkeit
der dramatischen Wirkung nicht an Dekoration und Kostüme gebunden,
wie denn alle ursprüngliche dramatische Kunst von diesen Mitteln
nichts weiß.
Aber der Zwang zur Konzentration geht weiter. Auch das Seelenleben
der handelnden Personen kann sich auf der Bühne nicht voll und breit
ausladen. Nur ausnahmsweise und bevor die Handlung in Fluß kommt,
vermag uns der Dramatiker mit einem ins Einzelne geführten Seelengemälde
zu interessieren. Die epische Breite der Schilderung bleibt ihm auch hier
versagt. Von vornherein muß er alle Aufmerksamkeit auf das Wesentliche,
das ins Auge Springende richten. Scharf ausgeprägte, im Großen gesehene
Züge bilden seine Charaktere: die feinen vermittelnden Schattierungen,
abgetönte Stimmungen des Seelenlebens vermag er nur ausnahmsweise zu
verwenden. Der Dramatiker arbeitet wie im Großen, so immer auch
einigermaßen aus dem Groben heraus: jede zu weit gehende Verfeinerung
ist hier zugleich eine Abschwächung des Eindrucks. Daher neigt
die dramatische Poesie zu scharfen Kontrasten, ja, obwohl der Kontrast,
wie wir im 10. Abschnitt gesehen haben, in jeder poetischen Gattung ein
wesentliches Kunstmittel ist, so darf man die Dramatik im besonderen
Sinne als die Kunst der Kontrastwirkung, als Schöpfung aus Kontrasten
bezeichnen. Denn erst durch den Gegensatz tritt das Charakteristische als
solches in voller Schärfe hervor; erst dadurch, daß wir Charaktere und
Handlungsweisen voneinander abstechen sehen, werden wir uns ihrer
Eigenart deutlich bewußt. Und dieser Gegensatz wird hier nicht durch
eine ausgleichende und mildernde Darstellungskunst, wie die des Erzählers
ist, überbrückt: er tritt im echten Drama in voller Schärfe vor unsere
Augen und Ohren.
Denn auch hier ist es vor allem die Sprache, in deren Eigenart sich
das Wesen des Dramatischen ausprägt. Mag sie naturalistisch im Munde
jeder Person das verschiedene Gepräge ihrer Herkunft und Umgebung
tragen, mag sie zu einer gleichmäßigen Idealform stilisiert sein: immer
muß sie den inneren Gegensatz zwischen den Charakteren zum Ausdruck
bringen, und epigrammatisch zugespitzte Stichomythie darf man in diesem
Sinne das Grundschema des dramatischen Dialogs nennen. „Zweistimmig
zu sein ist der Sinn des Dramas. In dieser Zweistimmigkeit wurzelt alles
Formale der Shakespeareschen Kunst.“ So drückt den Gedanken treffend
ein moderner Dramaturg1) aus, und nicht ohne Übertreibung, aber doch
im Grunde richtig fügt er hinzu: „Wie in jedem kleinen Pfeiler des Straßburger
Münsters die „Idee“, der Rhythmus des Ganzen steckt, so birgt jede
Julius Bab, Wege zum Drama, Berlin 1906. Die geistreiche kleine Schrift ist,
wie schon die oben angeführte Stelle zeigt, nicht frei von Überschwang, aber sie ist von
einem tiefen und richtigen Gefühl für das Wesen der dramatischen Kunst getragen und
eröffnet eine Reihe lichtvoller Einblicke.
sprachliche Wendung eines großen Dramas in sich das Wesen der dramatischen
Idee: den tragischen Widerspruch notwendig zueinander strebender
Mächte. ─ Der kleinste Teil des Kunstwerks endlich, der einzelne Satz,
das Wort, das keine Zweiheit mehr zu umspannen vermag, wird dem
Prinzip der Zweistimmigkeit, der großen Kontrastwirkung noch immer
dadurch dienen, daß es die eine Seite, an der es allein zu bilden vermag,
mit leidenschaftlichster Energie, mit fanatisch konzentrierter Einseitigkeit
ausdrückt ─ gerade so die größte Wirkung des Widerspruchs verbreitend.
Auf die Schärfe und Kraft des Ausdrucks legt dann der echte Dramatiker
allen Wert, nicht auf das in sich Schöne oder logisch Zwingende der
Sprachwendung.“
Aber ein charakteristischer Dialog oder eine Reihe von solchen ist
noch kein Drama. Erst wo sich der Charakter der Personen und ihr
Gegensatz in Entschlüssen und Handlungen entwickelt, wird er ganz anschaulich
und reißt uns zu völligem Miterleben hin. Daher bezeichnet
schon der Name Drama eine Handlung, und nur im aktiven Tun, nicht
im passiven Erleben, wie häufig im Epos, wird der Held des Dramas
vor uns lebendig. Im Epos, im Roman kann das Ereignis, ja unter Umständen
der Zufall unser Interesse erwecken und beleben. Im Drama hingegen
stört jedes rein äußerliche Eingreifen das, was uns eigentlich
interessiert: den inneren Zusammenhang, der mit Notwendigkeit von bestimmten
Charaktereigenschaften zu entsprechenden Taten und durch die
Folge dieser Taten zu Leiden führt.
Gegensatz, der sich in Handlungen äußert, ist Kampf. Jedes Drama
also hat einen Kampf innerer und äußerer Art zum Gegenstande. Und
wenn die Entwicklung dieses Kampfes nicht doch wieder als äußerlich und
vom Zufall abhängig (also episch) erscheinen, wenn sie von innerer Notwendigkeit
getragen sein soll, so muß er, wenn nicht zwischen gleichberechtigten,
so doch zwischen gleich lebendigen Gegnern geführt werden.
Wir müssen ihn gewissermaßen auf beiden Seiten miterleben. Daher ist
es nur ein Zeichen echter dramatischer Veranlagung und Kunst, wenn die
meisten Dramen Schillers, was man ihnen gelegentlich zum Vorwurf gemacht
hat, nicht einen sondern zwei im Gegensatz zueinander stehende
Helden haben, und in vielen Dramen der Antike finden wir dieselbe Erscheinung:
Agamemnon─Klytämnestra, Antigone─Kreon u. s. w. Und selbst
da, wo man mit Recht von einem Kampf des Helden gegen die Macht
des Schicksals sprechen kann, erscheint diese Macht durch menschliche
Gegner, wenn nicht verkörpert, so doch vertreten, wie im König Ödipus
durch den Teiresias.
Vom Gegenstand dieses Kampfes hängt der Charakter der Dichtung
ab. Ist er ernster und idealer Natur, handelt es sich um Tod und Leben,
um die großen Ziele des Daseins, so entsteht die Tragödie, ist er kleiner
oder kleinlicher Art, oder wird er doch von einer Seite gezeigt und betrachtet,
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die ihn so erscheinen läßt, so entsteht das Lustspiel. Das gleiche
Motiv kann bisweilen einen Gegenstand für Tragödie und Lustspiel bilden,
wie etwa die Liebe zwischen zwei jungen Leuten von ungleichem Stande;
es hängt dann eben davon ab, wie der Dichter die Bedeutung des
Kampfes und der Gegnerschaft wertet. Das Formenprinzip beider Arten
des Dramas ist also im Grunde dasselbe. Nur kommt's im Lustspiel nicht
so genau darauf an, daß es immer gewahrt bleibt. Wenn wir lachen,
fragen wir nicht, ob es die Kunst der objektiven Darstellung oder nur der
subjektive Witz des Dichters ist, was uns lachen macht. Und wir lassen
uns das Eingreifen des Zufalls, die Lösung des Konflikts durch einen vermenschlichten
Deus ex machina ganz wohl gefallen, während solche Dinge
in der Tragödie jede tiefere Wirkung zerstören. Die Charakterkomödie
Molières freilich, die mit der scherzhaften Darstellung einen bedeutsamen
und sehr ernst gemeinten Gehalt verbindet, verschmäht dergleichen Mittel
ebenso wie das ernsthafte Drama überhaupt. ─
Aus allen bisherigen Betrachtungen ergibt sich, daß Charaktere und
Handlungen im Drama nicht voneinander getrennt denkbar sind. Schon
in der ersten Konzeption des Dichters ist offenbar beides verknüpft. Der
Dramatiker sieht weder Menschen, zu denen er sich die Handlungen, noch
Handlungen, zu denen er sich die Menschen suchen müßte, sondern was
er sieht und zur Darstellung bringen will, sind eben handelnde Menschen,
von bestimmten Charakteren ausgehende bestimmte Handlungen; und sicher
ist es allgemein gültig, wenn Gustav Freytag (Technik des Dramas S. 11)
hervorhebt, „daß die Hauptteile der Handlung, das Wesen der Hauptcharaktere,
ja auch etwas von der Farbe des Stückes zugleich mit der Idee
in der Seele aufleuchten, zu einer untrennbaren Einheit verbunden, und
daß sie sofort wie ein Lebendes wirken, nach allen Seiten weitere Bildung
erzeugend“.
Die notwendige Verknüpfung zwischen Charakter und Handlung bildet
somit den Kern und Mittelpunkt jeder wahrhaft dramatischen Dichtung.
Diese Handlung nun ist in jedem echten Drama eine einheitliche.
Das strenge Gesetz der Konzentration, welches das Wesen der dramatischen
Poesie beherrscht, verlangt gebieterisch einen Mittelpunkt, um den sich
das Interesse bewegt, ein Ziel, dem es zustrebt. Denn wie die Erfahrung
immer wieder zeigt: wir vermögen nur einmal im Rahmen eines Dramas
aus der vollen Empfindung heraus den Verlauf mit dem Helden zu erleben,
die Reihen der Affekte lebendig mitzufühlen, welche Kampf, Sieg
und Gefahr auslösen. Hat die Anspannung durch den Abschluß einer
Handlung einmal nachgelassen, so ist sie niemals wieder in gleicher Stärke
zu erreichen, und die Erneuerung bleibt stets eine Abschwächung statt der
Steigerung, welche das allgemeine Gesetz der künstlerischen Wirkung verlangt.
Daher darf die Handlung auf der Bühne nicht absetzen: der Zuschauer
muß in leidenschaftlicher Anteilnahme und steter Spannung mitgerissen
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werden, von Akt zu Akt. Es ist undramatisch, wenn wir an irgend
einer Stelle der Dichtung das Gefühl erhalten, sie könnte nun allenfalls
zu Ende sein, oder gar, sie müßte hier eigentlich zu Ende sein. Das
erstere ist nach dem vierten Akt von Goethes Götz der Fall, und wo der
Fehler weit plumper ist, nach dem dritten Akt von Beer-Hofmanns schon einmal
angeführtem Grafen von Charolais. Daher reicht denn die Person des
Helden niemals aus, um dem Drama die Einheit zu geben, die sein Wesen
erfordert.
Daß es in der Hinsicht ─ trotz Aristoteles ─ mit dem Epos und dem
Roman anders steht, daß die epische Einheit eine minder feste und geschlossene
ist wie die des Dramas, haben wir im vorigen Abschnitt gesehen.
Besonders wo das Epos und der aus ihm entsprungene Roman
Entwicklungsgeschichte, Bildungsgeschichte des Helden geworden ist, muß
der Zusammenhang dieser Entwicklung die Einheit der Handlung ersetzen.
Immerhin wird es auch hier vorteilhaft sein, wenn die Fäden nicht allzu
lose geschlungen werden und in einem gut komponierten Roman wird
nicht nur eine Steigerung, sondern auch eine gewisse Entsprechung der
Ereignisse, eine Beschränkung der Nebenpersonen, so daß dieselben
Menschen in verschiedenen Phasen des Verlaufs wiederkehren, angestrebt
werden, wie wir das schon in Wilhelm Meister, von modernen Romanen
aber besonders bei Dickens und Friedrich Spielhagen beobachten können.
Allein mit diesen Kunstmitteln wird doch mehr einer Zersplitterung vorgebeugt,
als daß eine einheitliche Handlung erzielt würde. Denn die
Entwicklung eines Menschen setzt stets eine Reihe von aufeinanderfolgenden
Einwirkungen von mehr oder weniger tief eingreifenden Ereignissen
und Handlungen voraus, die weder zeitlich zusammenfallen,
noch mit einiger Wahrscheinlichkeit sich um denselben Gegenstand drehen
können.
Hieraus folgt nun aber auch, daß eine solche Charakterentwicklung
nicht in den Bereich der dramatischen Kunst fällt. Ein einzelnes Ereignis,
sei es noch so schicksalsschwer, vermag die allmähliche Bildung eines
Charakters niemals zu erklären, die Vielheit der Einflüsse, aus denen sie
hervorgeht, nicht zu ersetzen. Im äußersten Falle wird es eine einzelne
entscheidende Umwandlung herbeiführen, und eine solche finden wir denn
auch zumal in der Tragödie nicht selten. Aber es ist zumeist eine Wandlung,
die der Zerstörung oder Zersetzung des Charakters gleichkommt:
unter den Folgen seiner eigenen Tat wird der Wille des Helden, um mit
Schopenhauer zu sprechen, gebrochen. Leidenschaftliches oder doch
energisches Streben schlägt in Resignation um, so bei Shakespeares Brutus,
bei Schillers Maria Stuart. Oder der Wille wird bis zu gewaltsamer Überspannung
gesteigert und gewissermaßen verzerrt, wie in Macbeth. In beiden
Fällen bereitet die innere Wandlung nur die Katastrophe vor, ist eigentlich
nichts als die innere Katastrophe vor der äußeren. Wo dagegen die entscheidende
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Wandlung in die aufsteigende Entwicklung fällt, wo sie im
Mittelpunkt des psychologischen Werdens steht, da vermag sie allerdings
den wesentlichen Inhalt dieser Entwicklung zusammenfassend zu veranschaulichen.
So in Shakespeares Heinrich IV., wo der Tod des Königs, so in
Don Carlos, wo der Opfertod Posas, so in Kleists Prinzen von Homburg,
wo der richterliche Eingriff des Kurfürsten jedesmal ein entscheidendes
Ereignis bildet, das die Wandlung des Helden herbeiführt. Auch Calderons
Leben ein Traum und Grillparzers Gegenstück dazu veranschaulichen mit
mehr oder weniger Wahrscheinlichkeit eine solche Charakterwandlung. Aber
diese Dichtungen bilden Ausnahmen; denn nur ausnahmsweise wird ein
einziges Ereignis ein für allemal die fernere Charaktergestaltung entscheiden.
Daher begnügen sich auch die größten Dramatiker und tiefsten Charakterzeichner
wie Shakespeare und Schiller, von den Alten zu schweigen, zumeist
damit, den fertigen Charakter in einer entscheidenden Handlung sich vor
unseren Augen darstellen zu lassen. Schon viel, wenn der Dichter gelegentlich
einmal auf die frühere Entwicklung seines Helden ein belehrendes
Streiflicht wirft, wie ein solches auf Wallensteins Jugend aus Gordons
Worten fällt:
Der kühne Mut im zwanzigjähr'gen Jüngling.
Ernst über seine Jahre war sein Sinn,
Auf große Dinge männlich nur gerichtet.
Durch unsre Mitte ging er stillen Geists,
Sich selber die Gesellschaft; nicht die Lust,
Die kindische, der Knaben zog ihn an;
Doch oft ergriff's ihn plötzlich wundersam,
Und der geheimnisvollen Brust entfuhr,
Sinnvoll und leuchtend, ein Gedankenstrahl,
Daß wir uns staunend ansahn, nicht recht wissend,
Ob Wahnsinn, ob ein Gott aus ihm gesprochen.
Einen tieferen Einblick in das Werden der Menschen vermag uns
der Dramatiker schon deshalb nicht zu eröffnen, weil er die Einwirkung
des Milieus im besten Falle in wenigen großen Zügen, niemals aber wie
der Epiker in den intimeren Einzelheiten entwickeln kann. Im Fortschritt
der Handlung fehlt ihm wie uns die Zeit, diese zu beachten. Die Menschen
des Dramatikers stehen als gewordene und ausgeprägte Charaktere
vor uns, wie die, denen wir im persönlichen Leben begegnen. Was sie
sind, interessiert uns in erster Linie; wie sie es geworden, höchstens in
zweiter; und was sie sind, zeigt uns ihr Handeln. ─
Haben wir hiermit das Wesen der dramatischen Dichtungsform in
seinen allgemeinen Zügen erkannt, so erhält sie nun ihre charakteristische
Ausprägung erst durch ein Moment, das den beiden anderen Gattungen
gänzlich fehlt: die Beziehung auf die Bühne. Zwar auch dem Lyriker
und, wenn wir von dem Prosaroman absehen, dem Epiker schwebt die
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Vermittlung durch den Vortrag des Sängers oder des Rezitators vor. Aber
seine Dichtung wahrt doch eine gewisse Unabhängigkeit und Selbständigkeit.
Sie hat ein inneres Leben, das auch vom Papier her ohne weiteres
zu uns spricht und verständlich wird. Das Drama aber, soweit es Bühnenstück
ist, wird erst durch den Regisseur und den Schauspieler lebendig,
ähnlich wie eine Orchesterpartitur dem Nichtmusiker nur durch die Aufführung
vermittelt werden kann.
Die Phantasie des gegenständlichen Dichters kann daher zweierlei
Art sein: entweder sie zeigt ihm die Vorgänge so oder doch annähernd so,
wie sie sich im Leben, in der Wirklichkeit darstellen, oder sie richtet sich
von vornherein auf das Theater, er sieht Bühnengestalten und Bühnenvorgänge.
Die erste Art zu sehen, ist nämlich nicht etwa nur dem Epiker
eigentümlich, sondern sie gehört dem gegenständlichen Dichter überhaupt,
auch dem Dramatiker, soweit er eben nur Dichter ist, d. h. Phantasieerlebnisse
gestaltet und übermittelt. Auch der Dramatiker muß, wenn er
wirkliches Leben schaffen und uns wahre Menschen und ihre Taten lebendig
machen will, Taten und Menschen unmittelbar sehen und erleben. Allein
nun verschmelzen auf eigentümliche Weise in seiner Phantasie die Bilder
des Lebens mit denen der Bühne, die seiner Menschen mit denen der
Schauspieler. Wo diese Verschmelzung nicht eintritt, werden wir immer nur
einen einseitigen und daher unvollkommenen Typus des Dramas vor uns
haben, und dementsprechend wird auch der Eindruck hinter dem Höchsten,
was die dramatische Kunst erreichen kann, zurückbleiben. Wenn der Dichter
die Bühne und ihre Anforderungen gänzlich aus dem Auge verliert, wird
sich das nicht nur bei der Aufführung seiner Stücke, nicht nur in einem
Mangel an Bühnenwirkung rächen, sondern zumeist auch schon den dramatischen
Charakter seiner Dichtung an sich schwächen und schädigen.
Wo die Bühnenkunst uneingeschränkt waltet, da werden tiefe und echte
dichterische Wirkungen selten zum Durchbruch kommen. Es ist denkbar
und neuere Forschungen machen es nicht unwahrscheinlich, daß in dieser
Doppelheit der Anlage der Dichter und ihrer Werke sich eine Ursprungsverschiedenheit
der dramatischen Kunst ausspricht. Das Theaterspiel selbst
ist, soviel wir wissen, überall aus der Lust an improvisierten Nachahmungen
von Personen und Handlungen, an Verkleidungen und Vermummung, kurz
aus der eigentlichen Lust am Spiel hervorgegangen, und ein Theaterstück
war ursprünglich keine Dichtung im literarischen Sinne, sondern das Werk
des Augenblicks oder einer Tradition, die mit und in den Aufführungen
entstand. Die Kunstform der dramatischen Dichtung dagegen entstand aus
der Freude an Rede und Gegenrede, die zu lebhaften Affekten gesteigerte
mimische Aktionen hervortrieben. Die Geschichte des Theaters, zunächst
des antiken, soweit wir sie verfolgen können, scheint das zu bestätigen.
Einerseits sehen wir die Tragödie hohen Stils sich zur edelsten Kunstform
entwickeln, andrerseits zieht sich das volkstümliche Spiel des Mimus durch
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das ganze Altertum hindurch.1) Auf die Entwicklung beider Gattungen
hat die Verbindung mit der Musik wesentlichen Einfluß geübt. ─ Auch
bei der Entstehung des Dramas der neueren Zeit finden wir die Spuren
einer ähnlichen parallelen Entwicklung, und in der Zwiespältigkeit des
Shakespeareschen Dramenstils sieht man deutlich das Zusammentreffen
zweier an sich verschiedener Formen der Kunstübung.
Aus der Verbindung von Bühnenkunst und Poesie ist die dramatische
Dichtung entstanden. So ist es denn begreiflich, daß von den beiden Elementen,
die sie enthalten, bald das eine, bald das andere überwiegt.2) Die
ausgeprägteste künstlerische Theaterphantasie unter allen deutschen Dichtern
besaß wohl Ferdinand Raimund. Er schwelgt in Bühnenbildern größtenteils
phantastischer Art, sein geistiges Ohr hört nicht Menschen, sondern
Schauspieler sprechen. Dennoch ist er Dichter genug, um seine Wirkungen
nicht zu berechnen, sondern zu fühlen, und in die Bühnenphantastik mischen
sich ihm Züge eines gesunden Wirklichkeitssinnes. Das Theater verbindet
ihm eine überirdische Geisterwelt mit der Realität des Lebens. Etwas Ähnliches
ist bei einem größeren, bei Richard Wagner, der Fall, wenigstens
in den meisten seiner Werke. Und in der Tat liegt es ja auch im Wesen
des Doppelkunstwerks, das er schafft, daß er es von vornherein als Darstellung
auf der Bühne und nur als solche sieht und denkt. In den beiden
tiefsten und bedeutendsten Tondichtungen freilich, die er geschaffen, dem
Tristan und den Meistersingern, geht die schöpferische Phantasie über das
Bühnenbild hinaus in die Höhen und Tiefen des reinsten Humors und
der innerlichen Gefühlserlebnisse. Hans Sachs unter dem Fliederbaum,
Tristan und Isolde in der nächtlichen Laube sind nicht für die Bühne
Von dem Wesen und der Bedeutung des Mimus haben uns die Forschungen
Herm. Reichs (Der Mimus. Ein literarentwicklungsgeschichtlicher Versuch. 2 Bde. Berlin
1903) ein wertvolles, wenn auch vielleicht in einzelnen Teilen zu stark aufgetragenes
Bild gewährt. ─ Über die Verschiedenheit des psychologischen Ursprungs handelt scharf
und geistreich Th. A. Meyer: Das Stilgesetz der Poesie, S. 108─111.
Interessant sind die Zeugnisse, welche diese Verschiedenheit psychologisch belegen.
Der ausgeprägteste Typus des Bühnenschriftstellers ist Scribe. „Wenn ich eine
Szene schreibe,“ sagte Legouvé zu ihm, „so höre ich, Sie aber sehen. Bei jedem Satz,
den ich schreibe, kommt mir die Stimme der sprechenden Person ins Ohr. Sie, der Sie
das Theater selbst sind, Ihre Schauspieler gehen und gestikulieren vor ihren Augen: ich
ein Hörer, Sie ein Zuschauer.“ ─ „Nichts wahrer als dies,“ sagte Scribe, „wissen Sie,
wo ich mich im Geiste befinde, wenn ich ein Stück schreibe? Mitten im Parterre!“ ─
(Binet, Psychologie du Raisonnement, angeführt bei James, Principles of psychologie,
II S. 60.) Dagegen schreibt Schiller an Goethe: „Ich wüßte nicht, was einen bei einer
dramatischen Ausarbeitung so streng in den Grenzen der Dichtart hielte, und wenn man
daraus getreten, so sicher darein zurückführte, als eine möglichst lebhafte Vorstellung der
wirklichen Repräsentation der Bretter eines angefüllten und buntgemischten Hauses, wodurch
die affektvolle unruhige Erwartung, mithin das Gesetz des intensiven und rastlosen
Fortschreitens und Bewegens einem so nahe gebracht wird.“ Man sieht, daß die Bühne
seiner Phantasie schon nicht mehr so unbedingt und unmittelbar vorschwebte.
erdacht, nicht auf dem Theater erschaut, sondern aus einer idealen Wirklichkeit
auf die Bühne übertragen. Goethe dagegen ist ein Typus der entgegengesetzten
Art. Die Theaterphantasie ist bei ihm, trotz seiner jugendlichen
Neigung für das Puppentheater, auffallend schwach entwickelt und tritt
fast nur da gleichsam als Lückenbüßerin ein, wo ihm die dichterische Gestaltungskraft
versagt: im letzten Akt des Clavigo, an vielen Stellen des zweiten
Teils des Faust, der in dieser Hinsicht einen starken Gegensatz zum ersten
bildet, in den Festspielen und Operntexten. So erklärt sich denn auch die
verhältnismäßig geringe Bühnenwirkung, die von den meisten seiner Dramen
ausgeht. Schon die glänzenden und lebendigen Szenen, die der Götz vor
uns entrollt, sind Bilder des Lebens, nicht der Bühne. Nun aber betrachte
man den 4. und 5. Akt der Iphigenie, besonders aber den Tasso. Wie
wenig vertragen die fein abgetönten Farben, die intimen Reize der seelischen
Erlebnisse, die hier in tief innerlicher Gestaltung Leben gewonnen
haben, das grelle Licht der Bühne mit seinen scharfen Kontrasten. Eben
weil der Dichter die Wirklichkeit zu fein und zu echt sieht, versagt sich
ihm die szenische Wirkung. Man vergleiche nur die Herausforderung zum
Zweikampf im 2. Akt des Tasso mit der ähnlichen Szene bei Schiller, wo
Don Carlos den Herzog Alba zum Zweikampf zwingt. Daß Antonio auf
die Herausforderung nicht eingeht, auch in der Notwehr nicht, ist sicherlich
das Wahrscheinlichere, der Wirklichkeit entsprechende; aber dadurch,
daß es nicht zum Zweikampf kommt, bleibt die ganze Szene und namentlich
das Auftreten des Herzogs ohne stärkere Bühnenwirkung, während im
Don Carlos Alba gleichfalls den Degen zieht und die Königin nunmehr
die Kämpfenden trennt: gröber und unwahrscheinlicher, aber beträchtlich
wirksamer. Auch daß am Schluß, wo Tasso die Prinzessin umarmt, nur
die nächsten Freunde den leidenschaftlich Rasenden überraschen, bringt
die Schwere der Situation im Bühnenbilde nicht hinlänglich zur Geltung,
daher man so oft eine naive Verwunderung über das Unbedeutende der
Katastrophe aussprechen hört. Wie anders weiß uns wiederum Schiller
die Gefahr anschaulich zu machen, in der sein Carlos schwebt, als seine
Unterredung mit der Königin jäh unterbrochen wird und der spanische
König an der Spitze seines ganzen Hofes, von allen seinen Granden
gefolgt, die Bühne betritt. Der Begriff des Lesedramas tritt uns hier in
seiner eigentlichen Bedeutung entgegen: es ist eine dramatisch empfundene,
aber nicht für die Bühne gedachte Dichtung, zu intim und innerlich, um
auf dem Theater wirksam zu werden; gleichwohl kann sie echt dramatisches
Leben enthalten und bei der Lektüre oder beim Vorlesen zum
intensiven Miterleben zwingen, wie das beim Tasso der Fall ist. Im gewöhnlichen
Sprachgebrauch wird der Ausdruck freilich mit einer gewissen
Geringschätzung gebraucht und auf Dichtungen angewendet, denen das
dramatische, vielleicht das dichterische Leben überhaupt fehlt, wie Uhlands
Herzog Ernst und seine zahlreichen Nachfolger.
Alle Dichter der Weltliteratur, von denen große dramatische Wirkungen
ausgegangen sind, vereinigen beide Arten, zu sehen und zu
bilden, und es ist interessant, wie in ihren verschiedenen Werken, oft
aber auch innerhalb derselben Dichtung in verschiedenen Szenen, bald
die Bühne, bald die Wirklichkeit herrscht. Es wäre verlockend, das Gesagte
an Shakespeare und Schiller, an Kleist und Hebbel zu veranschaulichen,
aber es würde zu weit von dem Gang unserer Betrachtungen abführen.
Nur auf Grillparzer will ich kurz hinweisen, weil sein Beispiel
besonders belehrend ist. Er beginnt in der Ahnfrau mit einem echten
Theaterstück, das ganz und gar von Bühnenphantasie beherrscht und getragen
wird, um in seinen letzten Tragödien besonders dem Bruderzwist
und der Libussa die Fühlung mit der Bühne mehr und mehr zu verlieren:
geschichtliche Bilder und die Versenkung in inneres Leben erfüllen diese
Dichtungen faßt ausschließlich. Die Werke seiner Glanzzeit jedoch, von
„Sappho“ bis „Weh dem, der lügt“, zeigen fast alle eine ausgeglichene
Verschmelzung von Bühne und Leben.
Es ist begreiflich, daß Dramen, die für die Bühne gedacht sind, bei
der Lektüre nicht völlig anschaulich werden können, wenn der Leser nicht
beständig das Theater vor seinem geistigen Auge sieht. Dies aber ist im
allgemeinen dem, der nicht Theaterpraktiker ist, schwer genug; daher man
aus der bloßen Lektüre fast niemals zum völligen Verständnis etwa Shakespeares
oder Ibsens gelangt und bei der Aufführung stets von einer Reihe
von Zügen überrascht wird, die uns beim Lesen entgangen sind. Selbst
die sehr ausführlichen Bühnenanweisungen, welche die meisten modernen
Dichter ihren gedruckten Dramen mitzugeben pflegen, sind nur ein kümmerliches
Mittel, um die Bühnenphantasie des Lesers anzuregen. ─
Das bisher dargelegte Verhältnis zwischen Bühne und Dichtung erklärt
nun eine weitere wichtige Erscheinung, die Tatsache nämlich, daß
dramatisch gedachte Vorgänge unter Umständen auf der Bühne unwirksam
bleiben, andrerseits aber manche Dichtungen im Theater Eindruck machen,
die ihrem inneren Wesen nach gar kein dramatisches Leben enthalten.
Die moderne Bühnenkunst zumal, die mit allen malerischen Effekten
ebensowohl wie mit den musikalischen zu rechnen weiß, vermag mit
ihren Mitteln ebensowohl einer lyrischen Stimmung zu Hilfe zu kommen
wie der spezifisch dramatischen Wirkung. Auf die innere Verwandtschaft
zwischen Lyrik und Drama hat schon Wilhelm von Humboldt hingewiesen.
Beide kommen darin zusammen, daß sie innere Zustände darstellen
und lebendig machen; nur daß die Lyrik bei dem einzelnen verweilt,
ihn nach Seite des Gefühls und der Stimmung ausschöpft, während
das Drama in schneller Entwicklung von einem zum anderen hinüberstrebt
und den Zuschauer mitreißt. Daher hat denn die dramatische
Dichtung aller Zeiten lyrische Momente aufgenommen, Stellen, wo der
Zuschauer längere oder kürzere Zeit verweilen, für eine kurze Zeit zu
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Atem kommen, sich auf der erreichten Stimmung gleichsam ausruhen und
wiegen kann. Es ist viel zu selten anerkannt worden, wie stark sich
Schiller auf diese Kunst versteht, mit welcher Kraft und Tiefe der Stimmung
er besonders seine Katastrophen vorzubereiten und durchzuführen
weiß. Man denke an die unheimliche Schwüle der Dämmerstunde, in der
Ferdinand mit dem Gift zu Luisen kommt, oder an die Trimeterszene
in der Braut von Messina, in welcher Don Cäsar seinen Entschluß, zu
sterben, dem Chor verkündet! und mit welcher Feinheit und Weichheit
der Farbe zeigt uns der 5. Akt von Wallensteins Tod den Helden ganz
von menschlichen Empfindungen erfüllt, dem verlorenen Lebensstern, dem
toten Freunde nachtrauernd! Alle diese Szenen sind im starken Gegensatz
zu der leidenschaftlich bewegten Handlung entworfen und empfunden, die
kurz vorher noch die Bühne erfüllte und gleich darauf zur entscheidenden
Katastrophe einsetzt. Selbst dem leidenschaftlich fortreißenden Temperament
Shakespeares und Kleists fehlen solche Stellen nicht: Ophelias Tod
und die Mondnacht in Belmont, die Szene unter dem Hollunderbusch und
so manche Stellen der Penthesilea zeigen das.
Freilich erst da, wo sie sich mit der Musik verbindet, kommt diese
lyrische Wirkung zu voller Stärke. Die Chöre und Melodramen der antiken
Tragödie zeigen das. Die Oper ist als eine eigene Gattung ganz
und gar aus dem Gefühl hierfür hervorgegangen; sie beruht auf dem Bestreben,
dramatisch gegebene Situationen lyrisch zu verwerten und auszuschöpfen.
Allein sie verfuhr dabei höchst einseitig. Das dramatische
Element vernachlässigte sie oder scheute sich doch niemals, es zu beeinträchtigen,
und zwar nicht bloß um der lyrisch musikalischen Wirkung
willen, sondern auch zugunsten eines unkünstlerischen Beiwerks dekorativer
und balletmäßiger Effekte. Seit Gluck freilich machte sich in der
deutschen Oper eine Gegenströmung geltend, und auf dem Gipfelpunkt
einer längeren Entwicklungsreihe unternahm es Richard Wagner, das musikalische
Drama im vollen Sinne des Worts an Stelle der Oper zu setzen:
eine Erneuerung der antiken Tragödie mit ihren dramatischen und lyrischen
Wirkungen, auf die Mittel des modernen Orchesters der modernen Bühne
gestützt. Aus dem unkünstlerischen Gemengsel der alten Oper gestaltete
er ein konsequentes Zusammenwirken mimischer, orchestraler und musikalisch-deklamatorischer
Künste. Seiner durchaus dramatischen Gestaltungskraft,
seiner ungewöhnlich originellen Bühnenphantasie ist es in den meisten
seiner Werke tatsächlich gelungen, ein solches Zusammenwirken zustande
zu bringen, während das dramatische Element das herrschende blieb, ─
nur etwa im Tristan überwiegt das lyrische, seinerseits zur höchsten Wirkung
gesteigert. Freilich im Laufe eines Menschenalters hat es sich bereits gezeigt,
daß nur die singuläre Begabung eines einzelnen schöpferischen Künstlers ein
solches Kunstwerk ermöglicht hat. Eine Neugeburt der ganzen Bühnenkunst,
wie sie Wagner erhoffte, ist aus seiner Wirksamkeit nicht hervorgegangen.
Die lyrische Wirkung auf der Bühne ist nun freilich auch ohne Musik,
oder wenigstens ohne entscheidende Mitwirkung des musikalischen Elements,
durch das gesprochene Wort und die dekorative Kunst allein zu erreichen.
Und es ist daher zu begreifen, daß moderne Dichter sich der Aufgabe
zugewandt haben, unterstützt von feinfühligen Regisseuren und phantasievollen
Theatertechnikern, die Kunst der Stimmung auf der Bühne zur Herrschaft
zu bringen. Am ausgesprochensten ist dieses Streben bei Maeterlinck,
dessen Bühnenkunst auf jede eigentliche Handlung, auf jeden Ansatz zur
dramatischen Charakteristik verzichtet und ganz darauf gerichtet ist, den
Stimmungsgehalt einer dargestellten Situation, bisweilen auch einer Reihe
von solchen, durch die Künste der Bühne zur Geltung zu bringen. Es
ist ihm dies auch zweifellos in einigen seiner Stücke gelungen, und es
geht von solchen Bühnendichtungen eine starke, wenn auch rein momentane
Wirkung aus, aber sie ist durchaus opernhaft, und es bleibt bei der Gedankenarmut
und der absichtlich gesuchten sprachlichen Simplizität dieser Werke
kein Eindruck zurück, der uns um eine echte Dichtung bereichern könnte.
Es sind nur Elemente einer solchen, was wir empfangen und mitnehmen,
ein schattenhaftes Spiel, kein wirklich gestaltetes Kunstwerk ist es, was an
unseren Augen vorüberzieht.
Zu den Dichtern, die mit einem ausgesprochenen Bühnensinn eine
poetische Begabung verbinden und denen gleichwohl das dramatische
Temperament abgeht, gehört auch Gerhart Hauptmann. Seine Dichtungen
sind entweder lyrisch oder episch empfunden, aber ein eigentümlicher Theaterinstinkt
treibt ihn immer wieder zur Bühne und weiß durch starke äußere
Effekte das fehlende dramatische Leben zu ersetzen. Wo es wesentlich
Stimmungsgemälde, lyrisch empfundene Bühnenbilder sind, die er uns vorführt,
empfinden wir immerhin den Hauch echter Poesie, wenn auch kein
dramatisches Leben. So ergreift uns in Hanneles Himmelfahrt das Leiden
und der Traum eines sterbenden Kindes, in einigen Szenen der versunkenen
Glocke das phantastische Spiel der Naturgeister. Wo jedoch der Dichter
es unternimmt, auf die Bühne zu verpflanzen, was einer episch gestaltenden
Phantasie allein eignet, wo ihm die Handlung ganz und gar aus dem
Milieu hervorwächst, wo statt eines wollenden und handelnden Helden
eine leidende, von Instinkten bewegte Masse Träger der Entwicklung ist,
da verläßt ihn die dichterische Wirkung und er vermag sie nur durch die
stärksten äußeren Effektmittel zu ersetzen. Klagende Frauen, wimmernde
Kinder, Schüsse, ein plötzlicher Todesfall: dergleichen versagt auf der
Bühne nie. Und es sind wesentlich solche Mittel, denen die Weber ihren
ungewöhnlichen Erfolg verdanken; ─ hinzu kommt freilich noch die werbende
Kraft des sozialen Grundgedankens, der aber keineswegs künstlerisch
vertieft erscheint. Bezeichnend ist es, daß der Florian Geyer, der mit denselben
Mitteln zu wirken sucht, dem aber die Aktualität des Weberstoffes
fehlt, nirgends Fuß gefaßt hat. Und nicht wesentlich anders steht es da,
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wo der Dichter versucht, sich einzelne Charaktere aus ihrem Milieu entwickeln
und vor unsern Augen ausleben zu lassen; hier ist es zumeist die
dankbare Aufgabe, die dem Schauspieler gestellt wird, was Stücken wie
Kollege Krampton, Rose Bernd und Fuhrmann Hentschel ihren Bühnenerfolg
schafft. Es ist bezeichnend, daß sie beim Lesen völlig kalt lassen.
Und doch würden die meisten dieser Gestalten, mit der starken und eigentümlichen
Fähigkeit zum Nachempfinden des Volkslebens, die Hauptmann
besitzt, wahrscheinlich zu echt dichterischer Wirkung kommen, wenn sie
etwa in Novellenform episch behandelt wären. Auf der Bühne werden sie
trotz ihres Modeerfolgs schwerlich ein langes Leben führen. Denn die
epische Poesie ist einmal dem Theater innerlich fremd, weit fremder als die
lyrische Dichtung mit ihren Stimmungswirkungen. Es gilt das nicht nur von
den viel berufenen Erzählungen auf der Bühne, mit welchen technisch unbeholfne
Schriftsteller die Handlung ersetzen, ─ spärlich verwandt, können
solche Erzählungen sogar starke Wirkungen hervorbringen, wie denn die
griechische Tragödie sie liebte, und auch Schiller, der doch genau wußte,
was im Theater Eindruck macht, sie gern verwandte. Aber auch diese
Wirkung beruht darauf, daß das, was erzählt wird, dramatisch gesehen ist,
und selbst wenn die Erzählung rhetorisch ausgestaltet ist, doch mit jener
Konzentration auf das eigentliche Geschehen, mit jener innerlichen Atemlosigkeit,
die dem Drama eignet, vorgetragen und gehört wird. Man kann
weit eher dramatische Wirkungen in epischen Formen erreichen als umgekehrt.
Episch aber ist alle Verbreitung ins Detail; epischer Natur sind
alle Gewebe, die aus den zahlreichen zarten Fäden gesponnen sind, die
den Einzelnen mit seiner Umwelt verbinden.
Was Hauptmann vergebens erstrebte, diesen Gegensatz zu überbrücken,
das ist nun freilich einem Größeren gelungen. Man hat Henrik Ibsen,
denn er ist dieser Größere, vorgeworfen, daß seine Dramen oder wenigstens
ein Teil derselben keine Dramen, sondern dialogisierte Romankapitel seien.1)
Und in der Tat läßt es sich nicht bestreiten, daß die bedeutendsten Dichtungen
seiner späteren Periode: Nora, Gespenster, Rosmersholm, zum größeren
Teil Probleme behandeln, die ihrer Natur nach nur dem Epiker zugänglich
zu sein scheinen. Es ist durchaus Entwicklung, was er im Auge hat,
Entwicklung von Charakteren und Situationen, und sie ist noch dazu
überall in engstem Zusammenhang mit dem Milieu gedacht und gesehen.
In der Tat sollte man glauben, daß nur der Epiker, der Romandichter
uns die innere Geschichte Noras, Frau Alvings, Rebekka Wests anschaulich
und glaublich machen könnte. Aber durch eine ganz eigenartige
Technik, die ihrerseits einer entschieden dramatischen Phantasie und zugleich
ausgesprochenem Bühnensinn entsprungen ist, vermag es Ibsen, den
Widerspruch zu überwinden.
Die älteren Dramen, klassische sowohl wie moderne, führen uns zumeist
eine Handlung in ihrem ganzen wesentlichen Verlauf vor. Sie nehmen,
wie das nicht anders möglich ist, bestimmte Anfangsglieder und gegebene
Situationen als Voraussetzungen auf, aber auf dieser in der Exposition gegebenen
Voraussetzung schürzen sie den Knoten vor unseren Augen, dessen
Lösung der Schluß des Dramas bildet. Nur einige wenige Dramen der
Weltliteratur sind anders komponiert: der Knoten ist vor Beginn der Handlung
geschürzt, die Verwicklung gegeben, und das Drama bringt nur die
Lösung. Schritt für Schritt wird die Vergangenheit enthüllt, die Spannung
des Zuschauers richtet sich nicht sowohl auf das, was geschieht, als auf
das, was längst geschehen ist, und die dramatische Steigerung beruht
darauf, daß die Vergangenheit immer klarer hervortritt, zugleich aber auch
in ihrer unheilvollen Bedeutung für die Gegenwart immer deutlicher erkannt
wird. Die vollständige Enthüllung bedingt zugleich die Katastrophe. Es ist
bekanntlich der König Ödipus, der diesen Typus dramatischer Komposition
geschaffen hat; nach ihm gebildet ist die Braut von Messina, und ihr folgen
wiederum ─ wenn auch in weitem Wertabstand ─ die Schicksalsdramen
des beginnenden 19. Jahrhunderts, am deutlichsten Müllners Schuld. Aber
in all diesen Enthüllungsdramen handelt es sich um sehr greifbare äußere
Taten und Schicksale, um alte Verschuldungen, die das Geheimnis deckt
und die Sühne fordern, sobald sie ans Tageslicht kommen. Die Robustizität,
fast möchte man sagen, die Brutalität des Geschehenen, der Tatsachen,
die aus der Vergangenheit hervor die Gegenwart bedrohen, ist im König
Ödipus bis zu einer kaum erträglichen Stärke geführt, in der Braut von
Messina zwar gemildert aber eben dadurch phantastischer und unwahrscheinlicher
geworden.
Die Form der Enthüllungstragödie hat sich Ibsen angeeignet, aber er
hat sie im höchsten Maße verfeinert, auf das psychologische Geschehen, die
innere Entwicklung übertragen und dadurch im modernen Sinne lebendig gemacht:
auf diese Weise hat er das Mittel gefunden, um eine innere Entwicklung
dramatisch zu gestalten. Was wir erleben, was wir mit atemloser Spannung
auf der Bühne sehen, ist immer nur vergangene Seelengeschichte, die in
einem entscheidenden Augenblick enthüllt und dadurch wieder zur Gegenwart
wird, zur tragischen Gegenwart, denn sie führt fast stets eine unvermeidliche
Katastrophe herbei wie in Nora und Rosmersholm, oder erklärt
dieselbe doch, wie in den Gespenstern. Daß freilich an der vollen Anschaulichkeit,
mit der eine innere Entwicklung im Roman vor unser geistiges
Auge treten kann, immerhin etwas fehlt, ist nicht zu leugnen. Die Umwandlung
Rebekkas müssen wir einfach glauben, und Frau Alwings Empfinden
dem ungeliebten Gatten und dem geliebten Freunde gegenüber ist keineswegs
in allen seinen Fasern dargelegt. Dafür aber gewinnt der Dichter
den Reiz eines wirklich dramatischen Geschehens, das in dem Vorgang der
Enthüllung liegt, und eine dramatische Macht der Katastrophe, die im Roman
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schwerlich gleich wirksam sein würde. Nur in den späteren Dramen, die
mit nachlassender Kraft geschrieben sind, besonders in John Gabriel Borckmann,
fehlt die zwingende Kraft, mit der die Vergangenheit lebendig wird,
und damit bleibt die dramatische Wirkung aus.
Diese souveräne Technik nun aber ist Ibsen so eigentümlich, wie
Richard Wagner die seinige, und nur durch ein ebenso singuläres Zusammentreffen
epischer und dramatischer Begabung zu erklären wie Wagners Kunst
aus der musikalisch dramatischen. So bleiben die beiden Dichter, die dem
modernen Drama nach zwei verschiedenen Seiten hin die stärkste Steigerung
verliehen haben, notwendig Einzelerscheinungen.
Der Unterschied zwischen Entwicklungs- und Enthüllungsdrama, wenn
diese Ausdrücke gestattet sind, gibt uns Veranlassung, die Kompositionsformen
des Dramas überhaupt einer kurzen Betrachtung zu unterziehen.
Auf die technischen Einzelheiten freilich können wir nicht eingehen, sie
gehören in die spezielle Dramaturgie, und man mag sich darüber aus G.
