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Poetik. ────── |#f0006 : RII|
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Poetik

von
Wilhelm Scherer.


[Abbildung]


Berlin
Weidmannsche Buchhandlung
1888

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Vorbemerkung des Herausgebers. ──────

  Die Poetik, die leider das letzte große Werk Scherers
bleiben sollte, war in den letzten Jahren seine Lieblingsarbeit.
Der älteste Entwurf ist von 1877 datirt; besonders aber seit
Vollendung der Litteraturgeschichte stand der Plan, eine umfassende
Lehre von der Dichtkunst auf breitester empirischer
Grundlage aufzubauen, im Mittelpuncte seines Jnteresses. Jm
Sommersemester 1885 las er dann die „Poetik“ als vierstündiges
Privatcolleg, zum ersten und zugleich zum letzten
Male. Er erstaunte selbst, wie er wiederholt aussprach, über
die geringe Mühe, die ihm die Vorbereitung machte: die Gedanken
strömten ihm so leicht und in solcher Fülle zu, als
habe er mit dieser Arbeit nur die Früchte langjähriger Anstrengungen
abzupflücken. Auch die große Theilnahme, die
er bei seinen Zuhörern fand, erfüllte ihn mit lebhafter
Freude und nicht minder der rege Gedankenaustausch, den er
mit Freunden und Collegen über diese Themata unterhielt.
Als er ─ nur zu bald darauf ─ durch eine beängstigende
Krankheit auf sein nahes Ende vorbereitet worden war, |#f0010 : RVI|

äußerte er in trüben Gedanken, er habe, als er die Poetik
vortrug, auf der Höhe seines Schaffens gestanden.


  Jn dieser traurigen Zeit, als er Abrechnung hielt mit
dem Leben, hat er auch die Veröffentlichung der Poetik angeordnet
und mich zum Herausgeber bestimmt. Mich traf
die Wahl hauptsächlich wohl, weil ich noch kurz vor jener
Katastrophe den Jnhalt dieser Vorlesungen wiederholt und
eingehend mit dem verehrten Lehrer hatte besprechen können.
Über die Art der Herausgabe hat Scherer besondere Bestimmungen
nicht getroffen. Dennoch war mir meine Aufgabe
klar vorgezeichnet. Es lag nicht etwa ein druckreifes Manuscript
vor, sondern im mündlichen Vortrag hatte Scherers
Arbeit für die Poetik die letzte Stufe, die ihm hierfür überhaupt
gegönnt war, erreicht. Somit galt es vor allem,
den Wortlaut seines Collegs festzustellen. Außer Scherers
Heft, von dem er in großen Partien fast gar nicht abgewichen
war, und meiner eigenen Nachschrift standen mir hierfür
die sorgfältigen und größtentheils vollständigen Hefte mehrerer
Zuhörer des Collegs, der Herren Dihle, Heinemann, Specht
und Szamatolski, zu Gebote. Durch Vergleichung der erwähnten
Nachschriften gelang es, das Colleg, wie Scherer es
wirklich gehalten hat, fast wörtlich herzustellen. Nunmehr war
noch auszuscheiden, was er unfehlbar selbst nur für den
mündlichen Vortrag bestimmt hatte: Recapitulationen, actuelle
Anspielungen u. dgl.; doch habe ich auch hier lieber zu wenig
ausscheiden wollen, als zu viel. Der Wortlaut bedurfte
natürlich hin und wieder kleiner Ergänzungen; sachlich habe
ich absolut nichts hinzugefügt. Jn jedem Stadium der Redaction |#f0011 : RVII|

wurde der Text wiederholt mit dem Originalmanuscript
verglichen, und so kann ich wohl für die Zuverlässigkeit
dieses Textes bürgen. Natürlich aber darf derselbe sich nur
als das geben, was er ist: die nach philologischen Principien
besorgte Herausgabe eines Entwurfs, der wohl seinen Reichthum
an anregenden und schöpferischen Gedanken schon beim
mündlichen Vortrag bewährt hat, Abschließendes aber nirgends
bietet und alle Ungleichheiten zeigt, die ein Collegheft ─ besonders
beim ersten Lesen ─ zu zeigen pflegt.


  Jch glaubte mich natürlich auch nirgends zu Umstellungen
berechtigt. So habe ich die Litteraturangaben an
ihrer jedesmaligen Stelle gelassen, obwohl dieselben aus dem
Zusammenhang des gedruckten Werkes störend herausfallen.
Der Leser wird gewiß über derartige Hindernisse wie über
Manches, was besonders auf den ersten Bogen befremden
mag, leicht durch den großen Gedankengang des Werkes
hinweggetragen werden, während jede Änderung dem Charakter
der Herausgabe zuwidergelaufen wäre. ─ Auch
die Orthographie wurde unverändert beibehalten, wie Scherer
sie in seinen letzten Arbeiten, der „Litteraturgeschichte“ und dem
„Jakob Grimm“ durchgeführt hatte.


  Scherer hatte ferner alle Papiere, welche auf dies Colleg
Bezug hatten, ohne doch direct ins Heft zu gehören, in einem
besondern Convolut vereinigt. Zu einer unverkürzten Wiedergabe
eigneten sich diese Papiere ─ Entwürfe, Auszüge, Notizen
─ natürlich nicht; andererseits aber enthielten sie so
viel Schönes und Neues, daß es nicht verloren gehen durfte.
Auch was er nachher verwarf, war oft lehrreich; und so |#f0012 : RVIII|

schien es das Richtigste, in dem Anhange über diese Papiere
Rechenschaft zu geben, aber nur einzelne und auch diese nur
zum Theil vollständig mitzutheilen.


  Während der ganzen Arbeit durfte ich mich freundlicher
und hilfreicher Theilnahme von verschiedenen Seiten erfreuen.
Herman Grimm unterstützte mich mit gütigem Rath; vor
Allem aber habe ich Erich Schmidt zu danken, der eine
doppelte Correctur gelesen und in zahlreichen Fällen bessernd
und helfend eingegriffen hat.


  Die Stelle, welche die Poetik in Scherers Lebenswerk einnimmt,
hat W. Dilthey in seinem Nekrologe auf Scherer
(Deutsche Rundschau 1886, S. 132) schön und deutlich bezeichnet.
Groß angelegt, reich an Entdeckungen und reicher
an Anregungen, und dann so plötzlich und jäh abgebrochen,
scheint dies Werk fast ein Abbild der Lebensthätigkeit unseres
geliebten Lehrers; möge es auch diesem letzten, unvollendeten
Geschenk Scherers nicht an dankbaren Schülern und ernsten
Fortsetzern fehlen. ─


  Berlin, 12. Februar 1888.


Richard M. Meyer.

|#f0013 : RIX|

Jnhalt.

Seite
VorwortXI
1. Kapitel. Das Ziel1
I. Gebundene und ungebundene Rede1
A. Nicht alle Poesie ist kunstmäßige Anwendung
der Sprache
2
B. Nicht alle kunstmäßige Anwendung der Sprache
ist Poesie
7
II. Die Aufgaben und Methoden der Forschung33
2. Kapitel. Dichter und Publicum72
I. Über den Ursprung der Poesie73
II. Über den Werth der Poesie118
A. Der Tauschwerth der Poesie und der litterarische
Verkehr
121
B. Der ideale Werth der Poesie137
III. Die Dichter147
1. Factoren der Production148
2. Betheiligung mehrerer an demselben Werke150
3. Unterbrochenes Arbeiten157
4. Anhaltendes Arbeiten158
5. Die schaffenden Seelenkräfte159
6. Genie und Wahnsinn170
7. Verschiedenheiten der Dichter177
IV. Das Publicum185
1. Verschiedenheiten des Publicums186
2. Altes und Neues187
|#f0014 : RX|

Seite
3. Die genießenden Seelenkräfte189
4. Aufmerksamkeit und Spannung191
5. Die Bedingungen des Gefallens197
3. Kapitel. Die Stoffe205
I. Die drei Welten205
II. Allgemeine Motivenlehre212
III. Die Figuren der Verwicklung216
IV. Die Klassen der Wirkungen218
4. Kapitel. Jnnere Form226
I. Objective Auffassung230
II. Subjective Auffassung233
5. Kapitel. Äußere Form235
I. Die Grundformen der Darstellung235
A. Directe und indirecte Darstellung235
B. Fictionen238
C. Aus der Lehre von den Zeichen240
D. Die Arten der Rede242
II. Die Dichtungsarten245
III. Die Composition253
IV. Sprache258
V. Metrik273
Anhang277
|#f0015 : RXI|

Vorwort. ──────

  Die Aufgabe, die ich mir hier gestellt habe, wird sich
aus dem ersten Kapitel näher ergeben. Jch will Rechenschaft
ablegen von den Unvollkommenheiten, welche meinem Versuch
anhaften werden, und den geringen Vorarbeiten, die ich benutzen
kann. Jch will hier nicht traditionelle Lehren überliefern,
sondern auf neuen eigenen Wegen in das Wesen der
Poesie eindringen ─ und ich lege mir in der Regel selbst
erst, wenn ich meine Ansicht neu gebildet, Rechenschaft darüber
ab, wie weit ich mit Vorgängern zusammengetroffen bin,
wie weit die Vorgänger etwa das Bild, das ich mir gemacht,
ergänzen.


  Jch theile den Stoff in einige große Abschnitte, die ich
Kapitel nenne. Und innerhalb der Kapitel suche ich möglichst
scharf und deutlich zu gliedern. Es wird sich auch nicht
vermeiden lassen, daß viele Unterabtheilungen gebildet werden
müssen. Erschrecken Sie nicht über die „römisch I, arabisch 1,
groß A und klein a und α“, die vielleicht zur Verwendung
kommen!

|#f0016 : RXII|

  Sein Sie auch noch auf ein Anderes von vornherein
aufmerksam gemacht. Jch strebe wenig danach, das Wesen
der Sache durch Definitionen aufzufassen und in eine Definition
zu pressen. Jch scheue mich vielmehr vor Definitionen,
weil damit zu viel Unwesen getrieben worden ist. Jch hoffe
ohne Definitionen oder auch mit Definitionen, die im Sinne
der strengen Logik recht unvollkommen sind, Jhnen doch
überall deutlich zu werden und die Sachen hinlänglich streng
zu bezeichnen.


  Manches ist noch unfertig; dann werde ich vorläufig
abbrechen, um Jhnen offen und ehrlich zu zeigen, wo ich
sachlich noch nicht im Reinen bin.

|#f0017 : E1|

Erstes Kapitel. ──────
Das Ziel.

  Die richtige Stellung der Aufgabe ist schon ein wesentlicher
Theil der Lösung. Es muß also die wahre Begrenzung
der Aufgabe gefunden werden, das Ziel und die
Methode, es anzustreben. Es ist bald gesagt: Poetik sei
die Lehre von der Poesie. Aber es ist damit herzlich wenig
gesagt; denn wir haben dann erst die Fragen zu beantworten:


  Erstens: wie ist die Poesie zu begrenzen? Was gehört in
ihr Gebiet?


  Zweitens: auf welche Seite des Gegenstandes bezieht sich
unsere Lehre? Welche Ziele hat die Forschung? Und welche
Wege stehen ihr zu Gebote?


I. Gebundene und ungebundene Rede.

  Das Wort „Poesie“ wird von uns in doppeltem Sinne
angewandt. Die gewöhnliche Gegenübersetzung von Poesie
und Prosa meint dasselbe, was wir durch die Gegenübersetzung
von gebundener und ungebundener Rede ausdrücken; |#f0018 : 2|

trotzdem aber rechnen wir doch unbestritten zur Poesie auch
den prosaischen Roman. Wie grenzen wir ab? ─


  Jedenfalls bezweifelt kein Mensch, daß die Poesie ein
Verhältniß zur Sprache hat, daß auf dem Gebiet der Anwendung
der Sprache auch ihr Gebiet zu finden sein muß.
Und zwar vermuthlich auf dem Gebiete der kunstmäßigen
Anwendung der Sprache, da man doch die Poesie zu den
Künsten zu zählen pflegt, wenn auch der eigentliche Sinn
des Wortes „kunstmäßig“ hier noch dahingestellt bleiben soll.


  Aber es muß sofort hinzugefügt werden: nicht alle
Poesie ist kunstmäßige Anwendung der Sprache, und nicht
alle kunstmäßige Anwendung der Sprache ist Poesie.


  Betrachten wir diese beiden Sätze näher, und beginnen
wir mit dem ersten.


A. Nicht alle Poesie ist kunstmäßige Anwendung
der Sprache.

  Sie werden das ohne weiteres zugeben; denn Sie
werden mit mir einverstanden sein, daß die Erfindung eines
Ballets, d. h. einer zusammenhängenden dramatischen Handlung,
bei welcher nicht gesprochen wird, ein Act poetischer
Erfindung ist. Der Dichter wird zwar auch dabei die
Sprache anwenden: er wird den Darstellern mündlich den
Gang ihrer Action vorzeichnen, oder er wird eine schriftliche
Jnstruction ausarbeiten ─ aber das ist gewiß kein kunstmäßiger
Gebrauch der Sprache, sondern die Sprache ist hier
bloßes Verständigungsmittel. Das Kunstwerk entsteht erst, |#f0019 : 3|

wenn agirt wird, und das geschieht ohne Sprache. Wenn
vollends einer eine selbsterfundene Pantomime aufführt, nach
seinen eigenen Gedanken, nach seiner eigenen Erfindung, ─
so braucht er die Sprache überhaupt nicht; und dennoch
kann dies ein dichterisches Kunstwerk sein. Es giebt also
Action, Tanz, Gebärdenspiel ohne Sprache, wobei gleichwohl
ein poetisches Kunstwerk entsteht.


  Wenn aber hier die Sprache bei dem künstlerischen Act
entbehrt und ein geistiger Jnhalt ohne Rede dargestellt wird,
so hat das gesprochene Drama zwar zu sprechen, aber es
hat nicht Sprache allein. Das Drama ist seiner ursprünglichen
Bestimmung nach immer ein aufgeführtes Drama,
und erst in der Aufführung ist es vollständig ─ ohne die
Aufführung ist es nur ein Fragment eines Kunstwerkes.
Das Stehen, Gehen, die ganze Action des Schauspielers
gehört mit dazu, also etwas, was über eine kunstmäßige
Anwendung der Sprache herausgeht; und all dies, was im
Drama nicht Sprache ist, zur Sprache hinzukommt, ist
Poesie und macht das poetische Kunstwerk erst vollständig.


  Denken wir dann vollends an die Oper, so tritt zur
Anwendung der Sprache nicht bloß die Action, sondern
auch die Musik hinzu.


  Und Musik und Poesie stehen nun weiter in altem
Bunde, wie wir gleich näher sehen werden. Noch die deutsche
Lyrik des 12. und 13. Jahrhunderts ist immer gesungene
Poesie, und zu dieser Lyrik muß auch eine strophische
Didaktik gezählt werden. Da ist also, wo das Kunstwerk |#f0020 : 4|

in lebendige Erscheinung treten soll, immer auf die Mitwirkung
der Musik gerechnet: mithin auch nicht bloß auf
kunstmäßige Anwendung der Sprache. Und hier haben wir
es doch gewiß mit Poesie zu thun. Wir wissen nicht genau
wie im Mittelalter vorgetragen wurde; aber denken wir
uns einen Vortragenden, der seines Stoffes mächtig und
davon ergriffen ist ─ da ist Mienenspiel und Action jedenfalls
möglich, und bis zu einem gewissen Grade Mienenspiel
sogar kaum zu vermeiden. Wenn nun ein solches Lied wirkt,
so wird auf uns auch das Mienenspiel mitwirken, und das
lyrische Kunstwerk wird Gestalt und Wahrheit gewinnen
durch seine Verbindung nicht bloß mit Musik, sondern auch
mit einer gewissen Action. Ja sehen wir ab vom Gesang, so
gilt dasselbe bei der Declamation. Sie wird die Stimmung
unwillkürlich reflectiren lassen, wenn auch nur auf den Gesichtszügen
des Declamirenden. Sollte z. B. eine Schauspielerin auf
offener Bühne declamiren, so wird das Mienenspiel und die
Action, ja die Decoration hinzukommen. Also auch außerhalb
des Dramas tritt Action oder wenigstens ein Minimum
von Action hinzu, wo poetische Kunstwerke ins Leben treten.
Wir heute verlangen freilich bei Declamation nur eine
mäßige Anwendung von Mienenspiel und womöglich gar
keine Action. Aber das ist eine conventionelle, vielleicht
sogar individuelle Ansicht. Die berühmte Schauspielerin
Frau Rettich in Wien declamirte z. B. auf dem Theater „Hero
und Leander“ mit viel Mimik und einiger Action. Auf den
Ort und dessen Dimensionen, auf das Publicum u. s. w.
wird für das Maß der Action sehr viel ankommen.

|#f0021 : 5|

  Also auch außerhalb des Dramas treffen wir bei der
Poesie nicht bloß Rede. Die Rede ist eben ein Ausdrucksmittel
des Menschen, aber nicht das einzige; und in der Art
des Menschen liegt es, die Sprache durch alle übrigen Ausdrucksmittel
mindestens zu unterstützen. Die Deutschen sind
mehr als andere Völker, im Gegensatz besonders zu der lebhaften
Gebärdensprache der Jtaliener, in Gefahr die Gewalt
der Sprache an sich zu überschätzen und die andern Ausdrucksmittel
zu unterschätzen. Schon der unarticulirte Schrei,
der auf dem Theater kaum entbehrt werden kann, ist nicht
Sprache!