Freytags Technik des Dramas oder in speziellerer Fassung aus Bulthaupts
Dramaturgie1) orientieren. Wohl aber müssen wir uns über die Verschiedenheit
der künstlerischen Grundrichtung klar werden, welche für die Entwicklung
der modernen dramatischen Form von entscheidender Bedeutung
geworden ist.
Jede wahrhaft dramatische Dichtung (wenn auch, wie wir sahen, nicht
jedes Bühnenstück) geht ihrem Wesen nach darauf aus, eine Handlung
darzustellen, an der sich die Charaktere der Personen offenbaren. Die Verkettung
zwischen Charakter, Taten und Leiden bilden ein für allemal die
innere Form jeder dramatischen Entwicklung. Ist dem nun so, und der
gesamte Verlauf unserer bisherigen Betrachtung hat es erwiesen, so erscheint
es müssig zu fragen, was für die Tragödie wichtiger sei, die Handlungen
oder die Charaktere. Gleichwohl hat bereits Aristoteles im sechsten Kapitel
der Poetik diese Frage diskutiert, und sie hat für die Entwicklung des
neueren Dramas, besonders aber für den Kampf um die deutsche Tragödie,
der im 18. Jahrhundert hauptsächlich von Lessing geführt worden ist, eine
geschichtliche Bedeutung. Ein Gegensatz der ästhetischen Auffassung, der
zu gleicher Zeit ein solcher des nationalen künstlerischen Geistes ist, tritt
darin hervor. Aristoteles erklärt sehr entschieden, daß auf Handlung und
Komposition mehr Gewicht zu legen sei, als auf die Charakteristik, ja, er
behauptet, ohne Handlung könne es keine Tragödie geben, wohl aber ohne
ausgeführte Charaktere.2) Was hier zum Ausdruck kommt, ist offenbar ein
H. Bulthaupt, Dramaturgie des Schauspiels. 4. Bde. Oldenburg und Leipzig,
zul. 1902─4.
Poetik Kap. 6: Die Tragödie ist eine nachahmende Darstellung nicht von Personen,
sondern von Handlungen und Leben. ─ Und somit hat denn der tragische Dichter
nicht handelnde Personen einzuführen, um ihre Charaktere zur Darstellung zu bringen,
sondern in und mit der Handlung auch die Charaktere zu umfassen. Folglich sind die
Geschmacksurteil und zwar steht dasselbe durchaus im Einklang mit der
überlieferten Praxis der griechischen Tragödie. Die großen attischen Tragiker
suchen ihre Wirkung nicht durch tiefe Einblicke in das Innenleben
ihrer Personen, noch durch feinere Ausgestaltung individueller Charaktere
zu erreichen. Die Charakteristik bleibt durchweg im Typischen, wie das
denn auch bei einer dramatischen Kunst, deren Stoffe ausschließlich
mythischer Natur sind, nicht wohl anders sein kann. Dafür interessieren
sie ihr Publikum durch die Ausgestaltung der Handlungen, durch die
Macht der Situation, die sie zu erfinden oder auszuwählen wissen, und die
zwingende Verkettung der Taten und Umstände, die zur tragischen Katastrophe
führen. Nicht mit Unrecht hat man im König Ödipus den Höhepunkt
antiker Technik gesehen. Zugleich kommt es besonders darauf an,
die Situationen und Entwicklungen in künstlerischer Weise zu verwerten,
in sprachlicher Hinsicht den rhetorisch dialektischen Charakter, den die
Griechen so liebten, in musikalischer den Stimmungsgehalt zu vollem Ausdruck
zu bringen. Eine spannende und erschütternde Begebenheit in kunstvollster
Form darzustellen, das ist Ziel und Wesen der griechischen Tragödie.1)
Noch ausschließlicher trägt die klassische Dichtung der Franzosen
den Charakter einer Formenkunst. Die Freude an der Schönheit des
Sprachklangs, die allen romanischen Völkern gemeinsam ist, der Sinn für
eine zugleich nüchterne und doch grandiose Regelmäßigkeit des Baus,
der dem französischen Geschmack eignet, sucht hier Befriedigung. Es ist
kein Zweifel, daß diese Kunst der antiken näher steht als der Geist der
germanischen Dramen, der bei Shakespeare zum Ausdruck kam und der
auch Lessing umschwebte, als er es unternahm, das deutsche tragische
Theater zu begründen. Der Hamburgische Dramaturg befand sich also
im Irrtum, wenn er glaubte, diese deutsche Kunst auf die Antike gründen
und zugleich die klassisch französische Dichtung ablehnen zu können.
Wie der germanische Kunstgeist, wo er zu echtem und reinem Ausdruck
kommt, überall dem Charakteristischen zustrebt, so tritt auch bei
Shakespeare das Interesse für die Charaktere, für das psychologische Geschehen
weit stärker hervor, als das für die Kunstmäßigkeit der Form oder
einer raffiniert gestalteten Handlung, und daß auch Lessing den Hauptwert
auf die Charaktere legt, ergibt sich nicht nur aus Dramen, wie Minna
von Barnhelm und Nathan dem Weisen, sondern auch aus vielen theoretischen
Erörterungen in der Dramaturgie. So z. B. wenn er vom historischen
Drama verlangt, daß dem Dichter die Charaktere heilig seien, mit den
Begebenheiten und die Fabel der Endzweck der Tragödie. ─ Ohne Handlung kann es
keine Tragödie geben, wohl aber ohne Charaktere (ἄνευ μὲν πράξεως οὐκ ἄν γένοιτο τραγῳδία,
ἄνευ δὲ ἠθῶν γένοιτ' ἄν).
Dementsprechend entwirft Aristoteles a. a. O. folgende Rangordnung für die Bestandteile
der Tragödie: Fabel, Charaktere, Gedanken, das Anschauungsbild auf der Bühne,
sprachlicher Ausdruck, musikalische Komposition.
Faktis könne er umspringen, wie er wolle; oder wenn er sich über die
raffiniert ausgestaltete Handlung der Rodogune mit boshaftem Spott aufhält.
Am entscheidendsten tritt dieser Gegensatz in dem Streit über die
Einheiten auf der tragischen Bühne hervor. Lessing behandelt die Einheitsregeln
der Franzosen, soweit sie Ort und Zeit betreffen, als belanglose
Äußerlichkeiten, die es nicht wert seien, daß ihnen auch nur ein kleinster
Teil des Inhalts geopfert werde. Und gewiß hat er dem pedantischen
Zwang gegenüber, mit dem diese Regeln auf dem französischen Theater
durchgeführt wurden, im einzelnen recht. Allein andrerseits übersah er
oder wollte übersehen, daß in dieser Strenge und Enge der Formengebung
doch ein ganz bestimmter Kunstgeist zum Ausdruck kam, dem die Gesetze
der französischen Bühne durchaus entsprachen, und der in seiner Art berechtigt
und lebendig war, weil er aus dem nationalen Geschmack und
der Zeitrichtung des grand siècle hervorging. Nur daß dieser Geist durchaus
romanisch war und zu dem inneren Wesen germanischer Poesie in
schroffem Gegensatz stand. Dem strengen Formengefühl romanischer Kunst
entsprach es, daß das Gesetz der Einheit in schärfster Ausprägung durchgeführt
wurde. Es verlangt eine einfache, gradlinige Handlung, die ununterbrochen
zum bestimmten Ziel führt, nicht mehr Personen als notwendig
sind, um dies Ziel zu erreichen. Es verbietet, daß sich einzelne
Teile, auch wenn sie im Zusammenhang des Ganzen stehen, zu selbständiger
Wirkung, zu Episoden auswachsen; und dem entspricht es nur, wenn
die Handlung auch nach Raum und Zeit beschränkt wird. Daß sich die
französischen Ästhetiker zum Teil mit Unrecht auf den Aristoteles beriefen,
ist für die Sache offenbar unwesentlich. Sie suchten nur, wie alle Renaissancekunst
und -Dichtung, für ihre eigene Stilform die Anknüpfung an
das Altertum. Freilich wurde, was sich für die griechische Tragödie, bei
dem geringen Umfang der Stücke und bei den ebenso geringen technischen
Hilfsmitteln der Bühne, von selbst verstand, hier mit einer gewissen Willkür
und Gewaltsamkeit festgelegt und festgehalten; und die Fesseln, die der
dichterischen Phantasie auf diese Weise angelegt wurden, mußten auf die
Dauer notwendig zu Leere und Armut führen. Demgegenüber faßt die
germanische Kunst bei Shakespeare sowohl wie bei Lessing das Prinzip
der künstlerischen Einheit beträchtlich lockerer und läßt damit dem Dichter
einen viel weiteren Spielraum. Die Handlung der Tragödie greift weit
aus; sie umfaßt eine Fülle von Einzelheiten, die sich gern zu episodischer
Selbständigkeit entwickeln. Sie setzt fast stets eine größere Anzahl von
Personen in Bewegung, von denen mehrere ein Interesse für sich in Anspruch
nehmen. Sie beschränkt weder den Schauplatz noch die Zeit der
Handlung. Ja, die Episoden wachsen zuweilen zu einer zweiten Handlung
aus, die mit der Haupthandlung nur durch die eine oder die andere vermittelnde
Person oder einen ideellen Zusammenhang, nicht aber durch
irgend welche Notwendigkeit, die in der Handlung selbst liegt, verbunden
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sind. So die Fallstaff-Szenen in Heinrich IV., die Gloster-Handlung im
Lear, auch die Tragödie Max Piccolominis im Wallenstein, die der Dichter
freilich, so fest er es vermochte, mit der tragischen Entwicklung des Helden
selbst vernietet hat. Geradezu Prinzip der Komposition ist die Doppelhandlung
im Lustspiel geworden. Aus dem Bedürfnis einer fortschreitenden
und interessierenden Handlung einerseits, aus der Überlieferung der
Clownrolle andrerseits, auf die das Publikum, vielleicht auch der Dichter,
nicht verzichten mochte, entstand auf der englischen Bühne die Gewohnheit,
Szenen ernsthaften Inhalts oder feinerer Komik mit Auftritten drastisch
derben Humors abwechseln zu lassen, und beide Reihen sind dann immer
nur durch äußere Fäden, durch eine oder die andere gemeinsame Person
oder verbindende Wendung verknüpft. So in Shakespeares Was ihr wollt,
in der bezähmten Widerspenstigen, im Sommernachtstraum und Viel Lärm
um nichts; im Kaufmann von Venedig ist der Parallelismus sogar ein dreifacher.
Auch das französische Lustspiel des 18. Jahrhunderts zeigt die
Doppelheit ernsterer und komischer Szenen, zumeist im Gegensatz zwischen
Herrschaft und Dienerschaft, und seit Lessings Minna von Barnhelm ist
diese Doppelheit der Handlung auf der deutschen Bühne so üblich geworden,
daß nur wenige umfangreichere Lustspiele einen schlanken und
einfachen Gang der Handlung zeigen: unter den klassischen Komödien
besonders Kleists Zerbrochener Krug und Grillparzers „Weh' dem, der lügt!“.
Im allgemeinen haben die deutschen Dramatiker von Lessing an den
Mittelweg zwischen dem allzu streng bindenden Formengesetz der Franzosen
und der bisweilen allzu lockeren Kompositionsweise Shakespeares
gesucht, und sie haben recht daran getan. Das moderne Milieudrama jedoch
ist aus inneren Gründen zu der strengeren Fassung der Einheit
zurückgekehrt. Insbesondere für Ibsens Dramatik, wie sie vorhin charakterisiert
worden ist, ergibt sich die Einschränkung nach Ort, Zeit und Personenzahl
nicht nur zumeist selbstverständlich aus dem Inhalt und der
Form der Enthüllungstragödie, sondern sie gereicht auch dem künstlerischen
Gesamteindruck zum wesentlichen Vorteil. Wenn der Dichter vor
allem Gefühl und Verständnis dafür erwecken will, wie die Charaktere und
Handlungen seiner Personen aus ihrer Umwelt erwachsen, so kann er
offenbar nichts Besseres tun, als auch die Zuschauer für die Dauer des
Stückes in dem Bannkreis dieser Welt festzustellen. Wir leben einige
Stunden oder Tage in dem bestimmten Umkreis, dem die handelnden Personen
angehören, wir atmen drei Akte hindurch die beklemmende Fjordluft
der Gespenster, die mit leisem Moderduft durchzogene vornehme
Atmosphäre von Rosmersholm. Eine Intimität des Nachempfindens und
Miterlebens bis in die kaum ausgesprochenen Einzelheiten hinein wird
hierdurch ermöglicht, die in weiter ausgreifenden Kompositionen, wo mehr
Menschen und verschiedene Schauplätze an uns vorüberziehen, ein für
allemal nicht erreicht werden kann.
Mit dem Unterschied der drei Gattungen ist zweifellos eine wesentliche
Verschiedenheit der formenbildenden Dichterphantasie, ihrer Schöpfungen
und Wirkungen gegeben, und die klassifizierende Poetik verfuhr nicht
ohne Fug und Recht, wenn sie diese Verschiedenheit ihren Einteilungen
zugrunde legte. Allerdings wird nicht jedes Gedicht restlos in einer der
drei Gattungen unterzubringen sein; vielmehr werden die meisten größeren
Dichtungen epischer und besonders dramatischer Art Stellen enthalten,
die den Charakter einer der beiden anderen Gattungen tragen. Doch es
wäre falsch, aus diesem Grunde dem Gattungsunterschied überhaupt die
Bedeutung abzusprechen, wie das neuerdings bisweilen geschehen ist.1)
In der klassischen Poetik freilich tritt uns die umgekehrte Übertreibung
entgegen. Wenn wir in Schillers und Goethes Briefwechsel sehen, mit
welcher skrupulösen Gewissenhaftigkeit beide Dichter auf die Reinheit der
Gattung achten, wie etwa Goethe den Modernen den Vorwurf macht, „daß
sie die Genres zu sehr zu vermischen geneigt sind“ und als ein Beispiel
dafür sein eigenes Gedicht Hermann und Dorothea anführt, das sich „von
der Epopöe entfernt und dem Drama annähert“, wenn man andrerseits sieht,
welche Mühe sich Wilhelm v. Humboldt gibt, um gerade im Gegenteil
nachzuweisen, daß das Goethesche Epos genau den Begriff seiner Gattung
erfüllt, so bemerkt man, daß hier eine übertriebene, ja falsche Vorstellung
von der Bedeutung und dem Werte der Gattungsunterschiede zugrunde
liegt. In der Tat ist es offenbar, daß die klassische Poetik, von Lessings
Streit um die Tragödie bis auf Humboldts Erörterungen über die epische
Poesie, den einzelnen Dichtungsarten spezifische Wirkungen zuschreibt,
die sie nicht nur formal, sondern auch dem Inhalt und der ethischen
Bedeutung nach voneinander unterscheiden sollen. Charakteristisch ist
z. B. der Satz bei Humboldt (a. a. O. S. 240): „Unter allen Dichtern steht
der epische auf dem höchsten Standpunkt und genießt der weitesten Aussicht,
und unter allen Dichtungsarten ist die epische am meisten fähig, den
Menschen mit dem Leben zu versöhnen und ihn für das Leben tauglich
zu machen.“ Wie sonderbar liest sich diese Behauptung für uns, die wir
Goethes Faust bis zum Abschluß kennen und damit nicht in Zweifel sein
können, welcher Gattung das Gedicht angehört, von dem die Wirkung,
die Humboldt schildert, am stärksten und allgemeinsten ausgeht!
Wie das übertriebene Gewicht, das auf die Bedeutung der Gattungsunterschiede
gelegt wurde, so entspringt auch die Frage, welche Gattung
die zeitlich erste gewesen sei, einer irrtümlichen Auffassung. Zwar auch
heute noch hört man die Behauptung nicht selten, daß alle Poesie mit
So z. B. F. Gregory in einem Aufsatz, der mancherlei Beachtenswertes enthält
(Wesen und Wirken der Lyrik. Österreichische Rundschau Bd. II S. 406, 407): „Die
schulmäßige Dreiteilung der Poesie ist ein armseliger Notbehelf aus Bequemlichkeitsrücksichten.“
der Lyrik angefangen und die übrigen Gattungen sich aus dieser entwickelt
hätten. Im Gegensatz zu dieser alt verbreiteten Meinung suchte
Wackernagel (Poetik S. 42 ff.) eingehend nachzuweisen, „daß die epische
Poesie die älteste und daß alle Poesie zuerst nur episch gewesen“ sei.
Allein die junge Wissenschaft der Anthropologie, die der Betrachtung
menschlicher Entwicklung unabsehbare Fernblicke eröffnet hat, lehrt uns
mit allen Ursprungsfragen vorsichtig und mehr als dies zu sein. Sie zeigt
uns, daß die Vorstellung, die sich frühere Gelehrte von ursprünglichen
Zeiten und Menschen gemacht haben, zum größten Teil falsch, ja phantastisch
waren und daß, was an Sprache und Sitte, an Sage und Dichtung
für ursprünglich gehalten wurde, tatsächlich zumeist eine unabsehbar
lange Entwicklung hinter sich hat. Was nun aber die ältesten Erzeugnisse
der Poesie anbetrifft, von denen wir wissen, so scheint es, daß dieselben
keine der drei Gattungscharaktere deutlich zum Ausdruck bringen, vielmehr
in gewissem Sinne allen dreien gleichmäßig angehören. Die Tanzlieder
und religiösen Kultgesänge, von denen zu Anfang des 9. Abschnitts (S. 93)
die Rede war, enthalten zum größten Teil dramatische wie lyrische und
epische Elemente, und erst allmählich, wie sich die Poesie zur selbständigen
Bedeutung entfaltete, sonderten sich die einzelnen Gattungscharaktere von
einander ab. Besonders traten lyrische und epische Gedichte deutlich als
solche heraus, während das Drama, wie uns der vorige Abschnitt gezeigt
hat, stets lyrische und epische Partien beibehielt. ─
Ist die Poesie ursprünglich nur eine, entspringen ihre Gattungen bei
aller Verschiedenheit der Funktionen, in welchen der formenbildende Trieb
sich äußert, doch nur einer gestaltenden Grundtätigkeit der Phantasie, so
ist verständlich, daß es Dichtungsformen gibt, in denen die Charakterzüge
der verschiedenen Gattungen nicht nebeneinander, wie eben vom
Drama gesagt wurde, sondern miteinander verbunden, ja verschmolzen auftreten:
lyrische und epische, epische und dramatische Eigenart, ja bisweilen
alle drei fließen hier ineinander über. Solche Gedichte bilden somit
vermittelnde Zwischenformen; sie sind bedeutungsvoll und belehrend, weil
sie besonders deutlich zeigen, daß die Grenzen, welche die Begriffe der
Poetik wie die Sphären der Poesie voneinander trennen, nicht mechanisch
starr und fest, sondern lebendig fließend sind.
Den einfachsten Typus einer solchen Zwischenform zeigt die sogenannte
Rollenlyrik, wie sie z. B. die Frauenstrophen mittelalterlicher Sänger
und viele entsprechende Gedichte moderner Dichter darstellen. Um an
einige der bekanntesten zu erinnern: Chamissos Frauenliebe und Leben,
desselben Dichters Zyklen „Tränen“ und „Die Blinde“, etwa die Hälfte der
Verse in Rückerts Liebesfrühling, Goethes „Nähe des Geliebten“ (abgedruckt
oben S. 124), Mörikes Verlassenes Mädchen. Diese Gedichte gehören zweifellos
der Lyrik an: sie schildern nur innere Zustände, Gefühle und Gedanken,
und durch diese Innerlichkeit unterscheiden sie sich von der gegenständlichen
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Dichtung. Aber es sind nicht seine eigenen, nicht unsere Gefühle
und Zustände, die der Dichter ausspricht, sondern die einer Gestalt seiner
Phantasie, die wir uns gegenständlich vorstellen müssen: das ist wiederum
dramatisch. Der Dichter versenkt sich ganz und gar in das Innere eines
Menschen, in dessen Situation ihn seine Phantasie versetzt: wie etwa Chamisso
in den Zustand des blinden Mädchens oder der Jungfrau, die dem
ungeliebten Gatten hat folgen müssen („Tränen“). Wie nahe diese Art der
Lyrik dramatischer Gestaltung kommt, zeigen die sogenannten Monodramen
des 18. Jahrhunderts, von denen Goethes Proserpina das bekannteste ist,
besonders aber auch die Gedichte in Gesprächsform, wie sie wiederum
Goethe liebt. Sein Wanderer ist ein unerreichbar schönes Beispiel dieser
Art: zwei typisch verschiedene Menschen werden einander gegenübergestellt;
jeder zeigt sich ganz, wie er ist und empfindet; sogar eine innere
Entwicklung bleibt nicht aus. Zum dramatischen Gedicht fehlt nur die
Handlung.
Noch entschiedener bahnt den Übergang zur dramatischen Form die
sogenannte Maskenlyrik an, das Gegenstück zu der bisher betrachteten
Rollendichtung. Redet hier eine fremde Person aus dem Munde des
Dichters, so spricht dort der Dichter seine eigenen Gefühle und Zustände
durch fremden Mund aus. Es ist subjektive Poesie in dramatischer Form,
wie man umgekehrt die Rollenlyrik dramatische Dichtung in lyrischer Gestalt
nennen könnte. Die meisten Monologe in Goethes Faust, vor allem
der in Wald und Höhle „Erhabener Geist du gabst mir, gabst mir Alles“,
aber auch der in der Osternacht „Wie nur dem Kopf nicht alle Hoffnung
schwindet“ und der gewaltige Schlußmonolog geben anschauliche Beispiele. ─
Am eigenartigsten ausgeprägt ist der Charakter der Zwischenform,
zu welcher die verschiedenen Gattungen verschmelzen, in der Ballade. Der
irreführende romanische Name, der „Tanzlied“ bedeutet, ist durch ein Mißverständnis
auf eine Art von Dichtung übertragen, die mit dem Tanzlied
an sich nicht mehr zu tun hat als irgend eine andere Form der Poesie,
und die noch dazu im Norden weit mehr zu Hause ist als in südlichen
Ländern. Aus dem Altertum ist uns kein Gedicht überliefert, das in diese
Kategorie gehört. Dagegen tragen eine ganze Anzahl von Eddaliedern
den ausgesprochenen Balladencharakter (vgl. S. 153): man denke an Odins
Ritt zur Wala (Baldurs Traum), an Brynhilds Fahrt zu Hel und viele
andere. Ebenso hat das Volkslied späterer Jahrhunderte, besonders das
englische und deutsche ihn mit Vorliebe gepflegt. Erst mit dem wiedererwachenden
Interesse für die Volksdichtung ist die Ballade in die moderne
Kunstpoesie eingedrungen, durch Herder und Bürger eingeführt, durch
Goethe und die Romantiker zur Vollendung gebracht. Sie bildet daher
schon ihrem geschichtlichen Ursprung nach ein interessantes Gegenstück
zu den meisten Formen der klassischen Dichtung, die der Renaissance oder
dem Altertum entstammen.
Man pflegt die Ballade meist als ein episch-lyrisches Gedicht zu bezeichnen,
und in der Tat ist das Vorherrschen des Stimmungsgehalts in
diesen Gedichten ebenso unverkennbar, wie die epische Grundlage. Eine
episch gegebene Situation, oder eine Reihe von solchen, wird nach ihrem
Gefühlsinhalt ausgeschöpft und zwar so, daß das Ganze sich zu einer
durchaus einheitlichen Stimmung zusammenschließt, die dann auch in einer
festgeschlossenen, oft liedmäßigen Form zum Ausdruck kommt. Allein ebenso
deutlich ist, daß dieser Form fast stets auch ein mehr oder weniger dramatischer
Charakter eignet. Schon durch die Konzentration auf die Hauptmomente
der gegebenen Lage und Handlung, die jede epische Breite und
Anschaulichkeit ausschließt und alles äußere Geschehen nur andeutet, oft
genug sogar im Halbdunkel läßt, wird die Ballade der dramatischen Szene
angenähert. Und enger noch wird diese Verwandtschaft dadurch, daß es auch
in der Ballade fast stets Gegensätze innerer und äußerer Natur sind, die
einander schroff gegenüber gestellt werden: aus dieser Kontrastwirkung
geht eine einheitliche Gesamtstimmung zumeist düsterer, oft tragischer
Färbung hervor. Daher erklärt es sich, daß in den meisten Balladen die
Dialogform herrscht; viele, darunter eine Anzahl besonders eindrucksvoller,
bestehen nur aus einem Dialog ohne jedes erzählende oder erläuternde
Wort, so die berühmte Musterballade „Edward“, so Eichendorffs „Waldesgespräch“.
In vielen anderen ist das epische Element auf Einleitung
und Schluß beschränkt und besteht oft nur aus wenigen einführenden und
abschließenden Worten, wie im Erlkönig, in Uhlands Bertran de Born;
aber auch da, wo die Erzählung mehr Raum einnimmt, steht doch zumeist
ein Dialog im Mittelpunkt des Ganzen. So schon in dem eben angeführten
Eddalied von Odins Ritt zur Wala, so in Goethes Fischer, dem getreuen
Eckart. In anderen freilich bildet eine entscheidende Handlung den
Mittelpunkt, und hier wird denn begreiflicherweise der Dichter genötigt, im
eigenen Namen zu erzählen; so in den meisten Uhlandschen Balladen:
das Glück von Edenhall, des Sängers Fluch, der blinde König, in Heines
Belsazar, Platens Grab im Busento. Charakteristisch aber ist es, daß in
nahezu all diesen Gedichten der Dichter in der Gegenwart spricht oder
doch, wenn er die Erzählung im Präteritum begonnen hat, auf dem Höhepunkt
stets in das Präsens überspringt.
Denn dies ist offenbar das innere Wesen der Ballade, daß die Grenze
zwischen Vergangenheits- und Gegenwartsdichtung verwischt ist und das
Nacherleben unmittelbar zum Miterleben wird. Die gestaltende Phantasie
des Erzählers wird so von ihren Bildern hingerissen, dass sie die epische
Form durchbricht und dramatisch wird; das lyrische Element bildet dann
gewissermaßen den Ausgleich zwischen den beiden anderen Gattungscharakteren.
Es liegt im Wesen der Zwischenform, daß sie sich bald der einen,
bald der anderen Gattung entschiedener anzunähern vermag. Die Balladen
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der Romantiker, besonders Brentanos und Eichendorffs, tragen nicht selten
einen ausgesprochenen lyrischen Charakter: der gegenständliche Inhalt
wächst hier erst aus der Stimmung hervor, nicht umgekehrt, wie bei den
bisher erwähnten Gedichten. Ein Beispiel ist das Eichendorffsche Gedicht
„Der stille Grund“. Die Nixe, die den nächtlichen Wanderer in
ihre Kreise lockt, ist nichts als die Verkörperung der mondbeglänzten Nacht,
welche die Menschen wie die Täler weit und breit verwirret. ─ Andrerseits
ist eine Verbindung des Balladenhaften mit der eigentlich epischen
Erzählung ebenso wohl möglich, und die meisten großen und ausgeführten
Balladen Goethes stellen eine solche dar. Dabei kann selbst in längerer
Erzählung der dramatisch-lyrische Charakter überwiegen, wie das in Goethes
Gott und Bajadere, aber auch schon in Bürgers Leonore der Fall ist. Es
können aber auch rein epische und echt balladenhafte Teile eines Gedichts
nebeneinander stehen, und die Kunst des Dichters zeigt sich eben darin,
beide ohne fühlbare Diskrepanz ineinander überzuführen. Das Meisterstück
dieser Gattung ist die Braut von Korinth. Der Anfang setzt vollkommen
episch ein (siehe oben S. 82 f.); und die Erzählung wahrt diesen
Charakter, bis sie mit der sich entflammenden Leidenschaft des Jünglings
allmählich die beschauliche Ruhe aufgibt und selbst dramatische Färbung
annimmt. Aber auch noch im Moment der höchsten Steigerung weiß der
Dichter eine sehr glückliche Kontrastwirkung zu erreichen, indem er plötzlich
retardierend in den epischen Ton zurückfällt:
Häuslich spät die Mutter noch vorbei,
Horchet an der Tür und horchet lange,
Welch ein sonderbarer Ton das sei.
Klag- und Wonnelaut
Bräutigams und Braut
Und des Liebesstammelns Raserei.
Unbeweglich bleibt sie an der Türe,
Weil sie erst sich überzeugen muß ....
Schillers poetische Erzählungen dagegen gehören durchweg, mit einziger
Ausnahme des Ritter Toggenburg und allenfalls des Tauchers, der
reinen Epik an; und wiewohl der Dichter gelegentlich versucht, durch
Weglassung von Namen und Nebenumständen ihnen etwas vom Charakter
der Ballade zu verleihen, so tragen sie gleichwohl diesen Namen mit
Unrecht.
In Goethes Dichtung können wir deutlich solche Balladen, die den
ursprünglich volkstümlichen Charakter rein bewahrt haben, von solchen unterscheiden,
denen durch Sprache und Ton, zum Teil auch durch den Inhalt
das Gepräge der Kunstpoesie aufgedrückt ist. Und dieser Unterschied läßt
sich durch die ganze weitere Geschichte der Balladendichtung verfolgen.
Auch bei Uhland tritt er hervor: der getragene Ton seiner vorhin angeführten
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Gedichte hebt sich scharf ab von dem volkstümlich schlichten
in „der Wirtin Töchterlein“, dem „Weißen Hirsch“ oder dem „Schifflein“.
Im ganzen wahrt die Ballade der Romantiker mehr die volkstümliche
Richtung, so, um einige der besten zu nennen, Heines Wallfahrt nach
Kevlaar und sein weniger bekannter, aber dichterisch fast ebenso hoch
stehender Ritter Olaf. Fontanes beste Balladen, wie Archibald Douglas und
der James Monmouth, entfernen sich nicht durch ihren Ton, wohl aber durch
die stark ausgeprägten Beziehungen auf die englische Geschichte vom volkstümlich
Deutschen. In den letzten Jahrzehnten ist die Balladendichtung
hohen Stils von Konrad Ferd. Meyer in einer Reihe von Gedichten ersten
Ranges durch neue Töne bereichert worden (Die Parze, die Ketzerin, das
Geisterross u. a.).
Ist es notwendig noch ein Wort über die sogenannte didaktische
Poesie anzufügen, oder dürfen wir diesen Pseudogattungsbegriff, von
dem schon Goethe nichts wissen wollte, nun endlich begraben sein lassen?
Man begegnet ihm freilich noch heute nicht selten, und sogar Viehoff
und Bruchmann1) halten ihn aufrecht. Allein Viehoff gibt selbst zu, daß
„Zweck des didaktischen Gedichts nicht zu belehren, sondern durch Verstandes-
und Vernunftvorstellungen zu erheben, zu begeistern, ästhetische
Lustgefühle zu erregen“ sei. Und damit ist der Begriff der belehrenden
Dichtung als solcher offenbar gerichtet. Er ist aus einem logischen Fehler
in der Einteilung hervorgegangen, wie man mit Recht hervorgehoben hat,
da er den drei Formengattungen als eine inhaltliche Kategorie zur Seite
tritt. Entscheidender jedoch ist, daß es eine Poesie, die durch einen lehrhaften
Zweck bestimmt wird, nicht geben kann. Belehrung in metrischer
Form und dichterischem Ausdruck ist so wenig Poesie, wie farbige Illustrationen
zu medizinischen und physikalischen Büchern Malerei sind. Der
Irrtum ist, wie man gerade aus Viehoff deutlich ersieht, nur durch Verwechslung
mit der Gedankenlyrik aufrecht erhalten. Allein wir wissen aus
dem elften Abschnitt, daß diese Dichtung nicht lehren, sondern veranschaulichen
und durch die Anschauung aufs Gefühl wirken will. Selbst
die gnomische Poesie, die den lehrhaften Charakter am meisten trägt, verliert,
wenn sie die Gefühlswirkung aufgibt und rein verstandesmäßig wirken
will, den dichterischen Charakter. Auch die Fabel, auf die man sich gleichfalls
beruft, ist nicht deshalb Poesie, weil sie moralische Wahrheiten überliefert,
sondern nur deshalb, weil sie diesen Wahrheiten symbolisch anschauliche
Gestalt verleiht. Diese Gestaltung kann an sich so poetisch
sein, daß man die moralische Bedeutung darüber fast vergißt, wie das
z. B. in den Lafontaineschen Fabeln der Fall ist; sie kann andrerseits
durch die Kunst des Aufbaus und der Zuspitzung wirken, wie in der eigentlichen
Viehoff, Poetik S. 463 f. Bruchmann, Poetik S. 98 f.
Aesopischen Fabel: von Lessings Fabeln z. B. darf man sagen, daß
sie gewissermaßen epische Epigramme sind. Freilich nähern sie sich eben
hierdurch, wie das Epigramm selber, dem rein Verstandesmäßigen und
damit den Grenzen der Poesie.
Der Lyrik
ist ihr Gebiet ein für allemal gegeben: es ist das Innenleben des Dichters,
sein Fühlen und Denken. Und daß die äußeren Vorgänge, aus denen
die inneren Erlebnisse des Lyrikers und somit indirekt seine Schöpfungen
hervorgehen, für das Verständnis dieser Schöpfungen nicht wesentlich
sind, ist bereits S. 120 f. gezeigt worden. Anders verhält es sich mit
den gegenständlichen Gattungen der Poesie. Zwar kommt auch hier,
wie wir (S. 47, 48) gesehen haben, einer systematischen Inventarisierung
der Stoffe und Motive keine wissenschaftliche Bedeutung zu, und selbst
die geschichtliche Behandlung der einzelnen Motive hat nur einen untergeordneten
Wert für die Einsicht in das Wesen dichterischer Gestaltung.
Betrachtet man aber die Stoffgebiete im großen, die dem Epiker und
Dramatiker zu Gebote stehen und auf denen alle gegenständliche Dichtung
erwächst, so lassen sich für das Verhältnis der Poesie zu bestimmten
allgemeinen Seiten des geistigen Lebens doch mancherlei belehrende Aufschlüsse
gewinnen.
Der bloß genießende Leser, der literarische Laie, ist zumeist geneigt,
einen besonderen Nachdruck auf den Unterschied zwischen erfundenen
und übernommenen Stoffen zu legen; allein hier belehrt uns die
geschichtliche Betrachtung in der Tat eines Besseren. Sie zeigt, daß dieser
Unterschied nur ein relativer ist. Fast jede größere Dichtung geht aus
Überlieferung und Erfindung hervor, nur daß beide in den verschiedenen
Werken in ungleichem Maße gemischt sind. Auch der scheinbar völlig
frei erfundene Stoff enthält immer Momente einer literarischen Überlieferung,
und selbst die in einer festen Tradition übernommene Fabel wird
der Dichter stets durch eigene Erfindungen seinem Geist und seinem
künstlerischen Zweck anpassen. „Es erscheint uns“, sagt Fr. Spielhagen
(Beiträge S. 34), „die Tätigkeit des Künstlers, des Dichters stets in der
zwiefachen Qualität des Findens und Erfindens, und zwar dergestalt, daß
nicht etwa das eine Moment nach dem anderen einträte oder die beiden
Momente nebeneinander wirksam wären, sondern daß sie fortwährend ineinander
spielen: sich beständig eines in das andere umsetzen. Man kann
sie deshalb wohl gedanklich immer auseinander halten, aber ihre Einzelexistenz
in den seltensten Fällen überzeugend nachweisen. Von der einen
Seite betrachtet, scheint dem Künstler alles gegeben, nichts von ihm erfunden:
von der anderen alles von ihm erfunden, nichts ihm gegeben.
Die Wahrheit ist, daß er nichts verwenden kann, wie es gegeben: jedes
Atom des Erfahrungsstoffes erst durch die Phantasie befruchtet werden
muß.“
Ist somit dieser Unterschied nicht von prinzipieller Bedeutung, so
kommt es vielmehr darauf an, die Gebiete festzustellen, die für Überlieferung
und Erfindung den gemeinsamen Boden bilden.
Das älteste und ehrwürdigste derselben ist der Mythos. Alle ursprüngliche
Dichtung behandelt ausschließlich mythische Stoffe, und je weiter die
literarische Forschung in entlegene Zeiten hineingeleuchtet hat, desto deutlicher
hat sich gezeigt, daß die Ausbildung einer gestaltenden Mythologie
von der Arbeit dichterischer Formgebung gar nicht zu trennen ist, vielmehr
beides beständig ineinander greift. Dies gilt auch noch für Zeiten hoher
Entwicklung, soweit sie den Zusammenhang mit der mythenbildenden
Anschauung nicht verloren haben, vor allem also für die Epoche der
griechischen Tragödie. Wir wissen, daß ein großer Teil der Gestalten und
Fabeln, welche die philologische Überlieferung als griechische Mythologie
zusammenfaßt, Erfindungen der großen Dichter des 5. Jahrhunderts sind.
Erst mit dem Absterben des Mythos hört seine Weiterbildung auf.
Wo sich nun aber der Mythos in lebendiger Entwicklung erhält, wo
er, wie bei den Hellenen, einem künstlerisch regen Gestaltungstrieb entspringt
und wiederum einen solchen befruchtet, da bringt er der Poesie
unleugbar die größten Vorteile. Das Volksepos kann, wie die Literaturgeschichte
lehrt, überhaupt nur auf solchem Boden erwachsen und gedeihen.
Allerdings von seiner Entstehung können wir uns heute, nachdem
die Fernsichten, die eine gefällige Phantasie der Wissenschaft zu
eröffnen schien, als trügerisch erkannt sind, nur schwer eine Anschauung
machen. Einen deutlichen Begriff aber von dem Wert, den der
lebendige Mythos für den Künstler hat, gibt uns das Schaffen der griechischen
Tragiker, das uns nach seinen wesentlichen Bedingungen und Charakterzügen
wohl bekannt ist. Sicher ist es, daß die Empfänglichkeit eines
nationalen Publikums auf keinem anderen Gebiete dem Dichter in gleicher
Weise entgegenkommt, seine Produktion in demselben Maße erleichtert,
wie auf dem mythologischen. Zunächst findet er hier das unmittelbarste
Verständnis, denn der Mythos setzt bestimmte Anschauungen nur soweit
voraus, als das Volk selbst sie hervorgebracht hat, in diesem Falle also
nur die Kenntnis der Götter und ihrer Bedeutung sowie etwa der allgemeinsten
poetischen und sozialen Verhältnisse der Heroenzeit. Zum
Verständnis bedarf es also keinerlei „Bildung“ oder gar Gelehrsamkeit,
keinerlei Welterfahrung, überhaupt keinen weiteren Gesichtskreis, als ihn
eben der nationale Horizont bietet. Über diesen technischen Vorzug
hinaus aber ist es noch wesentlicher, daß sich Dichter und Publikum
auf einem Gebiete finden, welches beide von vornherein gleichmäßig
interessiert. Die gemeinsamen Instinkte des Volkslebens, die Richtungen
der volkstümlichen Phantasie kommen sich hier entgegen und beleben
die Dichtung wie ihre Wirkungen. Die Lieblingshelden nationaler Überlieferung,
Agamemnon und Orest, Herakles und Theseus, sind noch ehe
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sie gesprochen haben, lebendiger Teilnahme gewiß. Endlich kommt hinzu,
daß der Stoff, eben weil er nicht an bestimmte geschichtliche oder soziale
Voraussetzungen gebunden ist, eine nahezu unbegrenzte Bildsamkeit besitzt
und jeder Weiterführung, jeder Neuschöpfung des Dichters freiesten Spielraum
gibt, ja auch für diese das Interesse des Publikums gewissermaßen
im voraus sichert.
Es ist daher begreiflich, wenn neuere Dichter es als schmerzlichen
Nachteil empfunden haben, daß ihnen nicht vergönnt war, aus dem Quellenreichtum
eines nationalen Mythos zu schöpfen, daß ihnen die Wirkung auf
ihr Volk durch das Fehlen eines solchen erschwert wurde. Diese Empfindung
war es zum Teil, was unsere klassischen Dichter immer wieder zum
Griechentum und seiner Poesie zurückzog; und die Romantiker träumten
davon, aus modernen Naturanschauungen heraus eine neue Mythologie
zu schaffen, die ihnen und ihren Nachfahren die Quelle einer neuen dichterischen
Entwicklung werden sollte.1)
Dennoch ist nicht allein der Gedanke, einen Mythos künstlich zu
produzieren, in sich widersprechend und unmöglich, sondern auch das
Zurückgreifen auf den alten, wenn er einmal abgestorben und nur literarisch
überliefert ist, erweist sich schwieriger und weniger fruchtbar, als
man nach den zahlreichen Versuchen, die seit der Renaissance dazu gemacht
worden sind, annehmen sollte. Nicht nur, daß jene Vorteile, die
aus dem nationalen Charakter des Mythos entspringen, naturgemäß verloren
gehen, sobald er zu fremden Völkern übertragen wird; es liegt auch
in seinem allgemeinen Wesen begründet, daß seine Stoffe den Bedürfnissen
der modernen Dichtung nur in sehr eingeschränktem Maße entgegenkommen.
Der Vorzug, den diese Stoffe an sich besitzen, ist vor
allem die Großzügigkeit des Geschehens, das sich durchweg um außerordentliche
Taten und Ereignisse, um Leben und Tod, Herrschaft oder
Knechtschaft, vererbten Fluch und seine Lösung bewegt. Diese großzügige
Bedeutsamkeit erregt nicht nur ein unmittelbares Interesse an der Handlung,
sondern erleichtert es dem Dichter auch, seine Darstellung in das
Licht des Typischen zu erheben. Dagegen fehlt dem Mythos fast durchweg
jeder tiefere psychologische Gehalt, ja es liegt in seiner Natur, daß er
einer seelischen Vertiefung oder Verfeinerung im allgemeinen gar nicht
fähig ist. Eben jene gewaltigen Gegensätze, die in übermenschlichen
Zügen und machtvollen Eindrücken zu unserer Phantasie sprechen, entziehen
sich einem eindringenderen psychologischen Verständnis, und die
typische Natur der Handlungen und Charaktere verhält sich jeder Individualisierung
gegenüber spröde. Die oft hervorgehobene Tatsache, daß
die Dramatik der Alten zu einer individuellen Charakteristik nicht gelangt
R. Haym, Romantische Schule S. 648, 692. ─ Hierhin gehören auch die geistvollen
Betrachtungen bei Richard Wagner, Oper und Drama. Zweiter Teil (Gesammelte
Schriften und Dichtungen, 4. Band3 S. 31 ff.).
ist, daß, wie Goethe es ausdrückt, „die Personen der griechischen Tragödie
eigentlich nur idealische Masken“ sind, hängt offenbar aufs engste mit
dieser Natur ihrer Gegenstände zusammen (vergl. oben S. 179). Daher mag
zwar eine stilisierende Formenkunst, wie es die klassische Tragödie der
Franzosen war, sich mythischer Stoffe ohne Nachteil bedienen; einen
solchen aber mit modernem Lebensgefühl zu erfüllen, ist nur ausnahmsweise
einem überragenden Genius geglückt: Goethes Iphigenie ist das
einzige vollkommene Beispiel in der modernen Poesie, und auch sie ist
als Kunstwerk nur dadurch möglich geworden, daß der Dichter sich auf
eine großzügige und dem Typischen angenäherte Seelenmalerei beschränkt
hat. Nach ihr dürfen Grillparzers Goldenes Vließ und auch Hebbels Gyges
genannt werden, wiewohl der Widerstreit zwischen dem Phantastischen,
zum Teil auch Brutalen der Handlungen und dem verfeinerten psychologischen
Empfinden der modernen Dichter hier schon unverkennbar hervortritt.
Höchst lehrreich sind in dieser Hinsicht zwei Dramen aus den letzten
Jahren: Hugo v. Hofmannsthals Elektra und desselben Dichters „Ödipus
und die Sphinx“. Besonders die Elektra ist ein interessanter Versuch, die
tragische Dichtung des Sophokles zu erneuern, indem die Handlung fast
Szene für Szene dem großen attischen Tragiker entnommen, aber mit dem
ganzen Raffinement moderner Individualpsychologie und gleichzeitig mit
Gesichtspunkten kulturhistorischen Charakters erfüllt wird. Allein dieser
Versuch, mit soviel Geist und Sprachgewalt er unternommen ist, scheitert
an der Natur des Stoffes, und gerade Hofmannsthals Dichtung zeigt deutlich,
warum er scheitern muß. Die Atridensage und ihre Darstellung wirkt auf
uns nur so lange ästhetisch, wie wir sie in einer gewissen Entfernung und mit
dem Gefühl des Abstandes sehen, nur solange die handelnden Personen als
Heroen in übermenschlicher Größe und mit einer gewissen Fremdartigkeit
vor uns hintreten. Sobald wir aber den Eindruck bekommen, daß diese Personen
Menschen sind, die fühlen und empfinden, leiden und handeln wie wir
selbst, so ist uns der Muttermord auf der Bühne, so sind uns die übrigen
Greueltaten, von denen die Sage berichtet, unerträglich. Wenn wir sie glauben
müssen ─ und der Dichter zwingt uns dazu ─, so fallen sie uns auf die
Nerven, erregen Abscheu und lassen keine künstlerische Erhebung aufkommen.
Diese deprimierende Wirkung hat wohl jeder erfahren, der Hofmannsthals
Elektra einmal in einer guten Aufführung gesehen hat, und das
absprechende Urteil der Vertreter der Altertumswissenschaften wird hieraus
begreiflich, wenngleich es der dichterischen Bedeutsamkeit des Versuchs
nicht gerecht geworden ist.