  Für die Aufgabe der Poetik nun, wie ich sie mir vorzeichne,
bemerke ich, daß ich von den zur Sprache hinzutretenden
Ausdrucksmitteln hier absehe, obwohl diejenigen,
welche beim Vortrage der Poesie in Betracht kommen, das
poetische Kunstwerk erst zur völligen Erscheinung bringen.
Jch will keine Theorie der Declamation oder gar der Schauspielkunst
geben noch eine solche des Gesanges, und vollends
nicht des Tanzes. Aber ich will allerdings darauf hinweisen,
daß wirklich lebendig die kunstmäßige Anwendung
der Sprache erst wird, wenn anderes hinzutritt. Für uns
freilich besteht der Genuß der Poesie heute fast nur im
stillen Lesen. Aber dies ist etwas verhältnißmäßig spätes. ─
Aristoteles setzt allerdings schon wiederholt das einsame
Lesen voraus, sogar für die Tragödie (Poet. 1462a, 17
und sonst). Aber ganze Jahrtausende menschlicher Entwickelung
kannten die Poesie nur als lebendigen Gesang und lebendige
Rede. Wo es sich darum handelt, in die Natur der |#f0022 : 6|

Poesie tiefer einzudringen, muß man diesen Unterschied streng
im Auge behalten. Wir haben es hier eben nur mit dem
Geschäft des Dichters zu thun, aber auch jetzt noch ist für
die große Mehrzahl der Menschen Poesie nicht stilles Lesen
allein; dies ist nur ein junges Surrogat der lebendigen
vorgetragenen Poesie, wie es hochentwickelte Völker benutzen.
Schon die Schrift an sich ist etwas verhältnißmäßig spätes,
und noch jünger ist der Einfluß, den sie auf die Poesie und
den Genuß derselben ausübt. Dieser Einfluß ist aber ein
höchst bedeutender. Die meisten Bücher sind nur für das
Lesen bestimmt. Ja die Mittel der Schrift, die Buchstaben,
können als Symbol gebraucht werden; man kann ein ganzes
Buch mit Symbolen, mit Buchstaben füllen, wo dann also
alles bloß auf das Auge berechnet ist. Die mathematische
Formel ist der äußerste Gegensatz zur Poesie.


  Dies ist das eine Extrem im sprachlichen Ausdruck, in
welchem die gänzliche Abwesenheit der Poesie vorliegt.


  Wir halten uns also gegenwärtig, daß für die Mehrzahl
der Menschen noch jetzt, und daß auf einer bestimmten Stufe
der Entwickelung für alle Völker die Poesie in der Form
auftritt, daß Mensch vor Mensch steht und geschaut wird,
so noch jetzt wenigstens beim Vorlesen; daß Gesang, Bewegung,
Action hinzutreten müssen, um die Poesie lebendig
zu machen.


  Aber dies alles bedenkend können wir doch in unsere
Betrachtung nur die „hohe Poesie“ ziehen und müssen von
jener lebendigen absehn. Wir stimmen dabei überein mit
Aristoteles; denn schon die Alten haben sich mit der Frage |#f0023 : 7|

beschäftigt, wie viel Action zutreten dürfe. Aristoteles redet
nicht bloß von jüngeren Schauspielern, welche nach Ansicht
der älteren zu viel charakterisirten, sondern berichtet auch von
einem Sosistratos, der dem rhapsodischen Vortrag des Epos
zu viel sichtbare Zeichen hinzufügte, und von einem Opuntier
Mnasitheos, der dasselbe beim Gesange that (Poet. 1462a 6 f.).


  Bei Aristoteles werden überhaupt sehr richtig μέλος
(Musikalisches) und ὄψις (Scenisches) als Bestandtheile des
Poetischen bezeichnet. Aber auch er läßt sie dann in der
Poetik bei Seite und macht dem Lesen fast zu große Concessionen,
als sei das Kunstwerk fertig, wenn der Dichter
fertig ist. Es gab aber bei den Griechen sogar eine Theorie
des Vortrags (ὑπόκρισις), u. a. von einem Glaukos aus
Teos (Arist. Rhetor. 111, 4 Bekker). ─


B. Nicht alle kunstmäßige Anwendung der Sprache
ist Poesie.

  Auf das Wesen der Sprache werden wir noch zurückkommen
müssen. Sie ist halb Tochter des Bedürfnisses,
eine Erfindung um den nothwendigen und nützlichen Verkehr
der Menschen zu erleichtern, abgekürztes Ausdrucksmittel ─
für die Erleichterung des Verkehrs in den Urzeiten von
größerem Werth als Landstraße, Eisenbahn und Telegraph ─
halb ein Versuch einer Auffassung und Darstellung der
Welt ...


  Die Sprache ist eine Fertigkeit; und man könnte von
vornherein sagen: eine Kunst, wenigstens sofern sie Vorstellung
der Welt ist. Doch bleibt dieser Name „Kunst“ |#f0024 : 8|

besser einer besonderen Anwendung vorbehalten. Die wenigsten
Menschen besitzen die ganze Sprache ihrer Nation. Jeder
überschaut und beherrscht nur ein geringes Gebiet, schon was
den Wortschatz anbelangt. Die Terminologie für Lebensmittel,
Küchengeräthe u. s. w. kennt jede Köchin jedenfalls genauer
als ich. Jch weiß nur wenig Pflanzen zu benennen u. s. w.
So ist jede Terminologie nur denen geläufig, welche sich mit
den betreffenden Gegenständen beschäftigen. Die Jäger
wissen eine Menge Dinge zu benennen, denen gegenüber
ein anderer rathlos ist. So werde ich verhältnißmäßig am
genauesten aus dem gesammten Gebiete der Sprache die
Darstellungsmittel innerhalb der Wissenschaft, welcher ich
diene, kennen. Wer sich viel mit litterarischen Dingen beschäftigt,
wird einen eigenen Wortschatz für dies specielle
Gebiet sich aneignen, wie z. B. bei den Franzosen Ste. Beuve
mit so viel Feinheit that; zu solcher Reichhaltigkeit ist die
Sprache der deutschen Kritik überhaupt nicht gelangt, und
wie arm sind gar die meisten Jllitteraten in Bezeichnungen
für die Eigenthümlichkeiten eines litterarischen Kunstwerks!


  Verbindet sich nun mit dem Wohnen in einem besonderen
Gebiet der Sprache die Gewohnheit, darüber zu sprechen
und zu schreiben, so werden alle Wendungen aus diesem
Gebiet dem Betreffenden bequemer liegen als alle Sprachmittel
außerhalb des Gebiets. Und je mehr er diese Mittel
unbedingt beherrscht, d. h. je leichter es ihm wird, mit der
Sprache alle die Wirkungen zu erzielen, die er erzielen
möchte, desto mehr wird er die Sprache kunstmäßig handhaben.


|#f0025 : 9|

  Dazu gehört nun aber als Voraussetzung eine lange
Tradition. Der Einzelne macht Gebrauch von den Errungenschaften
früherer Perioden. So sammelt sich ein Kapital
von Bildung und Kunst an. Glücklich das Land, in welchem
diese Tradition nie abbricht! Aber in Deutschland war z. B.
im 17. Jahrhundert das Philosophiren in deutscher Sprache
so ganz abhanden gekommen, daß Leibniz nur in lateinischer
oder französischer Sprache philosophiren konnte, obwohl er den
dringenden Wunsch hegte, es in deutscher Sprache thun zu
können.


  So wie dies heut ist, wird es in allen Zeiten gewesen
sein. Nur in einem Punct unterschied sich die ältere Zeit:
eine geringere Arbeitstheilung im Leben muß auch eine geringere
Arbeitstheilung in der Sprache zur Folge gehabt
haben. Es wird innerhalb der Nation mehr Menschen gegeben
haben, welche annähernd die ganze Sprache beherrschten,
als heute vorhanden sind. Dennoch wird auch in alten
Zeiten eine Kunst sich ausgebildet haben. Wohl war das
Sprachgebiet überhaupt kleiner und deshalb leichter zu übersehen.
Aber auch damals wird es Einzelne gegeben haben,
welche leichter und freier sprachen, und welche im Stande
waren feste Begriffe zu prägen; und es wird Leute gegeben
haben, welche ein besonderes Talent besaßen die Errungenschaften
ihrer Vorgänger sich anzueignen. Es wird Meister
der Sprache gegeben haben ─ und sie werden die ersten
Künstler auf diesem Gebiet geworden sein. ─


  Aus allen möglichen und für die Urzeiten wahrscheinlichen
Anwendungen der Sprache lassen sich nun mindestens |#f0026 : 10|

drei ausheben, welche zugleich kunstmäßig und unzweifelhaft
poetisch genannt werden müssen, wenn wir bei dem Namen
„Poesie“ den Sprachgebrauch festhalten wollen. Es sind
aller Wahrscheinlichkeit nach die ältesten überhaupt vorhandenen:
auf sie führen die Spuren der Anfänge später hochentwickelter
Litteraturen, und sie finden wir im Gebrauch der
heutigen Naturvölker.


  Es sind dies: 1. Chorlied; 2. Sprichwort; 3. Märchen.


  1. Chorlied ist festlicher Tanz verbunden mit gesungenen
Worten, vielleicht auch mit Jnstrumentalbegleitung. Schon
Aristoteles (Rhet. 112, 4) weiß, daß Rhapsodie und Schauspielkunst
mit der Poesie zugleich entstanden; aber von der
Orchestik sagt er nichts! Auf solche Verbindung von festlichem
Tanz mit Gesang aber führen die ältesten Nachrichten
über germanische Poesie, ja arische Poesie überhaupt. Und
von eben solchen mit Gesang verbundenen Massentänzen sind
auch bei Naturvölkern merkwürdige Beispiele vorhanden.
Auf eins, das merkwürdigste mir bekannte, will ich hier hinweisen,
obwohl es unanständig ist; aber in diesen Dingen
darf man sich, wie in der Anatomie und Physiologie, nicht
scheuen, Schmutz zu berühren. Es ist ein australischer
Tanz, über den Friedrich Müller (Reise der Fregatte Novara,
Ethnographischer Theil S. 7; Allgemeine Ethnographie S. 213)
berichtet. Es gab ähnliche Gesänge z. B. auch in Griechenland:
die phallischen, τὰ φαλλικὰ (Arist. Poet. 1449a, 11 f.).
Sie waren nach Aristoteles in vielen Städten in Gebrauch,
und die Vorsänger solcher Lieder legten nach seiner Annahme |#f0027 : 11|

den Grund zur Komödie, wie die der Dithyramben zur
Tragödie.


  Auch für die Sprichwörter darf das höchste Alter angesetzt
werden. Dasselbe gilt vom Märchen, der kleinen Erzählung:
bei den Naturvölkern sind Märchen gefunden worden.
Beides also sind gleichfalls Urelemente der Poesie. Damit
sollen jedoch die alten Gattungen nicht erschöpft sein; so ist
das Zauberlied zu bedenken. Aber diese drei entschieden
alten Gattungen habe ich herausgegriffen, weil sie für unsern
nächsten Zweck als Typen ausreichen. Dagegen ist z. B. das
Liebeslied gewiß auch sehr alt; aber jene Australier möchten
es doch wohl kaum besitzen.


  2. Das Sprichwort hat in alter Zeit keine Existenz
für sich; es setzt allemal eine Gelegenheit voraus, bei welcher
es zur Anwendung kommt. Diese Anwendung ist immer
eine Subsumption eines einzelnen Falles unter einen allgemeinen
Erfahrungssatz, man könnte sagen unter ein Gesetz.
Das Sprichwort erinnert an viele oder wenigstens an einen
ähnlichen Fall, es ist also eine Generalisation; und es kann
sich in jedem Augenblick, in jedem Gespräch bei gebotener
Gelegenheit einfinden. Jmmer enthält es eine Erinnerung
an etwas Bekanntes, es ist ein Citat, ein geflügeltes Wort.
Da haben wir also eine sich blitzartig einmischende Poesie.
Die Nationen haben jede für sich einen Sprichwörterschatz,
aus welchem der Sprechende schöpft, wie jede einen Wortschatz
hat. Aber die Sprache ist im Sprichwort schon
angewandt und zwar in kunstmäßiger Prägung. Nur behält
hier die Poesie eine dienende Rolle; denn das Sprichwort |#f0028 : 12|

wird aus dem Sprachschatz herausgenommen behufs
augenblicklicher Verwendung.


  Viel selbständiger ist die Poesie dagegen in den anderen
Gattungen, dem Fest- und Tanzlied einerseits und dem
Märchen andererseits. Diese beiden andern sind anscheinend
die wichtigsten Typen der Dichtung überhaupt.


  Der Tanz des Chorliedes, soweit wir davon Kenntniß
haben, beruht auf dem Gehen, und die Tanzschritte sind die
Grundlage des Rhythmus. An die Tanzbewegungen aber
sind die Worte gebunden; selbst wenn in ihnen ein Wechsel
von Vor- und Rückbewegung herrscht, entspricht dem ein
Parallelismus der Worte. Jch zweifle nicht daran, daß die
Ansicht von der Entstehung des Rhythmus die richtige ist,
welche ihn aus dem Tanze herleitet. Für die Griechen weist schon
die rhythmische Terminologie darauf hin, daß der Rhythmus
Frucht des Tanzes ist; daher die Ausdrücke: ἄρσις und θέσις,
Hebung und Senkung. Der Rhythmus aber schafft erst das,
was wir gebundene Rede nennen; für diese ist er Typus und
Ursprung zugleich. Also: der Rhythmus hat seinen Ursprung
im Tanze, die gebundene Rede wieder im Rhythmus, so daß
demnach mittelbar auch sie im Tanz wurzelt. Diese gebundene
Rede aber ist eben zunächst jene Gattung aller Poesie, die
wir als Chorlied bezeichnen. Das ist die einzige Quelle,
aus der der Rhythmus, wenn wir die Sache im Großen ansehn,
herstammt: durch den Tanz des Chorliedes ist der
Rhythmus in die Welt gekommen.


  Und somit ist das Chorlied Ursprung der gebundenen
Rede
überhaupt.

|#f0029 : 13|

  3. Das Märchen dagegen ist ungebundene Rede,
prosaische Erzählung.


  Da haben wir schon in den Urzeiten einerseits gebundene,
andererseits ungebundene Rede, die doch Poesie ist. ─


  Nehmen wir nun die deutsche Litteratur als Paradigma
der höheren Entwicklung.


  Es kommt eine spätere Zeit wo die gebundene Poesie
sich ablöst vom Tanz; mit dem Gesang bleibt sie zunächst
noch verbunden, bis sie auch von dem sich ablöst. Das
Tanzlied dauert zwar auch neben solcher vom Tanz losgelöster
Poesie lange fort; noch die Volkslieder des 15. und
16. Jahrhunderts sind im Volke selbst vielfach Tanzlieder,
und die Siegfriedslieder der Faröer sind es noch heute. Aber
daneben entsteht eine neue Art von Poesie, welche zwar die
gebundene Form beibehält, aber nicht mehr Tanzpoesie ist.
So können die Bindemittel der gebundenen Poesie, Allitteration
oder Reim, auch der Rhythmus selbst auf das Sprichwort
übertragen werden. Oder auch Zauberformeln können eine
solche Form annehmen, weil die Tanzpoesie feierliche religiöse
Festpoesie, Cultuspoesie ist und auch jene Zauberformeln
feierlich religiös sind. Daher mischt sich leicht Tanz ein,
und auch rhythmische Bewegung ist hinzuzudenken. Nur muß
man den Begriff „Tanz“ nicht zu eng nehmen.


  Jmmerhin bleibt also die gebundene Poesie mit dem
Gesang noch verbunden. Nur fragt es sich, von welcher Art
dieser Gesang war. Man darf nicht die heutigen Formen des
Gesangs zu Grunde legen. Wir wissen von einem recitativartigen
Vortrag, der in der Mitte schwebt, wie bei den |#f0030 : 14|

serbischen Liedern, wo der Vortrag nur entfernt zusammenhängt
mit dem, was wir heute Gesang nennen: „singen und
sagen“ nennt ihn die älteste deutsche Terminologie (Lachmann:
Über Singen und Sagen, Kleine Schriften 1, 461).
Wir wissen von höchst eintönigen, immer wiederholten Melodien,
mit denen bei andern Völkern epische Lieder verbunden
werden.