Weit eher als für die psychologisch vertiefende Durchbildung sind
mythische Stoffe für die musikalische Behandlung geeignet, wie ja auch die
antike Tragödie zum Teil ein musikalisches Kunstwerk war. Es ist daher
begreiflich, daß die Oper der späteren Renaissance und der klassischen
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Zeit mit Vorliebe sich solcher Stoffe bemächtigte, und niemand wird leugnen,
daß in einem Werke wie Glucks Iphigenie in Tauris auch die dramatischen
Momente des Stoffes mächtig zur Geltung kommen. So erklärt sich Richard
Wagners zugleich künstlerisch durchgeführte und theoretisch ausgesprochene
Anschauung vom Werte des Mythos.1) Er sah in diesem den ein für allemal
gegebenen und durch nichts anderes ersetzbaren Stoff für das musikalische
Drama, das ja seinerseits ein Ersatz oder eine Weiterbildung der
antiken Tragödie sein sollte. Auch ist ihm die dichterische Gestaltung einer
Reihe von christlichen Sagenstoffen, die dem modernen Empfinden leicht zugänglich
sind, in vollendetem Maße geglückt; am meisten im Tannhäuser,
wo der typische Gegensatz zwischen dämonischer Sinnenlust und vergeistigter
Liebe musikalisch und dramatisch zu gleich vollendetem Ausdruck gekommen
ist, aber auch im Tristan und schon vorher im Fliegenden Holländer. Dagegen
ist das Unternehmen, die schattenhaften, unserem Verständnis wie
unserer Phantasie fast gänzlich fremd gewordenen Gestalten der nordischen
Walhalla mit Leben und Blut zu erfüllen, gescheitert; und der Erfolg des
Nibelungenrings ist, abgesehen von einer Anzahl dichterisch schöner Einzelheiten,
fast ganz auf Rechnung der Musik zu stellen. Das gewaltsame
Streben, die typische Bedeutsamkeit einer märchenhaften Handlung ins
Philosophische zu steigern, kann innerliche Lebendigkeit und psychologische
Vertiefung unmöglich ersetzen. Etwas Ähnliches ist auch von dem weit
schwächeren Nibelungenepos Jordans zu sagen, das mit Wagners Ringdichtung
ungefähr gleichzeitig entstanden ist und sich in derselben Richtung
bewegt. Dahingegen ist es Hebbel zweifellos und als Einzigem geglückt,
Handlung und Charakter des Nibelungenlieds zu tiefer und echt dramatischer
Wirkung zu bringen, indem er es verstand, aus dem mythischen Geschehen
einen geschichtlichen Gegensatz gewaltigster Art hervortreten zu lassen.
Denn die Mythologie überhaupt ist nach dem heutigen Stande unsrer
Kenntnis nicht so einseitig, wie man früher annahm, aus personifizierenden
Naturanschauungen hervorgegangen: sie ist vielmehr stark mit Elementen
geschichtlicher Erinnerung versetzt, und Dramen wie der Agamemnon des
Äschylos, oder die Sieben gegen Theben müssen dem griechischen
Publikum wohl den Eindruck geschichtlicher Dichtungen gemacht haben.
Die Eigenschaften nun, welche der geschichtliche Stoff mit dem
mythischen teilt, Großzügigkeit und typische Bedeutsamkeit, sind es zweifellos,
die zuerst dramatische Dichter zu diesem zweiten großen Stoffgebiet
hingezogen haben, und Aristoteles macht an der bekannten Stelle der
Poetik (c. 9) offenbar zwischen beiden keinen Unterschied: ihm ist der
typische Gehalt, den der Dichter in das einmal und zufällig Geschenene
legt, das Wertvolle in der geschichtlichen Dichtung.2) Die klassische französische
Ausführlich dargelegt in der S. 190 Note bezeichneten Stelle.
καὶ φιλοσοφώτερον καὶ σπουδαιότερον ποίησις ἱστορίας ἐστίν. ἡ μὲν γὰρ ποίησις μᾶλλον
τὰ καθόλου ἡ δ'ἱστορία τὰ καθ' ἕκαστον λέγει.
Tragödie (Cinna, Athalie) hält sich deutlich auf demselben
Standpunkt. Aber auch Dichtungen wie Schillers Fiesko und besonders
Goethes Egmont haben im Grunde noch das gleiche Verhältnis zur Geschichte.
Lessing schreibt in einer Reihe von Stellen der Dramaturgie den
Wert solcher Stoffe ausschließlich der Bedeutsamkeit der überlieferten
Charaktere zu, während ihm die „Fakta“ gleichgültig erscheinen; daher
er dem Dichter auch das Recht zuspricht, mit diesen umzuspringen, wie
es ihm beliebt, solange nur die Charaktere nicht beeinträchtigt werden
(Stück 23, 24, 31─34). Tatsächlich würde sich hiernach für die geschichtlichen
Stoffe nahezu die gleiche Bildsamkeit und Veränderungsfähigkeit
ergeben wie für die mythischen; denn auch hier stehen ja die Gestalten
in großen Zügen fest, während die Handlungen im einzelnen vielfach verändert
und zu dichterischen Zwecken umgeformt werden können: es würde
somit ein Wesensunterschied kaum noch erkennbar sein.
Nun aber hat das Interesse an der historischen Dichtung noch eine
Quelle ganz anderer Art. Es ist der geschichtliche Sinn in der eigentlichen
Bedeutung des Wortes, der Reiz, den alles, was einmal war, unmittelbar
auf uns ausübt, die Freude daran, eine vergangene Welt mit
ihren Menschen und Verhältnissen, die uns so nah und doch so fern
stehen, in der Phantasie anzuschauen und ihr Leben zu erneuen. Dieses
Interesse ist um so stärker, wenn wir die dargestellte Welt als unsere
Vergangenheit empfinden, d. h. wenn wir uns durch die Einheit der Nationalität
oder der Kultur mit ihr verbunden fühlen. Die Historiendichtung
in diesem Sinne tritt uns zuerst in der englischen Literatur, vor allem bei
Shakespeare entgegen; und auch hierin zeigt sich der tiefe Gegensatz
zwischen dem Charakter dieser und der französischen Renaissancedichtung. ─
Im Gegensatz zu den Franzosen, aber freilich auch zu Lessings rationalistisch
einseitiger Auffassung, schuf dann Goethe mit dem Götz die erste
geschichtlich empfundene Historiendichtung der Deutschen; mit liebevollem
Verständnis wandte er sich der Vergangenheit des eigenen Volkes zu und
bildete mit freudigem Interesse die nationalen Charakterzüge nach, die
ihm als die dauernd wertvollen erschienen. Auf umfassendere geschichtliche
Studien begründet, von tieferem Verständnis für vergangene Wirklichkeit und
einer kräftigeren historischen Phantasie getragen, erstand im Wallenstein
die größte geschichtliche Dichtung des 18. Jahrhunderts, ja, der deutschen
Literatur überhaupt. Auf einer breiten Unterlage treuer und ins einzelne
durchgeführter Schilderung der Menschen und Verhältnisse, der Soldaten,
Offiziere und Staatsmänner des dreißigjährigen Krieges erhebt sich das
monumentale Bild des Helden, plastisch zugleich und lebendig, seine nicht
minder lebensvoll dargestellte Umgebung überragend, der künstlerisch
entworfene allgemeine Typus einer genialen Herrschernatur und doch zugleich
mit jeder Faser ein Sohn seiner Zeit, ihrer geschichtlich gegebenen
Verhältnisse und Anschauungen. Schiller selbst hat die Höhe dieser Meisterschöpfung
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nicht wieder erreicht, und sie ist trotz allem, was man gegen
Einzelheiten mit mehr oder weniger Recht eingewendet hat, in der Kraft
und Tiefe ihrer Charakterschilderung, in dem Reichtum der historischen
Anschauungen ein Vorbild für jede spätere geschichtliche Dichtung geblieben.
Ihr gewaltiger Einfluß zeigt sich darin, daß die bloß typische und
unhistorische Behandlung historischer Stoffe fortan unmöglich wurde. Zwar
hat Schiller in der Maria Stuart und in der Jungfrau von Orleans in dieser
Hinsicht selber Schritte nach rückwärts getan, besonders die Jungfrau ist
ein interessanter Versuch, geschichtliche Ereignisse in die typische Allgemeinheit
und Voraussetzungslosigkeit mythischen Geschehens aufzulösen.
Auch vom Tell könnte man etwas Ähnliches sagen, wenn hier nicht das
kulturhistorische und landschaftliche Element eine sehr bestimmte Ausprägung
erhalten hätte. Aber im Demetrius ist der Dichter entschieden
zu den Grundsätzen des Wallenstein zurückgekehrt, und die historische
Dichtung des 19. Jahrhunderts bekennt sich fast ausnahmslos zu diesen
Grundsätzen, d. h. sie strebt anschauliche Wiederbelebung der Vergangenheit
in ihren festen Umrissen und ihrer geschichtlich bestimmten Eigenart
an, natürlich ist es den Dichtern je nach ihrer Begabung in sehr verschiedenem
Maße gelungen, das Ziel zu erreichen. ─ Von Anfang an ist
diese Richtung aufs anschaulich Historische für die geschichtliche Roman-
und Novellendichtung maßgebend gewesen, von der wir im 13. Abschnitt
(S. 157) gehandelt haben. Walter Scott und Willibald Alexis, Viktor Scheffel
wie W. Riehl und Konrad Ferdinand Meyer stimmen bei aller sonstigen
Verschiedenheit ihres künstlerischen Charakters darin überein, daß sie die
Vergangenheit in ihrem eigenartig bestimmten Leben, und nicht nur in
ihrer typischen Bedeutsamkeit, lebendig machen wollen.
Hiermit erwächst nun aber der Historiendichtung eine entscheidende
Schwierigkeit. Das Bedürfnis nach psychologischer Vertiefung, nach Intimität
in der Schilderung seelischer Zustände und Vorgänge, hat im
Laufe der letzten Menschenalter immer mehr zugenommen und auch die
Auffassung geschichtlicher Vergangenheit aufs entschiedenste beeinflußt.
Weder auf der Bühne noch im historischen Roman ertragen wir die Könige,
die mit der Krone zu Bette gehen, wie im Kindermärchen. Das weltgeschichtliche
Posieren, die programmatischen Reden und Wendungen,
an denen die ältere historische Dichtung so reich ist, erscheint dem
verfeinerten geschichtlichen Gefühl hohl und äußerlich. Wir wollen die
seelischen Seiten der Vorgänge, das menschlich Charakteristische auch in
den Personen der Geschichte erblicken. Wenn uns die Dichtung dies nicht
zu zeigen vermag, so wenden wir uns lieber an die großen Historiker selbst,
um das, was sie bieten, aus erster Hand zu schöpfen. Denn auch die
Kenntnis der Geschichte hat ja in den letzten Menschenaltern an Fülle
und Leben wie an Tiefe und Innerlichkeit gewaltig gewonnen, und die
Lebensarbeit der großen Geschichtsschreiber von Niebuhr und Ranke an
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ist auf die historische Bildung des deutschen Publikums nicht ohne Einfluß
geblieben. Aber der Zuwachs an geschichtlichem Wissen und Verstehen
bleibt hinter der Steigerung des historischen Sinnes und des
psychologischen Bedürfnisses notwendigerweise zurück. Je schärfer wir
den Blick einzustellen gelernt haben, desto deutlicher bemerken wir den
Mangel scharfer Umrisse in den Fernen geschichtlichen Geschehens. Je
mehr wir gelernt haben, uns selbst und das innere Leben unserer Zeitgenossen
zu belauschen, desto stärker empfinden wir es, daß die Zeit,
oft schon weniger Generationen, eine trennende Macht ist, daß die
Menschen der Vergangenheit nicht so fühlten und wollten wie wir und daß
auch die großen allgemein menschlichen Züge in den verschiedenen Zeiten
und Breiten besondere Färbungen, unscheinbare und doch wesentliche Abweichungen
zeigen, die wir schwer oder gar nicht fassen können. Daher
kann es heutzutage nur einem außergewöhnlich glücklichen Zusammentreffen
gelingen, eine Historiendichtung hervorzubringen, die unserem künstlerischen
und geschichtlichen Bedürfnis gleichmäßig entspricht. Nur wo
ein Dichter, der die Tiefen seelischen Geschehens zu erfassen und darzustellen
vermag, sich mit andauerndem Studium in ein Zeitalter hineinlebt,
für welches die Quellen einigermaßen reichlich fließen, nur da wird
es ihm glücken, Menschen und Ereignisse lebendig zu machen, und kaum
für mehr als ein solches Zeitalter wird die Kraft und der Raum eines
Dichterlebens ausreichen. So hat es Konrad Ferdinand Meyer vermocht,
die Zeiten der Renaissance und der Gegenreformation zu psychologisch
echter und künstlerisch lebendiger Wirkung zu bringen.
Mit der Hebung des historischen Sinnes hängt es ferner zusammen,
daß jene Scheidung zwischen Tatsachen und Charakteren, durch die Lessing
dem Historiendichter Freiheit schaffen wollte, sich nicht aufrecht erhalten
läßt. Wir wissen zu genau, wie eng und notwendig beide miteinander
verknüpft sind, als daß es uns möglich schiene, sie zu trennen: wenn
Lessing es als gleichgültig ansieht, ob die liebende und eifersüchtige
Elisabeth des Essex-Dramas achtundsechzig oder dreißig Jahre alt ist, so
irrt er offenbar: es ist das nicht bloß ein äußerlicher Umstand, sondern er
verändert den psychologischen Charakter der Vorgänge von Grund aus.
Andrerseits erhöht auch die zunehmende Sicherheit und Verbreitung
historischer Kenntnisse die Schwierigkeit seiner Aufgabe für den Historiendichter.
Denn sie erschwert es ihm, dem Bedürfnis nach psychologischem
Verständnis in der unmittelbarsten Weise, nämlich durch freie dichterische
Phantasie, entgegenzukommen. Die Dichter des 18. Jahrhunderts machten
sich keinerlei Gewissensbedenken daraus, geschichtliche Ereignisse da, wo
sie nicht verständlich oder mit dem seelischen Leben ihrer Gestalten nicht
im inneren Einklang schienen, nach Belieben abzuändern. Wir wissen,
wie Goethe mit dem geschichtlichen Egmont, wie Schiller mit Elisabeth
und Maria Stuart, mit den englisch-französischen Eroberungskriegen umgesprungen
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ist. Aber eine solche Methode ist nur da möglich, wo das
Publikum die historische Wirklichkeit nicht kennt oder wenigstens kein
lebendiges Bild von ihr hat. Schon Gustav Freytag bemerkt sehr richtig,
daß der Dichter in dieser Hinsicht von dem Wissensstande seines Publikums
abhängt.1) Denn es ist unerträglich und muß jede künstlerische
Wirkung hemmen oder vernichten, wenn die Vorgänge, die wir auf der
Bühne sehen oder gar in ruhiger Beschaulichkeit lesen, mit unserem Wirklichkeitssinn
in Zwiespalt geraten, wenn unser besseres Wissen dem Dichter
widerspricht.
Kurz, die geschichtlichen Stoffe haben die Vorzüge verloren, die
ihnen früher mit dem Mythos gemeinsam waren. Sie haben ihre Bildsamkeit
eingebüßt, und selbst die Großzügigkeit der Vorgänge gerät mit dem
psychologischen Bedürfnis und dem verfeinerten historischen Sinn des
modernen Geistes leicht in Widerspruch. Wir lassen uns die Al Fresco-
Malerei Dahnscher Romane oder Wildenbruchscher Tragödien gefallen,
allein sie haben, auch wenn sie uns im Augenblick erschüttern, für unser
Gefühl etwas Opernhaftes und wir behalten keine nachhaltige Wirkung
zurück. Noch weit entschiedener aber wachsen Ansprüche und Schwierigkeiten,
wenn der Dichter einen Stoff aus der nahen und nächsten Vergangenheit
behandelt. Man sieht wohl den Grund, warum es bisher zu
einer dichterischen Gestaltung Friedrichs des Großen noch niemals, zu
einer solchen Napoleons nur vereinzelterweise gekommen ist.2)
Selbstverständlich soll mit diesen Betrachtungen nicht das Ende der
Historiendichtung proklamiert werden. Nur steigende Schwierigkeiten, keine
Unmöglichkeiten treten ihr hindernd entgegen. Und man darf vielleicht
mit einer gewissen Zuversicht hoffen, daß der Dichter kommen wird, dem
es gelingt, jene Schwierigkeiten zu überwinden und uns eine neue geschichtliche
Poesie zu schaffen, die unserem Bedürfnis, unserer Weise, Geschichte
zu sehen, entspricht. Ansätze dazu fehlen nicht. Auf Konrad
Ferdinand Meyer ist bereits hingewiesen, und daß die jüngere Dichtergeneration
wenigstens die Richtung sowohl wie die Hindernisse kennt,
die ihr entgegenstehen, ist immerhin ein gutes Zeichen.
Inzwischen geht aus diesen Betrachtungen doch eines mit Sicherheit
und Klarheit hervor, daß es nämlich nicht Willkür noch Zufall, sondern
innere Notwendigkeit ist, wenn die Dichter unserer Zeit sich mit fast ausschließlicher
Vorliebe dem dritten der vorhandenen Gebiete, dem unmittelbaren
Leben der Gegenwart zuwenden, wenn die sozialen Gegensätze, die
seelischen Zustände und Verwicklungen des modernen Menschen ihnen fast
durchweg die Gegenstände dichterischer Behandlung darbieten. Denn nur hier
„Der Dichter wird sich zu hüten haben, daß in seiner Erfinduug nicht ein für
seine Zeitgenossen empfindlicher Gegensatz zu der historischen Wahrheit hervortrete.“
(Technik des Dramas S. 1510.)
Vgl. Gustav Freytag a. a. O. S. 237, 238.
ist jene Intimität des Erlebens und Nacherlebens, jene Unmittelbarkeit und
Fülle des Sehens möglich, aus der eine tiefe dichterische Wirkung auf
die lebende Generation allein hervorgeht; und nur Stoffe, die in der Gegenwart
erwachsen oder die frei gestaltet sind, bieten dem Dichter jene Bildsamkeit,
die er bedarf und die dem Mythos und der Geschichte abhanden
gekommen ist. Auch früheren Zeiten waren solche Stoffe nicht fremd: das
Altertum hat im Mimus sowohl wie in der unter seinem Einfluß entwickelten
nacharistophanischen Komödie Vorgänge und Typen aus dem zeitgenössischen
Volksleben behandelt und auch den Sitten- oder Milieuroman gekannt,
wie besonders Petronius beweist. Seit seiner Wiedergeburt im 18. Jahrhundert
hat der Roman fast stets ins Leben gegriffen, und an seiner Hand
entdeckte das bürgerliche Drama, das lange neben der mythologischen und
historischen Dichtung ein kümmerliches Dasein gefristet hatte, allmählich
die reiche Welt von Stoffen, die auch der tragischen Bühne in nächster
Nähe erwächst. Hatten die früheren Dramatiker mit Vorliebe sich dem Reiche
des Mythos oder der Geschichte zugewandt, weil es ihnen mannigfaltiger,
interessanter und erhabener schien, so fand der erwachende und erstarkende
Wirklichkeitssinn der Gegenwart nur hier, was er bedarf: die Möglichkeit
treuer Wiedergabe des äußeren, besonders aber des inneren Lebens. In dieser
Hinsicht gewährt die Entwicklung Ibsens ein typisches Bild. Nach energischen
Versuchen, ein Stück Geschichte seelisch zu vertiefen (die Kronprätendenten,
Kaiser und Galiläer) und einem anderen, in völlig freiem phantastischem
Bilde die innere Entwicklung eines Seelenlebens zur Klarheit zu bringen
(Peer Gynt), ergreift der Dichter endgültig das Leben seiner Zeit und seiner
Heimat mit seinen sozialen und psychologischen Erscheinungen, um hier
erst zur Meisterschaft zu gelangen, einer Meisterschaft, die sich nicht nach
außen, sondern nach innen entfaltet, nicht in größerer Ausbreitung, sondern
in zunehmender Vertiefung kundgibt und aus der Beschränkung auf
die Wirklichkeit ihre stärksten Wirkungen erzielt.
Die Gegensätzlichkeit in der Wahl der Stoffe hängt ─ soviel hat uns
diese Betrachtung gelehrt ─ mit einer tiefen Verschiedenheit der künstlerischen
Instinkte und Richtungen zusammen. Eine solche aber wird sich
auch in der Formgebung und darüber hinaus in der inneren Gestaltung,
in der Eigenart des Gefühlslebens, mit dem die Dichtungen erfüllt sind,
kund tun. Diesen weittragenden Besonderheiten der künstlerischen Richtung
wollen wir uns nunmehr zuwenden.
Die Poesie wird in dem ganzen
Umfang ihrer inneren und äußeren Formen durch den Gegensatz der
beiden Stilrichtungen beherrscht, welche man mit dem Namen Naturalismus
und Idealstil bezeichnet. (Das Wort Realismus, das man früher
für Naturalismus zu verwenden pflegte, drückt nicht mit gleicher Schärfe
aus, worauf es ankommt, und wird daher besser für die gemilderte
und abgeschwächte Form der Wirklichkeitsdichtung verwandt.) Dieser
Gegensatz wird gewöhnlich durch die Streitfrage gekennzeichnet, ob in
der Kunst die Wahrheit oder die Schönheit der letzte Zweck sei, und
welches von diesen beiden Idealen sich dem andern unterzuordnen habe.
Genauer gefaßt lautet das Problem: ist das Höchste, was die Kunst erreichen
kann und will, die nachahmende Darstellung des Wirklichen oder
strebt sie vielmehr eine Erhöhung der Wirklichkeit an? Es ist derselbe
Gegensatz, der uns auf dem Gebiete der Plastik und Malerei als der
Kampf der schönen und der charakteristischen Kunst entgegentritt.
Die Mittel, die Wirklichkeit zu erhöhen, oder wie es unsere Klassiker
gern ausdrückten, die Darstellung über das Gemeine zu erheben, findet
die Poesie naturgemäß zunächst in den ihr eigenen Formenelementen, also
in Sprache und Metrum, und hier tritt daher der Gegensatz zwischen
naturalistischem und idealem Stil am deutlichsten hervor. Schon die bloße
Anwendung eines festen Rhythmus erhebt die Sprache der Poesie über
die der Wirklichkeit, ja sie ist äußerlich das sicherste Unterscheidungszeichen
zwischen beiden. Daher wird der Idealstil stets einer metrischen
Gestaltung zuneigen, der Naturalismus dagegen sie verwerfen. Der Weg
von der naturalistischen Richtung der Sturm- und Drangperiode zum
Klassizismus wird durch nichts so deutlich wie durch den Übergang von
der Prosa, die in Goethes und Schillers Jugenddramen herrschte, zu der
rhythmisierten Sprache und, in der weiteren Entwicklung, zu den Versen
der Iphigenie und des Don Carlos. Ein strenger Naturalismus ist mit einer
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metrischen Form überhaupt nicht vereinbar. Wo die letztere auftritt, ist
der erstere mindestens zu einem Realismus gemildert, der das Extrem vermeidet,
wie z. B. in Kleists zerbrochenem Krug und noch mehr in Wallensteins
Lager.
Das eigentlich entscheidende Kennzeichen aber für den Stilunterschied
bildet die Sprachbehandlung, daher ja auch der Ausdruck Stil dem
Gebiete der Sprache entlehnt ist und oft auf ihn eingeschränkt wird.
Der Naturalismus ahmt die Sprache des Lebens unmittelbar nach. Er
vermeidet Vulgarismen nicht, er sucht sie vielmehr, soweit sie ihm charakteristisch
erscheinen. Schillers Kabale und Liebe ist eine Fundgrube
derb volkstümlicher, zum Teil vulgärer Redewendungen; das Argot des
niederen Bürgertums, verderbte Fremdwörter u. dgl. werden auch an den
tragischen Stellen nicht vermieden. Durch die modernen Neuerer, wie
Zola und Gerhart Hauptmann, wird das freilich noch sehr viel mehr ins
Extrem geführt. Eine besondere Neigung hat der Naturalismus begreiflicherweise
zur Mundart. Das Eindringen fränkischer Formen und Frankfurter
Wendungen kennzeichnet nicht minder wie die angewandte Prosa die neue
Stilrichtung im Götz gegenüber Goethes Leipziger Lustspielen. Ja, in der
eigentlich mundartlichen Dichtung findet der Naturalismus oft seine natürlichste
Form; daher denn auch Werke, wie Anzengrubers Bauernkomödien
und Romane, wie Gerhart Hauptmanns Weber den Höhepunkt des modernen
deutschen Naturalismus bezeichnen. Dem gegenüber strebt der Idealstil
eine durchweg erhöhte Sprachbehandlung an; er vermeidet nicht nur gemeine,
sondern für gewöhnlich auch volkstümliche Ausdrücke überhaupt.
Ein logisch durchbildeter Satzbau, edle und erhabene Bilder, eine kunstvolle
und getragene Redeweise ersetzen ihm die Sprache des Lebens. Und das
eigentümliche Geheimnis des echten Dichters ist es, nicht unnatürlich zu
werden, indem er sich von der Natur entfernt.
In der Natur der Lyrik, wie wir sie im elften Abschnitt kennen gelernt
haben, liegt es, daß sie auf einen mehr oder weniger ausgesprochenen
Idealstil angewiesen ist und sich dem Naturalismus verschließen muß. Eine
naturalistische Wiedergabe reiner Gefühls- und Stimmungszustände in Worten
ist eine Unmöglichkeit; denn das Gefühl an sich, das leidenschaftliche
zumal, versagt sich dem Wort: es stammelt oder schreit, aber es weiß
nicht zu sprechen. Die bloße Aussprache setzt eine innere Klärung und
Vergeistigung voraus, und darin besteht schon eine gewisse Erhebung und
Idealisierung. Dazu kommt, daß, wie gleichfalls schon hervorgehoben, diese
Aussprache im allgemeinen nur dann interessiert, wenn sie in künstlerischen
Formen stattfindet: eben deshalb bedarf die Lyrik des Rhythmus und des
dichterisch schönen Ausdrucks. Selbst eine mundartliche Lyrik, wie die Klaus
Groths, wird immer nur einen sehr gemilderten realistischen Charakter tragen
können, und die neueren Versuche einer naturalistischen Lyrik, die wir oben
(S. 107 f.) kennen gelernt, haben sich uns als völlig verfehlt erwiesen.
Scheidet somit die Lyrik aus unseren Betrachtungen aus, so gelten
die bisher erörterten beiden Momente des Stilgegensatzes für die beiden
übrigbleibenden Gattungen in gleicher Weise. Anders verhält es sich
mit dem dritten Formenelement: der Komposition. Es ist an sich klar,
daß der Idealstil zu einem kunstvollen, zugleich einheitlich strengen und
harmonisch gegliederten Bau neigen muß, während der Naturalismus das
lockere Gewebe, in welchem die Wirklichkeit Handlungen und Ereignisse
zu verknüpfen pflegt, nachahmt und dabei die Elemente künstlerischer
Form, Steigerung und Kontrastwirkung, nur nebenbei im Auge behalten
kann. Allein tatsächlich tritt dieser Gegensatz nur auf dem Gebiete der
epischen Dichtung, insbesondere also im Roman in voller Schärfe hervor.
Für das Drama, das zur Darstellung bestimmte wenigstens, treten die Prinzipien
des Stils notwendigerweise hinter den Forderungen der Bühne zurück,
und wir haben schon in dem Abschnitt über die dramatische Kunst gesehen,
daß der Naturalismus hier, wenn auch aus ganz anderen Gründen,
womöglich noch geschlossenere Einheit und Straffheit der Form erstrebt
als sein Widerpart. Soll ein Ausschnitt aus dem Leben wirklichkeitsgetreu
mit seinen Einzelheiten auf der Bühne wiedergegeben werden, so
darf derselbe in keiner Hinsicht zu weit ausgedehnt werden. Ein oder
höchstens zwei Milieus, eine geringe Anzahl von Personen, ein zusammengedrängter
Zeitverlauf bilden Grenzen, die der naturalistische Dichter nicht
wohl überschreiten kann. Die Einheiten der klassischen Tragödie der
Franzosen, die für das Drama idealen Stils nur äußerliche Regeln sind,
werden hier zur Notwendigkeit. Daher weist denn, wie uns S. 181 entgegentrat,
fast das gesamte naturalistische Drama der Gegenwart diese strenge
Einheit der Komposition auf.
Weit freier steht der Romandichter seinem Stoffe gegenüber. Mit
dem Verlauf der Erzählung ist es eher möglich, den Verlauf des wirklichen
Lebens nachzubilden als mit der eingeengten Bühnenhandlung. Auch
der Epiker kann kunstvoll zusammendrängen, wie es etwa Goethe in Hermann
und Dorothea getan hat, die Handlung zu großen und entscheidenden
Katastrophen zuspitzen und in dramatischer Weise zur Peripetie fortschreiten,
etwa wie Dahn seinen „Kampf um Rom“ aufgebaut hat. Allein nichts
hindert ihn, von dieser dramatischen Art der Erzählung abzugehen und dafür
Geschehnisse äußerer und namentlich innerer Art so darzustellen, wie sie
sich im Leben zu ereignen pflegen. Die wichtigen Ereignisse und Katastrophen,
sagt Schopenhauer einmal, kommen nicht mit Trompeten und
Fanfaren zum Vordertor herein, sondern ganz leise durch die Hintertür.
Nicht ein außergewöhnlicher Vorgang pflegt das äußere, noch weniger
aber das innere Leben der Menschen zu wandeln: vielmehr ein Glied
reiht sich ans andere, unscheinbar zunächst wächst und erstarkt die Kette,
die den Menschen bindet und in gewollte oder ungewollte Bahnen zieht.
Eine entscheidende Leidenschaft wird in Wirklichkeit selten, wie in den
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Romanen alten Stils, durch den ersten Blick entflammt: langsam erstarkt
der Einfluß, den ein Mensch auf den andern ausübt; von der Kindheit
auf schlingen sich unsichtbare Fäden, die die Seele des Menschen
und damit auch sein Schicksal lenken. Es ist der Vorteil, den die epische
Dichtung vor der dramatischen voraus hat, daß sie diesen Fäden nachgehen,
ihr langsames Wachstum verfolgen, ihren Verlauf in seinen Windungen aufdecken
kann. Daher haben die großen Romandichter aller Zeiten, auch
diejenigen, die dem Naturalismus ganz fern standen, nicht sowohl auf Konzentration
der Form als auf Klarheit der Entwicklung den entscheidenden
Wert gelegt: so Goethe im Wilhelm Meister und in den Wahlverwandtschaften,
so Balzac und Georges Sand, so Dickens oder George Elliot: sie
haben somit im gewissen Sinne der naturalistischen Technik vorgearbeitet.
Diese freilich, wo sie ausgeprägt auftritt, gestaltet noch entschiedener
aus dem einzelnen und einzelsten ins Ganze. Es gleicht ein Tag dem
andern wie im Alltagsleben der Wirklichkeit. Die gleichen Szenen wiederholen
sich mit kleinen Abweichungen, anfangs kaum merklich, aber die
Unterschiede verstärken sich im Laufe der Entwicklung, die Leidenschaften
wachsen allmählich oder sterben ebenso allmählich ab. Der Schluß,
die Katastrophe erscheint als ein notwendiges, als ein längst erwartetes
Glied der Kette, die wir vor uns haben ablaufen sehen; so in Balzacs
Eugenie Grandet, in Flauberts berühmtem Musterroman „Madame Bovary“,
in Zolas „L'oeuvre“ und besonders deutlich in „Une page d'amour“: drei
Menschen in derselben Stube dreiviertel Jahre hindurch immer wieder in
der gleichen oder ähnlichen Situation, alle Jahreszeiten spielen gleichsam
von außen hinein, und langsam, langsam sehen wir das Unvermeidliche
kommen. In ganz derselben Weise sind Guy de Maupassants Bücher „Une
vie“, „Fort comme la mort“ künstlerisch gestaltet. Daß der Naturalismus
auf Spannung im dramatischen Sinne des Wortes bei dieser Art von Komposition
verzichten muß, sieht man wohl. Ein ästhetischer Schaden ist
das nicht, und für die künstlerische Darstellung seelischer Entwicklung
scheint hiermit doch die eigentlich entsprechende Form gefunden zu sein.1)
Endlich noch zu einem vierten Punkt, in welchem die beiden Stilarten
sich unterscheiden. Es ist die Verwendung des Häßlichen und Abstoßenden
oder auch des Gemeinen und Niedrigen,2) nicht in sprachlicher,
sondern in sachlicher Hinsicht. Der Idealstil in der ganzen Strenge,
wie ihn etwa die französische Tragödie des grand siècle oder Goethe
Auch in dieser Hinsicht wie in mancher anderen ist Otto Ludwigs Roman
„Zwischen Himmel und Erde“, obwohl in einem gemilderten Realismus gehalten, ein
Vorläufer der modernen naturalistischen Romandichtung, wie die „Maria Magdalena“ seines
Zeitgenossen Hebbel der entsprechenden Dramatik.
Selbstverständlich können diese Begriffe hier nur im ästhetischen Sinne in Betracht
kommen, nicht wie Schiller in seinem Aufsatz „Über die Verwendung des Gemeinen
und Niedrigen in der Kunst“ sie behandelt, im moralischen.
und Schiller in ihrer klassischen Epoche auffaßten, läßt das ästhetisch Häßliche
schlechterdings nicht zu. Nur große und edle Gegenstände werden
in edlen und schönen Formen behandelt; alles was auf widrige Vorstellungen
führen kann, wird verworfen oder doch gemildert. So etwa die
Verbrennung Jeanne d'Arcs, so alles, was die Anschauung von Krankheit
und körperlichen Schmerzen hervorruft.
Nur des Geistes tapfrer Gegenwehr.“
Der konsequente Naturalismus dagegen, dem es nur auf die Wahrheit,
nicht auf die Schönheit der Darstellung ankommt, will die Wirklichkeit in
ihrem ganzen Charakter und mit all ihren Zügen wiedergeben: Milderung
erscheint ihm als Fälschung, Vermeidung des Abstoßenden als Schönfärberei.
Zwar ist der Unterschied in der dichterischen Praxis kein so durchgreifender
und entschiedener, wie man es gewöhnlich glaubt und wie es auf dem Gebiete
der bildenden Künste wohl auch tatsächlich der Fall ist. Es gibt Dichtungen,
die unzweifelhaft dem hohen Stil angehören und gleichwohl vor
einer realistischen Schilderung des Abstoßenden nicht zurückschrecken: so
der Philoktet, so auch der Schluß des König Ödipus, wo der Held geblendet
erscheint. Die Blendung Glosters bei Shakespeare mutet fast naturalistisch
an, zumal wenn man die Behandlung des ähnlichen Motivs in desselben
Dichters König Johann dagegen hält; und doch ist der König Lear eines
von denjenigen seiner Dramen, in denen der Idealstil am entschiedensten
herrscht. Andrerseits vermag auch der naturalistische Dichter das ästhetisch
Häßliche zu vermeiden, wenn er seine Stoffe und sein Milieu dementsprechend
wählt, so wie es Ibsen in den meisten seiner Dramen, mit Ausnahme
etwa der Gespenster und des Klein Eyolf, getan hat. Seine Handlungen
spielen sich durchweg zwischen Menschen ab, die auf einer gewissen Höhe
der Kultur stehen, wenn nicht der moralischen, so doch der ästhetischen,
und das Abstoßende drängt sich hier nicht wie in der Schilderung der
unteren Schichten der Gesellschaft unabweisbar auf. Immerhin bleibt im
ganzen auch in der Praxis ein deutlicher Unterschied. Er trifft vielleicht
weniger das Häßliche an sich als das Niedrige, d. h. das kleinlich Häßliche:
also etwa die niederen oder abstoßenden Seiten des körperlichen Lebens.
Es bezeichnet den extremsten Naturalismus, wenn der Reitersknecht in
Goethes Götz erzählt: „Ich hab um Urlaub gebeten, meine Notdurft zu
verrichten“, oder wenn Carlos im Clavigo sagt: „Ihr Verliebten habt keine
Augen, keine Nasen.“ Kein moderner Naturalist hat mehr gewagt. Und
in der Tat wird man sagen dürfen, daß ein kultivierter Kunstgeschmack
sich durch solche Wendungen notwendigerweise abgestoßen fühlt, da
wenigstens, wo sie in der ernsten oder tragischen Dichtung auftreten.
Anders freilich verhält es sich in der komischen Poesie. Hier erscheint
in der Tat die Grenze sehr weit, die dem Dichter und seiner Wirkung gezogen
ist, und in Romanen wie der Don Quichote oder Rabelais' Gargantua,
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aber auch in einer Posse wie Molières Malade imaginaire gibt es
nichts, wovor der Dichter zurückschreckt, und wenig, was nicht gleichwohl
heute noch mehr oder weniger komisch wirkt. Daß freilich verschiedene
Zeiten und Kulturstufen gerade diesen Gegenständen gegenüber verschieden
empfinden, haben wir schon einmal berichtet; es wird uns bei der Betrachtung
des Komischen noch entgegentreten. ─
Haben wir nunmehr ein deutliches Bild von den beiden entgegengesetzten
Stilrichtungen, ihrem Wesen und ihren Mitteln gewonnen, so ergibt sich
doch schon aus allem Bisherigen, daß es nicht Sache der Poetik sein kann,
den Streit zugunsten der einen oder der anderen zu schlichten. Schon
mit den Anfängen aller menschlichen Kunst verknüpft, wird sich dieser
Gegensatz durch die Entwicklung der Poesie ziehen, solange es eine solche
gibt, und es wird von dem Bedürfnis und der Geschmacksrichtung der
einzelnen Epochen und Kulturen abhängen, wohin sie neigen. Durch
Streit und Wechsel wird diese Entwicklung, wie alles, was sich in der
Natur und im Menschen rührt und regt, befruchtet und befördert. Soviel
aber wird ein unbefangenes und geschichtlich begründetes Urteil feststellen
dürfen: was die ästhetische Theorie und was insbesondere die Programmschriften
beider Richtungen an Forderungen und Gesetzen aufstellen, sind
Extreme. Der Wert, den ein lebendiges Kunstwerk hat, wird niemals davon
abhängen, wie weit es einer dieser extremen theoretischen Forderungen
entspricht. Ja, die bedeutendsten Dichtungen der Weltliteratur stellen sehr
selten reine Typen der einen oder der anderen Gattung dar; sie bewegen
sich zwischen beiden und neigen nur mehr zu dieser oder jener hin.1)
Und wie könnte es auch anders sein! Die Pfade, die allzu scharf auf der
Grenze entlanglaufen, führen auf Abwege, welche die Poesie vermeiden wird.
Das Kunstwerk, das nur schön sein will, wird gar zu leicht leer. Die bloße
Schönheit der Form, die des Charakteristischen entbehrt, wird leblos, und
Sehr richtig bemerkt Dessoir Ästhetik S. 64 über die naturalistische Theorie:
„Die kunstgeschichtliche Erscheinung, die wir naturalistischen Stil nennen, hängt nur lose
mit den theoretischen Überlegungen zusammen. Vielmehr bedeutet der Naturalismus ─
als eine zeitweilig auftretende Praxis ─ vornehmlich Auflehnung gegen absterbende Anschauungen
und Formen. Nicht um naturgetreues Abschildern von Wirklichkeitsausschnitten
handelt es sich also, sondern zunächst um eine neue, zeitgemäße Technik. Die bisherigen
Formen, deren Zeit abgelaufen ist, erscheinen als konventionell, abstrakt, unwahr, und
indem an die Stelle dieser alten Schönheit eine neue Schönheit gesetzt wird, entsteht
begreiflicherweise die Vorstellung, daß ein idealistischer Schönheitswahn durch die Wahrheit
verdrängt worden sei. Da die Menschen geschichtliche Wesen sind und mit der
wechselnden Ordnung der Dinge veränderte Kulturkreise und neue Anschauungen von
Wert und Sinn des Daseins sich schaffen, so versuchen alle Künste, diesen Wandlungen
zu folgen. Jeder Künstler, der die Dinge mit den Augen der Gegenwart anzusehen und
das Geschaute in der seiner Zeit entsprechenden Form auszudrücken vermag, kommt sich
als Naturalist vor. Naturalismus in diesem Sinne ist ein derber Protest gegen abgestorbene
Ideale.“
die Gefahr liegt nahe, daß das fehlende Leben durch ein falsches Pathos,
durch theatralische Posen, daß das Künstlerische durch das Künstliche
ersetzt wird. Dieser Unnatur ist die ideale Kunst auf die Dauer weder in
der Poesie, noch in der Bildnerei jemals völlig entgangen: große feierliche
Linien ohne Inhalt, allzu gesuchte, ja affektierte Bewegungen, pathetische
Worte ohne alle Wärme sind ihre Symptome. Die entgegengesetzte Gefahr
droht der naturalistischen Kunst. Die Auswahl des Charakteristischen und
Individuellen kann gar zu leicht ins Kleinliche, Zufällige, Ideenlose verfallen.
Ja, in allen Epochen, wo der Naturalismus als Programm in bewußtem
Gegensatz zu dem einseitigen Schönheitskultus des idealen Stils
auftritt, wird er eine natürliche Neigung zeigen, das Häßliche ganz besonders
hervorzukehren, das Charakteristische ausschließlich oder doch vorwiegend
im Unschönen zu finden, wie es die moderne Dichtung vielfach
getan hat. Allein die Fähigkeit, Lust durch Unlust hervorzurufen, hat ihre
Grenzen, und wo diese überschritten werden, wo die Wirkung im Peinlichen
befangen bleibt, widerspricht die Kunst ihrem eigenen Wesen.
Der allgemeine Gegensatz der beiden Stilrichtungen tritt am anschaulichsten
hervor, wenn wir ihn in seiner Bedeutung für die Methode dichterischer
Charakteristik betrachten. Denn die Aufgabe, die für alle dramatische
wie epische Poesie ein für allemal die wichtigste ist, die Darstellung
menschlicher Charaktere in ihrer Eigenart und ihren Lebensäußerungen,
wird von naturalistischen und idealistischen Dichtern verschieden
angefaßt und gelöst. Die Methode der naturalistischen Kunst beruht vor
allem darauf, daß sie die Fülle einzelner, an sich zufällig erscheinender
Züge, welche die Wirklichkeit darbietet, soweit das technisch möglich
ist, in das Charakterbild mit aufnimmt: sie verfährt mithin individualisierend.
Die Idealkunst dagegen zeichnet in großen Umrissen, verschmäht
alles, was zufällig erscheinen kann, und schwächt das Individuelle
ab, indem sie es auf allgemeine Grundzüge zurückführt; mit einem Wort:
sie sucht das Typische wie jene das Individuelle. Das Verfahren des
Dichters entspricht völlig demjenigen des Porträtmalers. Die Porträtmalerei
zeigt uns deutlich den Unterschied zwischen der naturalistischen
Wiedergabe des Gesehenen, in der uns die Eigentümlichkeiten der Gesichtszüge
bis auf kleine und unbedeutende Einzelheiten, wie Warzen und Narben,
deutlich entgegentreten, und einer Auffassung, welche die Wiedergabe
solcher Einzelheiten grundsätzlich verschmäht und den Charakter nur in
seiner typischen Bestimmtheit, z. B. als majestätisch, tapfer oder dergleichen
darstellen will. So verhalten sich etwa die Bildnisse von Hans
Holbein oder Van Dyk zu den meisten Porträts von französischen und
deutschen Malern aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Dem entsprechend
charakterisiert der naturalistische Dichter seine Personen mit einer Fülle
individueller Einzelheiten, Eigentümlichkeiten des Temperaments, bestimmten
persönlichen Gewohnheiten. Fast jede Gestalt von Dickens gibt Beispiele
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hierfür, aber auch der Hofmarschall von Kalb oder der Musikus Miller
in Kabale und Liebe, der Mohr in Fiesko und, um in die Neuzeit zu
greifen, die Gestalten Flauberts und Zolas wie Tolstois und Dostojewskis
zeigen uns das Gleiche. Vor allem ist auch hier die Sprache Mittel und
Kennzeichen der charakterisierenden Kunst. Sie wird individuell behandelt,
nach Rang und Bildungssphären abgestuft; auch der einzelne wird durch
eigentümliche Gewohnheiten und Redewendungen von den anderen unterschieden.
Alles das vermeidet der Idealstil. Die Sprache seiner Dichtungen
ist gleichmäßig vornehm und getragen; die Personen werden durch Eigenschaften
allgemeiner Art gekennzeichnet, die sie zwar von anders gearteten
Menschen unterscheiden, aber zugleich mit ähnlich gerichteten zu einer
Kategorie verbinden. Die Art, wie die streng ideale Kunst charakterisiert,
läßt sich etwa an Goethes Iphigenie und Wilhelm Meister oder an Schillers
Tell am besten veranschaulichen. Es sind bestimmte, große, allgemeine
Züge, welche jede einzelne Person zugleich kennzeichnen und ins Typische
erheben.
Naturgemäß erscheinen aber die typische und die individualisierende
Zeichnung weit seltener in ihrer extremen Schärfe als in zahllosen Abstufungen
und Zwischenschattierungen in der Poesie. Die Unendlichkeit
des Kleinen und Einzelnen, aus der das Individuum besteht, kann kein
Künstler wiedergeben, und wenn er es könnte, würde vieles von dem, was
er zeigt, niemanden interessieren. Auch der charakterisierende Naturalist
bedarf mithin einer Auswahl unter den vorhandenen Zügen, so gut wie
der Idealist; er nimmt nur mehr von der Wirklichkeit auf als jener, und
schon dies beweist, daß es sich in der künstlerischen Praxis immer nur
um ein solches Mehr oder Weniger handelt. Wo nun aber die Charakteristik
sich sehr ins Kleine und Einzelne verbreitet, wird sie fast stets einen
komischen oder doch wenigstens humoristischen Eindruck hervorbringen:
daher der Dichter, dessen Stärke lebenstreue und scharfe Schilderung der
Charaktere in ihren Einzelheiten ist, immer etwas vom Humoristen haben
wird, wie Dickens oder Fritz Reuter. Zumal wo kleine Züge des täglichen
Lebens mit dem Ernst einer außergewöhnlichen und bedeutsamen Situation
kontrastieren, wirken sie komisch, wie etwa in Kein Hüsung die Schilderung
des alten Knechts, der sich zum sonntäglichen Kirchgang rasiert.