  Betrachten wir nun aber die Entstehung des Epos überhaupt,
so sehen wir, wie die beiden Grundformen der Poesie,
gebundene und ungebundene Rede, sich einander nähern. Die
älteste Form der epischen Poesie ist entschieden das Märchen,
die kurze Erzählung. Der Märchenerzähler der ältesten Zeit
steht seinem Publicum gegenüber ─ während beim Tanzlied
das ganze Publicum selbst singt. Wir sehen nun, wie in
die ungebundene Rede des Vortragenden einzelne Stücke in
gebundener Rede aufgenommen werden, wobei vielleicht der
Vortrag sich eigentlichem Gesang schon eher nähert. So
sehen wir sich eine gemischte Form entwickeln, die Prosa
und Poesie verbindet. So bei den Germanen in der Saga
der altnordischen Poesie; dieselbe Form setzte Müllenhoff
für die altdeutsche Dichtung überhaupt mit Recht voraus
(s. Zeitschrift für deutsches Alterthum 23, 51); so bei den
Kelten in der mittelirischen Poesie (s. Windisch, Jrische Texte
S. 63. 114. 203); endlich bei den Jndern im Veda (s. Oldenberg,
Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 39,
52 f.). So gehören gebundene und ungebundene Rede,
äußerlich vermischt, zusammen, um ein episches Kunstwerk hervorzubringen;
diese Mischung ist Voraussetzung für das Epos.

|#f0031 : 15|

  Diese Form der gemischten Erzählung ist erst die Vorstufe
einer Form, die ganz in gebundener Rede sich bewegt.
Dies Epos in gebundener Rede hatte jedenfalls keine
Spur von Tanz und dennoch einen festen Rhythmus. Freilich
in einem Punct ist es weniger gebunden als der Tanz: es
war nicht strophisch, sondern bewegte sich in fortlaufenden
Vollzeilen. Dieser Unterschied des Epos vom Tanzlied ist
auch außerhalb der deutschen Dichtung typisch, wo sich ein
Epos gestaltet hat. Das Epos ist individuelle That, persönlicher
Vortrag, Einzelvortrag ─ und das giebt ihm eine
größere Freiheit, die sich zunächst also dadurch äußert, daß
strophische Gliederung wegbleibt.


  Der Rhythmus lockert sich allmälig noch mehr; wenigstens
bei den Deutschen ist dies eingetreten. Größere
Freiheiten der Tanzpoesie gegenüber können wieder bis an
die Grenze der ungebundenen Rede führen. Solcher verwilderter
Rhythmus, wie es wenigstens scheint, findet sich im
Beowulf, im Heljand. Der Vortrag des Epos war grade
eben das „singen und sagen“: es ward recitativisch gesungen.


  Solche recitativisch vorgetragene Poesie ist die Vorstufe
einer bloß gesagten, declamirten, nicht mehr recitativisch gesungenen,
sondern im Sprechton vorgetragenen Poesie.
Solche epische Lieder aus dem Kreise des Volksepos, solche
Heldendichtungen finden sich in Deutschland gegen Ende des
12. Jahrhunderts. Und man beobachtet in dieser volksthümlichen
Poesie zunächst noch keinen entschiedenen Einfluß
auf die Form; die Art des Vortrags manifestirt sich nur
z. B. durch das Überlaufen der Construction von einer |#f0032 : 16|

Strophe in die andere. Daraus ersehen wir nämlich, daß
die Strophe nicht mehr gesungen worden sein kann: denn die
abgeschlossene Strophe verlangt unbedingt eine Pause. Die
Strophe ist also etwas ungebundener, freier.


  Neben diesen strophischen Heldenliedern, die nur gesagt
werden, wie Nibelungen, Kudrun u. s. w. steht die höfische Poesie,
welche in der Form den Einfluß des Sagens noch deutlicher
zeigt: sie ist in fortlaufenden Reimzeilen ohne strophische
Gliederung abgefaßt.


  Aber es wird gewiß schon vordem das Lehrgedicht des
12. Jahrhunderts und die geistliche Erzählung nur gesagt
worden sein.


  Wir haben also zwei Acte der Loslösung zu unterscheiden
innerhalb der gebundenen Poesie:


I. Ablösung vom Tanz;


II. Ablösung vom Gesang.


  Dadurch gewinnen wir drei Klassen von Poesie, die
wohl als drei historische Stufen angesehen werden können:


  1. Tanzpoesie; 2. Gesangpoesie; 3. ungesungene Poesie,
oder: 1. getanzt und gesungen; 2. gesungen aber nicht getanzt;
3. weder gesungen noch getanzt. Soweit diese letztere
Poesie strengen Rhythmus in sich hält, so weit zehrt sie von
der Erbschaft der getanzten Poesie. ─


  Es kann nun gar keinem Zweifel unterliegen, daß das
gesammte Gebiet der gebundenen Poesie in den Bereich
unserer Aufgabe fällt. Was irgend in Rhythmus und Reim,
in irgend welchen Formen der gebundenen Rede abgefaßt
wurde, das muß uns als Poesie gelten und das bildet |#f0033 : 17|

Material für unsere Untersuchungen. Wenn wir von gereimter
Prosa reden, so hat das seinen guten Sinn, wir
werden später erörtern welchen; aber auch diese gereimte Prosa
muß uns Poesie sein. Vollends nun etwa das ganze didaktische
Gedicht aus der „eigentlichen“ Poesie ausscheiden zu
wollen ist der Gipfel der Willkür und verdient von unserm
Standpunct aus gar keine Widerlegung; denn wenn man nicht
daran festhält, daß alle gebundene Poesie in die Poetik gehört,
dann sind die Grenzen gleich unsicher und subjectiv.


  Wir erheben also hierin Widerspruch gegen Aristoteles,
welcher das Lehrgedicht von der Poesie ausschließt, während
er den sokratischen Prosadialog einschließt. Wie er dazu
kommt, ist sehr klar. Jhm ist die Poesie Charakterdarstellung:
daher ist für ihn der sokratische Dialog Poesie, weil er
immer den Charakter des Sokrates darstellt. Das Lehrgedicht
aber ist ihm nicht Charakterdarstellung und daher
ausgeschlossen. Aber ist das richtig? Man kann sich doch wohl
leicht ein Lehrgedicht denken, durch welches ein Charakter gezeichnet
wird, dem man es in den Mund legt, z. B. ein Lehrgedicht,
in dem Sokrates seine Ansichten entwickelt. Es wird jedenfalls
oft ein Lehrgedicht einen Beitrag zur Charakteristik des Verfassers
ergeben; man braucht also hier nur den Aristoteles
beim Wort zu nehmen um ihn zu widerlegen. Denn wenn
man ihm nachgeht, müßte man unterscheiden zwischen Lehrgedichten
wo man eine Spur von Charakteristik findet, und
wo nicht; und das ist unmöglich. Wir kommen darauf bei
Aristoteles zurück.

|#f0034 : 18|

  Weit schwieriger nun ist die Frage: was gehört aus
dem Reich der ungebundenen Rede zu unserer Aufgabe?


  Aber ehe wir dazu übergehen, müssen wir noch an die
vorher erhobene Forderung erinnern, sich Poesie, ehe sie im
Stillen gelesene Poesie wurde, in ihrer lebendigen Erscheinung
vorzustellen; d. h. eine Betrachtung wäre hier nöthig über den
Vortrag der gebundenen Rede bei den verschiedenen Völkern;
über die Gegensätze von Gesang, Recitativ und Sprechen
nicht bloß, sondern über die mancherlei Nuancen, die dabei
möglich sind; über die angewandten und nicht angewandten
begleitenden Jnstrumente u. s. w. Ein reiches Material stellt
die Anthropologie und Geographie hier zur Verfügung, und
über weite Gebiete hin finden sich analoge Erscheinungen
zum Beweise der überall gleichen Natur des Menschen. Nach
einem allgemeinen Gesetze darf wohl vermuthet werden, daß
ein ursprünglich roher ungeordneter formloser an den natürlichen
Schrei anknüpfender Gesang durch eine sehr strenge
Form verdrängt wurde, eine strenge Form, die wie ein starres
Gesetz über dem Texte stand. Diese individualisirte sich aber
dann nach und nach; und so entsteht wieder eine größere
Freiheit. So im Vortrag recitativischer Art, oder ans Recitativische
streifend eintönige Melodien, die zur Charakteristik
wenig Raum bieten. Die stärkste individuelle Freiheit des
Vortragenden hat natürlich der Sprechvortrag. Noch hat er
einiges mit dem Gesang gemein: das Tempo, denn bestimmte
Gedichte verlangen je nach der Stimmung ein verschiedenes
Tempo; die Stärke (s. Arist. Rhet. III. 9 B); die Stimmlage, |#f0035 : 19|

die gewechselt wird, hoch bei freudigen, niedrig bei
düsteren Momenten. Auch die Accente, die durch den Wortsinn
verlangt werden, haben ihre Analogie in der Musik,
in die sie aber mehr aus der Rede, aus dem Sprechvortrag
herübergekommen sind. Dies wäre weiter auszuführen. ─
Eingehend handelt die Rhetorik der Griechen und Römer
vom Vortrag (und Gestus).


  So sind ja in der Declamation noch zahllose Stufen
möglich. Wir sind über die Declamation früherer Zeit sehr
wenig unterrichtet; doch ist auch hier Entwicklung von Gebundenheit
zu Freiheit historisch zu erschließen. Der ältere
Vortrag war vermuthlich sehr eintönig, „singend“ (d. h. ungefähr
wie wir uns ein singendes Sprechen denken): der
Rhythmus namentlich wird je weiter zurück, desto stärker
hervorgehoben sein. Später hat sich dann der Vortrag allmälig
immer mehr davon entfernt: immer mehr individuelle
Freiheit, immer mehr Versuch zu charakterisiren in genauem
Anschluß an den Wortton, immer stärker wird die Verführung
den Wortton zu vernachlässigen u. s. w. So läßt
sich eine höchste Stufe in der Freiheit denken, wobei die
Gesammtstimmung als herrschend deutlich zum Ausdruck kommt
und doch jedes Wort charakterisirt wird.


  Dies also ist die höchste Fähigkeit: die Eigenthümlichkeit
jedes Wortes zu wahren, ohne daß die Gesammtstimmung
leidet. Denn es tritt dabei die Gefahr ein des Zerzupfens,
Zerreißens, der Zerstörung der Einheit.


  Wir nach heutiger Geschmacksrichtung sind wohl einig
darin, den möglichsten Anschluß an die Rede des täglichen Lebens |#f0036 : 20|

für das Beste zu halten, wobei aber nur ein stärkeres und
feineres Herausarbeiten der Nuancen erfolgt. Wahrheit und
feine Charakteristik stehn uns heut am höchsten. Wie weit
ist denn nun dabei der Rhythmus noch hervorzuheben? Die
Neigung geht heute dahin, ihn um der natürlichen wahren
Charakteristik willen zu verwischen. Wir sind wieder zu der
naturalistischen Kunst der Ekhof und Schröder zurückgekehrt,
zu der Art jener Zeit, in welcher man die ungebundene
Rede für die Tragödie vorzog. So ist auch jetzt wieder der
Conflict mit dem Rhythmus modern: Schauspieler lassen sich
bei Jambenstücken ihre Rollen in Prosa ausschreiben.


  Zwischen jener Zeit Ekhofs und Schröders und der
Gegenwart liegt die Einführung des fünffüßigen Jambus,
die Zeit der weimarischen Bühne, wo auf strenge Hervorhebung
des Rhythmus geachtet wurde ─ wir wissen natürlich
nicht genau, in welchem Maß, wie weit im Gegensatz
zur Naturwahrheit. Und vor jener Zeit des Naturalismus,
der Natürlichkeit, in den Tagen Gottscheds herrschte vermuthlich
bei uns wieder die strengere Form, der französische Stil,
d. h. wahrscheinlich das tragische Tremolo, eine erstaunliche
Form unnatürlicher Rede, welche von vornherein pathetisch
die natürliche Gliederung der Declamation mit gleichmäßig
tragischen Falten bedeckt.


  Jch weiß nicht, wie es die heutige französische Bühne
hält. Jm Jahr 1875 fand ich sie im Schwanken: Sarah
Bernhardt sprach in der mittelalterlichen Tragödie (La fille
de Roland
) wie im modernen Drama; keine Rücksicht als
auf den Accent der Wahrheit, möglichste Anknüpfung an die |#f0037 : 21|

Wirklichkeit in der Sprache: Conversationston des täglichen
Lebens. Andere dagegen, Darsteller männlicher Rollen,
wandten die pathetisch tremolirende Stimme durch alle Theile
ihrer Rollen an. So hat wohl auch Talma gesprochen.


  Es war zum zweiten Mal, daß ich diese Art des Vortrags
hörte. Einmal hatte ich sie gehört, als ein holländischer
College mir einige Zeilen des Dichters Bilderdijk vorlas. Die
französische tragische Schule hat offenbar auf die Declamation
der Holländer so eingewirkt, daß selbst innerhalb des Vorlesens,
wo kunstmäßiges Vorlesen beabsichtigt wird, dieser
Ton Anwendung findet.


  Ja auch in Deutschland ist die charakterisirend sprechende
Art des Vortrags nicht die unbedingt herrschende. Jch sehe
von Damen ab, die durch Unfähigkeit in eintönig klappernden
Rhythmus fallen. Jch kenne hochgebildete Menschen, welche
Verse viel lieber halb scandirend und in gleichmäßigem
Tone selbst citiren und vorlesen hören, als mit dem Versuch
durchgebildeter Accentuation. Und höchst eigenthümlich war
die Art wie Emanuel Geibel las. Vom Standpunct des
charakteristischen Sprechens war man zuerst unangenehm
überrascht. Denn es war in seinem Vortrag etwas „Singendes“,
d. h. über die natürliche Rede sich Erhebendes, einer
Art Normal-Sprech-Melodie Zustrebendes. Bald aber empfand
man das nicht mehr als etwas Unnatürliches, sondern
als ein besonderes poetisches Element, eine Sprechweise für
sich, innerhalb deren doch eine strenge und getreue Charakteristik
möglich war, welche Geibel mit der größten Kunst |#f0038 : 22|

herausarbeitete. Jene allgemeine Sprechweise war gleichsam
bloß die Tonlage, das Jnstrument: man kam schon durch die
Verwunderung in eine ganz andere Regung. Hier also
war diese Art zu lesen berechtigt. Leider weiß ich nicht,
ob Geibel diese Vortragsart sich erfunden hat oder ob er
unter dem Einfluß einer Tradition stand.


  Kehren wir nun zu der Frage zurück, wie weit die ungebundene
Rede uns hier angeht.


  Überblicken wir wieder das historische Material.


  Das Märchen trat uns als uralte Gattung ungebundener
Poesie entgegen. Wir sahen, wie aus der kleinen Prosa=
Erzählung sich die gemischte Erzählung und endlich das
epische Lied entwickelt. Aber es ist hier wie auf dem Gebiete
der gebundenen Poesie: die ursprünglichen Gattungen hören
nicht auf, wenn sich neue daraus entwickelte Gattungen
geltend machen. Die Epoche des Epos bedeutet ein Übergewicht
gebundener Poesie über die ungebundene. Aber
wir dürfen vermuthen, daß die ungebundene immer fortbestand.
So dürfen wir aus allgemeinen Gründen überzeugt sein,
daß selbst in der Zeit, in welcher das germanische Epos
aufkam und die deutsche Poesie beherrschte, daß selbst in der
Zeit der Völkerwanderung das schlichte prosaische Märchen
doch immer noch vorhanden war. Ja es kommt bald die
Zeit, wo mit dem Gebrauch der Schrift ungebundene Rede
überhaupt sich innerhalb der Litteratur geltend macht, wo
eine prosaische Litteratur entsteht und eine wachsende Macht |#f0039 : 23|

bethätigt. Doch ist die Zeit, in welcher die Prosa-Erzählung
litterarisch wird, sonst erst eine verhältnißmäßig späte; die
deutschen Verhältnisse sind hier nicht maßgebend, weil die
Übertragung von Rom aus, die Übersetzungslitteratur eine
raschere Gestaltung der Novelle bewirkt.


  Wie zur Zeit des Epos die gebundene Poesie überwog,
so greift später die ungebundene Rede um sich. Die ungebundene
Rede ist nach und nach fast auf alle Gebiete
der gebundenen vorgedrungen. Der Moment, wo wir die
Prosa umfassender auftreten sehen, ist für Deutschland
das dreizehnte Jahrhundert, wenn wir eben von Übersetzungen
absehen. So lange muß das Märchen ohne Aufzeichnung
fortdauern. Aber noch im fünfzehnten, sechszehnten,
ja achtzehnten Jahrhundert finden neue Schritte in
dieser Richtung statt: Gattungen fallen der ungebundenen
Rede zu, die vorher nur als Poesie verfaßt wurden.


  Die ältesten griechischen Philosophen trugen ihre Lehre
in Versen vor. Das Lehrgedicht ist also älter als die wissenschaftliche
Prosa. Die Prosarede übernimmt die Aufgabe,
die Ansichten von der Welt und von Gott dem Volk zu
übermitteln.


  Ebenso ist es bei allen übrigen Völkern: die Gesetze
sind ursprünglich in Versen aufgeschrieben, dann werden sie
prosaisch. Von den Jnschriften sind vermuthlich die in poetischer
Form die älteren: daher die griechische Gattung des Epigramms.
Das Epos ward durch die Geschichtschreibung
abgelöst. Jn Deutschland gehen die Reimchroniken bis ins |#f0040 : 24|

16. Jahrhundert, aber seit dem 13. giebt es daneben eine
prosaische Geschichtschreibung in deutscher Sprache. Die
neuesten Nachrichten wurden im deutschen Mittelalter vielfach
durch Lieder der Spielleute verbreitet. Dieses politische Lied
geht bis ins 17. Jahrhundert; ja noch die politischen
Gedichte der Gegenwart sind Ausläufer dieser Lieder.
Dabei muß man aber nicht bloß an die patriotische Poesie
der Arndt, Körner bis zu den Dichtern des Jahres 1870
denken, sondern auch an die Zeitgedichte unserer Witzblätter,
z. B. des Kladderadatsch. Daneben haben schon mit dem
Beginn des 16. Jahrhunderts die prosaischen Zeitungen angefangen,
deren Voraussetzung die Buchdruckerkunst ist.