Dem naturalistischen Dichter wird es freilich oft genug willkommen sein,
wenn sich in dieser Weise der humoristische Eindruck in das Tragische
mischt: man denke etwa an den Erguß des Musikus Miller in Kabale
und Liebe, als ihm Ferdinand den Beutel Geld geschenkt hat, mit dem er
dem Ahnungslosen das Leben seiner Tochter bezahlen will. Allein
die idealisierende Kunst widerstreitet dieser Vermischung, sie strebt nach
einfachen großen Linien und Wirkungen. Sie verliert dadurch, daß sie
das Individuelle zurücktreten läßt, unleugbar etwas von der Lebendigkeit,
die eben nur am Individuellen haftet, allein sie verschmerzt das in dem
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Bewußtsein einer höheren Aufgabe: im Individuellen das Typische, im
Wirklichen die tiefere Wahrheit und allgemeine Notwendigkeit zu zeigen.
Wo nun freilich die Auswahl eine allzu strenge ist und die individuellen
Züge zu sehr verblassen, werden die Charaktere farblos und blutleer, wie
das z. B. in der klassischen Tragödie der Franzosen der Fall ist. Ja, sie
werden in ihrer typischen Allgemeinheit zu bloßen Schemen, die schließlich
nichts weiter als abstrakte Sinnbilder sind: statt der Typen schafft
der Dichter Allegorien. Mehrfach ist dies in Goethes späteren dramatischen
Dichtungen der Fall, selbst in der Pandora und der viel bewunderten
und viel gescholtenen Helena. Die zahlreichen einzelnen Schönheiten
sollten nicht darüber hinwegtäuschen, daß hier keine gesehenen und
erlebten Charaktere zu einem allgemeingültigen Bilde veredelt, sondern
daß geistvolle Ideen in Gestalten verkörpert sind, die zwar menschliche
Züge und zum Teil sehr anmutvolle Züge tragen, aber kein inneres Leben
haben und kein Miterleben möglich machen. Die Allegorie, das Spiel
mit dem Sinnbild, ist in der Poesie dann berechtigt und dichterisch wirksam,
wenn es sich darum handelt, einen abstrakten Gedanken anschaulich
und lebendig zu machen, also in Gedichten, die der Gedankenlyrik angehören,
wie etwa in Goethes „Meine Göttin“. Sie muß aber stets ihre
Wirkung verfehlen, wo sie in der dramatischen oder epischen Dichtung
mit dem Anspruch auftritt, Teilnahme für Handlungen oder Gestalten zu
erwecken, die nichts als Verkörperungen allgemeiner Ideen sind.
Daher finden wir denn, wenn auch nicht bei allen, so doch bei einigen
der größten Dichter der Weltliteratur das deutliche Streben, den Gegensatz
zu überbrücken und die Vorzüge beider Stilarten zu vereinigen. Shakespeare
verfährt bekanntlich so, daß er die ernsten oder tragischen Szenen, die bei
ihm durchweg auf den Höhen der Gesellschaft spielen, im pathetischen
Idealstil, die Volksszenen dagegen auch in den Tragödien naturalistisch
behandelt. Dieses Nebeneinander von zwei Stilarten ist freilich nur ein
unbeholfenes Mittel, um den Anforderungen beider Richtungen zu genügen,
und es ist ebenso begreiflich wie berechtigt, daß unsere deutschen Klassiker
statt dessen die Vereinigung beider auf einer mittleren Linie gesucht haben.
Ihnen schwebte eine Menschendarstellung vor, die zugleich typische Bedeutung
haben sollte, ohne doch abstrakt zu werden, und individuelle
Anschaulichkeit, ohne in peinliche Wiedergabe äußerer Wirklichkeit zu verfallen.
Das ist es, was Goethe als symbolische Kunst bezeichnete, und
eine solche strebte er sowohl wie Schiller in immer neuen Stilformen an,
nachdem sie die naturalistische Epoche, mit der ein jeder von beiden seine
Schöpferlaufbahn begonnen, überwunden hatten. Begreiflich, ja notwendig
war es, daß sie sich dabei bald dem einen, bald dem anderen Extrem
mehr näherten: es ist eben nicht eine Linie, sondern vielmehr eine breite
Zone, die beide Richtungen scheidet. Goethe findet mit genialem Takt
in der Iphigenie, im Tasso und im Egmont, er findet nicht minder in
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seinen Romanen künstlerische Formen und Gestalten, welche den Begriff
des Symbolischen verwirklichen. Dagegen neigt er in seinen späteren
Dramen, schon in der natürlichen Tochter und noch mehr im zweiten Teil
des Faust, bedenklich zum einseitig Typischen; in Pandora und Helena
führt diese Neigung, wie eben bemerkt, über die Grenze hinaus, jenseits
welcher die Allegorie beginnt. Schillers Entwicklungsgang ist schon
S. 194 in den Grundzügen angedeutet: im Wallenstein ist es ihm am vollkommensten
gelungen, den Ausgleich zwischen individuellem Leben und
symbolischer Bedeutsamkeit zu schaffen. Auch er nähert sich dann
Schritt für Schritt immer mehr der einseitig typisierenden Methode. Schon
in der Maria Stuart tritt das Individuelle gegenüber der Charakterzeichnung
im Wallenstein stark zurück. In der Jungfrau von Orleans unterscheiden sich
z. B. die einzelnen Ritter, seien es Franzosen oder Engländer, so gut wie
gar nicht voneinander; nicht einmal für Lionel hat der Dichter einen persönlichen
Zug gefunden, der die Leidenschaft seiner Heldin erklärlich machte.
In der Braut von Messina ist zwar das Geschlecht, dessen Untergang die
Tragödie behandelt, durch bestimmte Eigenschaften entschieden charakterisiert,
aber die Individualität der einzelnen Glieder desselben erscheint
doch wieder sehr beträchtlich ins Typische gemildert und damit abgeschwächt,
─ man betrachte z. B. die Gestalt der Beatrice. Im Wilhelm
Tell ist dem handelnden Volke ein Gesamtcharakter deutlich aufgeprägt,
allein die einzelnen unterscheiden sich wiederum im wesentlichen nur nach
Alter, Stand und höchstens nach Temperament; ─ der Titelheld allein ist,
wenn auch in großen Zügen, individuell gesehen. Im Demetrius dagegen
kehrte der Dichter in allem Wesentlichen zur Methode des Wallenstein
zurück und erreichte nach längerem, für die kurze Dauer seines Lebens
allzu langem Umweg wieder die volle Höhe dichterischer Gestaltungskraft.
Mit der Methode der Charakteristik hängt die Art der Milieuschilderung
unmittelbar und notwendig zusammen. Auch diese wird der idealistische
Dichter nur in allgemeinen und typischen Zügen behandeln, ja,
er wird sie oft genug nur andeuten, wie Goethe im Tasso, oder er wird
sogar gänzlich von ihr absehen, wie die klassische französische Dichtung,
Molière eingeschlossen, getan hat. Für den naturalistischen Dichter ist
dagegen die anschauliche Charakteristik der Verhältnisse und Umgebung,
aus der seine Menschen hervorgehen, unentbehrlich, denn diese letzteren
sind erst durch sie verständlich. Ja, er wird dazu neigen, seine Menschen
nur als Teilerscheinungen eines charakteristischen Milieus aufzufassen und
dadurch dem einzelnen ein Interesse zu entziehen, das er freilich dem
Ganzen dafür wieder zuwendet. So in einem großen Teil des Zolaschen
Romanzyklus Rougon Macquart, so besonders in Gerhart Hauptmanns
Webern und seinem Florian Geyer.
Das Typische ist zwar anschaulich, aber es verkörpert eine allgemeine
Idee. Daher ist man geneigt, in dem Dichter idealer Richtung
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auch immer zugleich einen Ideendichter zu sehen, d. h. zu glauben, daß
er nicht von der lebendigen Anschauung des Wirklichen, sondern von
allgemeinen Gedanken über das Wirkliche ausginge, die er dann lebendig
zu verkörpern suche. In Wahrheit ist bei keinem echten Künstler diese
Gefahr groß, selbst nicht bei so gedankentiefen Dichtern, wie unsere
Klassiker waren. Goethe ist, wie wir gesehen haben, in seinen späteren
Lebensjahren vereinzelt in sie verfallen, Schiller, dem allgemeinen Vorurteile
zum Trotz, fast niemals; nur Max und Thekla bilden eine leicht erkennbare
Ausnahme. Auch Hebbel, der ein Grübler war, von psychologischen
und kulturhistorischen Problemen bewegt und erfüllt, ist doch niemals von
allgemeinen und lehrhaften Gedanken, sondern stets von konkreten Anschauungen
des Lebens und der Geschichte ausgegangen; und ein Werk,
wie Grillparzers Sappho, das einen allgemeinen Gedanken zum deutlichsten
Ausdruck bringt, ist zunächst nichts anderes als die Verkörperung innerer
Erlebnisse des Dichters. Daß solche Erlebnisse und Anschauungen im
Laufe einer Dichtung auch in der Form allgemeiner Gedanken ausgesprochen
werden, liegt nahe. Will man sie dann als Grundgedanken oder Idee
des Werkes bezeichnen, so ist dieser Ausdruck am Ende nicht besser
und nicht schlechter wie viele andere; nur darf er nicht zu der Meinung
verführen, daß der Dichter von einem solchen Gedanken in seiner abstrakten
Form ausgegangen sei oder daß es gar im Wesen seiner Kunstrichtung
liege, von einer solchen auszugehen.
Dagegen zeigt die Literaturgeschichte umgekehrt die zunächst befremdliche
Tatsache, daß der Naturalismus, auf die Dauer, wenigstens fast stets in
eine ethische oder soziale Tendenz verfällt. Es scheint das ein Widerspruch
und ist doch natürlich genug. Jene gutmütige Verliebtheit in die Dinge,
von der Goethe spricht (vgl. S. 70), der nichts unbedeutend erscheint,
was ist, und der die treue Darstellung der Natur in all ihren Zügen als
Ziel künstlerischen Strebens vorschwebt, kann keine wahre Dichtung,
wenigstens keine der gegenständlichen Gattungen entbehren. Allein die
bloße ideenlose Wiedergabe eines Stücks Wirklichkeit kann wohl in den
bildenden Künsten befriedigen, weil hier die Schwierigkeiten der Technik so
erheblich sind, daß sie unter Umständen das höchste Interesse in Anspruch
nehmen. In der Poesie dagegen wird eine solche, wenn sie überhaupt möglich
ist, niemals dem Dichter oder seinen Hörern genügen; er wird daher
stets danach streben, dem Wiedergegebenen ideelle Bedeutsamkeit, typischen
Wert zu verleihen. Das erreicht der Idealist, indem er, wie es Goethe und
Schiller gern ausdrückten, statt der äußeren Wirklichkeit eine „höhere Wahrheit“
darstellt und in der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen die großen
allgemeinen Gesetze und Züge des Seins zur Anschauung bringt. Der
„Wirklichkeitsdichter“ jedoch wird mit dem Anspruch auftreten, den Hörer
darüber zu belehren, wie die Wirklichkeit beschaffen ist, und wenn er sich
dem inneren, insbesondere dem sittlichen Leben oder den sozialen Erscheinungen
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des äußeren Lebens zuwendet, so kann es kaum ausbleiben,
daß sich mit dieser Belehrung ein deutlich hervortretendes Werturteil verbindet,
daß mithin in die Dichtung eine außerkünstlerische Tendenz eindringt.
So in Schillers Räubern und Kabale und Liebe, so in Zolas
Rougon Macquart, so in Gerhart Hauptmanns Webern und in Dostojewskis
Raskolnikow. ─
Mit dem bisher Gesagten dürfte der grundlegende Unterschied des
naturalistischen und des Idealstils einigermaßen erschöpfend veranschaulicht
sein. Es berührt sich derselbe nun aber mit einem nicht minder bedeutungsvollen
Gegensatz, aus dem er in manchen Punkten Erklärung und richtige
Beleuchtung empfängt: dem Gegensatz zwischen objektiver und subjektiver
oder, wie es Schiller genannt hat, naiver und sentimentalischer Dichtung.
Bestimmt jener den Charakter des Stils, die Methode der Darstellung, so
betrifft dieser die innerliche Auffassung, die Anschauungsweise, mit welcher
der Dichter seinem Stoff gegenübertritt. Es wird notwendig sein, auch diesen
Wesensunterschied und seine Konsequenzen einer genaueren Betrachtung
zu unterziehen.
Schiller ist es bekanntlich,
der die Begriffe naive und sentimentalische Dichtung in die Poetik
eingeführt, systematisch ausgestaltet und für die literarische Betrachtung
verwertet hat. Seine gleichnamige Abhandlung in den Horen (1795/96) ist
bis heute der tiefgreifendste Versuch einer Klassifizierung der Poesie auf
Grund nicht formaler oder stofflicher Unterschiede, sondern der Verschiedenheit
der Anschauungsweise der Dichter, ihrer Stellung zur Wirklichkeit. Daher
darf auch die moderne Poetik nicht an dieser bedeutenden Schrift vorübergehen,
ohne von ihr zu lernen. Freilich bedürfen ihre Gedankengänge
in mehr als einer Hinsicht der Klärung und Ergänzung, wenn sie sich
noch heute als fruchtbar erweisen sollen.
„Der Dichter ist entweder Natur oder er wird sie suchen. Jenes
macht den naiven, dieses den sentimentalischen Dichter.“ Das Wesen des
Einen beruht auf der „möglichst vollständigen Nachahmung des Wirklichen“,
das des Anderen „auf der Erhebung der Wirklichkeit zum Ideal
oder, was auf eins hinausläuft, der Darstellung des Ideals“. „Und dies
sind auch die zwei einzig möglichen Arten, wie sich überhaupt der poetische
Genius äußern kann.“
Dies der Grundgedanke der Schrift. Er scheint einfach genug, und
dennoch zeigt sich bald, daß der Begriff, auf dem er beruht und der im
ganzen Verlaufe der Abhandlung als der herrschende hervortritt, der der
Natur, keineswegs eindeutig klar ist. In den Eingangsworten wird unter
diesem Ausdruck ganz einfach die leblose und lebendige Welt um uns
herum „in Pflanzen, Mineralien, Tieren, Landschaften“ verstanden, und diesen
wird der Mensch angereiht, soweit er „in Kindern, in den Sitten des Landvolks
und der Urwelt“ zur Erscheinung kommt. Diese Welt wird nun ganz
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im Goetheschen Sinn als einheitliche, organische und harmonische Schöpfung
betrachtet, deren klare und schöne Gesetzmäßigkeit in jedem ihrer
Teile, auch dem kleinen und kleinsten, zum Ausdruck kommt. „Wir lieben
in ihnen das still schaffende Leben, das ruhige Wirken aus sich selbst,
das Dasein nach eigenen Gesetzen, die innere Notwendigkeit, die ewige
Einheit mit sich selbst.“
Nun aber mischt sich in diesen Begriff ein Element anderen und
zwar moralischen Inhalts. Die Natur ist nicht an sich naiv, sondern sie
wird es erst durch unsere Betrachtung, und unser Wohlgefallen an ihr
ist „kein ästhetisches, sondern ein moralisches“. „Zum Naiven wird erfordert,
daß die Natur über die Kunst den Sieg davontrage.“ Die Vollkommenheit
der Natur wird zum Spiegelbild für den fortgeschrittenen
Menschen, der sich von ihr entfernt hat, ein Spiegelbild, das ihm seine
Schwächen und Gebrechen zeigt und ihn die Harmonie, die ihm selbst fehlt,
schmerzlich vermissen lehrt. Die Natur wird zum Ideal und als solches der
Wirklichkeit nicht gleichgestellt, sondern entgegengesetzt. „Von der wirklichen
Natur“, sagt Schiller, „kann die wahre Natur, die das Subjekt
naiver Dichtungen ist, nicht sorgfältig genug unterschieden werden.“ „Der
Dichter sucht die Natur, aber als Idee und in einer Vollkommenheit, in der
sie nie existiert hat.“ Die Begriffe Natur und Ideal fallen für ihn somit
im wesentlichen zusammen, und daher ist im Fortgang der Abhandlung
z. B. die Sehnsucht nach der verlorenen Natur ganz gleichbedeutend mit
der nach dem Ideal. Es ist also ein moralischer Begriff, den der
Dichter in die künstlerische Betrachtung hineinträgt, und er bezeichnet im
wesentlichen nichts anderes als die geistige und sittliche Harmonie des
Menschen, den Inbegriff der Humanität, wie ihn das klassische Zeitalter
faßte. „Die Natur macht den Menschen mit sich eins, die Kunst trennt
und entzweit ihn, durch das Ideal kehrt er zur Einheit zurück.“ An diesem
moralischen Ideal mißt der sentimentalische Dichter die Wirklichkeit und
findet sie unzulänglich. Die verlorene Harmonie bildet den eigentlichen
Inhalt seiner Dichtung, ─ verloren, denn sie hat einst bestanden, sie war
einst eine Tatsache des Lebens, nunmehr aber ist sie bloß ein Gedanke,
der erst realisiert werden soll.
Diese Begriffsgebilde führen uns unmittelbar auf die Elemente, durch
die Schillers Weltanschauung im allgemeinen bestimmt ist. Sie wären nicht
zu verstehen, wenn wir nicht wüßten, daß Rousseaus Welt- und Naturansicht
es ist, die auf Schillers Denkweise entscheidend eingewirkt hat;
sie ist hier zusammen mit den Grundzügen Kantscher Ethik zu einem
eigenartigen Lehrgebäude gestaltet, das den Bedürfnissen des Dichterphilosophen,
seine Kunst auf dem Grunde einer zugleich ethischen und
ästhetischen Weltanschauung zu verstehen und zu würdigen, entspricht.
Was wir im zweiten Abschnitt dieses Buches (S. 8 ff.) über den Charakter
der klassischen Ästhetik im allgemeinen erkannt haben, das tritt uns
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hier an einem typischen Beispiel entgegen. Schiller engt durch eine moralische
Anschauungsweise, die geschichtlich und psychologisch verständlich,
aber nicht im Wesen der Kunst begründet ist, die Begriffe gewaltsam ein,
die er seiner ästhetischen Betrachtung zugrunde legt. Er bezeichnet als
die Aufgabe der Poesie, „der Menschheit ihren möglichst völligen Ausdruck
zu geben“; er formuliert scharf die zwei möglichen Arten, in denen
diese Aufgabe erfüllt werden, in denen „sich überhaupt der poetische
Genius äußern“ kann: erstens „die möglichst vollständige Nachahmung des
Wirklichen“ und zweitens „die Darstellung des Ideals“. Wenn aber diese
Alternative erschöpfend sein soll, so darf das Ideal, von dem hier die Rede
ist, offenbar nicht nur nicht einem einzelnen moralischen System entnommen
sein, sondern man hat überhaupt keinen Grund, ihm einen einseitig moralischen
Inhalt zu geben. Es ist wiederum allein aus dem Einfluß der
Kantischen Ethik verständlich, wenn Schiller nur die Sehnsucht nach der
Vollkommenheit, nicht aber die nach höherer Glückseligkeit für würdig eines
Dichters erklärt. Hier stoßen wir auf die Schranken, die Schillers Philosophie
am schärfsten von der modernen Lebensanschauung, wie auch schon von
der Goethes trennen. Einen ästhetischen Grund, zwischen beiden Idealen
zu scheiden, kann es nicht geben; es macht für den künstlerischen Charakter
eines Gedichtes keinen Unterschied, ob der Dichter die allgemeinen oder
nur seine persönlichen Zustände und Wünsche im Auge hat.
Sehen wir nun aber von dieser Einseitigkeit ab, die nicht im Wesen
der Sache sondern in der Persönlichkeit Schillers ihren Grund hat, so bleibt
uns als herrschender Gesichtspunkt für die Einteilung der Poesie das Verhältnis
des Dichters zur Wirklichkeit einerseits, zu seinen Idealen andrerseits.
Dieses Verhältnis hat Schiller mit klassischer Klarheit und Folgerichtigkeit
bestimmt, und die Einteilung, die sich ihm ergibt, ist in ihren wesentlichen
Zügen unanfechtbar. Hiernach verhält sich der Dichter zu seinem Gegenstande
entweder naiv (wir können auch objektiv dafür sagen) oder sentimentalisch
(subjektiv). Der objektive Dichter strebt die reine Wiedergabe
(„die möglichst vollständige Nachahmung des Wirklichen“) an. Die völlige
Versenkung in seinen Gegenstand ist der entscheidende Charakterzug: seine
Person als solche, sein Urteil, seine Empfindungsweise tritt nirgends hervor.
Der subjektive Dichter dagegen steht seinem Gegenstand mit dem Bewußtsein
eines Kontrastes gegenüber; indem er sein Ideal, wir dürfen jetzt sagen:
sei es allgemeiner oder persönlicher, sei es sittlicher oder selbstsüchtiger Art,
auf die Wirklichkeit anwendet, kommt ihm der Widerstreit zwischen beiden
zum Bewußtsein, ein Widerstreit, der freilich in der Phantasie überwunden
werden und zur Darstellung des erreichten Ideals führen kann. Hieraus ergibt
sich nun die weitere Einteilung der sentimentalischen Poesie. Schiller nennt
sie elegisch, wenn sie das verlorene Ideal als Ziel der Sehnsucht, satirisch,
wenn sie die Wirklichkeit als Gegensatz zum Ideal darstellt, idyllisch, wenn
sie die erträumte Übereinstimmung von Ideal und Wirklichkeit zum Ausdruck
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bringt. Die Phantasie nämlich vermag, wie eben angedeutet, jenen Gegensatz
zu überwinden und das Ideal als erreicht vorzustellen und auszumalen.
Schillers Gedichte „das Glück“ und „der Genius“ möchten am besten veranschaulichen,
was er unter dem Begriff des „Idylls“ versteht, im größeren
Stil auch Dantes Paradies. Im allgemeinen aber liegt es in der Natur der
Sache, daß Gedichte dieser Gattung selten sein werden, daß die Stimmung,
aus der sie hervorgehen, die erreichte Harmonie des verwirklichten Ideals,
für gewöhnlich nur als Teil und zumeist als Schluß einer größeren Dichtung
auftreten wird, wie in der Apotheose des Faust. Wir haben den Grund schon
früher (S. 65 f., vgl. S. 110 f.) gesehen, wir wissen, warum Schillers Herakles-
Idyll nicht zustande gekommen ist: der Dichter bedarf wie der Musiker der
Disharmonien, und die Darstellung des erreichten Ideals schließt sie aus.
Viel umfangreicher ist daher die Zahl der Dichtungen, welche das
Ideal als verloren betrachten und beklagen. Schiller faßt sie als elegische
Gattung zusammen: das Wort bedeutet in dem allgemeinen Sinn, in
welchem er es verwendet, soviel wie Sehnsuchtspoesie. Schillers Götter
Griechenlands bilden den Typus dieser Gattung, aber gerade sie lassen
deutlich erkennen, daß die Sehnsucht des Dichters keineswegs bloß einer
sittlichen Vollkommenheit gilt, wie es seine Theorie verlangt. Viele Oden
Klopstocks, besonders deutlich die „frühen Gräber“, zeigen das gleiche.
Von Goethe sind „Jägers Abendlied“ und „das zweite Nachtlied des Wanderers“
bezeichnende Beispiele. Von Heine gehört ein großer Teil des
Zyklus „die Nordsee“ (besonders „Nachts in der Kajüte“) und vieles aus
dem „Buch der Lieder“ hierher. Denn es ist ja wohl klar, daß auch
erotische Gedichte, in denen die Vereinigung mit der Geliebten das ersehnte
Ideal darstellt, dabei nicht ausgeschlossen bleiben können.
Einen wesentlich anderen Charakter erhält die Dichtung endlich drittens,
wenn sie den Ton nicht auf das vermißte Ideal, sondern auf die unvollkommene
Wirklichkeit legt und hiermit nach Schillers Ausdruck satirisch
wird.
„Der Widerspruch der Wirklichkeit mit dem Ideal“ bildet den Gegenstand
des satirischen Dichters. „Es ist nicht nötig, daß das letztere ausgesprochen
werde, wenn der Dichter es nur im Gemüt zu erwecken weiß;
dies muß er aber schlechterdings, oder er wird gar nicht poetisch wirken.
Die Wirklichkeit ist also hier ein notwendiges Objekt der Abneigung; aber
worauf hier alles ankommt, diese Abneigung selbst muß wieder notwendig
aus dem entgegenstehenden Ideale entspringen.“ Die Satire kann entweder
scherzhaft oder pathetisch und strafend sein. Jenes ist sie, wenn sie die
Unvollkommenheit des Wirklichen nur von seiten des Verstandes, dieses,
wenn sie von dem Gebiete des Willens aus, unter dem Gesichtspunkt des
Sittengesetzes das Leben beleuchtet. Für die scherzhafte oder spottende
Satire führt Schiller neben Lucian den Don Quichote, Sternes Yorik,
Wielands Dichtungen und mit minderer Anerkennung Voltaire an; für die
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pathetische „Juvenal, Swift, Haller“. ─ Ob die Grenzlinie zwischen beiden
Arten ebenso richtig gezogen ist, wie sie scharf erscheint, werden wir
später (S. 232 f.) Gelegenheit haben zu untersuchen. Jedenfalls ist die Einführung
des Begriffs der pathetischen Satire einer der fruchtbarsten Gedanken
dieser geistvollen Abhandlung: wie die großen Satiriker des späteren
Roms, besonders Persius und Juvenal, erst hierdurch an die richtige Stelle
treten, so rücken auch Schillers eigene Jugendwerke in ein neues Licht.
Überhaupt sind diese Gesichtspunkte und Einteilungen für die literarhistorische
wie für die kritische Betrachtung höchst wertvoll. Schon die
Charakteristiken älterer und zeitgenössischer Dichter, die Schiller selbst an
sie knüpft, beweisen das. Gewisse Forderungen, wie die, welche er gegenüber
dem einseitigen Naturalismus und Idealismus erhebt, können nicht
besser und tiefer begründet werden, als das hier geschieht. Gleichwohl
erheben sich gegen das Hauptergebnis seiner Betrachtungen noch einige
wesentliche Bedenken, die zwar nicht zu einer Widerlegung, wohl aber zu
einer Einschränkung führen.
Offenbar nämlich ist es ein Irrtum Schillers, wenn er glaubt, aus der
Unterscheidung der naiven und sentimentalischen Poesie zwei absolut verschiedene
Kunstgattungen und gar zwei ebenso entgegengesetzte Arten von
Dichtern ableiten zu können. Er selbst gibt zu, daß jedes wahre Genie
naiv sein muß („seine Naivetät allein macht es zum Genie“), daß auch
der sentimentalische Dichter im einzelnen durch naive Schönheit rühren
muß („ohne das würde er überhaupt kein Dichter sein“), und daß man
„nicht nur in demselben Dichter, auch in denselben Werken häufig beide
Gattungen vereinigt antrifft“. Schon aus den angeführten Wendungen
scheint daher hervorzugehen, daß jede Dichtung als solche zunächst naiv
oder genauer objektiv sein, d. h. daß sie ein unmittelbares Erlebnis, ein
Stück Wirklichkeit darstellen oder wenigstens andeuten muß. In der sentimentalischen
Dichtung kommt nun noch etwas hinzu; sie enthält objektive
Darstellung und subjektives Sentiment, und ihre Arten und Möglichkeiten
unterscheiden sich nach der Verschiedenheit dieser begleitenden
Empfindung, während sie andrerseits auf der gemeinsamen Grundlage beruhen,
aus der auch die naive Dichtung erwächst.
In der Tat kann es nur in der Lyrik Dichtungen geben, in denen
die objektive Grundlage, das Erlebnis als solches, gänzlich getilgt oder
doch nur durch leise Andeutungen ersetzt ist. Wir haben solche Gedichte
in unserer Betrachtung der Lyrik kennen gelernt: ich erinnere
zur Veranschaulichung an Novalis' Hymnen an die Nacht, an Goethes
Ganymed, an Hölderlins Schicksalslied; auch manche Liebeslieder gehören
hierher, besonders kleinere, die nichts als der Ausdruck der Sehnsucht
oder des Glücks sind. Freilich kann auch, wie Schiller richtig bemerkt,
ein rein innerliches Erlebnis objektiv dargestellt, also ein sentimentalischer
Stoff naiv behandelt werden. Mit dem Beispiel, das Schiller dafür gibt,
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dem Werther, vergreift er sich freilich; aber vielen Volksliedern („Wenn ich
ein Vöglein wär'“) und manchen ihnen nachgebildeten Gedichten, wie
Eichendorffs „Wohin ich geh' und schaue“, wird niemand den Charakter
der Naivetät absprechen. ─ Diese rein subjektiven Gedichte also stellen
ein Extrem dar, dem als Gegenpol die rein objektiven Dichtungen entsprechen
würden. Das Volksepos der Griechen und der Deutschen, die
Dramen Shakespeares bilden solche Gegenpole. Der objektive Charakter
dieser Dichtungen ist zweifellos. „Das Objekt besitzt der Dichter gänzlich,
sein Herz liegt nicht wie ein schlechtes Metall gleich unter der Oberfläche,
sondern will, wie das Gold, in der Tiefe gesucht sein. Wie die
Gottheit hinter dem Weltgebäude, so steht er hinter seinem Werk, er ist
das Werk und das Werk ist er; man muß des erstern schon nicht wert
oder nicht mächtig oder schon satt sein, um nach ihm nur zu fragen.“
Diese Charakteristik ist ebenso schön wie zutreffend. Ob aber darum das
Subjekt des Dichters gänzlich ausgetilgt ist, wird man gleichwohl bezweifeln
müssen, wie uns das unsere Betrachtung der epischen Poesie gelehrt
hat. Die Parteinahme des Dichters, wenn er Kämpfe, zumal wenn
er den Untergang seiner Helden schildert, ist selbst bei Homer, besonders
aber im Nibelungenlied, fühlbar genug, auch wenn sie nicht unmittelbar
ausgesprochen wird (vgl. oben S. 147 f.). Shakespeares Bestreben, eine
moralische Weltordnung zur Geltung zu bringen, tritt in fast allen seinen
Dramen deutlich genug hervor. Zwischen beiden Extremen nun aber zieht
sich verbindend eine lange Kette hin, deren Glieder die verschiedensten
Dichterindividualitäten darstellen und stets aus einer verschiedenen Mischung
objektiver und subjektiver Elemente gebildet sind. Auch hier also gibt die
Wirklichkeit nicht die Schärfe einer zugespitzten Begriffsantithese wieder,
wie Schiller sie liebte, sie zeigt vielmehr, ebenso wie bei dem Verhältnis
von Naturalismus und Idealstil, eine skalenartige Reihe, die von einem
Gegensatz zum anderen führt.
Endlich fragt es sich, ob Schiller mit seiner Klassifikation, insbesondere
mit der Dreiteilung der sentimentalischen Poesie, tatsächlich alle möglichen
Stellungnahmen des Dichters zur Wirklichkeit und zum Ideal erschöpft
hat. Wie steht es mit der Weltauffassung des Tragikers, wie mit
der des Humoristen? Schiller setzt zwar offenbar die Tragödie mit der
ernsthaften Satire, die Komödie mit der scherzhaften gleich. Allein hierdurch
werden beide Begriffe enger umgrenzt, als es der literarischen Überlieferung
und der dichterischen Praxis entspricht, und es ist daher vielmehr
wahrscheinlich, daß wir in der Tragik sowohl wie im Humor eigenartige
Positionen vor uns haben, die den von Schiller aufgestellten selbständig zur
Seite treten. Die Untersuchung ihres Wesens wird uns darüber belehren.
Bevor wir jedoch das Wesen des Humors und sein Verhältnis zur
Satire durchschauen können, ist es nötig, die Natur des Komischen überhaupt
ins Auge zu fassen, aus der beide erst völlig verständlich werden.
Die Frage nach der Natur des Komischen zeigt
uns eine sonderbare Erscheinung. Täglich in Leben und Lektüre stoßen
wir auf Gegenstände und Vorgänge, die wir als lächerlich oder belustigend
empfinden, und doch, sobald wir uns fragen, durch welche Eigenschaft
diese Wirkung hervorgebracht wird, so gleitet sie uns gleichsam aus
der Hand und weicht vor unseren Augen ins Nebelhafte zurück. Auch
die Wissenschaft hat vergeblich versucht, durch psychologische Analyse
dem Phänomen auf den Grund zu kommen; sie ist bisher noch nicht zu
einer einheitlichen Auffassung gelangt. Die Erklärungen, welche die Ästhetik
im Laufe ihrer Entwicklung vom Wesen des Komischen aufgestellt hat,
bieten ein buntes, verworrenes Bild; eine Auffassung wird von einer anderen
bekämpft und verdrängt, die frühere gelegentlich von einem späteren
Denker wieder aufgenommen; nicht selten, zumal in der neuesten Zeit,
treten uns auch Versuche entgegen, Abweichendes zu vereinigen oder zu
verschmelzen.
Lehrreich ist zunächst ein kurzer Überblick: selbstverständlich kann es sich nur
um die geschichtlich wichtigsten oder sachlich bedeutendsten Erklärungsversuche handeln.
Auch hier steht Aristoteles an der Spitze. Seine oft angeführte Definition des
Lächerlichen lautet: es sei „eine schmerzlose und unschädliche Unzulänglichkeit und
Häßlichkeit“. (τὸ γελοῖόν ἐστιν ἁμάρτημα τι καὶ αἶσχος ἀνώδυνον καὶ οὐ φθαρτικόν. Poetik Kap. 5.)
Nicht länger noch eingehender ist die Definition Lessings (Dramaturgie Stück 28).
„Jede Ungereimtheit, jeder Kontrast von Mangel und Realität ist lächerlich.“
Jean Paul, Vorschule der Ästhetik (Werke Bd. 18 S. 202 f.): „Wenn nun der Verstand
eine solche Reihe von Verhältnissen auf die leichteste, kürzeste Weise während der dunkeln
Perspektive einer anderen wahren zugleich zu überschauen bekommt: könnte man dann
nicht den Witz, als eine so vielfach und so leicht spielende Tätigkeit, den angeschaueten
oder ästhetischen Verstand nennen, wie das Erhabene die angeschauete Vernunftidee und
das Komische den angeschaueten Unverstand?“
Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung § 13: „Das Lachen entsteht
jedesmal aus nichts anderem als aus der plötzlich wahrgenommenen Inkongruenz zwischen
einem Begriff und dem realen Objekt, das durch ihn in irgend einer Beziehung gedacht
worden war, und es ist selbst eben nur der Ausdruck dieser Inkongruenz. ─ Je richtiger
nun einerseits die Subsumtion solcher Wirklichkeiten unter den Begriff ist, und je größer
und greller andrerseits ihre Unangemessenheit zu ihm, desto stärker ist die aus diesem
Gegensatz entspringende Wirkung des Lächerlichen.“
Unter den neueren Psychologen ist zuerst Fechner dem Problem des Komischen
näher getreten. (Vorschule der Ästhetik I S. 221 ff.) Er führt „die Fälle, welche den
Charakter der Ergötzlichkeit, Lustigkeit, Lächerlichkeit tragen“, auf das „Prinzip der einheitlichen
Verknüpfung des Mannigfaltigen“ zurück. Insbesondere „erwecken uns Vergleiche
wie Wortspiele um so größeres Gefallen und finden wir sie um so leichter lustig und
selbst lächerlich, je treffender, leichter faßlich die einheitliche Verknüpfung einerseits, je
größer die Verschiedenheit oder der anscheinende Widerspruch, der dadurch vermittelt
wird, andrerseits, je ungeläufiger, unerwarteter, überraschender, fernerliegend die Weise
der Verknüpfung drittens ist.“
Etwas abweichend Wundt (Grundzüge der physiologischen Psychologie, 4. Aufl.,
Bd. 2): „Beim Komischen stehen die einzelnen Vorstellungen, welche ein Ganzes der Anschauung
oder des Gedankens bilden, untereinander oder mit der Art ihrer Zusammenfassung
teils in Widerspruch, teils stimmen sie zusammen. So entsteht ein Wechsel der
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Gefühle, bei welchem jedoch die positive Seite, das Gefallen, nicht nur vorherrscht,
sondern auch in besonders kräftiger Weise zur Geltung kommt, weil es, wie alle Gefühle,
durch den Kontrast gehoben wird.“ ─
Schon der englische Philosoph Hobbes macht gelegentlich die Bemerkung, das
Gefühl des Komischen entspringe „dem plötzlich auftauchenden Selbstgefallen, das sich
ergeben aus der Vorstellung einer Überlegenheit unseres Selbst in Vergleich mit der Inferiorität
anderer oder der Inferiorität, die wir selbst empfunden“. Eine eingehendere Lehre
vom Komischen hat Karl Groos (Einleitung in die Ästhetik, Gießen 1892) auf die gleiche
Auffassung begründet. Scharfsinnig unterscheidet er zwischen dem Komischen, soweit es
außerhalb der Kunst uns entgegentritt, und dem ästhetisch Komischen. Das erstere führt
er ganz und gar auf jenes Gefühl der Überlegenheit über etwas Verkehrtes zurück. „Wir
haben bei jedem Komischen das behagliche Pharisäergefühl, daß wir nicht sind wie dieser
Verkehrten einer.“ (S. 392.) Dieses Gefühl gilt uns selbst, insofern wir, um die Verkehrtheiten
zu verstehen, genötigt waren, einen Augenblick an ihr teilzunehmen, in sie einzugehen.
Dieses letztere Moment ist nun der Ursprung des ästhetisch Komischen. Denn
das Wesen der ästhetischen Anschauung beruht „in der inneren Nachahmung“, und wenn
diese in dem ganzen Prozeß eine herrschende Stellung einnimmt, so tritt „der feinere
Genuß des ästhetischen Verhaltens ein“, „die gröbere außerästhetische Lust an der eigenen
Überlegenheit wird zurückgedrängt“. (S. 406). „Die Erhöhung unseres Selbstgefühls wird
nicht mehr der eigentliche Zweck sein, sondern nur noch die heitere Grundstimmung
bilden, mit der wir spielend immer wieder in die innere Nachahmung des Verkehrten
eingehen.“ ─
„Das Lachen ist ein Affekt aus der plötzlichen Verwandlung einer gespannten Erwartung
in nichts,“ so die bedeutsame Definition Kants in der Kritik der Urteilskraft § 54.
„Wir lachen nicht, weil wir uns etwa klüger finden als ein Unwissender, oder sonst über
etwas, was uns der Lust hierin Wohlgefälliges bemerken ließe.“ Auf dieser Grundanschauung
baut Lipps (Komik und Humor. Eine psychologische ästhetische Untersuchung.
Hamburg und Leipzig 1898) seine eingehende und scharfsinnige Theorie des Komischen
auf, indem er sie mannigfach modifiziert und bereichert. „Das Gefühl der Komik entsteht,
indem ein ─ gleichgültig ob an sich oder nur für uns ─ Bedeutungsvolles oder Eindrucksvolles
für uns oder in uns seiner Bedeutung oder Eindrucksfähigkeit verlustig geht.“
Oder wie es an einer andern Stelle heißt: „Das Gefühl der Komik ensteht überall, indem
der Inhalt einer Wahrnehmung, einer Vorstellung, eines Gedankens den Anspruch auf
eine gewisse Erhabenheit macht oder zu machen scheint, und doch zugleich eben diesen
Anspruch nicht machen kann oder nicht scheint machen zu können.“
In diese Reihe von Begriffsbestimmungen habe ich diejenigen nicht aufgenommen,
die, wie es hauptsächlich bei den Romantikern und den von ihnen beeinflußten Philosophen
geschehen ist, das Komische von einem metaphysischen oder ihm verwandten, allgemein
ästhetischen Standpunkt aus zu erfassen suchen, und ebensowenig die rein psychologischen
und physiologischen Theorien, denen es ausschließlich auf den Zustand des Subjekts,
nicht auf das objektiv Komische, das uns hier allein interessiert, ankommt. Und doch
sieht man beim ersten Blick, wie wenig den angeführten Lehren gemeinsam ist, wie gänzlich
verschieden die Art, in der sie sich des Gegenstandes zu bemächtigen suchen. Freilich,
auch das tritt schon bei kurzer Betrachtung hervor, daß unter den angeführten Definitionen
einige offenbar zu weit, andere hingegen zu eng sind, und überdies den meisten etwas
Schiefes anhaftet, das von dem eigentlichen Untersuchungsgebiet abführt. Zu weit ist,
wie man auf den ersten Blick sieht, die Definition des Aristoteles. Baumgart, der
konservativste unter den modernen Vertretern der Poetik, sieht freilich in dieser Definition
immer noch die einzige stichhaltige Erklärung und sucht in einem längeren Abschnitt
seines Werkes (Handbuch der Poetik, Stuttgart 1887) das Wesen der komischen
Dichtung hieraus abzuleiten. Allein in Wahrheit gibt der griechische Denker nichts als ein
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übrigens rein negatives Kennzeichen an, indem er feststellt, daß die komische Wirkung
den Gedanken an etwas Schädliches ausschließt; wenn er aber behauptet, daß jedes unschädliche
Häßliche und Mangelhafte lächerlich wirke, so kann uns die Erfahrung täglich
vom Gegenteil überzeugen. Weder ein häßlicher Mensch, noch ein mißgestaltetes
Tier erregt ohne weiteres unser Lachen, und nicht minder falsch wäre die Umkehrung des
Gesetzes, als ob alle komische Wirkung durch etwas Häßliches oder Mangelhaftes hervorgebracht
würde.
Lessings Bestimmung wendet sich in ihrem Zusammenhang, wie man nicht übersehen
darf, gegen die engherzige moralisierende Äesthetik seiner rationalistischen Vorgänger:
es kommt ihm darauf an, zu zeigen, daß die Wirkung der Komödie, wie das
Gefühl des Komischen überhaupt, nicht notwendigerweise durch einen moralischen Mangel
hervorgebracht werden müsse. Seine Äußerung hat, wie viele andere in der Dramaturgie,
wesentlich negative Bedeutung, sie will eine Schranke niederreißen, nicht aber eine Theorie
des Komischen begründen. Kein Wunder also, wenn sie, als Definition genommen, zu
weit ausfällt und dem Wortlaut nach Gegenstände unter den Begriff des Komischen zu
fassen scheint, die in Wahrheit nichts weniger als komisch sind, nämlich alles Verkümmerte
und Verkrüppelte.
Auch die Erklärungen Fechners und Wundts sind nicht erschöpfend, wie das namentlich
in Fechners Darstellung hervortritt. Die Verknüpfung des Mannigfaltigen kann auf
die verschiedenste Weise zustande kommen, und phantastische Gedankensprünge brauchen
nichts Komisches zu enthalten: ein Centaur ist an sich keine belustigende Vorstellung, und
selbst die Idee, eine solche Gestalt im modernen Leben erscheinen zu lassen, braucht,
wie man sich aus einer schönen Novelle Paul Heyses überzeugen kann, keineswegs als
Witz zu wirken. Etwas anders steht es mit der Schopenhauerschen Erklärung des Komischen.
Sie bringt unzweifelhaft ein logisches Verhältnis, das bei jeder Art der komischen Wirkung
hervortritt, richtig zum Ausdruck; aber mit diesem Kennzeichen ist weder die psychologische
Wirkung, noch das reale und objektive Wesen des komischen Gegenstandes
irgendwie erklärt. Vor wie nach werden wir also genötigt, nach diesem Wesen zu forschen.
Inhaltvoller und bedeutsamer als diese rein formalistischen Erklärungsversuche sind
die Lehren von Hobbes und Groos einer-, Kant und Lipps andrerseits. Dennoch überzeugt
man sich leicht, daß das Gefühl der Überlegenheit nicht ausreicht, um den ganzen
Umkreis komischer Wirkungen zu erklären. Am deutlichsten tritt das bei den Erscheinungen,
von denen Fechner ausgeht, also bei Wortspielen und witzigen Vergleichen, hervor.
Wem soll sich der Hörer da überlegen fühlen, sofern sie nicht etwa zufällig auf Kosten
eines Dritten gemacht sind? Man betrachte etwa die scherzhafte Rätselfrage. Wenn die
Komik hier wirklich auf dem Gefühl der Überlegenheit (sei es auch uns selbst gegenüber)
beruhte, so könnten wir sie offenbar nur empfinden, wenn wir die Lösung selber fänden,
nicht aber wenn wir sie von einem andern hören müßten; und gerade auf das letztere ist
doch diese ganze Art von Scherzen berechnet. Aber auch die Dichtung fügt sich nur sehr
gezwungen unter Groos' an sich geistreiche Erklärung. Wenn wir über die Amme in
Romeo und Julia oder über den Kapuziner in Wallensteins Lager lachen, so liegt uns
doch wohl jeder (auch unbewußte) pharisäische Vergleich unserer eigenen Persönlichkeit
mit diesen Gestalten, aus dem ein Gefühl unserer Überlegenheit hervorgehen könnte,
völlig fern. Auch ist Groos feinfühlig genug, um diese Idee abzuweisen, aber sollten wir
uns wirklich, wie er behauptet, wenn auch nur momentan, soweit mit diesen Gestalten
identifizieren, daß wir schließlich über uns selbst lachten? Das ist geistreich konstruiert,
aber entspricht nicht dem psychologischen Vorgang, den wir an uns oder anderen beobachten
können. ─ Man muß die Erörterungen, mit denen Lipps die einzelnen Arten des
Komischen feststellt und durchgeht, selbst lesen, um zu sehen, daß für sie ganz Ähnliches
gilt. Auch ihnen ist in allzu viel Fällen der Charakter des Gezwungenen und Gewundenen
aufgedrückt. Das ganze Gebiet der Charakterkomik insbesondere will sich der Definition
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nicht einordnen, und auch sonst tritt in einer Reihe von Einzelheiten die Diskrepanz
hervor. Auffallend namentlich ist es, wie oft die komischen Beispiele, die Lipps aus dem
Leben anführt, gar nicht komisch wirken. Dennoch wird man das Buch nicht aus der
Hand legen ohne das Gefühl, daß hier wie auch bei Groos Elemente und Ansätze zum
Verständnis des Problems gegeben sind, die jede ernsthafte Untersuchung zu berücksichtigen
hat.
Alle diese Erklärungsversuche gehen darauf aus, das Wesen des Komischen
in seinen verschiedenen Erscheinungen auf einen gleichartigen
psychologischen Vorgang oder eine ebenso einheitlich bestimmte objektive
Eigenschaft zurückzuführen. Sie alle setzen voraus, daß es eine solche
einheitliche Grundlage des Komischen gebe, in welcher Gestalt es sich
auch darstellen möge. Allein diese Voraussetzung hat sich bisher nicht
bestätigt. Keiner der eingeschlagenen Wege hat zur Lösung des Problems
geführt, so mancher wertvolle Beitrag im einzelnen auch zu Tage gefördert
ist. Das Lächerliche zeigt sich uns nach wie vor in einer Reihe heterogener
Erscheinungen, unter verschiedenen Bedingungen auftauchend und durch
verschiedene Ursachen hervorgerufen. Diese Erscheinungen lassen sich auf
eine Anzahl von Grundformen zurückführen, und für einzelne derselben
hat einer oder der andere der angeführten Denker eine einleuchtende Lösung
gefunden. Daher ist es begreiflich, wenn er in solchen Fällen das Gesamtwesen
der Komik aufgedeckt zu haben meint; allein berechtigt ist
dieses Verfahren nicht, da es offenbar die Spezies für die Gattung setzt und
um des Begriffs willen den Tatsachen Gewalt antut. Die wissenschaftliche
Methode verlangt, daß die einzelnen Klassen von Erscheinungen zunächst
einzeln beschrieben und erklärt werden: ergibt sich dabei die erwünschte
Einheit, um so besser; ergibt sie sich nicht, so müssen wir eben bei der
Verschiedenheit stehen bleiben. Denn an sich ist es nicht einzusehen,
warum jene Einheit als Grundlage überhaupt vorhanden sein muß. Die
Arten der komischen Wirkungen könnten sehr wohl auf verschiedenen
psychologischen oder ästhetischen Vorgängen beruhen, und was sich zu
einer systematischen Einheit nicht untereinander fügen will, das könnte
doch nebeneinander seine Richtigkeit haben. Versuchen wir es daher,
für die einzelnen Typen des Lächerlichen, wie sie sich dem unbefangenen
Blick darstellen, ein Verständnis zu gewinnen. Wir werden dabei unserer
Aufgabe gemäß die komischen Wirkungen, wie sie in der Dichtkunst
hervortreten, in erster Reihe ins Auge fassen, allein wir müssen die unmittelbaren
Erfahrungen des Lebens zu Hilfe rufen, soweit sie uns durch
fruchtbare Analogien das Wesen der ästhetischen Vorgänge zu erschließen
vermögen.
Eine solche Betrachtung zeigt uns nun zunächst, daß das, was die
Menschen als komisch empfinden, nicht zu allen Zeiten und unter allen
Umständen dasselbe ist, vielmehr sich mit der fortschreitenden geistigen
Entwicklung verändert. Primitive Völker und Zeiten werden durch andere
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Dinge belustigt und erheitert als hoch kultivierte, Kinder durch andere
als Erwachsene, ein Publikum aus den unteren Volksklassen durch andere
als die oberen Zehntausend. Daher werden wir nur dann hoffen dürfen,
zu einem Verständnis für das Wesen der Komik zu gelangen, wenn wir
diese Verschiedenheit von vornherein mit in Rücksicht ziehen. Denn deutlicher
als viele andere Erscheinungen auf dem Gebiete der Dichtkunst zeigt
sich das Komische als ein Entwicklungsphänomen, und die höheren und
feineren komischen Wirkungen sind nur als Produkte eines längeren
geistigen Fortschritts zu betrachten. Man muß mithin das Lächerliche
zunächst in seinen primitiven Formen zu erfassen suchen; man muß mit
der Frage beginnen, was die einfachsten und natürlichsten Menschen als
lächerlich empfinden, um dann zu den höheren und komplizierteren
Formen der Komik aufzusteigen. Dabei dürfen wir, einer oft beobachteten
Übereinstimmung folgend, die Empfindungsweise primitiver Völker und
Menschen derjenigen gleichsetzen, die wir noch heute an Kindern und
ungebildeten Leuten beobachten, und die Erfahrung über die einen durch
die Kenntnis der anderen ergänzen. ─
Schon auf dieser ursprünglichen Stufe zeigt sich nun, daß die komische
Wirkung durch mehrfache, von Grund aus verschiedene Eindrücke hervorgerufen
wird.
Es gibt gewisse Vorstellungen und Gegenstände, die auf ein naives
Publikum immer belustigend wirken, offenbar nur darum, weil sich an sie
ein Überschuß von Lustgefühl knüpft. Dies sind in erster Reihe sexuelle
Vorgänge und Vorstellungen, und zwar in groben und sinnlichen Erscheinungsformen.
Wenn in unserem Norden und in unserer Zeit die unverhüllte
Darstellung solcher Dinge nicht nur polizeilich verboten ist, sondern in der
Tat das Schamgefühl auch vieler ungebildeten Menschen verletzt, so zeigt
der naivere Orient, etwa in den türkischen Schattenspielen, über die Reich
a. a. O. eingehend berichtet, noch heute die ursprüngliche Empfindungsweise.1)
Aber auch in der Blütezeit hellenischer Kultur ist der unzweideutig
sexuelle Vorgang und das, was mit ihm in unmittelbarem Zusammenhang
steht, ─ man braucht nur an Aristophanes' Lysistrata oder die Eingangsszene
der Ritter zu erinnern, ─ offenbar ein Hauptmittel, um das Wohlgefühl
und die Heiterkeit des Publikums hervorzurufen, wie denn die
Komödie des größten attischen Lustspieldichters den Charakter des Phallusspiels
nirgends verleugnet.
Ein Gegenstück zu der Zote in diesem gröbsten Sinne bildet die Unfläterei,
die Darstellung oder doch Benutzung des Niedrigen und Ekelhaften,
die, um einen Ausdruck Tiecks zu gebrauchen, „an der tierischen
Natur des Menschen ergötzt“. Wie weit hierin die ältere attische Komödie
Wie das unverhüllt Geschlechtliche im Munde naiver Völker verwertet und gewertet
wird, davon geben uns die vor kurzem erschienenen Sammlungen südslavischer
Erzählungen von S. Krauß ein mehr anschauliches als anmutiges Bild.
ging, in welcher Ausdehnung sie von diesem Mittel Gebrauch machte,
und wie sicheren Erfolg sich die Dichter davon versprachen, davon zeugt
fast jede Seite des Aristophanes. In den Eingangsworten der Frösche gibt
er ein kleines Register von „Witzen“ dieser Art, „wie sie das Publikum
allezeit belacht“, aber der große Komiker, der hier über seine Konkurrenten
und seine Zuschauer spottet, hat es tatsächlich niemals verschmäht, auf die
gleiche Weise die Lacher auf seine Seite zu bringen. Wer nun südliche
Völker kennt, weiß, daß nicht etwa die Durchbrechung des gesellschaftlichen
Anstands und der Konvention die komische Wirkung erzielt, ─ das
„Naturalia non sunt turpia“ galt und gilt dort heute noch für das Volksleben
nicht weniger als für die Volksbühne. Die erheiternde Wirkung kann
also wiederum nur durch Lustgefühle niederer Ordnung hervorgebracht
sein, die sich an die Vorstellung der animalischen Funktionen knüpfen und
sich im Kampfe mit dem Widrigen und Ekelhaften behaupten.
Gesteigert wird nun jedes Lustgefühl, wenn es unerwartet hervorgerufen
wird, also da, wo die sexuellen und ihnen verwandten Bilder plötzlich
und überraschend erweckt werden. Dies geschieht am einfachsten in
doppelsinnigen Worten und Wendungen, in der Zweideutigkeit. Der
ungebildete Mensch ist im allgemeinen für eine andere Art des Wortwitzes
gar nicht empfänglich; aber auch in dem, was sich die Herrengesellschaft
der höheren Klassen zur Belustigung erzählt, nehmen die Zoten an Zahl
wie dem Interesse nach, das sie erregen, den ersten Platz ein. Und ein
Blick über die komische Literatur von Aristophanes bis auf Voltaire und
Heine zeigt uns das gleiche Bild. Aber freilich, es ist in der entwickelteren
Kultur der modernen Gesellschaft nicht mehr die bloße primitive Freude
am Geschlechtlichen, was der Zweideutigkeit ihren Reiz verleiht; vielmehr
kommt hier wesentlich in Betracht, daß die sexuellen Vorgänge so gut wie
die ihnen verwandten animalischen Funktionen als unanständig aus dem
Gesprächskreise, in dem die gute Gesellschaft sich bewegt, verbannt sind:
aus dem Vorstellungsbereich der Menschen aber können sie gleichwohl nicht
verbannt werden, und so tauchen sie denn naturgemäß in Gespräch und
Umgang immer wieder auf, aber verhüllt und gleichsam vermummt, zum
Vergnügen der Hörer. Indessen dieses Vergnügen wird nun nicht mehr bloß
durch den verhüllten Gegenstand erregt, sondern die Hülle selbst, die ihn
verdeckt und zugleich durchscheinen läßt, belustigt. Und je zierlicher sie
gestaltet ist, je artiger der Doppelsinn sich gibt, desto mehr mischt sich
Freude am Spiel, also ein höheres ästhetisches Element, in die bloße
sexuelle Lustempfindung; zuletzt bleibt der sinnliche Untergrund nur noch
der Träger eines wesentlich ästhetischen Vergnügens. Die französische
Literatur im achtzehnten Jahrhundert, ebenso auch Heines ihr geistverwandte
Schriften zeigen den Übergang deutlich: ihre Zweideutigkeiten sind fast
durchweg feiner und witziger als das, was das Altertum in dieser Hinsicht
hervorgebracht hat. Selbst unseres biedern Uhlands Ballade „Graf Eberstein“
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gibt ein Beispiel einer also verschleierten und verfeinerten sexuellen Spitze.
Von hier aus ist denn nur noch ein Schritt, bis das Spiel mit den Worten den
ursprünglichen Boden verläßt und sich auf andere Gebiete, zum Beispiel das
satirische, fortpflanzt oder auch als reines Formenspiel gleichsam in der Luft
sein Wesen treibt. Manche Dialoge Shakespearescher Komödien machen das
anschaulich. Und wie der junge Goethe solche Wortspiele schätzte, davon legt
die bekannte Stelle im elften Buche von Dichtung und Wahrheit Zeugnis ab.
Ein Schritt in anderer Richtung führt vom Wort- zum Gedankenwitz
im tieferen Sinn. Der Klang als verbindende Einheit wird ersetzt
durch einen vermittelnden Gedanken, der den Doppelsinn verbindet.
Aus der gegebenen, scheinbar einfachen Vorstellung springt plötzlich eine
andere, völlig verschiedene hervor, während uns doch jener Zusammenhang
des Entgegengesetzten im Bewußtsein bleibt. Oder umgekehrt ─
zwischen widersprechenden Vorstellungen tritt eine Verwandtschaft, eine
Gleichheit hervor, die sich zumeist nur auf einen Teil, oft nur einen untergeordneten
erstreckt. In beiden Fällen entsteht eine analoge Wirkung wie
im Wortwitz; der Widerstreit zwischen Gegensatz und Gleichheit wird
zum lustvollen Spiele, das wir als komisch empfinden. Schon die oben
angedeutete Schlußwendung in Uhlands Graf Eberstein ist mehr ein Gedanken-
als ein Wortspiel, denn der Witz würde bleiben, auch wenn das
gleiche Wort („Schlößlein“) verändert und etwa durch das farblose „Du“
ersetzt wäre; und Jean Paul macht mit Recht darauf aufmerksam, daß, was
in einer Sprache als Wortspiel erscheint, unter Umständen in einer anderen
als Gedankenwitz auftreten kann. Den Übergang zwischen Wort- und Gedankenwitz
veranschaulicht recht drastisch das Gespräch zwischen Just und
Franziska in Minna von Barnhelm III 2. ─
Was ich soeben zu entwerfen versucht habe, ist eine Art entwicklungsgeschichtlicher
Erklärung. Sie führt vom animalisch sinnlichen Gebiet
in das des freien Formenspiels. Zu der bloßen Lust an einem bestimmten
Vorstellungskreis tritt zunächst als steigerndes Element die Überraschung,
und hieraus erwachsend der Gegensatz zweier Bedeutungen oder
Beziehungen. Dieser Gegensatz in seinem Wettstreit mit der verknüpfenden
Einheit des Wortes oder der Vorstellung wird schließlich an sich lustvoll
und gewinnt damit einen selbständigen Wert ästhetischer Natur. Ist
diese Vermutung richtig, so ist damit eine Gattung der Komik in ihrer
Wurzel bloßgelegt und in ihrem Wesen erklärt. Aber es gibt mehrere
solcher Gattungen, und ihre Wurzeln sind verschieden. Versuchen wir eine
zweite in gleicher Weise zu analysieren.
Auf derselben primitiven Stufe, wo die sinnlichen Vorstellungen als
solche erheiternd wirken und eine embryonale Form des Komischen bilden,
finden wir, daß Eindrücke ganz entgegengesetzter Art eine gleiche Wirkung
auszuüben: körperliche Unförmlichkeit, auffallende Häßlichkeit oder Ungeschicklichkeit,
die man bei anderen wahrnimmt, erregen Lachen, nicht minder
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geistige Beschränktheit und Einfalt. So hielten sich die Fürsten des Mittelalters
Bucklige und Zwerge als Hofnarren, so erregt noch heute der
Clown im Zirkus (man denke an die Spezialität des „dummen August“)
immer erneutes Gelächter. Woher kommt das? An sich muß, so sollte
man meinen, der Anblick von etwas Häßlichem und Abstoßendem eher
Unlust als Lust erwecken, und auf Menschen einer höheren Kulturstufe
wirkt er ja auch so. Das erheiternde Moment kann hier in der Tat schwerlich
in etwas anderem liegen, als in einem naiven Gefühl der Überlegenheit.1)
Man beobachte Kinder, die etwa auf der Straße spielen: was erregt
ihre Heiterkeit? Zunächst lassen sie eine natürliche Spottlust aneinander
aus; jedes unter ihnen, das etwas Abnormes in der Erscheinung hat, das
ungewöhnlich oder schlechter als die anderen angezogen ist, das hinkt
oder stottert, wird verlacht oder verhöhnt. Plötzlich ist das alles vergessen:
es erscheint ein Betrunkener, der über die Straße schwankt, sofort ist die
ganze Schar lachend und johlend hinter ihm drein. Er droht und poltert,
das erhöht nur die allgemeine Freude, denn sie wissen: er steht nicht
mehr fest auf den Füßen und vermag sich seiner Peiniger nicht zu erwehren.
Daß diese Heiterkeit Schadenfreude ist, daß sie aus dem mehr
oder weniger deutlichen Bewußtsein hervorgeht: wir sind die Stärkeren,
die Gesünderen, wird kaum ein Zuschauer bezweifeln. Und nicht anders
empfindet ein naives Publikum, wenn es den Betrunkenen auf der Bühne
oder den täppischen Clown, der vom Pferde fällt, im Zirkus sieht. Die
primitiven Spottlieder von Naturvölkern, von denen Grosse (Die Anfänge
der Kunst, S. 228) Beispiele gibt, zeigen das in einfachster Form.
Dies Gefühl der Überlegenheit, Schadenfreude oder Spottsucht kann
genau so wie die oben geschilderten lusterregenden Vorstellungen zum
Untergrund oder zum Inhalt des Wort- oder Gedankenspiels werden. Dann
entsteht das Pasquill, der beißende Witz, der in unzähligen gröberen
oder feineren Formen das Leben und die Weltliteratur durchzieht. Andrerseits
aber kann man schon auf der primitiven Stufe eine eigentümliche
Mischung beider Arten von komischen Wirkungen beobachten, die durch
bestimmte Eindrücke regelmäßig hervorgebracht wird. So verhält sichs
z. B. beim Anblick von Prügelszenen. Schon bei wirklichen Schlägereien
ist die Sympathie naiver Zuschauer, wie man täglich beobachten kann,
zumeist auf Seiten des Siegenden, so lange wenigstens, als er sie nicht
durch Brutalität gegen den Besiegten verscherzt. Der Unterliegende wird
verlacht, und auf der Bühne gar ist der Geprügelte immer die komische
Figur. Hier kommt offenbar beides zusammen: der Eindruck der Kraft,
die der Sieger entwickelt, tritt in eine Reihe mit jenen Vorstellungen animalischer
Lustgefühle und erzeugt gleiche Lust wie sie; dem Besiegten
Das haben, wie wir oben S. 216 sahen, schon Hobbes und in unserer Zeit Groos
als eine Quelle der Komik aufgedeckt, aber freilich mit Unrecht für die Grundlage aller
erheiternden Wirkung angesehen.
gegenüber regt sich die Schadenfreude, die mehr oder weniger unbewußte
Empfindung der eigenen Überlegenheit. Ähnlich ist der seelische Vorgang
beim Anblick eines Trunkenen, zumal auf der Bühne, wenn der Zustand
nicht zu plump und abstoßend dargestellt wird. Der feucht-fröhliche
Übermut etwa, wie er die Trinkszenen in Shakespeares Heinrich IV. beherrscht,
erweckt das Behagen des Zuschauers, und die selige Verklärung,
die auf dem Gesicht eines Bezechten erscheint, erregt nicht weniger Heiterkeit
als andrerseits seine täppische Unbeholfenheit; aber der psychologische
Ursprung beider Empfindungen ist offenbar ganz verschieden. In diesem
Falle, wie in dem der Prügelszene, beruht die komische Wirkung auf einer
Verschmelzung aus sympathischen Lustgefühlen und schadenfroher Überlegenheit.
Beide verstärken einander wechselseitig. Und dieser Umstand
macht es erklärlich, daß gerade Prügelei und Trunkenheit auf der komischen
Bühne ihrer heiteren Wirkung sicher sind, weshalb sie auch so unsäglich
oft wiederkehren.
Es ist vielleicht nicht zu kühn vermutet, daß wir hier die Anfänge
der Situationskomik vor uns haben, wie dort den Keim zum Wortspiel
und zum Gedankenwitz. Ein wesentlicher Teil aller Situationskomik beruht
darauf, daß eine der handelnden Personen in Verlegenheit kommt und
unsere Schadenfreude wachruft. Dann aber muß sie sich, soll die erheiternde
Wirkung andauern, entweder durch die Gunst des Glücks oder
durch überlegene Geisteskraft wieder aus der Verlegenheit ziehen und dadurch
jene sympathischen Lustgefühle erwecken, die der Anblick jeder
Kraft wachruft. Auch hier wird die Wirkung durch Überraschung nicht
erst hervorgebracht (wir können z. B. in einem Lustspiel wie Figaros Hochzeit
Intrigue und Gegenplan vorher kennen, ohne daß die Wirkung geschädigt
wird), wohl aber gesteigert (wie etwa in dem genannten Stück
die überraschende Entdeckung der Eltern des Helden den Höhepunkt der
Komik bildet). So zeigt auch die Situationskomik des hochentwickelten
Lustspiels noch dieselben Faktoren, deren primitive Gestalt wir oben kennen
gelernt haben. In der italienischen Maskenkomödie sowie in Goethes reizvoller
Nachbildung „Scherz, List und Rache“ tritt das deutlich hervor; besonders
aber sind es die Franzosen, die sich von Beaumarchais bis Sardou
und weiter als die Meister dieser Art von Wirkungen erwiesen haben.
Es wäre nun freilich zu viel behauptet, daß alle Situationskomik restlos
in diesem einfachen Schema aufginge. Kein Zweifel, daß in den verfeinerten
Arten des Lustspiels noch andere Elemente hinzutreten, um eine
gesteigerte und bedeutsamere Wirkung hervorzubringen.1)
Das wichtigste dieser Elemente ist ein Wert- oder Größengegensatz.
Etwas, das zunächst als bedeutend, groß, kraftvoll erscheint, löst sich in
etwas Unbedeutendes, Kleines auf. Kant legt dabei den Ton auf den
Gegensatz zwischen Erwartung und Erfüllung. „Das Lachen“, heißt es bei
ihm, „ist ein Affekt aus der plötzlichen Verwandlung einer gespannten
Erwartung in Nichts.“ In der Tat hat er damit eine bestimmte Art komischer
Wirkung richtig erfaßt und beschrieben. Der Vers des Horaz
„Parturiunt montes, nascetur ridiculus mus“, gibt das Schema dieser Art
von Komik.
Eine Volksmenge wartet zusammengedrängt und gespannt vor dem
Dome auf das Erscheinen eines fürstlichen Brautpaars. Nach langem
Harren öffnet die schwere Tür sich langsam und unter allgemeiner Spannung
erscheint ein kleiner Groom, der einen Schoßhund hinausführt. Wer hat
nicht gelegentlich einmal das Gelächter gehört, das in solchen Lagen sich
zu erheben pflegt, die schlechten oder guten Witze, die aus der Menge
ertönen? Man sollte meinen, die Enttäuschung ärgere: offenbar ist das
Gegenteil der Fall, sie erheitert.
Der Löwenkampf im Don Quichote! Der wahnsinnige Ritter hat den
Wärter gezwungen, den Käfig zu öffnen. Die Umstehenden sind voller
Angst geflüchtet und erwarten von fern den tragischen Vorgang, der sich
entwickeln muß. Don Quichote geht dem Löwen, „der wirklich von außerordentlicher
Größe und furchtbar erregendem Aussehen war“, zu Fuß entgegen,
um einen ritterlichen Kampf zu bestehen. Der nächste Moment
scheint eine schreckliche Katastrophe bringen zu müssen. „Die Bestie
steckte den Kopf aus dem Käfig hervor und sah sich nach allen Seiten
mit glühenden Augen und Blicken um, ein Anblick, geeignet, selbst die
leibhaftige Tollkühnheit in Schrecken zu setzen. Plötzlich aber, nachdem
sie sich, wie gesagt, überall umgeschaut hat, kehrt sie dem Ritter ihr Hinterteil
zu und geht gelangweilt wieder in den Käfig zurück.“
Auf dem gleichen Gegensatz beruht die komische Wirkung in Gedichten,
die, scheinbar ernsten Charakters, statt der erwarteten Pointe plötzlich
eine Banalität geben. Walter von der Vogelweide schildert in einem
bekannten Lied, wie er in einer schönen Sommerlandschaft an einem kühlen
Bronnen im Schatten einer Linde eingeschlafen war und den schönsten
Traum seines Lebens träumte. Das Schreien einer Krähe erweckt ihn.
Zornig und voll Kummer fährt er auf, die holde Phantasie ist verschwunden.
Trost kann ihm nur eine wunderalte Wahrsagerin geben, die ihm den
Traum deuten will. Und was weiß sie zu sagen? „Zwei und eins, die
machen drei, dann noch sagt sie mir dabei, daß mein Daum ein Finger
sei.“ ─ Auf einen ganz ähnlichen Effekt kommt der berühmte Schluß von
Heines Seegespenst hinaus, wo der phantastische Träumer mit den Worten
geweckt wird: „Doktor, sind Sie des Teufels?“ Und durchaus typisch ist
das kleine Gedicht aus der „Heimkehr“:
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Geschlechter steigen ins Grab,
Doch nimmer vergeht die Liebe,
Die ich im Herzen hab'.
Nur einmal noch möcht' ich dich sehen,
Und sinken vor dir aufs Knie,
Und sterbend zu dir sprechen:
„Madam, ich liebe Sie!“
Die bisher geschilderten komischen Wirkungen beruhen nun zwar
auf dem überraschenden Gegensatz zwischen Erwartung und Erfüllung
und entsprechen somit der Kantschen Definition. Dennoch ist dies nicht
die notwendige Grundform, sondern nur eine, allerdings die wirksamste
Gestalt, in welcher die hier in Rede stehende Gattung des Komischen auftreten
kann. Schon das muß zu denken geben, daß auch hier, wie bei
der Situationskomik, der Zuschauer vor der Bühne keineswegs immer überrascht
zu werden braucht, um eine Wendung lächerlich zu finden. In
Kleists Meisterlustspiel Der zerbrochene Krug sehen wir die Entdeckung
des Sünders Adam lange vorher kommen, ehe die Personen auf der
Bühne sie gemacht haben, und doch tut das der erheiternden Wirkung
nicht den mindesten Eintrag. Wir werden vielmehr ganz allgemein sagen
müssen: überall, wo ein Hohes und Bedeutungsvolles in ein Nichtiges und
Kleines umschlägt oder sich als ein solches enthüllt, wirkt der Gegensatz
komisch.1) Die Überraschung erhöht freilich stets diese Wirkung, ist aber
keineswegs unbedingt nötig, um sie hervorzurufen. Auf den Kontrast
zwischen Hohem und Niedrigem ist fast die ganze Komik des Don Quichote
gestellt. Alles was der törichte Held für groß und bedeutungsvoll hält,
ist in Wahrheit nichtig und gewöhnlich, und der Dichter läßt uns von
vornherein darüber nicht im Zweifel. Gleichwohl versagt ihm die komische
Wirkung nicht. Man lese etwa das Kapitel (T. I, 31), wo Sancho Pansa
über seine Botschaft an Dulcinea von Toboso berichtet: „Du kamst an,“
sagte Don Quichote, „womit beschäftigte sich denn die Königin der
Schönheit? Ohne Zweifel fandest du sie, wie sie Perlen aufreihte oder
für ihren gefangenen Ritter ein Sinnbild in Gold stickte?“ „So fand
ich sie nicht,“ antwortete Sancho, „sondern sie worfelte gerade ein
paar Scheffel Weizen auf der Tenne ihres Hauses.“ „Aber sage mir
weiter, was machte sie mit meinem Brief, als du ihn übergabst? Küßte
sie ihn? Drückte sie ihn an ihre Stirn? Gab sie sonst durch irgend
eine Geberde zu erkennen, wie wert ihr der Brief war? Oder was tat
sie?“ „Als ich ihr den Brief geben wollte,“ sagte Sancho, „stand sie eben
im dicksten Staube, den ein Haufen geworfelten Weizens verursacht hatte.
Daher hat Lipps ganz recht, wenn er (Komik und Humor S. 137) die Kantische
Definition erweitert und den Begriff der Spannung in den der psychischen Disposition
umdeutet.
,Legt euren Brief nur dort auf den Sack, Freund,' sprach sie, ,ich habe
nicht eher Zeit, ihn zu lesen, bis ich all den Weizen, der hier liegt, geworfelt
habe.'“ u. s. w.
Immermanns Münchhausen, dessen Schloßroman in vielen Stücken
den Einfluß des Don Quichote zeigt, bildet ein würdiges Gegenstück zu
diesem klassischen Vorbild. Der alte Baron mit seinen Legitimitätshoffnungen,
das ältliche Fräulein Emerenzia, die den Bedienten Karl Buttervogel
solange für einen Fürsten, den früheren Angebeteten ihres Herzens,
hält und als solchen behandelt, bis er selbst daran glaubt, der Schulmeister
Agesel, der ein Nachkomme des Lacedämonierkönigs Agesilaos zu sein
vermeint, sie alle wirken durch den Gegensatz zwischen einer banalen
Wirklichkeit und der überspannten Höhe ihrer Einbildungen. Und hier
ebenso wie im Don Quichote ist der Leser von vornherein über den Wahn
unterrichtet, in dem die Personen sich bewegen; ihre Narrheiten und Mißverständnisse
wie deren Lösungen überraschen kaum in einzelnen Punkten,
und doch wirkt die Darstellung im höchsten Grade erheiternd.
Daher ist denn in solchen Fällen ein Hin und Her zwischen dem
Kleinen und dem Großen, zwischen Ernst und Scherz, ein beständiges
Wiederanknüpfen des Gegensatzes möglich, und der Charakter des Spiels
tritt dabei besonders deutlich hervor. Die künstlerische Disposition zu
solchem Spiel war es, was die Romantiker „Ironie“ nannten und in so
vielen ihrer Dichtungen auszudrücken strebten: die Auflösung der Stimmung
in ihr Gegenteil, die erneute Wiederanspannung und Auflösung.
Belehrend ist in dieser Hinsicht Tiecks Komödie Die verkehrte Welt,
wo ─ freilich mit einer Absichtlichkeit, welche die erheiternde Wirkung
beeinträchtigt, ─ die dargestellte Handlung beständig in die Darstellung
der Bühne als solcher umschlägt, Dichter, Theaterdirektor und Maschinist
unter den handelnden Personen auftreten und die Bühne einen Ort der
Handlung, zugleich aber die Bühne selbst darstellt. ─ Tiefsinniger und
zwingender sind die Phantasieschöpfungen E. Th. A. Hoffmanns. Er liebt
es, seinen Personen eine groteske Doppelnatur zu verleihen: alltägliche
Menschen, subalterne Beamten oder Handwerker erscheinen plötzlich als
Zauberer oder Dämonen, um alsbald wieder in die alte Banalität zurückzusinken.
Der Archivarius Lindhorst ist eigentlich ein mächtiger Geisterfürst,
die Stiftsdame von Rosengrünschön eine gute Fee; der Magister
Tinte, der die armen Kinder peinigt, die ihm zur Erziehung übergeben
sind, ist in Wahrheit eine große Brummfliege oder ein Dämon in der Gestalt
einer solchen, und der König Daukus Carota, der um die Hand der
hübschen kleinen Baronesse wirbt, eine Mohrrübe. ─ Auch Heine kennt
nicht nur den Umschlag vom Erhabenen ins Lächerliche, von dem wir
eben ein Beispiel sahen; er weiß auch den umgekehrten Weg zu finden,
und viele seiner späteren Gedichte, besonders aber der Atta Troll, zeigen
das echt romantisch-ironische Wechselspiel zwischen Erhabenem und Banalem.
Schon die Möglichkeit dieses Spiels zeigt, daß es einseitig ist, wenn
man die komische Wirkung immer nur aus dem Umschlagen des Großen
ins Kleine ableiten will, nicht auch umgekehrt aus dem Sprung vom
Kleinen ins Große. Richtig ist, daß der erstere Weg der gewöhnlichere
ist, allein der Grund ist zunächst nur der, daß das Bedeutende und Eindrucksvolle
in vielen Fällen Affekte hervorruft, welche die erheiternde
Wirkung stören oder aufheben: es erregt Furcht oder doch Respekt.
Wo das nicht der Fall ist, wirkt der Wandel vom Kleinen ins Große nicht
minder komisch wie der umgekehrte. In dieser Tatsache liegt die einzige
Erklärung für eine Reihe komischer Wirkungen, besonders auf künstlerischem
Gebiet.
In einem der bekanntesten Lieder der Edda fährt der bärtige Schlachtengott
Thor als Jungfrau verkleidet zu dem Riesen Thrym, der die Göttin
Freya zur Braut begehrt, um durch diese List seinen Hammer wieder zu
erlangen, den der Riese geraubt hat. Das Brautmahl wird geschildert:
„Thor aß einen Ochsen, er aß acht Lachse“ und entlockt dem glücklichen
Bräutigam den verwunderten Ausruf: „Nie sah ich je Bräute so viel Braten
schlingen, nie mehr des Mets ein Mädchen trinken.“ Diese Komik der
Übertreibung ins übermäßig Große ist es recht eigentlich, die wir als
grotesk bezeichnen. Auf ihr beruht Rabelais' Gargantua und die deutsche
Nachbildung Fischarts; nicht minder die Schilderung der Riesen in Gullivers
Reisen und in Chamissos Riesenspielzeug.
Nicht ganz so einfach und durchsichtig wie bei den zuerst behandelten
beiden Klassen des Komischen (des Wort- und Gedankenwitzes und der
Situationskomik) ist es, dem psychologischen Ursprung der zuletzt geschilderten
Wirkungen nachzugehen. Allein es ist verständlich, daß das
plötzliche Nachlassen angespannter Geisteskräfte, der Wandel einer Disposition,
die auf schwere oder gar peinliche Eindrücke gefaßt war, zu einer
heiteren Gleichmütigkeit lustvoll empfunden wird. Daher wird denn auch
die absichtliche Rückkehr aus der zweiten Stimmung in die erste, der
Wechsel zwischen Spannung und Lösung, zu einem erheiternden Spiel,
denn er weckt das Gefühl latenter und überschüssiger Geisteskräfte. Und
daher erklärt sich endlich auch die Wirkung des Grotesken und der Übertreibung.
Der Vergleich mit dem richtigen Vorbild, das Bewußtsein, jeden
Augenblick zum Normalen zurückkehren zu können, nimmt dem Übermaß
alles Bedrückende und verwandelt das Ganze in ein freies Spiel der
Vorstellungen.
Das Groteske kann freilich auch bis an die Grenze des Grauenhaften
führen: wo uns nicht nur eine äußerliche Übertreibung ins Große, sondern
eine Steigerung ins Dämonische entgegentritt, da entstehen Wirkungen,
die aus Lachlust und Grauen gemischt sind und in denen bald das eine,
bald das andere Element die Oberhand behält. Wenn der Riese in der
Thrymskvidha der vermeintlichen Braut „kußlüstern“ naht, so flammen Thors
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Augen so furchtbar auf, daß jener entsetzt zurückfährt; aber es erfolgt
sofort wieder eine Erklärung Lokis, die ganz ins Komische fällt. Verwandte
Wirkung rufen die gemalten Totentänze des 15. und 16. Jahrhunderts
hervor, welche schauerliche Gerippe in lächerlichen Verrenkungen zeigen,
und dem entspricht die Goethesche Behandlung des Totentanzes in der
bekannten Ballade. Grotesk in diesem Sinne ist die Schilderung der
Hexen in Macbeth. Und mit der höchsten Virtuosität weiß E. Th. A. Hoffmann
diese Doppelstimmung hervorzurufen und in beide Extreme hinein
zu steigern.
Aber die Komik der Übertreibung ist auch einer anderen Entwicklung
fähig, die von den bisher geschilderten einfachen Verhältnissen stufenweise
zu Erscheinungen höherer Ordnung und Bedeutsamkeit hinaufführt. Es
entsteht nämlich eine neue Reihe komischer Wirkungen, wenn nicht der
ganze Mensch in unnatürlichem und phantastischem Maßstabe vergrößert
erscheint, sondern nur einzelne Züge im Verhältnis zu den übrigen übertrieben
hervortreten. Das Wesen der gezeichneten Karikatur beruht ganz
und gar auf solchen Verschiebungen des natürlichen Gleichmaßes. Eine
bekannte Methode der gewöhnlichen Witzblätter ist es, den Körper eines
Menschen kleiner wiederzugeben als den Kopf, was immer lächerlich wirkt.
Künstlerischen Wert freilich erhält die Karikatur erst dann, wenn es typische
oder individuelle, charakteristische Züge sind, die in dieser Weise hervorgehoben
werden. Genau auf dem gleichen Verhältnis oder Mißverhältnis
beruht die Charakterkomik in der Dichtung. Wie dort einzelne Züge
der äußeren Erscheinung im Mißverhältnis zu den anderen hervortreten,
so werden hier einzelne Charakterzüge zu besonderer Größe und Bedeutung
aufgetrieben. Die Komik, die auf diese Weise entsteht, ist einer
großen Reihe von Abstufungen vom Groben zum Feinen fähig, sie bewegt
sich zwischen den typischen Masken eines Pierrot und Dottore, zwischen
Shakespeares betrunkenen Kesselflickern und Polizeisoldaten oder den Rekruten
Heinrichs V. einerseits und der nur eben ins Komische getauchten
Charakteristik eines Paul Werner oder Just andrerseits, ja in ein und derselben
Dichtung zwischen Beckmesser und Hans Sachs, zwischen Schmok
und Bolz. Je äußerlicher die hervortretenden Züge sind, desto gröber ist
die Schilderung und der Effekt; auffallende Gewohnheiten, sich stereotyp
wiederholende Redensarten im Munde derselben Person sind unfehlbare,
doch grobe Mittel das Publikum zum Lachen zu bringen. Aber auch wo die
Charakteristik innerlicher ist, weist sie noch sehr verschiedene Schattierungen
auf. Je stärker die einzelnen Züge hervortreten, je ausschließlicher sie
herrschen, desto drastischer ist die Wirkung, gerade wie in der Karikatur
ein Kopf wirkt, der ganz Nase oder ganz Stirn zu sein scheint: man denke
an Molières Geizigen, der ganz Geiz, oder den bürgerlichen Edelmann, der
ganz Eitelkeit zu sein scheint, an Holbergs Barbier Gert Westphaler, der
überhaupt keine andere Eigenschaft zu besitzen scheint als Schwatzhaftigkeit,
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wie denn überhaupt das ganze moralisierende Lustspiel des 17. und 18. Jahrhunderts
diese Methode befolgt. Wenn aber die Gestaltung feiner und
innerlicher wird, so treten neben dem komischen Hauptzug auch die übrigen
Charaktereigenschaften anschaulich hervor, und wir gewinnen auf diese Weise
das Gesamtbild eines lebendigen Menschen, den wir verstehen, ja mit dem
wir vielleicht sympathisieren, während wir zugleich über ihn lachen. Die
komische Wirkung beruht dann darauf, daß sich das innere Wesen entweder
in einer extremen und barocken Weise äußert oder in einem Selbstwiderspruch
zutage tritt. Das wird vor allem bei Dickens in einer Reihe
von Gestalten anschaulich: Herr Pickwick, Herr und Frau Micawber,
Betsey Trotwood u. a. Auch Fritz Reuter hat besonders in der Stromtid
ähnliches erreicht. Auf dieser höchsten Stufe der Charakterkomik tritt
dann nicht selten das erwähnte primitive Mittel wieder auf, die einseitige
Hervorhebung einzelner Züge der Erscheinung, einzelner Gewohnheiten
und Redewendungen. Aber es ist hier nur Mittel zur Charakteristik, zur
Veranschaulichung der lebendigen Erscheinung, und geht nicht darauf
aus, unmittelbar Gelächter zu erregen, wie in der Posse. Dickens weiß
solche äußerliche Züge mit vollendeter Meisterschaft zu schildern und zu
benutzen; wir haben einige Beispiele davon schon oben (S. 88) herangezogen.
─
Auch für die Charakterkomik gilt zweifellos die Einschränkung des
Aristoteles: die komische Wirkung tritt nur da ein, wo uns der Gedanke
an Schädliches oder Gefährliches fern liegt. Erscheint daher die hervorstechende
Eigenschaft in ihrer Übertreibung für den Träger selbst oder für
seine Umgebung gefährlich, ist der Selbstwiderspruch, in den ein Charakter
sich verwickelt, für sein inneres oder äußeres Leben verderblich, so
schlägt die Komik in Ernst um, und unser Spott verwandelt sich in
Furcht oder Mitleid. Dies aber kann sehr wohl durch eine bloße Steigerung
derselben Eigenschaft geschehen, über die wir vorher gelacht haben.
Hierauf beruht die Möglichkeit der Tragikomik, einer dem Grotesken
verwandten Mischgattung der Poesie, durch die jene widersprechenden
Empfindungen abwechselnd oder auch zugleich erregt werden. Molières
beste Lustspiele, besonders der Misanthrop und der Geizhals, wirken, auf
uns Heutige wenigstens, in dieser Weise. Auch Shakespeares Shylock
gehört hierher, und nicht weniges von Ibsen, besonders die Wildente und
eine Anzahl von Episoden seiner späteren Dramen. Freilich, das unausgeglichene
Nebeneinander solcher Wirkungen steht in künstlerischer
Hinsicht weit unter der wirklichen Verschmelzung ernster und komischer
Wirkungen im Humor, wovon im folgenden Abschnitt zu reden sein
wird. ─
Drei Gruppen komischer Wirkungen sind uns in den obigen Betrachtungen
entgegengetreten, jede von ihnen durch einen gemeinsamen
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psychologischen Ursprung und eine fortschreitende Entwicklung von primitiven
zu höheren und künstlerischen Formen gekennzeichnet: wir konnten
die beiden ersten als Wort- und Gedankenwitz und als Situationskomik
bezeichnen; für die dritte fehlt ein gemeinsamer Name: wir wollen
sie zusammenfassend Komik des charakteristischen Gegensatzes
oder schlechthin Charakterkomik nennen. In ihren entwickelteren Formen
beruhen sie alle drei auf einer Kontrastwirkung, sei es zwischen Wortlaut
und Bedeutung, zwischen Verwandtschaft und Diskrepanz oder zwischen
Unterlegenheit und Überlegenheit, Kleinheit und Größe. Aber dieses gemeinsame
Kennzeichen ist rein formaler Art und dazu in den primitiven
Formen des Komischen nicht einmal überall vorhanden. Auch die Überraschung
ist, wie wir gesehen haben, für die meisten Arten komischer
Wirkungen kein grundlegender, sondern nur ein verstärkender Bestandteil.
Daher müssen wir vorläufig bei jenen drei Grundformen der Komik stehen
bleiben, und es der psychologischen Ästhetik überlassen, nach einer gemeinsamen
Grundtatsache des Seelenlebens zu suchen, die alle drei aus
einem mehr als bloß formalen Prinzip abzuleiten und verständlich zu
machen imstande ist.
Dagegen können wir feststellen, daß alle drei Kategorien sich
wenigstens in den höheren Arten der komischen Dichtung nicht nur äußerlich
zusammen finden, sondern einander verstärken und vertiefen. Witz
und Situationskomik empfangen erst Bedeutsamkeit und tieferen Sinn,
wenn sie Gegensätze des Werts oder der Charakteristik zum Ausdruck
bringen: das Spiel mit Gedanken, namentlich aber mit Worten wird sonst
gar zu leicht fad, und die Situationskomik allzu rasch schal, wenn sie
nicht durch eine tiefere Gegensätzlichkeit von innen Leben empfängt.
Die Charakterkomik andrerseits kann die komische Situation kaum entbehren,
wenn sie wirklich Lachen erregen will, und auch der Witz wird
ihr zu Hilfe kommen müssen. Ihre volle künstlerische Bedeutung freilich
erhält sie erst, wenn die rein komische Wirkung zum Humor oder zur
Satire vertieft wird. Diesen dichterischen Richtungen wollen wir uns nunmehr
zuwenden.
Wenn der lächerliche Kontrast zwischen
Großem und Kleinem, Bedeutsamem und Nichtigem sittlichen Gehalt annimmt,
so tritt der rein komische Charakter zurück, und es entstehen neue
aus Ernst und Scherz, aus ästhetischen und ethischen Bestandteilen zusammengesetzte
und verwickeltere Wirkungen.
Dies kann auf zweierlei Weise geschehen entsprechend der doppelten
Möglichkeit des komischen Umschlagens, die uns vorhin entgegengetreten
ist: vom Großen ins Kleine und vom Kleinen ins Große. Entweder das
scheinbar Wertvolle, dasjenige, was allgemeine Anerkennung findet oder
Ansprüche auf solche erhebt, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als
wertlos und niedrig, oder umgekehrt: das Mißachtete, scheinbar Wertlose
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enthüllt sich dem schärferen Blick als wertvoll und bedeutsam. Im ersteren
Falle entsteht die Satire, im zweiten der Humor.1)
Ethisches Empfinden als solches kann niemals lächerlich sein oder
erheiternd wirken. Je stärker mithin in beiden Gattungen das sittliche
Gefühl durch den Inhalt oder die Art der Darstellung erregt wird, desto
weniger bleibt von der komischen Wirkung übrig. Der sittliche Affekt
tilgt bisweilen das Gefühl des Komischen so völlig aus, daß nur geringe
Reste davon bemerkbar sind; nicht selten aber ist er verhältnismäßig
schwach, so daß er die komische Kontrastwirkung als solche nicht stört.
Hier liegt der Unterschied zwischen der ernsthaften (pathetischen) und
der scherzenden Satire, zwischen dem scherzhaften und dem
rührenden Humor. Nach dem Gesagten ist es klar, daß diese Unterschiede
graduell, nicht, wie Schiller meinte, absolut sind. Jede Art von
Humor enthält, wenn auch in ungleichen Mischungen, beide Elemente,
und zwischen der Satire, die über die moralischen Gebrechen der Menschen
lächelnd spottet, und derjenigen, die sie mit Skorpionen züchtigt, liegt
wenigstens eine große Reihe vermittelnder Zwischenstufen.
Die Ästhetiker pflegen zwischen subjektiver und objektiver Komik zu
scheiden, je nachdem das Lächerliche als beabsichtigte Wirkung, mithin
als Witz, oder als ein unbeabsichtigtes Verhalten des Objektes erscheint.
Allein einen wesentlichen Unterschied macht das nicht, wenigstens für die
ästhetische Betrachtung nicht, und wir konnten daher diesen Gesichtspunkt
im vorigen Abschnitt einfach übergehen. Die Situationen, die der Lustspieldichter
schafft, erscheinen objektiv komisch, während sie doch seiner subjektiven
Absicht entspringen; er braucht nicht, aber er kann zugleich
witzige Personen einführen, die das subjektiv Komische als solches vertreten.