  Der gesammte Journalismus überhaupt, das Extrablatt,
die Flugschrift hat Functionen übernommen, welche früher
der Poesie oblagen.


  Auf verschiedenen Gebieten kann man, namentlich im
15. Jahrhundert, geradezu beobachten, wie die Prosa sich
an Stelle der Poesie setzt, die ungebundene Rede an die
Stelle der gebundenen: Prosa-Auflösung mittelhochdeutscher
Romane ─ oder vielmehr Entstehung des Romans, d. h. des
Prosaromans durch Auflösung höfischer Gedichte. Ebenso
bei Novellen; ebenso bei geschichtlichen Gedichten, wie der
Kaiserchronik. Die kleine Erzählung, Märchen, Novelle,
Anekdote wird endlich litterarisch (zum Theil durch Übersetzung,
sodaß wieder Culturübertragung vorliegt).


  Wenn im Mittelalter Freidank ein gereimtes Lehrgedicht
aus Sprichwörtern und Sentenzen zusammensetzte, so stellt
das 16. Jahrhundert die Sprichwörter als Sammlung |#f0041 : 25|

prosaisch und gelehrt neben einander. Und später reihten
sich die Sammlungen von Reflexionen, die Sentenzen, die
Maximen und Aphorismen, die „Fragmente“ an (Goethe,
Schlegel). Auch das ist eine Form der Prosa-Auflösung
des Lehrgedichts! Eine andere ist der Essay, woraus sich
das Feuilleton entwickelt, wenigstens gewisse Theile desselben
─ andere anderswoher, z. B. die Recension aus dem Spott=
und Lobgedicht ...


  Der Hauptersatz des Lehrgedichts aber ist die gesammte
wissenschaftliche Literatur.


  Die Reiselitteratur beginnt mit der Odyssee, wie man
wohl sagen kann. Jm 12. Jahrhundert giebt es viele deutsche
Odysseeartige Gedichte. Dann aber im 14. und 15. Jahrhundert
kommen die Reiseerzählungen in Prosa, zuerst romantisch
gehalten wie die Berichte der Palästinapilger, Mandeville
u. s. w., dann einfach berichtend bis auf Alexander
von Humboldt und seine Nachfolger.


  Der Brief ist eine poetische und prosaische Gattung.
Er zeigt die gleiche Entwicklung. Mischung von Prosa und
Vers ist in der Epistel des 18. Jahrhunderts (wie in der
Schäferei des 17. Jahrhunderts) sehr beliebt. Auch für den
Dialog gilt dasselbe.


  Überall ist dabei der Einfluß der Uebersetzerthätigkeit auf
Entstehung und Ausbildung der Prosa zu prüfen. Er beginnt
schon im 8. und 9. Jahrhundert (vgl. Anzeiger für deutsches
Alterthum 3, 202).


  Jm 17. und 18. Jahrhundert zeigt sich eine neue Jnvasion
der Prosa. Was hat noch im 16. Jahrhundert Hans Sachs |#f0042 : 26|

alles in Knittelversen abgehandelt: alle Fastnachtspiele, alle
Tragödien und eine Menge didaktischer Gattungen! Für das
Drama wurde schon am Schluß des 16. bez. im 17. Jahrhundert
die Prosa durch die englischen Komödianten eingeführt;
im 18. Jahrhundert tritt sie auch da ein, wo bis
dahin noch der Alexandriner geherrscht hatte: prosaische Tragödie.



  Ebenso auf andern Gebieten: gegenüber der gereimten
Fabel von Gellert u. A. erneuert Lessing die Prosafabel; er
hat auch sogenannte prosaische Oden verfaßt, eigentlich freilich
nur Gerippe von Oden. Bei Novalis finden wir prosaische
Hymnen, und diese sind trotz der prosaischen Form höchst
poetisch. Sehr merkwürdig ist die prosaische Auflösung der
komischen Epopöe in Thümmels „Wilhelmine“.


  Noch etwas anderes: die Psalmen wirken auf uns als
Prosa, und so waren sie schon im Mittelalter das gelesenste
Buch; und doch sind sie voll hoher schöner lyrischer Poesie.
Dies wäre denn also prosaische Lyrik. Und die Psalmen
werden nun auch componirt, vollständig oder einzelne Verse:
das ist also gesungene Prosa! Überhaupt wurden Bibelstellen
componirt, während die recitativische Prosa schon älter ist,
ja in der Kirche uralt als Psalmodie, gregorianischer Gesang.


  Dies sind einige von den historischen Beispielen. Man
könnte sich aber noch mancherlei Gattungen construiren,
mancherlei denken was in Wirklichkeit bis jetzt nicht eingetreten,
oder wovon ich wenigstens nicht weiß daß es eingetreten.
Aber dergleichen könnte sehr wohl noch eintreten.
Namentlich ist es denkbar, daß es eine vollständige Lyrik in |#f0043 : 27|

Prosa gäbe. Alle lyrischen Gattungen könnten auch in
Prosa versucht werden ohne den Zwang von Metrum und
Reim.


  Thümmels „Wilhelmine“ ist ein recht gutes Beispiel für
mancherlei ähnlich denkbares. Derselbe Stoff konnte als
Novelle behandelt werden, Thümmel hat ihn aber keineswegs
so behandelt: vielmehr sieht jeder gleich, daß es ein prosaisches
komisches Epos ist, d. h. in bestimmter Manier des Vortrags,
wobei die technischen Mittel der Epopöe alle, nur in ungebundener
Rede, auf kleinere Situationen angewandt werden.
Thümmel hat aber keine Nachfolger gefunden; so steht dies
Werk vereinzelt und zeigt wie viel ein Einzelner thun kann.


  So könnte man sich z. B. eine Geschichtschreibung
denken im Stil der Epopöe, mit den Darstellungsmitteln der
Epopöe, aber nicht in Versen. Wenn sich ein solches Werk
treu an die Überlieferung hielte, wäre es doch kein historischer
Roman.


  So gut man die dramatische, dialogische Form für geschichtliche
Darstellung benutzt hat, also Lesedramen mit
historiographischer Absicht, so gut sind auch hier und anderwärts
noch manche Mischformen denkbar. So könnte z. B.
auch das Lehrgedicht prosaisch behandelt werden und doch so,
daß gar keiner in Versuchung käme es als wissenschaftliche
Untersuchung zu denken; freilich der Ton der Untersuchung
müßte bleiben und alle Resultate gegeben werden. So etwa die
Geschichte der Entstehung der Welt nach Laplace und Kant,
der Entstehung der Wesen nach Darwin. Wir können deswegen
auch nicht behaupten, daß für irgend eine Gattung |#f0044 : 28|

die Prosa niemals vordem angewandt worden sei; obschon
wir andererseits auch nicht behaupten dürfen, daß die Kunst
der Rede alle in ihr überhaupt möglichen Formen durchlaufen
werde. ─


  Wir waren in dieser Betrachtung von dem Märchen
ausgegangen als einem selbständigen Keim kunstmäßiger,
poetischer, aber ungebundener Rede.


  Wir haben in großer Masse sonstige ungebundene Rede
aus der gebundenen hervorgehn sehen. So war Ablösung
von Tanz und Ablösung von Musik uns als Entwicklungsact
der gebundenen Rede erschienen, so muß als weitere Entwicklungsphase
constatirt werden: der Übergang der gebundenen
in ungebundene Redeform für eine Reihe von
Gattungen der kunstmäßigen Rede.


  Wir haben hingewiesen auf Prosa, welche auf Übersetzung
beruht. Diese tritt nur ein bei Culturübertragung.


  Aber abgesehen davon, sind noch viele sonstige Keime
kunstmäßiger aber ungebundener Rede vorhanden.
Manches bleibt darin ungewiß. Z. B. ob nicht die mimische
Darstellung zur Unterhaltung, komische Scenen u. dgl. von
vornherein in ungebundener Rede waren, weil nur Nachahmung
des Lebens.