Bedeutsamer ist dieser Unterschied der Methode für den Humoristen
und den Satiriker. Die Wertung, von der beide ausgehen, gehört
stets dem Subjekt des Dichters an, sie muß ihm feststehen, bevor er
seine Dichtung schafft. Aber es ist ein wesentlicher Unterschied der
künstlerischen Methode, ob ein Dichter es vermag, diese Wertunterschiede
sich selbst objektiv darstellen und voneinander abheben zu lassen, oder
ob er es für nötig hält, persönlich hervorzutreten und mit seinen eigenen
Worten oder auch durch Reden, die er offensichtlich zu diesem Zweck den
Personen in den Mund legt, sein Werturteil zu verkünden. Viele Humoristen,
wie selbst Jean Paul und Wilhelm Raabe, neigen zu dem letzteren
Verfahren, das bequemer ist. Künstlerisch höher aber steht und
zwingender wirkt die objektive Art, wie sie Dickens und auch Fritz Reuter
eignet. Denn was uns die Betrachtung der epischen Poesie im allgemeinen
Mit Recht sagt Lipps, Komik und Humor S. 163: „Die Komik erhält höhere Bedeutung
erst, wenn Werte, die auch außerhalb der Komik bestehen, in sie eingehen.“ Er
meint eben sittliche Werte, wendet aber den Gegensatz in dem Folgenden nur zur Erklärung
des Humors an, während ihm die parallele Stellung der Satire entgeht.
gezeigt hat (siehe oben S. 147), das gilt auch von der humoristischen Darstellung
im besonderen: das persönliche Hervortreten des Dichters ist stets
eine Schwäche und stört, ja zerstört die künstlerische Wirkung.
Noch entschiedener als der Humorist ist der Satiriker genötigt, wenn
er wirklich Dichter sein und nicht zum bloßen Tendenzschriftsteller herabsinken
will, auf direkte Belehrung oder Bußpredigt zu verzichten. Er muß
uns erleben lassen, was er uns lehren will. Seine Menschen müssen sich
vor unseren Augen entfalten, sich ganz naiv nach ihrer Eigenart geben:
hierdurch werden wir in den Stand gesetzt, ja genötigt, sie zu durchschauen
und den Widerspruch zwischen Schein und Wesen, zwischen äußerer Geltung
und innerem Wert mit eigenen Augen zu sehen. Das Wort Ironie
bedeutet bekanntlich Verstellung. Die Alten wandten es auf Sokrates an,
weil er in seinen Unterredungen die Jünglinge und Männer, die er belehren
wollte, scheinbar als die Wissenden behandelte, bei denen er, der
Unwissende, sich Rats zu erholen gedächte, ─ um ihnen eben hierdurch
ihre Unwissenheit anschaulich zu machen. Ein solcher Ironiker ist jeder
echte satirische Dichter: er behandelt die Menschen ihren eigenen Ansprüchen
gemäß als bedeutend und wertvoll, um eben hierdurch die Hohlheit
dieser Ansprüche zu zeigen.
Mit diesem Verfahren also beabsichtigt der Satiriker uns entweder zu
erheitern oder in Entrüstung zu versetzen. Schiller hat, wie wir oben gesehen
haben, in der Abhandlung über naive und sentimentalische Dichtung
zuerst auf diesen Unterschied hingewiesen; er führt ihn darauf zurück, daß
die scherzhafte Satire intellektuelle, die pathetische aber sittliche Gebrechen
und Mängel geißele. Die erstere seien wir allzeit geneigt, scherzhaft zu
nehmen; die letzteren seien niemals Gegenstände der Belustigung, sondern
immer nur der Abneigung, ja, wenn sie sich steigern, der Empörung.
Dieser geistvollen Aufstellung steht die Tatsache entgegen, daß der gleiche
Gegenstand gar nicht selten in verschiedenen Bearbeitungen sowohl der
ernsthaften als auch der scherzhaften Satire zugrunde liegen kann, wie
etwa in Schillers eigener Dichtung der Fanatismus des zelotischen Pfaffen
beim Pater in den Räubern Empörung erregt, beim Kapuziner in Wallensteins
Lager aber komisch wirkt. Der Hochmut des reichen Strebers, ja sogar die
übergroße Zuneigung der jungverheirateten Frau zu ihrer Familie, beides
alte und oft rein komisch verwandte Motive, werden in Björnsons Fallissement
und seinen Neuvermählten sehr ernsthaft behandelt. Es hängt
also offenbar der Charakter der Satire nicht sowohl vom Stoff als von der
Auffassung und Behandlung des Dichters ab. Und doch hat Schiller auch
hier nicht ganz unrecht. Nahezu jedes moralische Gebrechen nämlich,
besonders aber jeder Mißstand des gesellschaftlichen und des öffentlichen
Lebens, läßt sich nicht nur von der sittlichen, sondern auch von der intellektuellen
Seite auffassen: der abgeklärten Lebensweisheit erscheint der
Lasterhafte einfach als Tor. Diese Auffassung nun ist es, welche der
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scherzhaften Satire zugrunde liegt. Sie behandelt tatsächlich die Fehler
und Schwächen der Menschen als Narrheiten und die Zustände, die aus
ihnen hervorgehen, als Verirrungen, die dem Spott des Weiterblickenden
preisgegeben werden. Diese Grundstimmung der spottenden Satire hat
Schiller selbst in schönen Worten gekennzeichnet: „Ihr Ziel ist einerlei mit
dem Höchsten, wonach der Mensch zu ringen hat, frei von Leidenschaft
zu sein, immer klar, immer ruhig um sich und in sich zu schauen, überall
mehr Zufall als Schicksal zu finden und mehr über Ungereimtheit zu
lachen, als über Bosheit zu zürnen oder zu weinen.“ Es ist die Stimmung,
die uns aus Goethes Cophtischem Lied entgegentönt:
Streng und bedächtig die Lehrer auch sein!
Alle die Weisesten aller der Zeiten
Lächeln und winken und stimmen mit ein:
Töricht, auf Bessrung der Toren zu harren!
Kinder der Klugheit, o habet die Narren
Eben zum Narren auch, wie sich's gehört!“
Freilich muß noch eine zweite Forderung erfüllt sein, um die scherzhafte
Satire möglich zu machen. Es ist die aristotelische Grundbedingung
aller komischen Wirkung überhaupt: wir dürfen nicht sehen, daß die moralische
Verkehrtheit schädliche Folgen hat; sonst schlägt unsere lächelnde Mißachtung
in Entrüstung um, und die Satire wird ernsthaft, ja pathetisch. Offenbar
aber hängt es auch hier mehr vom Verfahren des Dichters als vom Stoff
ab, ob er unseren Blick auf diese Folgen lenken will oder nicht. Der spielwütige
Offizier, der seine Familie ruiniert, ist bei Iffland eine sehr ernsthafte
Gestalt, der Abenteurer und Falschspieler Riccaut bei Lessing eine durchaus
komische. Nur deshalb bleibt Schillers Kapuzinerpredigt innerhalb des rein
Komischen, weil sie auf die Soldaten keine Wirkung ausübt: würden wir
etwa (was dem Verlauf des Dramas besser entspräche) sehen, daß die Hetzereien
des Pfaffen die Stellung des Feldherrn untergrüben, so würde die Satire
ernsthaft und die Wirkung auf den Zuschauer nicht mehr belustigend sein.
Ein Umschlag von der pathetischen in die scherzhafte Satire und umgekehrt
ist daher nicht immer leicht durchführbar, da beide eben von verschiedenen
Standpunkten aus ihren Gegenstand betrachten. Gleichwohl
kommt er nicht selten vor. Schon Aristophanes zeigt uns im Auftreten
des Äschylos in den Fröschen und in der Streitszene zwischen den beiden
Anwälten in den Wolken, wie sich aus spottendem Scherz ein furchtbar
richtender Ernst erheben kann. Ähnliches sehen wir in manchen Molièreschen
Lustspielen, namentlich im Misanthrop. Umgekehrt schlägt bei
Schillers Hofmarschall von Kalb der pathetische Ernst der satirischen Grundstimmung
in drastischen Spott um.
Es gibt keine Lebenskreise, keine gesellschaftlichen Zustände, wo
nicht Schein und Wahrheit, äußere Geltung und innere Hohlheit in irgend
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welchen Punkten kontrastieren, mithin keine, die dem Satiriker nicht Stoff
böten. Der einfachste Fall und gleichsam die Grundform für die übrigen
ist offenbar der, wo eine bewußte Heuchelei sich unfreiwillig selbst entlarvt:
in diesem Sinn ist Molières Tartuffe das unsterbliche Vorbild jeder
dramatischen Satire. Es ist jedoch keineswegs notwendig, daß dem Mißverhältnis
zwischen Wahrheit und Schein immer heuchlerische Absicht zugrunde
liegt, vielmehr wird es weit öfter naive Selbstüberschätzung sein,
welche den Menschen über seinen eigenen Wert täuscht und fortwirkend
auch andere zu täuschen vermag. Oder auch das Umgekehrte tritt ein:
der Respekt, den Außenstehende empfinden, flößt dem Respektierten eine
hohe Meinung von sich selber ein: Molières Femmes savantes, Ibsens
Bund der Jugend zeigen diesen Typus. Endlich ist auch eine Mischung
von beiden möglich: halb mit bewußter Absicht, halb ohne eine solche
täuscht ein Mensch den anderen über seinen Wert. Diese verwickeltere
Gattung von Charakteren (die vielleicht im Leben die häufigste ist)
schildert Ibsen mit besonderer Vorliebe in den verschiedensten Schattierungen:
von dem Konsul Bernick in den Stützen der Gesellschaft an, der
sich vom kalten Heuchler nur wenig unterscheidet, bis zu dem fast naiven
Komödianten Hjalmar Ekdal und dem genialen Baumeister Solneß. Mit
furchtbarem Ernst hat Chamisso in dem Gedicht „Die Erscheinung“, wohl
dem Tiefsten, was er geschrieben hat, das typische Bild einer solchen
Natur entworfen.
Sehen wir nun von der Psychologie der Charaktere ab und betrachten
die Gegensätze selbst, welche den satirischen Dichtern Stoff bieten, so
finden wir zunächst, daß eine Reihe von allgemeinen Typen mit Vorliebe
von moralisierenden Dichtern behandelt werden. Der aufgeblasene und
innerlich hohle Vornehme, der übersättigte und gelangweilte Reiche sind
besonders in dem zum Moralisieren so geneigten 18. Jahrhundert immer
wieder dargestellt und gegeißelt worden. So erscheinen sie bei den
deutschen Fabeldichtern, so in des biederen Gellert treuherzigen Erzählungen,
so auch in Wielands anmutiger und harmloser Kunst. Ein leichter
Zug von Selbstgefälligkeit ist in den meisten dieser Darstellungen bemerkbar.
Erweitert und vertieft aber wird dieser an sich etwas seichte Gegensatz zu
einer allgemeinen Verspottung der Zivilisation und ihrer vermeintlichen
Werte gegenüber der Einfalt und Einfachheit natürlicher Zustände: vor dem
unbestochenen und unbefangenen Urteil eines schlichten Gemütes halten
sie nicht stand, sie zeigen sich in ihrer Hohlheit und Verlogenheit. Es
ist dies bekanntlich der Lebensgedanke Rousseaus, den Schiller eben deshalb
unter die pathetischen Satiriker rechnet; zum Motiv der satirischen
Dichtung ist er freilich nicht erst durch seinen Einfluß geworden. Schon
in Molières Misanthrop bildet er das Thema, und in Voltaires Ingénu ist es
bereits der ehrliche Hurone, der Naturmensch, in dessen Erlebnissen und
Schicksalen die Zivilisation bloßgestellt wird, wie später in Seumes Kanadier,
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der „ein Herz, wie Gott es ihm gegeben, von Kultur noch frei, im Busen
fühlte“.
Diese Verurteilung der Zivilisation tritt selten oder niemals ohne bestimmte
Beziehung zu den gesellschaftlichen Zuständen und Bildungsformen
des Zeitalters auf, in welchem der Dichter lebt. Noch einen Schritt weiter,
und wir haben die eigentliche Zeitsatire vor uns, der es nicht sowohl
darauf ankommt, allgemeine moralische Urteile zu fällen, als die bestimmten
Gebrechen der Zeit und der Gesellschaft, welcher der Dichter angehört,
bloßzustellen und zu geißeln. Dies ist bei weitem die häufigste Art der
Satire überhaupt. Zur Kunstform entwickelt erscheint sie begreiflicherweise
besonders in Zeiten des beginnenden oder fortschreitenden Verfalls einer
hohen Kultur. So trat im Altertum Aristophanes auf, als die nationale
hellenische Entwicklung eben ihren Höhepunkt überschritten hatte; so die
großen römischen Satiriker Persius, Juvenal und Martial im ersten Jahrhundert
der Kaiserzeit. Auch in Deutschland bezeichnen Logau und Grimmelshausen
den Niedergang des nationalen Lebens. Im großen Stile freilich entfaltet
sich die moderne Zeitsatire erst im 18. Jahrhundert unter dem Einfluß der
Aufklärung, zunächst und am schärfsten bei den Franzosen, wo Montesquieus
Lettres Persannes und besonders Voltaires Schriften, endlich Beaumarchais'
Figaro Muster der Gattung wurden. Sie zeigen, wie der Satiriker, ohne
die Grenzen des scherzhaften Spiels zu überschreiten, dem bedeutendsten,
ja furchtbarsten Ernst Ausdruck geben kann. Die Deutschen besitzen
weniger Veranlagung zu dieser Mischung von bitterem Ernst und leichtem
Spott; bei uns war es die pathetische Satire, in welcher die Verurteilung
der Zeit ihren Ausdruck fand. In den Dichtungen der Sturm- und Drangperiode,
am kraftvollsten und leidenschaftlichsten in Schillers Jugenddramen,
tritt der Protest gegen den unnatürlichen Zustand des verderbten Staatswesens
und der geknechteten Gesellschaft hervor. Im 19. Jahrhundert ist
es besonders das junge Deutschland und hier wiederum Börne und Heine,
welche die politische und soziale Satire in den Mittelpunkt des literarischen
Interesses rücken. Heines Wintermärchen und viele seiner kleineren Gedichte
schlagen eine ganz neue Tonart an, welche die schwanke Leiter
der Gefühle von pathetischem Ernst bis zum skrupellosen Spott hinabführt.
Eine Reihe verwandter, wenn auch schwächerer Erscheinungen bezeugen,
wie tief aus den Zuständen und den Bedürfnissen der Zeit heraus
diese Stimmungen erwachsen waren. Die satirische Zeitschilderung ernsthaften
Charakters hat in Gutzkow einen bedeutenden, wenn auch keineswegs
künstlerisch vollendeten Vertreter gefunden: in seinen beiden großen
schon früher angeführten Romanen „Die Ritter vom Geist“ und „Der Zauberer
von Rom“ hat er noch in seinen späteren Jahren alles übertroffen, was das
junge Deutschland, aus dem er hervorgegangen war, in der gegenständlichen
Darstellung geleistet hat. Im übrigen hat es uns Deutschen, seitdem
die Revolution von 1848 mit ihren Nachwehen verklungen ist, an einem
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Satiriker großen Stils gefehlt. Nicht als ob die Zustände einem solchen
keinen Stoff gäben, sondern vermutlich nur, weil der Zufall der Persönlichkeit,
der doch auch in der Literaturgeschichte waltet, ihn uns versagt
hat. Die kleineren satirischen Talente unserer Zeit zersplittern ihre Kraft
in den Witzblättern oder streben nach Augenblickserfolgen auf dem Theater,
wobei denn die Polizeigewalt einerseits, der Geschmack des Publikums andrerseits
der Gattung von vornherein bescheidene Grenzen setzen. Von der
Unerbittlichkeit, die dem echten Satiriker eignet, zeigt sich auf der heutigen
deutschen Bühne wie in der Literatur kaum hier und da ein Ansatz: am
ehesten noch bei Gerhart Hauptmann, in dessen Webern und Biberpelz
die pathetische und die scherzhafte Satire zu wirksamem Ausdruck kommt.
Ganz anders steht es in den übrigen Ländern: in Rußland, wo die unerträglichen
Zustände die Satire der Entrüstung gleichsam mit Naturgewalt
hervorgetrieben haben ─ man braucht nur an Namen wie Gogol, Turgeniew,
Dostojewski und Tolstoi zu erinnern ─, in Skandinavien, wo zwei kraftvolle
Völker, erst vor kurzem zu politischem und sozialem Bewußtsein gelangt,
einen natürlichen Ausdruck dafür in der Dichtung Ibsens, Björnsons, Kjiellands
finden, vor allem aber wiederum bei den Franzosen, die zweifellos
für die Satire besonders veranlagt sind. Dafür legen Bücher wie Daudets
Numa Roumestan oder Guy de Maupassants Bel ami glänzende Zeugnisse
ab; und in Zolas großen Sittenromanen tritt die satirische Schilderung der
Zeit mit einem so furchtbaren Ernst und einer solchen Größe der Anschauung
auf, daß man trotz ihrer dichterischen Mängel, über die wir uns
bereits oben (S. 161 f.) klar geworden sind, manche Teile dieser Schöpfungen
unmittelbar neben Juvenals Verse stellen darf. Hier herrscht durchaus jene
Unerbittlichkeit, die wir in den modernen deutschen Schöpfungen vermissen
und die den großen Satiriker kennzeichnet.
Die Verspottung einzelner Stände braucht an sich keine sittliche Bedeutung
haben, sie kann sich in den Grenzen der reinen Komik halten,
wie die gutmütige Heiterkeit, mit der Hans Sachs Bauern und Landsknechte,
Handwerker und Wirte durchhechelt, die Belustigung, die der prahlende
Soldat in den verschiedensten Zeiten und Ländern erregt hat, oder das harmlose
Vergnügen, das Hagedorns und Lessings komische Erzählungen mit
der Verspottung der Ärzte, der Gelehrten und der Frauen erregten. Solche
Scherze sind keine echten Satiren, sondern nur ein leichtes Spiel mit überkommenen
Vorurteilen und Standestypen. Erst dann empfängt dieses Spiel
Lebensblut und Bedeutsamkeit, wenn die Schwächen der einzelnen Stände
als sittliche Mängel der Zeit hervortreten, wenn also auch die Standesverspottung
Zeitsatire wird. Erst durch eine solche Beziehung wird aus
der komischen Figur des Lessingschen Patriarchen oder dem Grafen in
Beaumarchais' Figaro eine satirische Schöpfung. Und leicht verwandelt sich
dann die scherzhafte Satire in düsteren oder pathetischen Ernst. In Zolas
eben genannten Romanen, in den Dichtungen der neueren Norweger ist
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diese Art der satirischen Standesschilderungen besonders häufig und zwar
zumeist durchaus ernsthaft. Man denke an Ibsens Typen des Großkaufmanns
in den Stützen der Gesellschaft, des korrekten und herzlosen Beamten
in der Nora und dem Volksfeind, des wohlmeinenden aber beschränkten
Geistlichen in den Gespenstern.
Neben die politische und soziale tritt als eine besondere Abart der
Gattung die literarische Satire; eine Abart, denn sie setzt statt der sittlichen
ästhetische oder intellektuelle Werte ein und steht mithin der reinen
Komik näher als jene. Daher ist sie auch fast stets scherzhaft gehalten
und erscheint zumeist als Parodie oder als Travestie. Der Charakter
der Travestie ist, daß sie das Erhabene als gemein, das der Parodie, daß
sie das Gemeine als erhaben behandelt. Die Travestie stellt das dem
Inhalt nach Bedeutsame in trivialen oder lächerlichen Formen dar, wie
Shakespeare und Gryphius die Geschichte von Pyramus und Thisbe, oder
sie versetzt es willkürlich mit Banalitäten, wie Offenbachs mythologischen
Operetten. Gerne lehnt sie sich dabei an eine bestimmte dichterische Vorlage
ernsten Charakters an, wie Blumauers Äneide. Auch die Parodie
begnügt sich oft damit, einer Vorlage hohen Stils die Form zu entlehnen
und diese auf einen möglichst heterogenen Inhalt zu übertragen, wie in der
berühmtesten parodistischen Dichtung des Altertums, dem Froschmäusekrieg.
Aber diese Klasse von Scherzen, die ganz auf dem Gegensatz zwischen
Inhalt und Form beruhen, bleibt immer äußerlich und auf das niedere Gebiet
der Komik beschränkt; zu einer tieferen Bedeutsamkeit gelangen beide erst,
wenn sie die Schwächen und Unzulänglichkeiten, die dem Erhabenen und
Großen anhaften, hervorheben, also den Inhalt selbst verspotten und damit
ins Gebiet der Satire treten: Lucians Göttergespräche und Shakespeares
Troilus und Cressida geben Beispiele davon. Auch hier hebt sich
deutlich die harmlose Art, die nur zur Erheiterung scherzend Schwächen
hervorhebt, ohne es böse zu meinen, von dem ernsthaften, mit satirischen
Waffen geführten Kampf ab, der den Gegner durch Spott vernichten will.
Von der ersteren, der harmlosen Gattung gibt Mauthners anmutiges parodistisches
Büchlein „Nach berühmten Mustern“, ein Beispiel; die letztere
tritt uns begreiflicherweise besonders da entgegen, wo, nach einem Ausdruck
Goethes, eine literarische Epoche sich aus der vorhergehenden durch
Widerspruch entwickelt. So schon in den Fröschen des Aristophanes und
seinen zahlreichen sonstigen Verhöhnungen des Euripides. Hier ist es die
neu aufkommende Richtung, die ironisch abgelehnt wird; von dauernderer
Wirksamkeit freilich pflegen die Spottgeschosse zu sein, welche
umgekehrt eine vorwärts stürmende Jugend gegen das Althergebrachte
und Geltende richtet. Goethes satirische Jugenddramen, besonders seine
Bekämpfung der Rokokoantike in „Götter, Helden und Wieland“ haben
den scherzhaft verspottenden Ton in der deutschen Literatur angeschlagen.
Verstärkt und verschärft haben ihn die Romantiker, so besonders Tieck
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in seinen Lustspielen, auch Brentano im Märchen vom Schulmeister Klopfstock
und gelegentlich auch E. Th. A. Hoffmann. Aber viel schneidender
und vernichtender war der Kampf, den die folgende Generation gegen die
Romantik selbst und ihre Ausläufer führte; das zeigen Platens satirische
Komödien, Immermanns Münchhausen und vor allem Heines Atta Troll,
dieses Meisterwerk seiner Gattung, das in seiner Mischung von Scherz und
Ernst, Unart und Grazie, ätzender Bosheit und überlegener Heiterkeit von
allen modernen Satiren dem Aristophanes am nächsten kommt.
Und das Geschätzte wird vor ihm zu Nichts.“
So charakterisiert Goethe die Art, wie der Dichter Menschen und Leben
wertet. Wenn in dem zweiten dieser Verse das Wesen der Satire zum
Ausdruck kommt, so kennzeichnet der erste die Natur des Humors.
Das immer wiederkehrende Thema aller Humoristen ist der Wert des
scheinbar Wertlosen, die Bedeutsamkeit dessen, was die Menschen verachten
und zurücksetzen. Das Leben und die Gesinnung der Armen und
Niedrigen birgt Schätze, die der Dichter hebt; der Häßliche und Absonderliche,
über den die Menge lacht, trägt in sich Reichtümer des Geistes und
des Gemüts. Ja, der Ausgestoßene, der Verbrecher birgt unter abstoßender
Hülle menschliche, bisweilen edle Charakterzüge. Überall also ist es der
Gegensatz zwischen Äußerem und Innerem, zwischen Erscheinung und
Wesen, Schätzung oder vielmehr Unterschätzung und wirklichem Wert. Die
Umkehr des Themas der Satire ist unzähliger Variationen fähig, und in solchen
erscheint sie denn auch in der Dichtung, wenigstens der neueren. Denn die
Antike mit ihrem naiven Wirklichkeitssinn und ihrer Wertschätzung der
Harmonie zwischen Äußerem und Innerem war begreiflicherweise nicht
geneigt, diese Gegensätze hervorzuheben und künstlerisch zu verwerten.
Um so deutlicher treten sie in der Vielspältigkeit und Zerrissenheit des
modernen Lebens hervor, und um so entschiedener hat sich die moderne
Dichtung, die ein Abbild dieses Lebens ist, seiner bemächtigt.
In dem häßlichen jungen Entlein Andersens, das von jedermann verachtet
und mißhandelt wird, steckt ein stolzer schöner Schwan, der, erwachsen,
zum bewundernden Erstaunen aller seine Schwingen entfaltet. Dieses
Märchen stellt das Grundthema des Humors in typischer Sinnbildlichkeit
dar, und typisch ist auch die Nutzanwendung des Dichters: „Es schadet
nichts, auf einem Hühnerhof geboren zu sein, wenn man nur aus einem
Schwanenei gekrochen ist.“ ─ Das verachtete Krähwinkel, die kleine Stadt
mit der lächerlichen Enge ihrer Straßen und ihres Lebens birgt unter den
Vielen, die in dieser Enge verkümmern, einen wahrhaft großen Menschen,
wie Jean Pauls Siebenkäs, oder doch kluge Köpfe und warme Herzen,
wie in Raabes Horn von Wanza. ─ In der engen und niedrigen Dachstubenwohnung
verläuft eine ganze Jugend mit allem Reichtum an Phantasie
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und Liebe. (Coppée, Toute une jeunesse.) ─ In der Schusterwerkstatt sitzt
ein Denkergeist, der sich zu tiefsinniger Spekulation, ja, zu hoher Lebensweisheit
durchgerungen hat: schon eine Lieblingsvorstellung des jungen
Goethe, die Raabe in den ersten Kapiteln des Hungerpastors zu künstlerischer
Vollendung gebracht hat; die Glaskugel über dem Tisch, in der sich die
wenigen Sonnenstrahlen fangen, die in die düstere Werkstatt hineinfallen,
wird zum Symbol des Lichts, das in die Dunkelkeit des Erdenlebens strahlt.
Auf dem Polizeibureau lebt in dem scheinbar ausgetrockneten Aktuar bei
seinem abstoßenden Geschäft ein tiefes Gefühl, und sein scharfer Blick für
alles Menschliche erkennt in dem jungen, auf der Straße aufgegriffenen Wildling
inneren Wert und sittliche Kraft. (Raabe, Die Leute aus dem Walde.) ─
Die verkommene Gesellschaft von Abenteurern und Verbrechern, die sich
in Bret Hartes Kalifornischen Novellen im Brüllerlager zusammengefunden
haben, ergreift ein väterlich menschlicher Instinkt beim Anblick des armen
kleinen Wurms, das die Lagerdirne sterbend zurückgelassen hat; sie werden
gemeinschaftlich Väter, ziehen es auf und finden ein vergängliches, aber
inniges Glück darin.
Zwei Tonarten lassen sich in diesen Variationen desselben Themas
unterscheiden. Tritt in der Schilderung des Dichters mehr das Komische
oder groteske Äußere hervor, das den inneren Wert umhüllt, so nähert sie
sich der reinen Komik; verweilt sie mehr auf dem inneren Wert, von dem
das Äußere absticht, so nähert sie sich dem Ernst: im ersteren Fall entsteht
der scherzhafte, im zweiten der rührende Humor. Ein anschauliches Bild
dafür, wie beide den gleichen Gegenstand, in diesem Falle die Treue eines
äußerlich unscheinbaren oder verkommenen Dieners behandeln, erhalten wir,
wenn wir den Prachtkerl Sam Weller aus den Pickwickiern neben Lessings
Just stellen. Die meisten von den bisher angeführten Beispielen gehören
der rührenden Gattung an, wie ihr denn Jean Paul sowohl als auch Raabe
vorwiegend huldigen; von der scherzhaften geben viele Gestalten von Boz
und nicht minder die meisten Charaktere Reuters, vor allem in der Stromtid,
packende Beispiele. Aber so komisch Unkel Bräsig oder der Jude Moses
in Sprache und Gebaren erscheinen, so wenig vergessen wir, daß hinter
diesem komischen Äußeren ein ernsthafter Wert steckt, wie sehr wir auch
über sie lachen, wir bleiben uns dieses Wertes bewußt und es ist niemals
ein verächtliches oder spöttisches Lachen, das sie erregen.
Es liegt im Wesen der Sache, daß rührender und scherzhafter Humor
ineinander übergehen. Keine größere humoristische Dichtung wird sich
so leicht ganz in den Schranken der einen von beiden Gattungen halten,
auch wenn ihr herrschender Charakter durch dieselbe bestimmt wird. Bei
Dickens vermischen sich beständig beide Arten der Wirkung; aber auch
Jean Paul hat scherzhafte Stellen: man denke an den Anfang der Flegeljahre
(die Testamentsverlesung), und in Reuters Dichtungen fehlt es keineswegs
an rührenden. Aber trotz dieser Erweiterung seiner Schranken läuft
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der Humorist leicht Gefahr, einseitig zu werden und zu verflachen. Dann
verliert der scherzhafte Humor seine tiefere Bedeutung und fällt ins rein
Komische, der rührende aber wird rührselig und weichlich. Der erstere
Fehler ist ästhetisch der geringere; denn auch das Scherzhafte ohne Wertbeziehung
kann noch künstlerisch wirken. Freilich ist es vom Übel,
wenn, wie in vielen modernen Lustspielen, der Dichter sein Werk mit
dem Anspruch auf eine tiefere Bedeutsamkeit beginnt, denselben aber
später fallen läßt und einfach zum witzigen Spaßmacher wird. Schlimmer
jedoch ist weichliche Rührseligkeit, denn sie verhindert stets eine künstlerische
Wirkung und stößt ernsthafte und männliche Naturen nicht minder
ab wie feinere, künstlerisch gerichtete Geister. Daher bedarf der Humor,
wenn er größere Dichtungen tragen und sich auf künstlerischer Höhe
halten will, eines Gegengewichts, und dieses findet er in seinem Widerspiel,
der Satire. Sehr richtig bemerkt Baumgart (Handbuch der Poetik,
S. 107/108): „Die satirischen Wirkungen und die humoristischen sind
geeignet, sich wechselweise zu ergänzen, und beide müssen, sobald sie
einseitig auftreten, notwendig vereinzelt bleiben. Die Satire für sich allein
ist auf Tadel und Vorwurf gerichtet und begünstigt die Schärfe und
Schonungslosigkeit des Urteils; der Humor für sich allein ist vom Wertvollen
eingegeben und zur Milde geneigt; er verfällt daher leicht einer
zu großen Weichheit.“ So stellt Lessing im Nathan den Patriarchen dem
Klosterbruder gegenüber, so Gustav Freytag in Soll und Haben und nach
ihm Raabe im Hungerpastor der inneren Tüchtigkeit eines schwerfälligen
deutschen Jünglings die gewissenlose Gewandtheit des jüdischen Strebers.
In der Tat sind fast alle bedeutenden Humoristen zugleich Satiriker: Jean
Paul und Raabe sowohl wie Thackerey und Dickens. Und Reuter, dessen
satirische Ader bei seiner harmlosen Gutmütigkeit nicht eben entwickelt
war, empfand das wohl selbst gelegentlich als einen Mangel und stellte
deshalb die einzige ernsthafte, ja zum Teil pathetische Satire, die er geschrieben
hat, „Kein Hüsung“, über alle seine anderen Dichtungen. Jeder
echte Dichter scheut eben instinktiv die Verweichlichung und Verflachung,
die in dem einseitigen Aufsuchen des Wertvollen, in der ausschließlichen
Schilderung edler oder doch im Kern braver Menschen liegt. Der Satiriker
freilich, besonders der pathetische, will oft gar nicht die Herbheit seiner
Eindrücke mildern; ja er steigert sie bisweilen mit voller Absicht bis zum
Peinlichen. Je entschiedener er nämlich eine außerkünstlerische, praktische
Tendenz verfolgt, desto weniger wird ihm daran gelegen sein, die Unlustempfindungen,
die seine Schilderungen erregen, zu mildern, Gutes und
Schlimmes in einem harmonischen Schlußakkord auszugleichen. Daher die
unkünstlerisch peinliche Herbheit in den meisten großen Romanen Zolas
und in den späteren Dichtungen Tolstois: bei beiden hat mit der Zeit
der Kritiker und der Verkünder sozialer Weisheit den Künstler zurückgedrängt.
Es springt ins Auge, daß satirische und humoristische Anschauung
in vielen Fällen nichts als die beiden Kehrseiten derselben Auffassung
sind: eben indem der wahre Wert des Menschen unabhängig von äußeren
Gütern und äußerem Glanz auftritt, erscheinen diese letzteren selbst wertlos;
und umgekehrt treten jene erst in ihrem wahren Wert hervor, indem man
die Wertlosigkeit des äußeren Scheins erkennt. In der Tat, Humor und
Satire gehören nicht nur im künstlerischen Sinne zusammen: sie bilden
vereint eine Art der Weltbetrachtung, aus der die poetische Darstellung erst
Richtung und Kraft empfängt. Wie die Romantiker und die philosophische
Ästhetik unter ihrem Einfluß das Wesen des Humors formulierten, mit
großen Worten und metaphysisch unbestimmten Begriffen, ist für die
heutige Philosophie ebenso veraltet und verschollen wie für die Kunstlehre;
Definitionen wie die, daß der Humor „das Unendliche im Endlichen“
darstelle, sagen uns nichts mehr. Aber doch bleibt dieser Ästhetik
das Verdienst, zuerst darauf hingewiesen zu haben, daß hinter jenen künstlerischen
Richtungen eine Weltanschauung steckt, die sich in ihnen ausspricht.
Zu einer richtigen Erkenntnis hat auch hier bereits Schiller den
ersten Ansatz gemacht: er findet in der scherzhaften Satire den Ausdruck
einer besonderen Lebensansicht, einer überlegenen Heiterkeit der Weltbetrachtung.
Wir kennen die schöne Stelle in der naiven und sentimentalischen
Dichtung bereits (S. 233), aber wir sehen nun auch, daß sie einseitig ist.
Nicht nur Scheinwerte verspotten, sondern zugleich die wahren Werte finden
und schätzen, nicht nur Laster und Torheiten lachend geißeln, wenn sie sich
in Glanz und Flitter hüllen, sondern mit gerührtem Lächeln Tüchtigkeit
und Kraft erkennen, auch wo sie von Staub und Lumpen verborgen sind:
beides zusammen erst verleiht die wahre Überlegenheit über den Eitelkeitsmarkt
des Lebens, welche Menschen und Dinge nach ihrem wahren Wert
zu schätzen sicher ist und in dem scheinbar Dauernden die Hinfälligkeit,
in dem Vergänglichen die ewige Bedeutsamkeit der Dinge erkennt. Nur
aus dem Bewußtsein dieser überlegenen Erkenntnis geht die erhabene
Heiterkeit hervor, für die alle Disharmonien der Welt und des Lebens in
einen gewaltigen und lustvollen Akkord zusammenklingen. Es ist die
Stimmung jenes Kophtischen Liedes, die Stimmung, die in erhabenen Tönen
aus Beethovens achter Symphonie erklingt. Als der dichterische Ausdruck
einer solchen Stimmung und der Weltanschauung, aus der sie hervorgeht,
empfängt der Humor seine höchste Bedeutung.
Der Humor setzt voraus, daß das Wertvolle,
auch wenn es nicht über das Gemeine triumphiert, sich doch in
seiner Sphäre behauptet. Der Träger der sittlichen Werte braucht nicht
äußerlich über die Schlechten, die ihm entgegenstehen, zu siegen, wie das
bei manchen Humoristen, besonders bei Dickens, gewöhnlich der Fall ist,
aber er muß sich in seiner Art erhalten und durchsetzen, zufrieden in dem
Bewußtsein inneren Reichtums und in der Geringschätzung äußeren Glanzes
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und Glücks. Wo das nicht der Fall ist, wo der Held im Kampf um seine
Selbstbehauptung untergeht, da entsteht die Tragik.
Wie kann nun ein solcher Vorgang ästhetische Lust erwecken? Das
ist das Grundproblem für jede Theorie des Tragischen. Denn eben durch
die ästhetische Lust, die es erregt, unterscheidet sich das Tragische von
dem einfach Traurigen oder auch Empörenden. Daß Elemente der Unlust
den ästhetischen Genuß, dem sie beigemischt sind, zu steigern vermögen,
ja daß eine solche Beimischung jeder größeren dichterischen Schöpfung
unentbehrlich ist, das ist uns schon in einem früheren Abschnitt (S. 110)
entgegengetreten. Allein wenn wir Wertvolles zugrunde gehen sehen,
wenn ein Held, der unser menschliches Interesse erregt, der unsere Sympathie
oder Bewunderung erweckt, in Leiden und Kampf sich aufreibt,
so müßte das so eindeutige, entschiedene Unlustempfindungen erregen, daß
es zunächst unverständlich bleibt, wie aus ihnen irgendwelches Vergnügen
hervorgehen kann. Was also, müssen wir mit Schiller fragen, ist der
„Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen?“
Das Wesen des Tragischen ist eines der am meisten behandelten und
umstrittenen Probleme der Ästhetik. Unendlich viel ist darüber geschrieben,
aber die meisten und geschichtlich bedeutendsten Untersuchungen über
den Gegenstand fassen die eben gestellten Grundfragen nicht scharf genug
ins Auge oder halten sie doch nicht entschieden genug als Mittelpunkt fest.
Aristoteles hat sich in seiner berühmten Definition der Tragödie1) so
ausschließlich an die psyschologischen Wirkungen gehalten, daß er den
objektiven Inhalt der tragischen Dichtung überhaupt nicht berücksichtigt.
Diese Wirkungen sind bei ihm Mitleid, Furcht und die durch beide hervorgebrachte
Katharsis. Die letztere, lange Zeit ein rätselhafter und viel umstrittener
Begriff, ist erst vor wenigen Jahrzehnten durch Bernays' kritische
Untersuchungen einigermaßen geklärt: es ist ein medizinischer Terminus,
der Entladung bedeutet. Durch die Erregung von Furcht und Mitleid
wird eine Entladung von diesen Affekten hervorgebracht. Das ist auch jetzt
noch nicht in allen Einzelheiten klar, aber so viel scheint sicher zu sein,
daß Aristoteles die Unlustgefühle der Furcht und des Mitleids als die
Grundlage ansieht, aus der das Lustgefühl der Erleichterung und Befreiung
hervorgeht. Hiernach würde schon er das Problem in seiner Eigenart
erfaßt und in seiner Weise zu lösen gesucht haben. Da aber seine Definition,
wie gesagt, auf das objektive Wesen des Tragischen gar nicht eingeht,
so ist sie, so paradox es klingen mag, für die Ästhetik nicht eben
fruchtbar gewesen, oder doch nur, indem sie einen immer erneuten Streit
der Meinungen angeregt und hierdurch das Nachdenken über das Problem
gefördert hat. Als nämlich die französischen und deutschen Klassiker
ἔστιν οὖν τραγῳδία μίμησις πράξεως σπουδαίας καὶ τελείας ... δι' ἐλέου καὶ φόβου
περαίνουσα τὴν τῶν τοιούτων παθημάτων κάθαρσιν. Poet. c. 5. ─ Vgl. auch oben S. 3 f.
des 17. und 18. Jahrhunderts das Wesen des Tragischen zu bestimmen
suchten, konnten sie in die nur halb verständliche und dazu noch durch
die Textüberlieferung verdorbene Definition mit einiger Kunst allemal das
hineinlegen, was sie gerne herauslesen wollten. So gab ihr Corneille
und die ihm folgende französische Ästhetik eine ausschließlich moralische
Deutung. Er interpretierte: die Tragödie sei eine Dichtung, die durch
Schrecken und Mitleid Läuterung von den dargestellten Leidenschaften
herbeiführe. Gemeint war, die Tragödie führe Leidenschaften, etwa Ehrgeiz
oder Eifersucht, vor, um durch ihre schreckenerregenden Folgen und
das Mitleid mit ihren Opfern die Zuschauer zu bessern. Die Beziehung
auf die „dargestellten“ Leidenschaften war freilich ebenso willkürlich wie die
Vertauschung der Begriffe Furcht und Schrecken. Und diese Blöße gab
Lessing den Anlaß, die allzu platte und plump moralisierende Deutung
mit Erfolg zu bekämpfen. Was er indessen selbst in den berühmten
Abschnitten 74 ff. der Hamburgischen Dramaturgie an ihre Stelle setzte,
war sachlich nicht eben stichhaltiger: eine geistreiche, aber gesuchte und
gewundene Interpretation, die den griechischen Philosophen noch dazu
mit dem Wesen aller künstlerischen Wirkung in Widerspruch setzt. Auf
eine vermeintliche Parallelstelle aus einer anderen Aristotelischen Schrift
sich stützend, deutete Lessing gegen sprachliche und sachliche Wahrscheinlichkeit
das Wort Furcht als das auf uns selbst bezogene Mitleid,
so daß der Satz den Sinn erhielt: die Tragödie bringt dadurch, daß sie
unser Mitleid für andere und unsere Furcht für uns selbst erregt, eine
„Reinigung dieser und dergleichen Affekte“ hervor. Diese Reinigung soll
nach der Meinung des Hamburgischen Dramaturgen darin bestehen, daß
sie uns vor „beiden Extremis“ d. h. vor Überschwänglichkeit sowohl wie
vor Abstumpfung wahrt. Die Erklärung ist sprachlich und sachlich gleich
haltlos; auch ist sie nicht minder einseitig moralisierend als die der Franzosen.
Nur den einen Fortschritt bezeichnet sie, daß sie die bessernde oder
läuternde Wirkung wenigstens nicht mehr von dem Inhalt im einzelnen
erwartet, als ob die Tragödie eine zu Besserungszwecken erfundene Fabel
sei, sondern sie vielmehr auf die Charakterverfassung des Zuschauers überhaupt
bezieht. Es schwebt etwas wie Veredlung der Gesamtpersönlichkeit
vor, wiewohl Lessing weder den Ausdruck gebraucht noch den Gedanken
selbst in seiner Tiefe erfaßt hat.
Dieser Gedanke nun aber bildet ganz und gar den Lebensnerv in
Schillers Lehre von der tragischen Kunst. Nachdem er in seinen beiden
ersten ästhetischen Arbeiten zwei verschiedene, aber gleichmäßig verfehlte
Ansätze zur Lösung des Problems gemacht hatte, gelangte er in der Abhandlung
Vom Erhabenen, insbesondere in dem Abschnitt Über das
Pathetische, der als selbständiger Aufsatz in die Werke übergegangen
ist, zur endgültigen Begründung seines Standpunktes, und dieser bezeichnet
einen entschiedenen Fortschritt über die Lehre seiner Vorgänger. Zwar
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auch für Schiller ist die tragische Wirkung ethischer Natur und das Tragische
selbst ein moralisches Phänomen, aber nur deshalb, weil ihm ethische und
ästhetische Werte und Wirkungen überhaupt untrennbar zusammenfließen,
weil für ihn das Gute und das Schöne nur verschiedene Formen desselben
Ideals darstellen und jede ästhetische Wirkung zugleich eine ethische ist.
Er knüpft an Kants Begriff des Erhabenen an, den er ganz ins Ethische
umdeutet. Der erhabene Charakter ist der, bei dem das Sittengesetz
über das Triebleben herrscht; er bewährt sich als solcher, indem er den
Naturtrieb zugunsten der sittlichen Vernunft unterdrückt; er leidet und stirbt,
um das sittliche Ideal zu wahren. Eben dies, das Erhabene im Leiden
darzustellen, ist das Wesen der tragischen Kunst. Sie erregt unser Mitleid,
indem sie uns Leiden und Untergang zeigt, aber sie erfüllt uns mit einem
erhabenen Lustgefühl, wenn wir sehen, wie das Gute und Große im Menschen
über Leiden und Tod triumphiert.
Es ist klar, daß hier zum erstenmal eine inhaltvolle und verständliche
Antwort auf jenes Grundproblem des Tragischen gegeben ist. Daß freilich
auch in Schillers Lehre eine Einseitigkeit liegt, zeigt die Art, wie er sich
mit den großen Bösewichtern auf der tragischen Bühne abfindet: nur
durch eine gekünstelte und wenig zwingende Wendung vermag er hier
die Beziehung auf das sittlich Erhabene festzuhalten. Trotz dieser Einseitigkeit
scheint mir Schillers Grundanschauung bis heute der Wahrheit am
nächsten zu kommen, wenigstens von keiner anderen übertroffen zu sein:
unsere weitere Untersuchung wird das bewähren.
Auch von den metaphysischen Philosophen, die auf Kant und Schiller
folgten, haben sich die bedeutendsten mit dem Wesen des Tragischen beschäftigt,
sowohl Schelling wie Schopenhauer und besonders Hegel, dessen
Lehre dann für die Ästhetik auch in diesem Punkte von weitreichendem
Einfluß geworden ist. Allein man merkt nur zu deutlich, daß diese Denker
nicht von dem Problem als solchem ausgegangen sind, um es wissenschaftlich
zu lösen, sondern vielmehr von vornherein in der tragischen Kunst
eine Bestätigung ihrer metaphysischen Anschauungen suchten und fanden.
Die Methode, die sie dabei verfolgen, ist überall dieselbe: sie greifen diejenigen
Erscheinungsformen des Tragischen aus dem Gesamtgebiet heraus,
die am leichtesten im Sinne jener Anschauungen gedeutet werden können;
die übrigen vernachlässigen sie oder deuten sie gewaltsam um. So leiden
die meisten dieser Theorien an dem doppelten Fehler, daß sie einmal ─
ebenso wie uns das bei den Lehren vom Komischen entgegentrat ─
zu eng sind und die Fülle der Erscheinungen nicht erschöpfen, und
zweitens, daß sie aus allgemeinen Ideen konstruiert und nicht aus der
Erfahrung abgezogen sind. So sieht Schelling im Wesen des Tragischen
den Widerstreit des Einzelnen und Endlichen mit dem Absoluten; Hegel
findet in ihm den künstlerischen Ausdruck für die Selbstentzweiung der
Idee, Schopenhauer den Beweis für die pessimistische Wertung der Welt:
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die Tragödie bringe dem Zuschauer zum Bewußtsein, daß das Dasein
Leiden und das Nichtsein vorzuziehen sei. Noch enger und daher noch
verfehlter sind die meisten Deutungen, welche die von diesen originalen
Denkern, besonders von Hegel, abhängige spätere deutsche Ästhetik aufgestellt
hat, wie die einseitige Schuldtheorie Friedrich Vischers, Carrières
u. a., auch Hebbels und Otto Ludwigs.1) Auf keine dieser Theorien
können wir hier näher eingehen; sie tragen weder ihren Methoden noch
ihren Voraussetzungen nach wissenschaftlichen Charakter, so viel sie auch
im einzelnen an geistvollen Ideen und tiefem Gefühl für die tragische
Kunst zum Ausdruck bringen. Erst mit der psychologischen Wendung,
welche die Ästhetik des letzten Menschenalters genommen hat, ist die Behandlung
unseres Problems von metaphysischen und moralischen Elementen
befreit und in das Gebiet der Erfahrungswissenschaft gerückt worden.
Unter den Arbeiten, die ihm seither gewidmet sind, ist Volkelts „Ästhetik
des Tragischen“ nicht nur die umfangreichste, sondern auch die vielseitigste
und lehrreichste, während die kürzere Schrift von Lipps „Der Streit über
die Tragödie“ zwar scharf gedacht und klar geschrieben, aber doch nach
Auffassung und Darstellung einigermaßen dürr und einseitig ist. ─
Wir kehren nach diesem geschichtlichen Überblick zu unserem Ausgangspunkt
zurück und stellen aufs neue die Frage: wie ist es möglich,
daß aus Mitleid und Furcht, aus Abneigung und Grauen, aus den tiefsten
Unlustempfindungen der menschlichen Seele die höchste ästhetische Lust
hervorgehen kann? Denn daß die Tragödie von allen Arten der Dichtung
am meisten zugleich erschüttert und erhebt, darüber sind sich Ästhetiker
wie Dichter fast durchweg einig. Sie läßt uns in Abgründe des menschlichen
Herzens blicken, führt in die Tiefen des Leides, spannt uns in
banger Erwartung auf einen Ausgang, der stets die Hoffnung täuscht und
die bängsten Befürchtungen bestätigt. Und doch gewährt sie uns gerade
hierdurch eine erhabene Verzückung, wie sie sonst nur noch die gewaltigsten
Meisterwerke der Musik hervorzurufen vermögen.
Aber gerade in der Stärke und Tiefe dieser Gemütserregungen wird
man vielleicht nicht mit Unrecht einen Grund des Vergnügens an tragischen
Gegenständen finden. Schon Schiller und vor ihm Mendelssohn urteilten
so, und in jüngster Zeit erst hat Volkelt die „Lust der Gefühlslebendigkeit“,
das Wohlgefühl, das durch „starke Erregung, Erschütterung, Durchschüttelung,
Aufwühlung“ hervorgerufen werde, als eine Quelle des tragischen
Genusses bezeichnet.2) Hierin liegt zweifellos etwas Richtiges und Wesentliches.
Alles was zu Phantasie und Gemüt spricht, jedes Kunstwerk, das
uns innerlich bewegt, steigert unsere Lebensgefühle; das Herz merkt nach
Hierüber siehe Volkelt, Ästhetik des Tragischen, 2. Aufl. S. 101 ff. und 150 ff.
und an anderen Stellen.
Ästhetik des Tragischen S. 2962; vgl. desselben Verfassers System der Ästhetik,
Bd. I S. 352.
dem schönen Goetheschen Ausdruck, „daß es noch lebt und schlägt und
möchte schlagen“. Auch im Leben sind nicht alle Affekte, die an sich
den Charakter des Schmerzes oder doch der Unlust tragen, einer leisen
Beimischung lustvoller Erregungsgefühle völlig bar. Hier freilich ist die
Grenze, wo die Leidenschaft nur noch Leiden bringt, schnell erreicht; anders
in der Kunst, wo die im Unterbewußtsein schlummernde Gewißheit, daß das
Gesehene und Gehörte nur Illusion ist, auch die stärksten Erschütterungen
begleitet und dadurch soweit mildert, daß sie zur Lust werden können.
Daher ist begreiflicherweise diejenige Dichtung, welche den Affekt aufs
höchste steigert, auch die Quelle des höchsten künstlerischen Genusses.
Aus eben diesem Grunde, und nur aus diesem, ist man berechtigt, gerade
in der dramatischen Form der Tragödie die höchste, weil wirkungsvollste
Darstellung des Tragischen zu sehen: an sich wird es durch das Epos,
durch Roman und Novelle durchaus nicht unzulänglicher verkörpert.
Dennoch ist die Frage nach dem Wesen des Tragischen hiermit noch
nicht gelöst, zum mindesten nicht im letzten Grunde erschöpft. Denn
naturgemäß müßte man annehmen, daß ein Kampf, der uns so tief erregt,
eine Handlung, die uns so gewaltig spannt wie der Verlauf einer echten
Tragödie, nur dann unser Gefühl befriedigt, wenn sie mit dem Sieg des
Helden schlösse. Aber das Gegenteil ist der Fall: erst der Untergang des
Helden gibt der tragischen Wirkung die volle Wucht, und er erst ruft in
den meisten Fällen das Gefühl der Erhebung hervor, das wir als die Quelle
der höchsten tragischen Lust, als das Ergebnis der tragischen Handlung
empfinden. Der Schluß des Wilhelm Tell hinterläßt längst nicht eine so
tiefe Wirkung wie der der Jungfrau von Orleans oder der Braut von
Messina, die Sophokleische Elektra wirkt bei weitem nicht so mächtig wie
das tragische Ende in Äschylos Choëphoren. Tatsächlich also werden
Lust und Erhebung nicht trotz dem Untergang sondern gerade durch den
Untergang des Helden hervorgerufen.
Wie ist das möglich? Daß das Wertvolle zugrunde geht, daß der
Edle leidet und stirbt, kann an sich unter keinen Umständen Lust erwecken.
Was bleibt also übrig? Offenbar nur dies eine, daß der Wert,
dessen Träger der Held ist, seinen Untergang überdauert, ja, gerade durch
Leiden und Tod in voller Kraft und Bedeutung hervortritt, sich in diesem
Sinne als ein Ewigkeitswert enthüllt. So wird es begreiflich, daß die echte
Tragödie mit dem Untergang des Helden schließt und eben hierdurch
die höchste tragische Lust hervorruft. Denn diese Lust ist nichts anderes
als das Gefühl der Erhebung über das einzelne menschliche Schicksal,
über Leiden und Tod; und dieses kann nur hervorgerufen werden, wenn es
uns zur Anschauung kommt, daß es Mächte und Werte gibt, die alles das
überwältigen und überdauern.
Welcher Art nun können diese Mächte sein? Schiller erkannte als
eine solche ausschließlich die sittliche Kraft an; die Freiheit im Kantischen
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Sinne, d. h. das Vermögen, Pflicht über Neigung, das Sittengesetz über
die Triebe zu stellen, war ihm unmittelbar oder mittelbar die alleinige
Grundlage des Erhabenen und Pathetischen. Wir haben schon oben gesehen,
daß diese Umgrenzung zu eng ist. Aber ein erster Fall, in dem
das Wesen des Tragischen typisch hervortritt, ist damit richtig bezeichnet:
der Held verkämpft in Tun und Leiden ein sittliches Ideal; indem er
sich für dasselbe opfert, tritt es in seiner ganzen Bedeutung, in seiner
ganzen Macht und Höhe hervor. So Antigone, so Shakespeares Brutus
und Lessings Emilia. Begreiflicherweise vertreten fast alle Schillerschen
Helden diesen Typus. Aber auch in Hebbels Gyges, in Ibsens Brand und
seinem Volksfeind erscheint er.
Der umgekehrte Fall nun ist der, daß der Held die sittliche Idee
verletzt oder bekämpft, aber im vergeblichen Kampfe erliegt. Dieses letztere
geschieht entweder indem er die triumphierende Idee anerkennt, sich der
verletzten zur Sühne opfert, wie Sophokles' Ajas und Shakespeares Coriolan,
Schillers Karl Moor und Don Cesar, Goethes Stella und Ottilie, Hebbels
Golo und Ibsens Rebekka; ─ oder indem er ihr widerwillig zum Opfer
fällt: Klytämnestra, Richard III. und Macbeth, Franz Moor und Fiesco,
Grillparzers Jason und sein König Ottokar. Die erstere Art wird man gut
tun als das Tragische der Schuld und Sühne, die zweite als das des
Verbrechens und der Strafe zu bezeichnen.
Freilich, der äußere Triumph der Moral über ihre Gegner wirkt an
sich nicht tragisch. Der Untergang Jagos, Edmunds im Lear und ähnlicher
Bösewichter erfüllt uns zwar mit Genugtuung, befriedigt unser Gerechtigkeitsbedürfnis,
aber das Gefühl der tragischen Erhebung hat damit
nichts zu schaffen. Worin liegt der Unterschied, was fehlt hier zur tragischen
Wirkung? Darüber kann uns ein dritter Fall belehren. Es ist
der, daß der Held nicht für ein sittliches Ideal, sondern für persönliche
Ziele kämpft und leidet. Instinkte, die an dem Maßstab der Moral gar
nicht gemessen werden können, erfüllen und lenken ihn: Liebe, Ehrgeiz,
die Lust zu wirken und zu herrschen. Diese Triebe wachsen zu Mächten
aus, die den Menschen völlig beherrschen; er leidet und stirbt lieber,
als daß er ihnen entsagte; sie erscheinen als Naturgewalten, die ihn erfüllen,
mit seinem innersten Selbst verwachsen. „Verbiete du dem Seidenwurm,
zu spinnen, wenn er sich schon dem Tode näher spinnt“, diese
Antwort Tassos bezeichnet die tragische Gewalt solcher Mächte. Aber
was bleibt von ihnen, wenn sie ihr Gefäß zerbrochen haben, was überdauert
hier den Untergang des Helden? Es ist offenbar der Gesamteindruck
der Persönlichkeit in ihrem einzigen individuellen Wert, der
zurückbleibt, wenn ein Werther, ein Wallenstein untergeht. Das Gefühl,
daß, was in einem höheren Sinne einmal lebendig war, auch lebendig
bleibt, solange es noch empfunden und angeschaut werden kann; daß
in diesem Sinne die Persönlichkeit den Tod überdauert, das ist es, woraus
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die tragische Erhebung hervorgeht. Solche Menschen wagen das Äußerste,
um ihr Selbst zu behaupten, sie leiden und sterben lieber, als daß sie
sich selber untreu werden.
Das schönste typische Beispiel ist Goethes Egmont. Er bleibt nicht
aus Leichtsinn in Brüssel, wie es ihm eine schulmeisternde Weisheit untergelegt
hat, sondern weil er seiner Natur nach nicht mißtrauen kann und
will, weil er lieber zugrunde geht, als daß er sein innerstes Wesen, das
auf rascher und reiner Wirksamkeit, auf frohem Lebensgenuß, auf offenem
Vertrauen beruht, preisgäbe. So spricht er es dem Vertrauten gegenüber
aus, und mit dem Bewußtsein, sich selbst treu geblieben zu sein, sieht er
dem gewissen Tod ins Auge. „Eines jeden Tags hab' ich mich gefreut;
an jedem Tage mit rascher Wirkung meine Pflicht getan, wie mein Gewissen
sie mir zeigte.“ In diesem Sinne darf er uns zurufen: „Euer
Liebstes zu erretten, fallt freudig, wie ich euch ein Beispiel gebe.“ Überhaupt
liebt Goethe diese tragische Selbstbehauptung, wie er denn von dem
Wert und der Naturgewalt der Persönlichkeit überzeugt ist. Fast alle
seine Gestalten haben etwas davon, im Einklang mit dem Orphischen
Urwort, nach dem keine Macht und keine Zeit die Persönlichkeit zerstückeln
kann. Moderne Menschen werden vielleicht geneigt sein, diesen
Kampf um eine eigene Persönlichkeit ebenfalls als einen sittlichen, die
Erhaltung der Individualität als eine moralische Idee zu bezeichnen. Über
das Wort braucht man nicht zu streiten: es mag wohl so sein. Daß aber
dieses Ideal immerhin etwas anderes ist, als was die überlieferte Ethik als
sittlich bezeichnet, ist klar. Weder Romeo noch Werther noch Grillparzers
Hero und Leander handeln sittlich, auch Wallenstein nicht, sicherlich
wenigstens nicht nach der Meinung seines Dichters, wiewohl er ganz aus
dem Gefühl seiner Persönlichkeit heraus und nur zur Selbsterhaltung in
jenem höheren Sinne zur Tat schreitet. „Zeigt einen Weg mir an aus
diesem Drange, hilfreiche Mächte, einen solchen zeigt mir, den ich vermag
zu gehen!“ Noch deutlicher beweisen das die Gestalten jener tragischen
Verbrecher wie Richard III. und Franz Moor: in ihren Anlagen und Trieben
liegt der Gegensatz gegen die Moral begründet.
Überhaupt läßt sich diese dritte Art der Tragik wohl theoretisch, aber
nicht praktisch von den beiden ersten völlig abtrennen. Denn dem tragischen
Helden, der unsern Anteil erregen soll, muß immer auch unabhängig von
der Sache, die er verkämpft, ein Persönlichkeitswert zukommen. Eben im
Tragischen des Verbrechens und der Strafe zeigt sich das am deutlichsten. Nur
wo der Schuldige uns durch Geisteskraft imponiert, wie jene großen Bösewichter
Shakespeares, oder durch Liebenswürdigkeit bestrickt, wie Goethes
Adelheid, nur wo uns sein Untergang, wenn nicht mit Mitleid, so doch mit
dem Gefühl: „Es ist schade um ihn!“ erfüllt, nur da ist eine tragische
Wirkung möglich; sonst bleibt es bei der moralischen Bewertung, die Schiller
in einem bekannten Spottgedicht so drastisch beschrieben hat. Je mehr
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es dem Dichter gelingt, unsere Sympathie für die Persönlichkeit seines
Helden zu erwecken, desto kraftvoller und bedeutsamer tritt der Wert der
sittlichen Idee hervor, der er unterliegt. Es beweist nichts und erschüttert
uns nicht, wenn wir schwache oder gleichgütige Naturen an ihr scheitern
sehen, wohl aber, wenn wir ihr solche, die wir lieben und bewundern, gewissermaßen
zum Opfer bringen müssen. Daher ist es ein oft angewandtes
künstlerisches Mittel tragischer Dichter im Epos wie im Drama, ihre Bösewichter
kurz vor der Katastrophe sympathischer erscheinen zu lassen als
vorher. Schon der Nibelungendichter hat es instinktiv angewandt, als er
seinen Hagen mit Volker Freundschaft schließen und die Todeswache halten
ließ. Dasselbe erreicht Shakespeare durch Richards III. Monolog nach der
Traumszene, und die Kunst, den Helden vor dem Untergang mit einer
Gloriole von Menschlichkeit und Heldengröße zugleich zu umweben, ist
im fünften Akt von Wallensteins Tod zur ergreifendsten Wirkung gesteigert.
Es gibt nun freilich auch eine ganze Anzahl tragischer Dichtungen,
denen es an einem erhebenden Moment der genannten drei Arten überhaupt
fehlt, und mit einem gewissen Recht unterscheidet Volkelt daher das
Tragische der niederdrückenden Art von dem der befreienden. Hier triumphiert
am Schluß kein Ideal über Zeit und Tod; die Persönlichkeit wird
von innen heraus aufgerieben und zerstört; wir sehen nur Vernichtung,
keinen Wert, der sie überdauert. So ist es in vielen Shakespeareschen
Tragödien, namentlich der letzten Epoche: im Hamlet, im Lear, vor allem
im Othello. Hebbels Maria Magdalena, Ibsens Gespenster und Wildente
und eine ganze Anzahl moderner naturalistischer Dramen, namentlich auch
Gerhart Hauptmanns Weber, Fuhrmann Henschel u. a. gehören hierher.
Aber es ist nicht zu leugnen, daß allen solchen Tragödien etwas tief Unbefriedigendes
anhaftet, daß ein Ausgang ohne Erhebung und Versöhnung
entweder gleichgültig läßt, wie die Schlächterei am Schluß des Hamlet, oder
gar ein Gefühl von ohnmächtiger Empörung hervorruft, wie im Othello und
der Maria Magdalena. Mag man daher auch immerhin literarhistorisch berechtigt
sein, solche Entwicklungen und Ausgänge tragisch zu nennen ─
dem Wesen der tragischen Kunst, ja, der künstlerischen Wirkung überhaupt
entspricht der Eindruck nicht, den sie hinterlassen. Ein Überschuß von
Unlust bleibt zurück, der sich mit dem Begriff des ästhetischen Genusses
nicht verträgt: das Gesetz des künstlerischen Abschlusses, wie wir es im
zehnten Abschnitt kennen gelernt haben, ist verletzt.
Ist uns mit dem Bisherigen das Wesen des Tragischen deutlich geworden,
so müssen wir nunmehr die Bedingungen ins Auge fassen,
durch die es sich in der Dichtung verwirklicht.
Zunächst, woher rührt das Leiden des Helden? Welches sind die
tragischen Gegenmächte, an denen sein Wollen und Tun scheitert? Sie
können offenbar rein äußerer Natur sein, so daß ihnen im Innern des
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Helden nichts entspricht: Sophokles' Antigone, Goethes Götz und Egmont,
Grillparzers Ottokar geben Beispiele davon. Der Gegensatz kann bis zum
Dämonischen gesteigert werden wie in Äschylos' Prometheus oder Shakespeares
Richard III., und doch ist diese Art der Tragik die am wenigsten
tiefe; sie vermag uns mehr zu erschüttern als zu ergreifen. Alles innere
Geschehen findet in unserem Innern tieferen Wiederhall als äußere Ereignisse.
Daher steigert und vertieft sich die tragische Wirkung, wenn die
Gegenmächte, an denen der Held scheitert, innerer Art sind, wenn eine
tragische Veranlagung seinen Willen spaltet und er so an sich selbst
zugrunde geht. Freilich, da alles innere Geschehen den Anstoß durch
äußere Ereignisse erhält, so kann es keine dichterische Handlung geben,
die rein innerlich verläuft; doch kann die äußere Handlung so unbedeutend
sein, daß ihr tatsächlich keine andere Aufgabe zufällt, als den
tragischen Ablauf im Innern in Bewegung zu setzen. Im allgemeinen
wird das häufiger in der Romandichtung der Fall sein als im Drama, da
die Bühne einer bewegten äußeren Handlung nicht entbehren kann: so im
Werther, in den Wahlverwandtschaften, in George Eliots Mühle am Floß,
in Guy de Maupassants „Fort comme la mort“ und in Zolas „L'Oeuvre“.
In Gottfried Kellers Grünem Heinrich und Jakobsens Niels Lyhne ist
tatsächlich die äußere Handlung so gut wie ganz aufgezehrt von der
inneren Entwicklung. Aber auch das moderne Drama neigt vielfach zu
solchem rein seelischen Verlauf, nachdem Goethes Tasso das erste Beispiel
gegeben hat: Ibsens Nora und Baumeister Solneß und ihre deutschen
Nachahmungen wie Gerhart Hauptmanns Einsame Menschen beweisen
das.
Die häufigste und wirksamste Art des tragischen Verlaufs ist die, daß
sich mit äußeren Gegenmächten innere verbinden. Im Kampfe gegen die
Außenwelt geschieht es, daß sich die Triebe des Helden entzweien und,
in dem doppelten Konflikt geht er zugrunde. So Shakespeares Coriolan,
Schillers Wallenstein und Jungfrau, Grillparzers Sappho und Hebbels
Judith. Dieses Zusammenwirken wird bestimmt und erleichtert durch den
Charakter des Helden einerseits, durch die Art der äußeren Gegenmächte
andrerseits. Charaktere, die ganz aus einem Guß sind, wie Goethes Götz
und Egmont, können nicht mit sich selbst in Konflikt kommen, sondern
nur dem äußeren Zusammentreffen feindlicher Konstellationen erliegen.
Die äußeren Gegenmächte wiederum, wenn sie nur feindlicher und verneinender
Art sind, wenn sie weder für den Helden, noch an sich irgend
welche Werte vertreten, sind nicht imstande innere Kämpfe hervorzurufen.
Der Untergang etwa in heldenmütigem Kriege wirkt an sich nicht tragisch,
wie man sich z. B. aus Körners Zriny überzeugen kann: der Held, der
sich begeistert für sein Vaterland opfert, erweckt Bewunderung, aber kein
Mitleid, da er nicht innerlich leidet. Ebensowenig ist es tragisch, wenn
er durch Ränke zugrunde gerichtet wird, denen er ahnungslos zum Opfer
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fällt. Daher hat das Intriguenstück wohl auf der komischen, aber nicht
auf der tragischen Bühne Heimatsrecht gefunden.
Sobald aber auch auf der Gegenseite Werte persönlicher oder ideeller
Natur stehen, vertieft sich die Tragik, und erhöht sich dementsprechend die
Wirkung. Wenn der Held nicht gegen Feinde, sondern gegen Blutsverwandte
und Freunde kämpfen muß, wenn er Pflichten und Ideale verletzt,
die er verehrt, wenn er leidet, auch da, wo er siegt, dann erregt er
unser Mitleid von vornherein in weit höherem Maße. Darum hatten die
antiken Tragödiendichter eine Vorliebe für die schreckensvollen Stammsagen
der Atriden und Labdakiden, darum stellt Schiller in der Mehrzahl
seiner Dramen Kämpfe zwischen Vater und Sohn, zwischen Bruder und
Bruder dar, oder er läßt, noch ergreifender, die nächsten Freunde durch
den Gegensatz der Willensrichtung in unheilbaren Zwiespalt geraten. Und
noch mehr vertieft sich die Tragik, wenn mit diesen menschlichen Beziehungen
zugleich sachliche oder ideelle Werte auf beiden Seiten wirksam
sind. So in Shakespeares Coriolan und im Julius Cäsar, in Hebbels Agnes
Bernauer und seiner Kriemhild. In allen diesen und vielen anderen tragischen
Dichtungen bildet den Mittelpunkt der Kampf zweier Werte, der
den einheitlichen Willen von innen heraus spaltet und bricht und so den
tragischen Ausgang notwendig herbeiführt, ─ sei es nun ein Konflikt zwischen
Neigung und Pflicht oder zwischen zwei entgegenstehenden sittlichen
Geboten. Tragische Verwicklungen dieser Art bedürfen nicht des
Hasses und der Bosheit; sie ergreifen am tiefsten, wenn der tragische
Gegensatz zur Verletzung, ja zur Vernichtung führt, ohne daß die handelnden
Personen einander verletzen und vernichten wollen; wenn Othellos
furchtbares „Die Sache will's“ das herrschende Motiv der Handlung
bildet. Goethes Clavigo und die Wahlverwandtschaften, Grillparzers
Sappho, Hebbels Gyges und die bereits genannte Agnes Bernauer sind
Beispiele.
Es bedarf in solchen Fällen nun freilich einer Konstellation feindlicher
Umstände, um den Konflikt zustande zu bringen, und die Schwierigkeit
für den Dichter beruht darauf, diese Konstellation weder rein zufällig
noch durch eine äußere Schicksalsmacht fatalistisch bestimmt erscheinen
zu lassen. Ganz freilich ist der Zufall aus dem äußeren Geschehen
ein für allemal nicht auszuscheiden, aber räumt ihm der Dichter
an irgend einer Stelle einen entscheidenden Einfluß ein, so zerstört er das
Gefühl der inneren Notwendigkeit, das uns zwingt, an seine Welt zu
glauben. So ist in Schillers Jungfrau das entscheidende Zusammentreffen
mit Lionel, noch mehr aber der Umstand, daß Johanna dem Feinde den
Helm vom Kopf reißt und sein Gesicht sieht, ein reiner Zufall, der auch
als solcher wirkt. Auch in Shakespeares Romeo spielt der Zufall bedenklich
mit: wäre Lorenzos Brief rechtzeitig in die Hände des Helden gekommen,
so wäre der tragische Ausgang vermieden.
Der Zufall kann uns nicht tragisch erschüttern, sondern nur überraschen
und verwundern; herrschen muß Notwendigkeit, auch im Verlauf
der äußeren Handlung. Allein diese Notwendigkeit darf kein Fatum
sein, keine dunkle und absichtlich wirkende Macht, die aus dem Verborgenen
das Tun und Leiden des Menschen beherrscht und ihn gegen
den eigenen Willen zwingt. Sie darf es nicht sein, weil die Vorstellung
von einer solchen Schicksalsmacht jeder Vernunft widerspricht und nur für
eine ganz primitive Lebensanschauung glaublich erscheinen könnte. Die
Naivität, mit der Homer seine Moira Sieg oder Tod seiner Helden entscheiden
läßt, ist für jede entwickeltere Denkweise unmöglich. Es ist daher
in der Tat noch keinem Trauerspieldichter eingefallen, das Schicksal
selbst als dämonisch persönliche Macht ausdrücklich einzuführen oder anzuerkennen,
und in diesem Sinne hatten unsere Müllner und Grillparzer
recht, wenn sie sich dagegen verwahrten, Schicksalsdramen geschrieben zu
haben. Mit gleichem Recht weist U. v. Wilamowitz-Möllendorff in der
Einleitung zum Ödipus nach, „daß von einem Schicksal als einer Ursache,
einer wirkenden Kraft bei Sophokles nirgends die Rede ist und keine Rede
sein könnte“. Allein ob das Schicksal selbst die bestimmende Macht ist
oder von den Göttern bestimmt wird, macht am Ende doch keinen wesentlichen
Unterschied. Das Entscheidende für die Schicksalstragödie bleibt,
daß ihre Menschen durch eine äußere unbekannte Gewalt zu Wollen, Tun
und Leiden gezwungen werden:
Und wer sich vermißt, es klüglich zu wenden,
Der muß es sich selber erbauend vollenden.
Mit diesen Worten hat Schiller diese Anschauung zu klassischem Ausdruck
gebracht. Die Mittel, durch die ein solcher Schicksalszwang möglich ist,
sind immer eine Reihe von Zufällen, vor allem aber das Geheimnis, das
über den entscheidenden Umständen, besonders der Herkunft des Helden
liegt. Zufall und Geheimnis verketten sich nun so, daß eine deutliche
Absichtlichkeit in dem Gesamtzusammenhang der Geschehnisse hervortritt,
eine Absichtlichkeit, die wir auf die Götter, auf eine vergeltende Gerechtigkeit
oder etwas dem Ähnliches zurückführen müssen. Um aber eine sittliche
Macht zu sein, um als Symbol einer gerechten Weltordnung gepriesen
zu werden, wie es am Schlusse der Ahnfrau geschieht, verfährt
diese ewige Macht viel zu hinterlistig und tückisch, viel zu ungerecht und
hart. Sie trifft zumeist den Schuldlosen, um den Schuldigen zu bestrafen.
Zudem vermag uns selbst diese Absichtlichkeit nicht immer den Zufall, mit
dem sie spielt, als mehr denn Zufall erscheinen zu lassen.
Alles dies gilt offenbar schon von dem Urtypus des Schicksalsdramas,
dem König Ödipus. Was man auch darüber sagen mag, der Verlauf dieser
Tragödie ist entsetzlich, ja empörend, und er wird auf ein unbefangenes
Gemüt wohl immer so wirken, wie er denn allem Anschein nach auch
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auf sein ursprüngliches Publikum im Athenischen Theater so gewirkt hat.
Die überaus hohe Wertschätzung, welche diese „Enthüllungstragödie“ (siehe
oben S. 177) im späteren Altertum, namentlich aber bei unseren deutschen
Klassikern gefunden hat, ist nur aus der technischen Meisterschaft zu verstehen,
mit der sie gearbeitet und durch die sie in formaler Hinsicht in der
Tat vorbildlich ist. Falsch ist es auch, was manche neueren Ästhetiker gewollt
haben, die grundsätzliche Anschauung, die den König Ödipus beherrscht,
als typisch für die gesamte griechische Tragik anzusehen und hieraus einen
Unterschied zwischen antiker und moderner Tragödie ableiten zu wollen.
Nur in einigen wenigen Euripideischen Dramen wird, soviel uns bekannt ist,
dem von den Göttern verhängten Geschick eine ähnliche Macht eingeräumt,
und wir wissen, wie skeptisch Euripides selbst den Sagen und Historien gegenüber
stand, die er dramatisierte. Aber sowohl in Äschylos' Prometheus wie
in Sophokles' Elektra und Philoktet, noch deutlicher aber in der Medea
und anderen Stücken des Euripides tritt die entgegengesetzte Auffassung
deutlich hervor. Der Mensch wird von innen her durch seine Natur, seine
Leidenschaften und Erlebnisse zu seinen Handlungen bestimmt, und diese
sind es, die ihm sein Schicksal bereiten. Wenn in diesen Tragödien und
im tragischen Epos (Ilias) die Götter den Sinn der Menschen lenken, ihren
Zorn oder ihre Begierde erwecken oder beschwichtigen, so ist das eine
Art von naiv gläubiger Psychologie, aber kein Fatalismus.
Daher ist denn auch die deutsche Schicksalsdramatik, die es unternahm,
„in des Zufalls grausenden Wundern“ das furchtbare und geheimnisvolle
Walten einer ewigen göttlichen Macht zu zeigen, ein haltloses Gebilde,
das schwerlich zu vorübergehender Wirkung gelangt wäre, hätte ihm
nicht die skrupellos geschickte Bühnentechnik der Werner und Müllner dazu
verholfen. Ja, selbst Schillers Braut von Messina ist trotz der Fülle dichterischer
Schönheiten nur ein verfehlter Versuch, die antike Tragik in einem
Sinne wieder lebendig zu machen, der ihr als Gesamterscheinung gar nicht
eigen war. Geistvoll, ja tiefsinnig hat Schiller das Schicksal in die alles
beherrschende Gewalt der Natur und ihrer Gesetze umgedeutet. Aber die
dichterische Fruchtbarkeit dieses Gedankens ist durch das Orakelwesen
und die übrigen geheimnisvollen Zufälle, die er einführt, doch wieder getrübt
und veräußerlicht.
Die tragische Notwendigkeit also muß, wie die dichterische Notwendigkeit
überhaupt, eine innerliche sein. Sie kommt nur zustande, wenn
die Idee der Dichtung, die den Untergang des Helden als Konsequenz des
tragischen Gegensatzes erfordert, mit einer psychologischen Anlage und
Entwicklung zusammentrifft, die zum Untergang treibt. Nur aus einer
lückenlosen psychologischen Entwicklung wird uns die Handlung überhaupt
verständlich, aber der ideale Zusammenhang erst vermag dem psychologischen
Geschehen den Charakter des Typischen, allgemein Gültigen zu
geben. Wo dieser fehlt, erscheint auch das psychologisch Richtige leicht
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vereinzelt und zufällig. Das ist in nicht wenigen modernen Dramen der
Fall, besonders da, wo die Entwicklung auf pathologischen Zuständen fußt
oder solche zum Austrag bringt, so z. B. in Halbes Jugend, auch in
einigen Episoden Ibsenscher Dichtungen, wiewohl man diesen Vorwurf dem
nordischen Dramatiker oft in zu weit gehender Weise gemacht hat. Aber
auch umgekehrt kann die psychologische Notwendigkeit niemals durch die
bloß moralische ersetzt werden, sonst wird die Entwicklung unglaubhaft und
daher unbefriedigend. Im Don Carlos wird Posas Entschluß, für seinen
Freund und die Sache der Freiheit zu sterben, durch die Idee des Dramas
gefordert, aber weder durch die Lage, in der sich der Held befindet, noch
durch seinen Charakter ausreichend motiviert. Ein Beispiel völlig anderer
Art, aber doch eine ähnliche Schwäche der Dichtung bezeugend, ist der
Schluß von Ibsens Nora: die Idee des Stückes, die Konsequenz des tragischen
Gegensatzes erfordert, daß sich die Heldin von dem Gatten trennt,
der ihrer nicht würdig ist; aber der Dichter hat nicht vermocht, es zwingend
glaubhaft zu machen, daß diese Frau wirklich Kraft und Härte genug hat,
um ihren Mann und vor allem ihre Kinder zu verlassen. Nur wo beide,
die Idee und die psychologische Entwicklung, zusammenwirken, da entsteht
die tragische Notwendigkeit im höchsten Sinne des Worts, das Gefühl,
daß das, was wir da vor uns sehen, wie ein Stück Natur, gar nicht anders
sein und geschehen könne, jener Eindruck des Zwingenden, der, wie wir
wissen, das entscheidende Kennzeichen künstlerischen Wertes überhaupt ist.
Was nun durch die tragische Entwicklung herbeigeführt wird, ist
immer nur eins: der Held kämpft, leidet und stirbt für seine Ziele. Dieses
ist offenbar auf zwei Wegen möglich. Er wählt (oder wagt doch) Leiden
und Tod, wiewohl ihm die Möglichkeit offen stünde, beides zu vermeiden,
wenn er seine Ideale preisgäbe, ─ oder er erduldet nur passiv das Unabänderliche,
überwindet es aber innerlich dadurch, daß er ungebrochen
und ungebeugt bleibt. Man könnte sagen: er behauptet seine Persönlichkeit
entweder durch Leiden oder im Leiden. Auf diesen wesentlichen
Unterschied hat Schiller in der Abhandlung über das Pathetische aufmerksam
gemacht; er unterscheidet das Erhabene der Handlung von dem
der Fassung. Mit Recht, nur darf man nicht vergessen, daß der eigentliche
Gegenstand der tragischen Dichtung, vornehmlich aber der dramatischen,
das Tragische der Handlung ist und dem der Fassung im allgemeinen
nur eine sekundäre Bedeutung zukommt. In vielen, ja den
meisten antiken Tragödien fehlt dieses letztere ganz, nicht minder in
Shakespeares Richard III. Das Umgekehrte jedoch ist bei großen Dramatikern
so gut wie niemals der Fall. Nur ein Tragiker zweiten Ranges,
wie Andreas Gryphius, konnte seiner Gemütsverfassung und seinen Erlebnissen
gemäß eine Vorliebe dafür haben, unverschuldetes, aber mit
Würde getragenes Leiden darzustellen. Selbstverständlich kann auch
das bloße Unterlassen eines Tuns eine erhabene Handlung sein, sobald
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es nämlich aus der bewußten Absicht, Leiden auf sich zu nehmen,
hervorgegangen ist, wie Johannas Schweigen im vierten Akt der Jungfrau
von Orleans, wie der Entschluß, für den Glauben zu sterben in Calderons
Standhaftem Prinzen, Corneilles Polyeucte und dem christlichen Trauerspiel
überhaupt. Ob freilich ein solcher Entschluß hinreicht, den Mittelpunkt
einer dramatischen Handlung zu bilden, und ob die Märtyrertragödie somit
gerechtfertigt ist, wird man billig bezweifeln. Im allgemeinen wird es
auf der tragischen Bühne so zugehen, daß der Wille und das Tun des
Helden sein Leiden herbeiführt: daß, mit Schiller zu reden, das Erhabene
der Handlung die dramatische Entwicklung beherrscht. Ist nun aber Leiden
und Tod durch die Willenshandlung des Helden unabwendbar geworden
und bricht die Katastrophe herein, dann ist es natürlich, wenn auch nicht
notwendig, daß das Tragische der Handlung in das der Fassung übergeht
und die Seelengröße, die sich vorher im Handeln und Kämpfen gezeigt
hat, nun im Dulden hervortritt. Daher pflegt die Stimmung des erhabenen
Duldens den letzten Teil der Tragödie zu beherrschen und das Ende zu
verklären. Vor allem Schiller hat es verstanden, diesen Wandel vom Tun
zum Leiden ergreifend darzustellen, wie er denn überhaupt der Meister der
tragischen Katastrophe ist und wir Modernen ihm mit Recht, wie die Alten
dem Euripides, nachrühmen können, daß er der tragischste unter den tragischen
Dichtern ist. In den letzten Worten der Gräfin Terzky z. B. kommt
das Erhabene der Fassung unnachahmlich schön zum Ausdruck:
Ich überlebte meines Hauses Fall.
Wir fühlten uns nicht zu gering, die Hand
Nach einer Königskrone zu erheben ─
Es sollte nicht sein ─ doch wir denken königlich
Und achten einen freien, mut'gen Tod
Anständiger als ein entehrtes Leben.
Wallensteins Nachruf an Max Piccolomini oder die letzten Auftritte der
Braut von Messina haben an Tiefe und Macht der tragischen Stimmung
nicht ihresgleichen, und wenn auch der letzte Akt der Maria Stuart durch
den Kontrast, den die jammernde Umgebung zu der erhabenen Ruhe
der Heldin machen soll, sehr wider den Willen des Dichters etwas weichlich
geraten ist, so tritt doch in den Eingangs- und Schlußworten Marias
die echt tragische Grundstimmung voll und ergreifend hervor. Auch der
Ausgang von Goethes Egmont übrigens und nicht minder der kleine
Monolog des Prinzen von Homburg „Nun o Unsterblichkeit, bist du ganz
mein“, schließen sich würdig an. ─
Ist der Tod der Gipfelpunkt des Leidens oder der Erlöser, der vom
Leiden befreit? Offenbar kann beides der Fall sein, noch richtiger vielleicht:
es muß in jeder echt tragischen Katastrophe etwas von beiden
zusammenkommen.
Für den naiven Menschen ist der Tod ein Übel schlechthin, das
schlimmste, das ihn treffen kann. Dementsprechend sehen wir denn auch,
daß im Volksepos durchweg der Tod so aufgefaßt wird. Selbst dem Achill,
der aus eigener Wahl ein frühes Heldenende einem ruhmlosen Leben vorgezogen
hat, legt der Dichter der Hadesfahrt in der Odysse einen Widerruf
in den Mund: der kleinste Tagelöhner, der sich des Lebens erfreue, sei
glücklicher als er. Aus demselben Gefühl heraus beklagt auch in der
Tragödie Antigone ihren frühen Tod. Moderne Dichter freilich haben die
Naivität, mit der die antiken Menschen ihre Lebensliebe und Todesfurcht
zum Ausdruck bringen, nur vereinzelt darzustellen gewagt, besonders
Goethe im Egmont und Kleist im Prinzen von Homburg.
Wo der Tod so aufgefaßt wird, ist es ohne weiteres erklärlich, wenn
er schlechthin als Strafe für den Verbrecher erscheint. Die ganze Handlung
des Nibelungenliedes von Siegfrieds Tod bis zum Untergang der Burgunden
beruht auf dieser Auffassung: der Tod des Schuldigen ist das einzige Ziel
des Rächers, dem Tode zu entgehen der Preis des Verteidigungskampfes.
Kein versöhnendes Moment mischt sich hier in den Gedanken des Sterbens;
es ist die Strafe schlechthin, wie denn die ganze Überlieferung der Blutrache
auf dieser Auffassung beruht. Aus derselben Anschauung heraus ist
die Ermordung der Klystämnestra in der antiken Tragödie zu verstehen,
und ebenso erscheint in Macbeth und Richard III. der Tod als die letzte
Strafe für ein verbrecherisches Leben. Allein schon hier mischt sich in
die Darstellung des Dichters und in die Empfindung des Zuschauers,
wenigstens im Keim, ein anderes Element: wir fühlen, daß der Untergang
wie furchtbar er erscheint, doch zugleich Erlösung von einem qualvollen
Dasein bedeutet. Im Macbeth zeigen uns die letzten Worte, die der
Held mit dem verderbenbringenden Gegner wechselt, daß der Tod auf
dem Schlachtfeld ihm schlimmeres erspart; und in dem großen Monolog
Richards III. nach der Traumszene hat uns der Dichter durch einen plötzlichen
Ausbruch die erschütternden Seelenqualen seines Helden gezeigt,
die im Untergrunde des Bewußtseins im Halbschlummer wühlen und von
denen nur der Tod ihn erlösen kann.
Von diesen Gedanken nun ─ der Tod als Erlöser von den Qualen
eines zertrümmerten Daseins und vor allem eines schuldigen Gewissens ─
weiß die antike Dichtung noch nichts; nur ein erster Ansatz dazu findet
sich etwa im Ödipus auf Kolonos. Diese Anschauung gehört erst der
durch die Schule des Christentums gegangenen Menschheit an; erst hier
erscheint der Tod als erlösende und versöhnende Macht. Der Selbstmörder
auf der antiken Bühne legt in leidenschaftlicher Aufwallung Hand an sich,
wie Hämon und Euridice in der Antigone, oder aus Scham wie Ajas;
Shakespeares Brutus aber und Grillparzers Sappho töten sich im vollen
Gefühl der Todessehnsucht, dem Bewußtsein, daß das Sterben die Erlösung
von einem unerträglichen Dasein für sie ist. Zugleich tritt hier jene
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läuternde und erhebende Macht des Todes hervor, die Schiller so schön
beschreibt:
In seinem unvergänglichen Palaste
Zu echter Tugend reinem Diamant
Das Sterbliche zu läutern und die Flecken
Der mangelhaften Menschheit zu verzehren.
Auch hiervon weiß die Antike, naiver und robuster wie sie in ihrer
Lebensauffassung ist, noch nichts. In dem Nachrufe dagegen, den Shakespeares
Antonius seinem Gegner Brutus widmet, oder in dem herrlichen
Schlußmonolog der Sappho tritt diese Stimmung deutlich hervor. Und
doch mischt sich in beiden Fällen der Gedanke der Sühne für begangene
Schuld, wenn auch nur in leisen Untertönen, in den Schlußakkord. Beide
sind nicht schuldig im gewöhnlichen Sinne des Wortes; aber beide leiden
unter dem Bewußtsein von Taten und Folgen, die sie zu Boden drücken
und die nicht ungeschehen zu machen sind.
Bleibt nun aber in den zuletzt genannten beiden Dramen das
Moment der Sühne immerhin ein untergeordnetes gegenüber dem Gedanken
der Erlösung, so fließen in vielen, ja den meisten modernen Tragödien
beide Auffassungen zu untrennbarer Einheit zusammen: so ist's
schon im Othello; so tötet sich Schillers Don Cäsar, um sich „richtend zu
strafen“ und doch zugleich auch, um durch freien Tod die Kette des Geschicks
zu brechen und sich über Schuld und Leiden zu erheben. So erscheint
Wallensteins Ermordung als Strafe für doppelten Verrat am Kaiser
und an dem alten Waffengefährten, und doch erspart sie ihm den Schimpf
der Erniedrigung, der Gefangenschaft oder eines unstet flüchtenden Lebens.
Als Erlösung und Sühne zugleich erscheint auch das Ende der beiden
Liebenden in den Wahlverwandtschaften, ja, so stark empfinden wir den
Tod als Friedensbringer und Erlöser, daß uns tragische Handlungen, die
nicht mit dem physischen Untergang des Helden schließen, unbefriedigt
und unruhig lassen, wie man am Schluß von Goethes Tasso oder von
Hebbels Judith beobachten kann. ─
Das führt uns auf eine letzte Frage, die in neuerer Zeit mehrfach
umstritten worden ist: ist die tragische Dichtung, wie wir es von der humoristischen
gesehen haben, der Ausdruck einer bestimmten Weltanschauung
des Dichters, setzt sie eine solche voraus oder verkündet sie dieselbe?
Wir wissen, daß die metaphysischen Ästhetiker des 19. Jahrhunderts
diese Frage unbedingt bejahten. Selbstverständlich waren Hegel und die
Seinigen, waren Schelling und Schopenhauer nicht der Meinung, daß Dichter
oder Zuschauer ihre Systeme kennen und ihre Lehren in abstrakto anerkennen
müßten. Schopenhauer hat sich niemals eingebildet, daß die
großen Trauerspieldichter die Lehren des Pessimismus verstandesmäßig
verträten und ihre Zuschauer dazu bekehren wollten. Wohl aber war jeder
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von ihnen der Meinung, daß das Wesen des Tragischen nur aus seiner
metaphysischen Anschauung heraus theoretisch verständlich sei, daß folglich
gefühlsmäßig der tragische Dichter diese Anschauung teile. Daher
zeigen denn auch, wie die metaphysischen Systeme selber, so die
Theorien des Tragischen, die aus ihnen hervorgingen, vollkommen entgegengesetzten
Inhalt und widerlegen sich selbst, sobald man sie untereinander
oder mit den Tatsachen vergleicht. In diesem Sinne, aber
nur in diesem, hat Lipps recht, wenn er bestreitet, daß die Tragödie mit
dem Inhalt einer bestimmten metaphysischen Anschauungsweise irgend
etwas zu tun habe, während Volkelt zum entgegengesetzten Urteil neigt.
Allein andrerseits ist doch klar, daß allgemein gültige Werte, und ohne
solche ist das Tragische nicht denkbar, nur auf dem Boden gemeinsamer
Anschauungen erwachsen können. Metaphysisch begründet brauchen diese
nicht zu sein, wohl aber sind sie ethischen Charakters: sie fließen
eben aus einer bestimmten Weise, das Leben selbst und seine einzelnen
Erscheinungen zu beurteilen. Ein Publikum etwa, das in der Geschwisterliebe
oder im Patriotismus kein sittliches Ideal sähe, würde von
der Antigone oder der Jungfrau von Orleans keine tragische Wirkung
empfangen können; und ganz allgemein setzt die Möglichkeit der tragischen
Erhebung voraus, daß es Ideale gibt, für die es lohnt zu leiden und zu
sterben, Werte, die höher als das Leben zu schätzen sind. Es ist die
Grundstimmung der Tragödie, die Grundanschauung jedes tragischen
Dichters, die Schiller in dem berühmten Schlußwort der Braut von Messina
zum Ausdruck bringt: „Das Leben ist der Güter höchstes nicht!“ In diesem
Sinne kann man wohl von einer tragischen Weltanschauung sprechen; sie
schließt eine optimistisch seichte Wertschätzung des Lebens und seiner
Güter aus, aber sie ist darum nicht pessimistische Verzweiflung am Leben,
sondern vielmehr ein todestrotziger oder todesfreudiger Idealismus, der in
stolzer Entschlossenheit den Kampf mit Gefahren und Leiden aufnimmt,
weil er Werte kennt, die über Zeit und Tod erhaben sind, der vielleicht
sogar den Untergang sucht, um diese Überzeugung zu bewähren.
(Hauptstellen sind fett gedruckt.)
Alexis, Willibald, Allgem.
85, 195; Cabanis 157; Hosen
des Herrn von Bredow 157.
Andersen, Allgem. 238;
Märchen 27.
Anzengruber 199.
Aristophanes, Allgem. 235,
238; Die Frösche 60, 220,
233, 237; Lysistrata 219;
Die Ritter 219; Die Wolken
60, 233.
Aristoteles, Allgem. 168,
215, 216, 229; Poetik 3 f.,
36, 109, 157, 178 f., 179
Anm., 180, 192, 215, 242 f.
Äschylos, Allgem. 60, 106,
192; Agamemnon 192; Choephoren
246; Prometheus
250, 253; Die Sieben gegen
Theben 192.
Äsop 188.
Bab, Julius, Wege zum
Drama 165.
Balzac 201; Eugenie Grandet
201.
Batteux, Principes de Littérature
5.
Baumgart, Handbuch der
Poetik 216, 240.
Beaudelaire 132.
Beaumarchais, Figaros
Hochzeit 223, 235, 236.
Beer-Hoffmann, Der Graf
von Charolais 63, 168.
Behaghel, Otto, Bewußtes
und Unbewußtes im dichterischen
Schaffen 35 Anm.
Bernays, J. 242.
Bibel, Die, Psalter 94, 96;
Das hohe Lied 94.
Bielschowsky, Goethes
Leben 30, 32, 54.
Biese, Alfred, Die Entwicklung
des Naturgefühls.
46 Anm.
Binet, Psychologie du Raisonnement
171 Anm.
Björnson, Allgem. 236; Ein
Fallissement 232; Die Neuvermählten
232.
Blumauer, Aeneide 237.
Bodenstedt 99.
Boileau, Art poétique 2, 4.
Börne 235.
Brentano, Allgem. 125, 186;
Lustige Musikanten 102;
Schulmeister Klopfstock
238.
Bret Harte, Kalifornische
Novellen 239.
Bruchmann, K., Psychologische
Studien zur Sprachgeschichte
91; Poetik 93,
187.
Brunetière, Ferd., L'évolution
de la poésie lyrique
en France 132 Anm.
Bücher, Arbeit und Rhythmus
92 f., 95.
Bulthaupt, Dramaturgie 178.
Bürger, Allgem. 153, 184;
Gedichte 101, 105, 113.
Burke, A philosophical Inquiry
into the origin of
our ideas of the sublime
and the beautiful, 15 Anm.
Burkhardt, Jacob, Kultur
der Renaissance 46 Anm.
Calderon, Das Leben ein
Traum 169; Der standhafte
Prinz 255.
Carrière 245.
Cervantes, Don Quichote,
202, 212, 224, 225, 226.
Chamisso, Allgem. 54; Gedichte
183; 234.
Cohn, Jonas 77 Anm., 81
Anm.
Coppée, F., Toute une jeunesse
239.
Corneille, Allgem. 4, 243;
Rodogune 180; Cinna 193;
Polyeucte 255.
Dahn, Felix, Allgem. 196;
Kampf um Rom 200.
Dante, Divina Comedia 212.
Daudet, Numa Roumestan
236.
Dehmel, Richard, Gedichte
107.
Dessoir, M., Aesthetik 40,
81 Anm., 203 Anm.
Dickens [Boz], Allgem. 85,
158, 168, 201, 204, 205,
231, 240, 241; David Copperfield
88, 229; Pickwickier
239.
Dilthey, W., Allgem. 134,
135; Die Einbildungskraft
des Dichters. Bausteine zu
einer Poetik 6 Anm., 19 ff.,
38, 39; Das Erlebnis und
die Dichtung 119 Anm.,
135 Anm.
Dostojewski, Allgem. 205,
236; Raskolnikow 209.
Dubos, Réflexions critiques
sur la Poésie, sur la Peinture
et la Musique 4.
Edda 135 Anm., 153, 184,
185, 227, 228.
Eichendorff, Allgem. 80,
121, 123, 132; Gedichte 130,
185, 186, 214.
Elliot, G., Allgem. 201; Mühle
am Floß 250.
Elster, E., Prinzipien der
Literaturwissenschaft 40
Anm.
Eschenbach, Wolfram
von, Parzival 51, 152,
155.
Euripides, Allgem. 59, 253,
255; Medea 253.
Fechner, G. Th., Allgem.
114, 116 Anm., 217; Vorschule
der Aesthetik 16 f.,
109 Anm., 110, 215.
Fitger, A., Allgem. 136; Gedichte
117, 137.
Flaubert, Allgem. 77, 205;
Madame Bovary 158, 201.
La Fontaine 187.
Fontane, Th., Gedichte 113,
187; 187.
Frenssen, Jörn Uhl 156;
Hilligenlei 156.
Freytag, Gustav, Technik
des Dramas 2, 112, 113
Anm., 167, 178, 196; Soll
und Haben 71, 158, 240;
Journalisten 228.
Friedländer, Ludw., Sittengeschichte
Roms 46 Anm.
Froschmäusekrieg, Der,
237.
Geiger, E., Beiträge zu einer
Aesthetik der Lyrik 31 Anm.,
39, 123 Anm.
Gellert 136, 153, 234.
George, Stefan 77, 126,
133.
Gerber, Die Sprache der
Kunst 89 Anm., 90.
Gluck 174; Iphigenie in
Tauris 192.
Goethe, Allgem. 8, 28 ff., 36,
41, 43, 67, 72, 87, 99, 102, 123,
124, 127, 132, 135, 138, 140,
153, 156, 158, 172, 184, 191,
201, 208, 211, 221, 246; Gedichte
31, 114, 134, 137;
32, 51, 54 f., 115, 121; 32 f.,
86, 121, 136; 33, 111, 115,
120, 133, 135, 212; 53, 111,
134; 53, 111; 54; 54, 111,
114, 121, 130; 82, 97; 82 f.,
97; 186; 102; 102, 185;
104, 183; 105, 113, 186;
106; 111; 111, 117, 120,
128; 111, 117; 111; 113,
114, 128, 137; 113; 113,
185; 114, 213; 115, 120;
129; 128; 130; 136; 136;
136; 137; 139; 184; 185;
206; 228; 233, 241; Xenien
139; Hermann und Dorothea
30, 86, 154, 200;
Dramen: Leipziger Lustspiele
199; Singspiele 223;
Clavigo 172, 202, 251; Egmont
56, 112, 193, 195, 206,
248, 250, 255, 256; Faust
56, 57, 64, 66, 68, 69, 71, 89,
91, 109, 172, 182, 184, 206,
207, 212; Götz 36 f., 168,
172, 193, 199, 202, 248, 250;
Iphigenie 51, 70, 91, 172,
191, 198, 205, 206; Stella
247; Tasso 30, 51, 53, 63,
69, 86, 114, 172, 206, 207,
247, 250; Prosaschriften:
Schiller Briefwechsel 5, 36,[Spaltenumbruch]
61, 69 f., 137, 139, 148, 158,
163 f., 171 Anm., 182; Aus
meinem Leben 239; Götter,
Helden und Wieland 237;
Wahlverwandtschaften 201,
250; Werther 56, 86, 141,
155, 214, 247, 248, 250;
Wilhelm Meister 115, 123,
155, 156, 157, 158, 168, 201,
205; Eckermann 28 f., 31,
162; Goethejahrbuch 1905
30, 54.
Gogol 236.
Goncourt, Brüder De 77.
Gottfried von Straßburg,
Allgem. 100; Tristan 51, 152,
155.
Gottsched, kritische Dichtkunst
2, 6.
Gregory, F., Anm. 182.
Grillparzer, Ahnfrau 173,
252; Bruderzwist 47, 173;
Goldenes Vließ 191, 247;
König Ottokar 247, 250;
Libussa 173; Des Meeres
und der Liebe Wellen 248;
Sappho 173, 208, 250, 251,
256, 257; Weh' dem, der
lügt! 173, 181.
Grimm, H. 30.
Grimmelshausen, Simplicissimus
155, 156, 235.
Groos, Allgem. 2, 17, 218;
Einleitung in die Aesthetik
216.
Grosse, E., Kunstwissenschaftliche
Studien 39 f.;
Die Anfänge der Kunst 222.
Groth, Klaus 199.
Gryphius, Allgem. 254; Herr
Peter Squenz 237.
Gudrunlied 58.
Gutzkow, Allgem. 145; Der
Zauberer von Rom 71, 158,
235; Die Ritter vom Geist
71, 235.
Hafis 67.
Hagedorn 153, 236.
Halbe, Max, Jugend 254.
Haller 213.
Hamerling 154.
Hans Sachs 96, 171, 236.
Hartmann von Aue, Allgem.
103, 152; Gregorius
47; Iwein 58.
Hauptmann, G., Allgem.
175 f.; Biberpelz 236; Einsame
Menschen 250; Florian
Geyer 175, 207; Fuhrmann
Henschel 69, 176, 249;
Hanneles Himmelfahrt 175;
Kollege Krampton 176; Rose
Bernd 176; Die versunkene
Glocke 175; Vor Sonnenaufgang
66; Die Weber
175, 199, 207, 209, 236, 249.
Haym, R., Die romantische
Schule 10 Anm.; 12 Anm.;
190 Anm.
Hebbel, Allgem. 173, 208,
245; Tagebücher 35, 39, 127;
Maria Magdalene 65, 201
Anm., 249; Gyges 191, 247,
251; Nibelungen 192, 251;
Judith 250, 257; Agnes Bernauer
251.
Hegel 13, 22, 244, 257.
Heine, Heinrich, Allgem.
102, 104, 123 f., 128, 129 f.,
132, 220, 235; Gedichte
107, 129, 113, 114, 115, 117,
129, 185, 187, 187, 212, 212,
224 f., 226, 238.
Heinrich von Veldekel 52.
Heinzel, Stil der altgermanischen
Poesie 96 Anm.
Herder, Allgem. 7, 11 f., 76, 77,
79, 140, 151, 153, 184; Ideen
zur Geschichte und Kritik
der Poesie 11; Versuch
einer Geschichte der Dichtkunst
11; Fragmente über
die neuere deutsche Literatur
12; Erstes kritisches Wäldchen
76; Anmerkung über
das griechische Epigramm
138 Anm.
Hettner, Geschichte der
deutschen Literatur im
XIX. Jahrhundert 12 Anm.;
Geschichte der englischen
Literatur im XIX. Jahrhundert
16 Anm.
Heyse, Paul, Allgem. 163,
217; L'arrabiata 163; Am
toten See 163; Die Stickerin
von Treviso 163.
Hildebrand, Ad., Das Problem
der Form 21 Anm.
Hildebrandslied 153.
Hobbes 216, 217.
Hoffmann, E. T. A., 27, 85,
87, 226, 228, 238.
Hofmannsthal, H. von,
Allgem. 133; Tod des Tizian
102 f., 105; Elektra 191; Ödipus
und die Sphinx 191.
Holbein, Hans, 204.
Holberg, Meister Gert Westphaler
228.
Hölderlin, Allgem. 135;
Hyperion 85, 107, 114, 156,
213.
Holz, Arno, Revolution der
Lyrik 107 f.
Home 15.
Homer, Allgem. 45, 67, 68,
89, 94, 95, 112, 140 ff., 145,
147, 152, 214, 252; Ilias
58, 90, 144, 146, 253;
Odyssee 58, 144, 256.
Horaz, Allgem. 95, 106, 224;
Ars poetica 2; Oden 104
Anm.
Hugo, Victor 122.
Humboldt, W. von, Allgem.
43, 141, 142 ff., 145, 148,
150, 173, 182 f.; Abhdlg.
über Hermann und Dorothea
10, 78, 139, 142, 145 ff.,
182.
Hutcheson, An Inquiry into
the original of our ideas of
beauty and virtue 15 Anm.
Ibsen, Henrik, Allgem. 60,
69, 173, 176, 177 f., 197,
236; Baumeister Solneß 234,
250; Brand 71, 247; Bund
der Jugend 234; Gespenster
176, 177, 181, 202, 237, 249;
John Gabriel Borkmann
178; Kaiser und Galiläer
197; Klein Eyolf 202; Kronprätendenten
197; Nora 71,[Spaltenumbruch]
176, 177, 237, 250, 254;
Peer Gynt 197; Rosmersholm
176, 177, 181, 247;
Stützen der Gesellschaft
234, 237; Volksfeind 237,
247; Wildente 229, 234, 249.
Iffland 233.
Immermann, Münchhausen
226, 238.
Jacobsen, Niels Lyhne 156,
250.
James, Principles of psychologie
171 Anm.
Jean Paul, Allgem. 85, 87,
156, 231, 239, 240; Vorschule
der Aesthetik 215;
Flegeljahre 239; Siebenkäs
238.
Jordan, Nibelunge 154, 192.
Justi, Winckelmann und
seine Zeit 8.
Juvenal 212, 235, 236.
Kalidâsa 67.
Kant, Allgem. 8, 135, 210,
217, 223 Anm., 224, 244;
Kritik der Urteilskraft 216.
Keller, Gottfried, Der
grüne Heinrich 85, 128 f.,
156, 250.
Kinkel, G., Otto der Schütz
154.
Kjielland 236.
Kleist, Heinrich von, Allgem.
173; Der Prinz von
Homburg 63, 164, 169, 174,
255, 256; Der zerbrochene
Krug 181, 199, 225; Penthesilea
113, 117, 174;
Michael Kohlhaas 162.
Klopstock, Allgem. 86, 101,
105 f., 121, 122, 135, 140;
Gedichte 113, 114, 121,
121.
Konrad von Würzburg
101, 153.
Körner, Chr. Gottfr., Briefwechsel
mit Schiller 134.
Körner, Th., Zriny 250.
Krauß, S. 219.
Kürenberger, Der 54.
Lachmann, Karl 58.
Lange, Konrad, Das Wesen
der Kunst 140.
Leibniz 8.
Lenau, Nikolaus, Allgem.
115; Gedichte 116.
Lessing, Allgem. 6, 35, 80,
138, 139, 140, 180, 182,
188, 217; Dramaturgie 5,
10, 64, 178, 179 f., 193, 195,
215, 243; Laokoon 5, 16,
66, 75, 121, 140, 151;
Dramen: Emilia Galotti
36 f., 65, 247; Minna von
Barnhelm 179, 181, 221,
228, 233, 239; Nathan der
Weise 179, 236, 240.
Liliencron, Detlev von
98.
Lipps, Komik und Humor
216, 217, 223 Anm., 224
Anm., 231 Anm., Der Streit
über die Tragödie 245, 258.
Litzmann, Goethes Lyrik 54.
Logau, Allgem. 235; Sinngedichte
138.
Lucian 212, 236.
Ludwig, Otto, Allgem. 245;
Shakespeare-Studien 25 f.;
Nachlaß 26; Bernauerin 27;
Zwischen Himmel und Erde
27, 161, 201 Anm.; Maccabäer
27.
Luther 136.
Maeterlinck 175.
Mallarmé, Stephane, Allgem.
126; Enquête sur
l'évolution littéraire 131
Anm.
Martial 139, 235.
Matthias Claudius, Gedichte
84, 88.
Maupassant, Guy de, Fort
comme la mort 201, 250;
Bel ami 236.
Mauthner, Nach berühmten
Mustern 237.
Meistersinger, Die 96.
Mendelssohn, Moses, Allgem.
245; Briefe über die
Empfindungen 16.
Meyer, Konrad Ferdinand,
Allgem. 85, 154, 194,
195, 196; Jürg Jenatsch 27;
Die Richterin 27; Gedichte
114, 187, 187, 187.
Meyer, Richard M., Stilistik
[Handbuch des deutschen
Unterrichts III] 89
Anm.
Meyer, Th. A., Stilgesetz der
Poesie 78 ff., 87 ff., 90, 151,
171.
Mielke, H., Der deutsche
Roman des XIX. Jahrhunderts
154, 163.
Minnesänger, Die 95, 103.
Minor, Neuhochdeutsche
Metrik 94 Anm., 97.
Molière, Allgem. 167, 207;
Misanthrop 229, 233, 234;
Tartuffe 234; Malade imaginaire
203; Femmes savantes
234; Avare 228, 229;
Bourgeois Gentilhomme
228.
Montesquieu, Lettres Persannes
235.
Mörike, Allgem. 123, 132;
Gedichte 84, 85, 183.
de la Motte Fouqué 132
Anm.
Müllner, Allgem. 252, 253;
Die Schuld 177.
Nibelungenlied 58, 90, 94,
95, 112, 144, 148, 152, 214,
256.
Novalis, Hymnen an die
Nacht 107, 213.
Offenbach 237.
Paul Gerhard 136.
Persius 213, 235.
Petronius 197.
Pindar 135.
Platen, Allgem. 99 f., 134
Anm., 238; Gedichte 185.
Plato 8.
Pniower, Goethes Faust 57.
Poe, E. A., Allgem. 85, 87;
Maske des roten Todes 27,[Spaltenumbruch]
88; Untergang des Hauses
Usher 27.
du Prel, Karl, Allgem. 127;
Psychologie der Lyrik 34
Anm.
Raabe, Wilhelm, Allgem.
231, 240; Hungerpastor 156,
239, 240; Horn von Wanza
238; Leute aus dem Walde
239.
Rabelais, Gargantua 202 f.
Racine, Athalie 193.
Raimund, Ferd. 171.
Raumer, R. von 55.
Reich, H., Der Mimus 171
Anm., 219.
Reuter, Fritz, Allgem. 205,
231, 240; Kein Hüsung 205;
Stromtid 229, 239.
Riehl, A., Vierteljahrsschrift
für wissenschaftliche Philologie.
Band XXI, XXII 31
Anm.
Riehl, W., 194.
Rimbaud, Artur, 132.
Roetteken, H., Poetik 49,
81 Anm.
Rousseau, Allgem. 8, 140,
234; Neue Heloïse 155.
Rückert, F., Allgem. 98, 133
Anm., 136; Hymnen 99;
Weisheit des Brahmanen 133;
Gedichte 117, 134, 137;
117 f.; Liebesfrühling 183.
Sand, G. 201.
Sappho 51.
Sardou 223.
Scaliger, Julius Cäsar,
Poetik 1, 4.
Scribe 171 Anm.
Scheffel, Allgem. 194; Trompeter
von Säckingen 154.
Schelling 13, 244, 257.
Scherer, Wilhelm, Allgem.
23, 30, 43, 48; Poetik 17 f.;
Aufsätze über Goethe 50, 58.
Schiller, Allgem. 8, 36, 68,
72, 87, 127, 134 Anm., 135 f.,
140, 150, 153, 158, 160, 165,
166, 173, 176, 186, 202, 206,[Ende Spaltensatz]
|#f0277 : 263|
[Beginn Spaltensatz]208, 231, 233, 234, 235, 242,
243 f., 245, 248, 251, 252;
Gedichte 65, 111, 137; 65;
111; 115, 134, 212; 115; 117;
137, 212; 138; 151; 186; 186;
212; Goethe Xenien 139;
Dramen: Braut von Messina
47, 90 f., 92, 113, 174,
177, 207, 246, 247, 253, 257,
258; Demetrius 160, 194,
207; Don Carlos 70, 109,
169, 172, 198, 254; Fiesco
193, 205, 247; Jungfrau 45,
64, 97, 112, 194, 246, 250,
251, 255, 258; Kabale und
Liebe 63, 65, 174, 199, 205,
209, 233; Maria Stuart 168,
194, 195, 207, 255; Räuber
48, 209, 232, 247, 248; Tell
194, 205, 207, 246; Wallenstein
47, 56, 65, 113, 169,
174, 181, 193, 199, 207, 208,
217, 232, 233, 247, 249, 250,
255, 257; Briefwechsel:
Goethe Briefwechsel 5, 36,
61, 69 f., 137, 139, 148,
158, 163 f., 171 Anm., 182;
Körner Briefwechsel 134;
Humboldt Briefwechsel 65;
Prosaschriften: Philosophische
Schriften 8; Abhandlung
vom Erhabenen
10, 243; Naive und sentimentalische
Dichtung 28,
209 ff., 232, 241, 254; Briefe
über die ästhetische Erziehung
des Menschen 13,
143; Über die Verwendung
des Gemeinen und Niedrigen
in der Kunst 201 Anm.
Schlegel, Aug. Wilh., Allgem.
67; Vorlesungen über
schöne Literatur und Kunst
12; Vorlesungen über das
Sonett 1803/04 98.
Schlegel, Friedrich, 10,
141, 144, 147, 150.
Schmidt, Erich, Urfaust 58.
Schopenhauer 89 Anm.,
168, 200, 244, 257; Die
Welt als Wille und Vorstellung
215.
Schubart, Novellen 47.
Scott, Allgem. 194; Ivanhoe
157; Quentin Durward 157.
Seume, Kanadier 234.
Shaftesbury, Allgem. 135;
Charakteristics of men,
manners, opinions, times
7 f.
Shakespeare, Allgem. 63,
134 Anm., 164, 165, 171,
173, 179, 180, 206, 214, 221;
Bezähmte Widerspenstige
181; Coriolan 247, 250,
251; Hamlet 58, 64, 174,
249; Heinrich IV. 169, 181,
223; Heinrich V. 228; Julius
Caesar 113, 168, 247,
251, 256, 257; Kaufmann
von Venedig 174, 181, 229;
König Johann 202; Lear
66, 113, 181, 202, 247, 249;
Macbeth 47, 64, 168, 228,
247, 256; Othello 113, 247,
249, 251, 257; Richard III.
65, 247, 248, 249, 250, 254,
256; Romeo und Julia 217,
248, 251; Sommernachtstraum
181, 237; Troilus und
Cressida 45, 237; Viel Lärm
um Nichts 181; Was ihr wollt
181.
Sophokles, Allgem. 67;
Ödipus 47, 71, 112, 166,
177, 179, 191, 202, 252, 253,
256; Antigone 112, 166, 247,
250, 256, 258; Elektra 112,
166, 246, 247, 253, 256;
Philoktet 202, 253; Ajas
247, 256.
Spielhagen, F., Allgem. 141,
144, 145, 146, 147, 151,
156, 159, 160, 162, 168, 176;
Beiträge zur Theorie und
Technik des Romans 142
Anm., 144 ff., 188; In Reih'
und Glied 158; Hammer
und Ambos 158.
Spinoza 8, 135.
Sterne, Yorik 212.
Storm, Eekenhof 163; Aquis
submersus 163.
Swift 212.
Taine, H., Histoire de la
littérature anglaise 16.
Tasso, Torquato 68.
Thackeray 240.
Tieck, Allgem. 68, 219, 237;
Verkehrte Welt 226.
Tolstoi, Allgem. 205, 236,
240; Macht der Finsternis 66.
Turgeniew 236.
Uhland, Herzog Ernst 172;
Gedichte 115, 185, 185, 185,
185, 187, 187, 187, 220.
Verlaine, Paul 83 f., 131.
Viehoff, Poetik 97, 110 Anm.,
111 Anm., 187.
Vischer, F., Allgem. 141, 245;
Aesthetik 13.
Volkelt, Aesthetik des Tragischen
245, 249, 258;
System der Ästhetik 245.
Voltaire, Allgem. 212, 220,
235; Pucelle 45; L'ingénu
234.
Wackernagel, W., Allgem.
55, 141; Poetik, Rhetorik,
Stilistik 14, 89, 146, 183.
Wagner, Richard, Allgem.
60, 171, 174, 178, 192; Oper
und Drama 190 Anm.; Fliegende
Holländer 75, 192;
Tristan 171, 174, 192; Meistersinger
171, 228; Tannhäuser
192; Nibelungenring 192.
Walther von der Vogelweide
90, 91, 101, 103 f.,
115, 122, 224.
Weltli, Geschichte des
Sonetts in der deutschen
Dichtung 98 Anm.
Werner, R. M., Lyrik und
Lyriker 38 f., 121, 133 Anm.,
134 Anm., 137 Anm., 138,
138 Anm.
Werner, Zacharias, 253.
Wieland 212, 234.
Wildenbruch, E. von, Allgem.
196; Heinrich und
Heinrichs Geschlecht 63;
Das neue Gebot 63; Hexenlied
154.
Wilamowitz-Möllendorff,
U. von 252.
Winckelmann, Allgem. 9;
Geschichte der Kunst des
Altertums 7 f.
Wolff, Julius 154.
Wölfflin, Heinrich, Die
klassische Kunst 21 Anm.
Wundt, Wilhelm 38, 215 f.,
217; Psychologie 40 Anm.,
93 Anm.
Zola, Allgem. 77, 80, 158 f.,[Spaltenumbruch]
161, 205, 236, 240; Le Roman
expérimental 159 Anm.;
Bête humaine 161; Germinal
161; L'oeuvre 201, 250; Une
page d'amour 201; Les Rougon
Maquart 158, 207, 209.
──────
Aristoteles. Über die Dichtkunst. Herausgegeben von Dr. Franz Susemihl. 2. Aufl.
Leipzig 1874.
Baumgart, Hermann. Handbuch der Poetik. Eine kritisch-historische Darstellung der Theorie
der Dichtkunst. Stuttgart 1897.
Bruchmann, K. Poetik. Naturlehre der Dichtung. Berlin 1898.
Bücher. Arbeit und Rhythmus. 3. Aufl. Leipzig 1902.
Dessoir, Max. Ästhetik. Stuttgart 1906.
Dilthey, Wilhelm. Die Einbildungskraft der Dichter. Bausteine zu einer Poetik. (Philosophische
Aufsätze, Zeller gewidmet.) Straßburg 1887.
Fechner, G. Th. Vorschule der Ästhetik. Leipzig 1876.
Freytag, Gustav. Technik des Dramas. Leipzig 1905.
Geiger, Emil. Beiträge zu einer Ästhetik der Lyrik. Halle 1905.
Haym, R. Die romantische Schule. Berlin 1870.
Hettner, H. Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts. In drei Teilen. (5 Bände.) Braunschweig.
4. verbesserte Auflage. 1881 ff.
Humboldt, Wilhelm von. Abhandlung über Hermann und Dorothea. Gesammelte Schriften.
Herausgegeben von der Königlich preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 2.
Lipps, Th. Komik und Humor. Eine psychologisch-ästhetische Untersuchung. Hamburg
und Leipzig 1898.
Meyer, Theodor A. Das Stilgesetz der Poesie. Leipzig 1901.
Minor. Neuhochdeutsche Metrik. 2. Aufl. Straßburg 1902.
Du Prel, Karl. Psychologie der Lyrik. Beiträge zur Analyse der dichterischen Phantasie.
Leipzig 1879.
Scherer, Wilhelm. Poetik. Berlin 1888.
Shaftesbury. Charakteristics of men, manners, opinions, times. London 1711.
Spielhagen, Friedrich. Beiträge zur Theorie und Technik des Romans. Leipzig 1883.
Vischer, Friedrich Theodor. Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Reutlingen und
Leipzig 1846─57.
Viehoff, H. Poetik. Herausgegeben von Kiy. 1888.
Volkelt, Johannes. Ästhetik des Tragischen. 2. Aufl. München 1906.
Wackernagel, Wilhelm. Poetik, Rhetorik und Stilistik. Akademische Vorlesungen. Herausgegeben
von Ludwig Sieber. Halle 1873.
Werner, R. M. Lyrik und Lyriker. Hamburg und Leipzig 1890.
Bielschowsky: Goethe
Sein Leben und seine Werke. Zwei Bände
Erster Band. Mit einer Titelgravüre: Tischbeins Goethe in Jtalien.
46.─49. Tausend. Jn Leinwand M. 6.─, in feinstem Halbfranz M. 8.50
Zweiter Band. Mit einer Titelgravüre: Stielers Goethe-Porträt.
43.─45. Tausend. Jn Leinwand M. 8.─, in feinstem Halbfranz M. 10.50
Karl Berger: Schiller
Sein Leben und seine Werke. Zwei Bände
Erster Band. Mit einer Titelgravüre: Graffs Schiller im 29. Lebensjahr.
3. Auflage, 7.─10. Tausend. Jn Leinen M. 6.─, in feinstem Halbfranzband
M. 8.50. Zweiter Band erscheint bestimmt zu Weihnachten 1908
Eugen Kühnemann: Schiller
Mit einer Wiedergabe der Schillerbüste von Dannecker
3. und 4. Auflage (6.─10. Tausend)
XII, ca. 39 Bogen 8° Elegant gebunden M. 6.50
(Erscheint im Mai 1908)
Herder. Sein Leben und seine Werke
Von Eugen Kühnemann
Mit Porträt Fein gebunden M. 7.50
Grillparzer. Sein Leben und seine Werke
Von Aug. Ehrhard, deutsch von Moritz Necker
Mit Porträts und Faksimiles
VI, 531 Seiten 8° Jn Leinen M. 7.50
Neue Freie Presse: „Ein scharf umrissenes, aus dem besten Material hergestelltes
Bild von der Persönlichkeit Grillparzers nach der menschlichen wie nach der künstlerischen
Seite.“
Janus, Blätter für Literaturfreunde: „Als die beste der bisherigen Grillparzer=
Biographien zu rühmen und zu empfehlen.“
C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck München
|#f0280 : 2|
Soeben ist vollständig geworden
Shakespeare
Der Dichter und sein Werk
von Max J. Wolff
Zwei Bände. 30 und 31 Bogen 8°. Mit einer Nachbildung des
Droeshout- und Chandos-Porträts in Gravüre
Jn Leinwand gebunden M. 12.─, in feinstem Liebhaberband M. 17.─
Aus den Urteilen:
Dr. Eugen Kilian (Literarisches Echo): „Wolffs vortreffliches Buch steht unter den
Werken, die in schöner und geschmackvoller Form ein Gesamtbild von Shakespeares
geistiger Persönlichkeit und seiner Zeit zu geben suchen, in vorderster Reihe und verdient
die weiteste Verbreitung in allen Kreisen des deutschen Volkes.“
Professor Dr. Hermann Conrad (im Tag): „Hohes Lob verdient der erstaunliche Fleiß,
mit welchem der Verfasser die ältere und vor allem die neueste Shakespeare-Literatur
bewältigt hat, um ein auf der Höhe heutiger Forschung stehendes Werk zu schaffen.“
Dr. Moritz Necker (Die Zeit): „Über die Summe unserer kunstwissenschaftlichen
Bildung verfügt Max J. Wolff als wahrer Meister. Jn allen Sätteln der Kritik ist
er heimisch. Er ist Kulturhistoriker, Philolog, Dramaturg und Kunstphilosoph in einer
Person und ein durchaus freier, unabhängiger Geist, der sich keiner Autorität beugt,
nichts annimmt, was er nicht selbst geprüft hat, und der dabei in seinem Buche doch
alles vereinigt, was die kaum übersehbare Shakespeareforschung an positiven und auch
an negativen Resultaten errungen hat ... Die Einheitlichkeit in der Shakespeareschen
Persönlichkeit hat unseres Wissens noch kein Forscher so tief und klar erfaßt und
gezeichnet wie Max J. Wolff.“
Franz Servaes (Neue freie Presse): „Es gelingt dem Verfasser in ungewöhnlich
hohem Grade, uns die Persönlichkeit Shakespeares in ihrem historischen Gefüge zu
vergegenwärtigen. Die Art, wie das zeitliche und örtliche Milieu hierzu verwandt
wird, ist in ihrer methodischen Anwendung schlechtweg meisterhaft.“
Geheimrat Dr. Wilhelm Münch (Nationalzeitung): „Jn Max J. Wolff spricht zu
uns ein trefflicher Kenner des Dichters ... Die lange vertretene Anschauung, daß
wir Shakespeare als Menschen eigentlich schlechterdings nicht kennten und uns nicht
vorstellen könnten, muß nachgerade (infolge mancher englischen und deutschen Arbeiten,
und nicht zum wenigsten nach der vorliegenden) aufgegeben werden.“
Dr. E. Traumann (Frankfurter Zeitung): „Zunächst ist das Werk durch eine in
deutschen Landen sehr seltene Eigenschaft ausgezeichnet: es ist vorzüglich geschrieben.
Klar und doch lebendig; bei aller Wissenschaftlichkeit für jedermann verständlich und
genußreich, weil es die reichen Früchte mühsamer Arbeit unaufdringlich und in schmackhaftester
Gestalt darbietet; dabei in allen Fragen von durchaus selbständigem Urteil
und besonders im wichtigsten Punkte, der Erfassung des künstlerischen Momentes, von
einer Festigkeit, Reife und Durchbildung, daß man sich bald ohne Bedenken der Führerschaft
des Darstellers überläßt.“
Professor Dr. Alfred Biese (Koblenzer Zeitung:) „Die Verlagsbuchhandlung, die
einem ,Goethe' von Bielschoswky, einem ,Schiller' von Berger nun einen ,Shakespeare'
an die Seite stellte, wußte sehr wohl, daß damit ein Vergleich wachgerufen wurde,
den nur echte, wirkliche Trefflichkeit bestehen konnte. Und sie darf dem Vergleiche
Trotz bieten, denn es ist ein wirklich tüchtiges, ja ausgezeichnetes Buch geschaffen worden.“
C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck München
|#f0281 : 3|
Deutsche Literaturgeschichte
von Alfred Biese
Erster Band. Von den Anfängen bis Herder. 640 Seiten 8°. Mit
Proben aus Handschriften und Drucken und mit 36 Bildnissen
1.─8. Tausend. Jn Leinwand M. 5.50, in Halbfranz M. 7.─
Der zweite Band erscheint zu Weihnachten 1908
Aus den Besprechungen über den ersten Band:
Professor Dr. Franz Muncker: „Jn den letzten Jahren sind ja mehrere populäre
Literaturgeschichten erschienen .. Wie der Fachmann viele jener Werke fast nur verurteilen
kann, so darf er der Arbeit Bieses sich ehrlich freuen. Möge es ihr gelingen,
jene verfehlten oder schwächeren Werke aus der Gunst der Leser zu verdrängen!“
Richard M. Meyer (Deutsche Literatur-Zeitung): „Jn dem Chorus der neuen deutschen
Literaturgeschichten nimmt das Buch einen klar charakterisierten Platz ein, den
es würdig ausfüllt.“
Oskar Bulle (Beil. zur Allg. Ztg.): „Die schwierige Arbeit der Bewältigung, Sichtung
und Anordnung des reichen Stoffes hinterläßt in Bieses Darstellung kaum eine
Spur: fast wie ein behagliches Plaudern, bei dem für den Zuhörer die Beruhigung
besteht, daß der Plauderer seinen Gegenstand gründlich beherrscht, klingt seine Erzählung
von den dichterischen Schöpfungen unseres Volkes.“
Geheimrat Dr. Chr. Muff (Kreuzzeitung): „Das Ganze ist eine wundervolle, im
schönsten Zusammenhange verlaufende Erzählung, in der alles Entstehen klargelegt,
alles Eigenartige erläutert wird.“
Ministerialrat Dr. A. Baumeister: „Hier spricht und erzählt ein wahrhaft dichterisches
Gemüt, mitempfindend und innerlich warm, ja begeistert für jede Regung schöner und
edler Seelen.“
Geheimrat Wilhelm Münch (Nationalzeitung): „Bei Biese durchdringt sich Ernst
der wissenschaftlichen Betrachtung mit frohem Gefühl für alles echt Lebendige. Auch
beseelt ihn zugleich große Liebe zu allem echt Vaterländischen und Wertvollen.“
Geheimrat Dr. Max Dreßler (Karlsruher Ztg.): „Weises, treffendes, wohlüberlegtes
Urteil; höchster Takt; überaus woltuende sichere Bestimmtheit. Dem Kenner ein
Genuß, dem Lernenden ein werter Schatz.“
Dr. Fritz Böckel (Tägl. Rundschau): „Neben der lichten, lebendigen und warmherzigen
Darstellung verdient die großzügige Auffassung der Aufgabe das höchste Lob.“
Dr. E. Thyssen (Oberhess. Zeitung): „Mir ist keine ausführliche deutsche Literaturgeschichte
bekannt, die in ähnlich volkstümlicher Weise ohne tendenziöse Verfärbung und
in gleich behaglich=gediegener, oft auch kunstvoller Darstellung bei vorzüglicher Ausstattung
und billigem Preis ebensosehr für den weitesten Kreis der Gebildeten zu
empfehlen wäre.“
C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck München
|#f0282 : 4|
Soeben ist erschienen:
Zwischen Dichtung und Philosophie
Gesammelte Aufsätze von Johannes Volkelt
Professor der Philosophie an der Universität zu Leipzig
VII, 389 Seiten gr. 8°. In Leinen M. 8.─ In Liebhaberhalbfranzband M. 10.50
Inhalt: I. Lebens- und Weltgefühle in der Lyrik des jungen Goethe ─ II. Fausts
Entwicklung vom Genießen zum Handeln in Goethes Dichtung ─ III. Die Philosophie
der Liebe und des Todes in Schillers Jugendgedichten ─ IV. Was Schiller
uns heute bedeutet ─ V. Jean Pauls hohe Menschen ─ VI. Grillparzer als Dichter
des Zwiespaltes zwischen Gemüt und Leben ─ VII. Grillparzer als Dichter des
Willens zum Leben ─ VIII. Grillparzer als Dichter des Komischen ─ IX. Die Lebensanschauung
Friedrich Theodor Vischers ─ X. Kunst, Moral und Kultur ─ XI. Bühne
und Publikum.
System der Ästhetik
von Johannes Volkelt, Professor an der Universität Leipzig
Erster Band. XVII, 592 Seiten. Gr. 8° In Leinwand geb. M. 12.─
„Da es nicht des Ortes ist, von dem Reichtum des Inhalts auch nur eine kurze
Uebersicht zu geben, und noch weniger meine Sache, über Einzelheiten, die mir
nicht zusagen, mit dem Verfasser rechten zu wollen, so darf ich nur herzlichen Dank
und aufrichtige Bewunderung nicht unausgesprochen lassen sowohl für die eigne großartige
Leistung des Werkes als auch für die gerechte und anerkennende Beiziehung
der großen Vorgänger und rüstigen Mitarbeiter an dem umfangreichen ästhetischen
Gebiet.“ (Min.Rat Dr. A. Baumeister in den „Lehrproben“ 1905)
„... Ich bin überzeugt, daß das scharfsinnige mit reichstem Material versehene
Werk, das uns die mannigfachsten Einblicke in literarische Strömungen verschafft,
die gebührende Beachtung finden wird und zwar hoffentlich weit über die Grenzen
der eigentlichen Fachwissenschaft hinaus.“ (Prof. Th. Achelis in der „Gegenwart“)
„... Volkelt ist gewiß nicht geneigt, mit der Tradition schlankweg zu brechen,
allein noch weniger denkt er daran, das eigengeartete Neue deshalb abzulehnen,
weil ästhetische Präjudizfälle dafür fehlen. Mit besonderer Behutsamkeit wägt er
jeden Anspruch, hält an dem Recht des Urteils fest, ohne dem Vorurteil zu verfallen.
Am sympathischesten berührt die lebendige Vertrautheit mit der Kunst der
Jahrtausende wie der unmittelbaren Gegenwart, die ungesucht aus seinen Werken
spricht und ihm eine Fülle treffender konkreter Beispiele für die Theorie liefert.
Volkelt verlangt vom Aesthetiker, damit er vor Einseitigkeit bewahrt bleibe, eine
umfassende Menschlichkeit, der keine Art, Mensch sein, fremd und unverständlich
ist, eine reichhaltige und vielseitig entwickelte Innenwelt, damit er nicht seine persönliche
Eigenheit als allgemeingültig hinstelle. Diese wichtige, berechtigte Forderung
erfüllt seine vorsichtig abwägende, jeder Modifikation liebevoll nachgebende
Art durchaus; ein Wortschatz von seltener Fülle und Biegsamkeit unterstützt ihn
dabei. ...“ (Prof. Emil Reich in der „Neuen Freien Presse“)
„Zahllose Mißverständnisse, welche in der Gegenwart die Diskussion ästhetischer
und künstlerischer Probleme erschweren, empfangen durch die methodologischen
Erörterungen des ersten Abschnitts willkommene Klärung. Volkelt steht der Kunst
nicht als ein verbissener Theoretiker, sondern als ein weitherziger, aufnahmsfreudiger
moderner Mensch gegenüber.“ (Prof. Dr. Fr. Jodl in der „Oesterr. Rundschau“)
C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck München
|#f0283 : 5|
Ästhetik des Tragischen
von Johannes Volkelt
Professor der Philosophie an der Universität zu Leipzig
Zweite neubearbeitete und stark vermehrte Auflage
488 Seiten gr. 8° Elegant gebunden M. 10.─
Adolf Matthias in der Düsseldorfer Zeitung: Jeder, der nicht theoretisch voreingenommen
ist, muß anerkennen, daß die vor Volkelt vorhandenen Theorien des
Tragischen, soviel Wertvolles sie auch enthalten, sich mit der reichen, vielgestaltigen
Fülle dessen, was uns in den Dichtungen als tragisch ergreift, keineswegs decken, ja
meistens sogar von recht unduldsamer Art sind. Hier aber haben wir es „nicht mit
einem Buche zu tun, in welchem ästhetischer Doktrinarismus uns anlangweilt“.
Artur Drews in den Preuß. Jahrb.: Es lag dem Verfasser daran, der Theorie des
Tragischen mehr Vielfältigkeit, Beweglichkeit, Anpassungsfähigkeit zu geben, sie von
einengenden Vorurteilen, woher sie auch kommen mögen, zu befreien. „Und in der
Tat, wenn irgend einer unter den modernen Denkern hierzu berufen ist, so ist es
Volkelt, der mit eindringendem Scharfsinn, feinstem Zergliederungsvermögen und unbestechlicher
Objektivität zugleich eine so umfassende Kenntnis insbesondere auch der
neueren und neuesten Literatur vereinigt, wie sicherlich nur wenige unter den professionierten
Philosophen.“
Hubert Roetteken: Poetik
Erster Teil: Vorbemerkungen. Allgemeine Analyse der psychischen
Vorgänge beim Genuß einer Dichtung
20 Bogen 8° Geheftet M. 7.─, gebunden M. 8.─
Die Jdee im Drama
bei Goethe, Schiller, Grillparzer, Kleist
von Dr. Michael Lex
VI, 314 Seiten 8° Geheftet M. 4.─, gebunden M. 5─
Märchen, Sage und Dichtung
von Friedrich Panzer
56 Seiten 8° Geheftet M. 1.─
C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck München
|#f0284 : 6|
Statuen deutscher Kultur
Herausgegeben von WILL VESPER
Bisher erschienen folgende Bändchen:
1. Die Germania des Tacitus. Deutsch
von Will Vesper
Leicht geb. M. 1.20, in Leder M. 3.─
2. Hartmann von Aue: Der arme
Heinrich. Neudeutsch von Will Vesper
Leicht geb. M. 1.60, in Leder M. 3.─
3. Das Hohelied Salomonis in drei-
undvierzig Minneliedern. Neudeutsch
von Will Vesper
Leicht geb. M. 1.20, in Leder M. 3.─
4. Luthers Dichtungen. Ausgewählt
von Will Vesper
Leicht geb. M. 1.80, in Leder M. 3.50
5. Vorgoethesche Lyriker. Ausgewählt
von Hans Brandenburg
Leicht geb. M. 1.80, in Leder M. 3.50
6. Hölderlins Dichtungen. Ausgewähtt
von Will Vesper
Leicht geb. M. 1.60, in Leder M. 3.─
7. Jean Pauls Träume. Ausgewählt
von Will Vesper
Leicht geb. M. 1.20, in Leder M. 3.─
8. Meier Helmbrecht von Wernher
dem Gärtner. Neudeutsch von Will
Vesper
Leicht geb. M. 1.60, in Leder M. 3.─
[Spaltenumbruch]9. Novalis' Märchen. Ausgewählt von
E. Sulger-Gebing
Leicht geb. M. 1.60, in Leder M. 3.─
10. Brentanos Gedichte. Ausgewählt
von Herm. Todsen
Leicht geb. M. 1.80, in Leder M. 3.50
11. Deutsche Gedichte des 17. Jahrhunderts.
Ausgewählt v. Will Vesper
Leicht geb. M. 1.80, in Leder M. 3.50
12. Geßners Idyllen. Ausgewählt von
Will Vesper
Leicht geb. M. 1.60, in Leder M. 3.─
13. Die Geschichte von Gisli dem Geächteten.
Deutsch von Friedrich
Ranke
Leicht geb. M. 1.60, in Leder M. 3.─
14. Eichendorff: Dichter und ihre Gesellen.
Novelle. Herausgegeben von
Alexander von Bernus
Leicht geb. M. 2.50, in Leder M. 4.50
15. Eichendorffs Gedichte. Ausgewählt
von Will Vesper
Leicht geb. M. 1.20, in Leder M. 3.─
16. Philipp Otto Runge: Gedanken und
Gedichte. Ausgewählt von Sulger-
Gebing
Leicht geb. M. 1.80, in Leder M. 3.50
[Ende Spaltensatz]
Hermann Hesse (zur Veröffentlichung an den Verleger): „Es ist mir ein Vergnügen,
Ihnen zu sagen, daß ich an diesem sehr guten und dankenswerten Unternehmen
eine wahre Freude habe. Ich wünsche den „Statuen“ eine große Verbreitung.“
Rudolf Herzog (Berliner Neueste Nachrichten): „Ziehen wir bis heute die Summe,
so bleibt ein starkes und freudiges Interesse für die Folgeerscheinungen der Sammlung,
die nationales Empfinden und nationalen Stolz zu stärken und zu festigen
mitberufen ist.“
C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck München
|#f0285 : E7|