  Vor allem aber: wie ist es mit der Rede? mit der
Rede im engern Sinn? Diese wird sich auch in Urzeiten eingestellt
haben in der ältesten Form: als Rede an eine Volksversammlung,
welche überzeugt und zu Thaten hingerissen
werden soll. Jeder, der ein Volk führen will ohne in dem
Verhältniß des Despoten zu stehn, bedarf der Redegewalt. |#f0045 : 29|

So finden wir die Rede z. B. bei den nordamerikanischen
Jndianern ausgebildet. Die Parlamentsrede der Gegenwart
ist eine Entwicklung dieser Volksreden der Urzeit. Wie nun
diese Rede beschaffen war, läßt sich schon hieraus vermuthen.
Die poetische Form ist freilich denkbar; so mochte, wie der
Gesetzvortrag des Priesters vielleicht gebunden war, auch der
Keim der Predigt, der priesterlichen Ansprache an die Volksversammlung,
gebunden sein. Und so möglicherweise auch
jene Rede zur Volksversammlung in derselben Weise, wie
Verhandlungsformeln, Anklage, Schwüre, Verurtheilungsformeln
gebunden waren. Aber diese wurden doch gewiß
früh losgebunden, besonders wo das Leben selbst eine unmittelbare
Anwendung verlangte, mitten in der That. Und
es sind doch wohl überhaupt zu viele Fälle denkbar, wo eine
Rede eingreifen kann, wo sie improvisirt wird, als daß man
nicht schon aus der Natur der Sache schließen müßte, daß sie
häufig eine rein prosaische, selbst jeden poetischen Anklangs
entbehrende war. Jedenfalls kennen wir die Rede in entwickelten
Litteraturen nur als solche ungebundene Rede, und
müssen sie daher als eine alte Gattung ungebundener Rede,
die nicht poetisch ist, anerkennen.


  Wie dem nun auch sei, auf allen diesen Gebieten der
ungebundenen Sprache ist eine kunstmäßige Anwendung der
Sprache möglich. Ja auf allen diesen Gebieten kann lauter
Vortrag stattfinden, bei welchem die Behandlung der Stimme
und die Gebärde hinzutritt, um ein Kunstwerk lebendiger
Rede zu Stande zu bringen.

|#f0046 : 30|

  Es ergiebt sich nun aus allen diesen Betrachtungen sofort,
daß eine umfassende und rein abzugrenzende Wissenschaft
möglich ist, welche die Kunst der Rede systematisch behandelt.
Diese gesammte Kunst der Rede ist in dem traditionellen
Titel „Rhetorik Poetik Stilistik“ enthalten. Aber
dieser deutet hin auf ein Fachwerk, welches auf Vereinzelung
der Disciplinen beruht. Wir constatirten dagegen, daß sich
die Forderung gerade nach einer umfassenden Betrachtung der
Kunst der Rede ergiebt. Und dieser gegenüber ist die Poetik
willkürlich ausgewählt, und ihre Grenzen nach der Seite der
Prosa verfließen, wenn man sich nicht auf die gebundene
Rede beschränken will.


  Strenge Systematik würde innerhalb der Kunst der Rede
unterscheiden: erstens die gebundene mit ihren Gattungen,
zweitens die ungebundene mit ihren Gattungen. Man müßte
ferner untersuchen was beiden gemeinsam ist und was jede
für sich besitzt.


  Jnsofern die Poetik für sich behandelt und nicht auf
gebundene Rede beschränkt wird, ist die Hereinziehung von
Stoff der ungebundenen Rede mehr oder weniger willkürlich.
Aber zum Theil ist die Abgrenzung doch sehr entschieden in
der Sache begründet, z. B. Epopöe und Prosaroman bieten
sehr weitgehende analoge Erscheinungen. Der historische Roman
nun leitet weiter zur Geschichtschreibung hinüber; da
muß man aber Halt machen. Die Wissenschaft in ungebundener
Rede ist ausgeschlossen. Jnnerhalb der Wissenschaft
kommt freilich die Scala der Darstellung zur Untersuchung.
Denn die Darstellung der Untersuchung ist eine Kunstform |#f0047 : 31|

für sich. Es war wohl niemand so voller Poesie wie
Jacob Grimm; und dennoch wird niemand von seinen
grundlegenden Werken behaupten, daß sie poetische Werke
seien ─ bei aller Kunst der Darstellung. So ist auch die
philologische Anmerkung wieder eine Kunstform für sich,
deren äußerste Präcision und Knappheit Karl Lachmann erreicht
hat. Untersuchungen wie die Lessings haben eine bestimmte
Kunstform und sind dennoch keine Poesie.


  Jn der Geschichtschreibung finden sich epische Elemente, in
der Naturwissenschaft Naturschilderungen u. s. w.; das Extrem
aber ist von der Poesie weit entfernt: Mathematik. Ganz
ebenso nähern sich z. B. griechische Predigten aus dem vierten
Jahrhundert durch ihre Naturkraft der Poesie. Und die
Poetik muß sie dennoch ausschließen. Aber eine umfassende
Redekunst müßte das alles berücksichtigen.


  Die schwierigste Frage bleibt also allemal, was von der
ungebundenen Rede hineinzuziehen ist.


  Dieselben Schwierigkeiten der Abgrenzung sind immer
bei der Litteraturgeschichte vorhanden, welche in Wahrheit
sehr selten die ganze Litteratur oder auch nur die Producte
der Nation auf dem Gebiete der Kunst der Rede umfaßt.
Vielmehr verläuft sie sich auf dem Gebiete der ungebundenen
Rede gegen die Wissenschaft hin.


  Die Wissenschaft und was uns mehr praktisches Bedürfniß
scheint ohne Anspruch auf künstlerische Wirkung, auf
Anregung der Phantasie ─ das ist ausgeschlossen.


  Während für Lyrik, Epik, Dramatik die gebundene und
ungebundene Form keinen Unterschied macht, gehört das |#f0048 : 32|

Lehrgedicht ─ gegen Aristoteles ─ wohl in die Poetik, aber
nicht die Lehre in ungebundener Rede, nicht der Vortrag
der Wissenschaft; nicht die Parlaments- oder Gerichtsrede;
nicht die Predigt.


  Aber immer muß man das gesammte Gebiet der Rede
im Auge haben, um der Poetik ihre rechte Stellung zu
wahren und nie vergessen zu lassen, daß sie ein verhältnißmäßig
willkürlich ausgewähltes Fragment aus dem Gesammtgebiet
der kunstmäßigen Rede ist ─ wie auch andererseits
die kunstmäßige Rede überall an die nicht kunstmäßige anknüpft
und auch diese Anknüpfung und die allmäligen Übergänge
nicht außer Acht gelassen werden dürfen.


  Macht doch das Drama z. B. von aller Art der Rede,
auch von der gar nicht kunstmäßigen, ja von dem unarticulirten
Schrei ─ kunstmäßigen, künstlerischen Gebrauch. ─


  Hiermit wäre denn die erste Frage, die nach der Begrenzung
unseres Stoffs, der Abschnitt von gebundener und
ungebundener Rede erschöpft. Der Begriff der Poetik ist
also schließlich ungefähr so auszudrücken:


  Die Poetik ist vorzugsweise die Lehre von der
gebundenen Rede; außerdem aber von einigen Anwendungen
der ungebundenen, welche mit den Anwendungen
der gebundenen in naher Verwandtschaft
stehen.


  So ungefähr läßt sich das Resultat unserer Erörterungen
zusammenfassen. Wenn uns die Wissenschaft und ihr Vortrag
nicht beschäftigt, so würde uns ein prosaisches Lehrgedicht,
wie ich es vorhin skizzirte, allerdings beschäftigen ─ |#f0049 : 33|

ein Lehrgedicht das selbstverständlich nicht Untersuchung enthielte,
sondern Darstellung des Gefundenen, alles vorgetragen
im Stil der Epopöe, dann gleichviel ob in gebundener oder
ungebundener Rede.


  Und ebenso ists ja mit dem Drama. Wie wenig trägt
da der Unterschied zwischen gebundener und ungebundener
Rede aus! Wie vieles hat die Technologie des Dramas zu
erzählen, ehe sie an die letzten sprachlichen Ausdrucksmittel
kommt! Ebenso ists mit dem Romane wegen seiner nahen
Verwandtschaft zur Epopöe; Novelle und Märchen gehören
zur ältesten Gattung der Poesie, und auch diese gehören hier
hinein.


  Wenn ich vorausgreifen wollte, so könnte ich zu einer
viel schärferen Grenzbestimmung gelangen. Wir werden
später eine äußere und innere poetische Form kennen lernen.
Wo nun die metrische Form fehlt, kann doch die sprachliche
Form, der Ausdruck poetisch sein; wo also die äußere poetische
Form fehlt, kann die innere Form Annäherung an die Poesie
bewirken. Daß die Grenzen verfließen, beruht eben auf der
Verwandtschaft zwischen gewissen Gattungen gebundener und
ungebundener Rede.


II. Die Aufgaben und Methoden der Forschung.

  Wir wissen jetzt, mit welchem Gegenstand wir uns beschäftigen.
Es handelt sich nun weiter darum, was und wie
von diesem Gegenstand zu lehren sein wird, resp. auf welche
Puncte die Wissenschaft, die Forschung ihr Augenmerk richten |#f0050 : 34|

muß, und durch welche Mittel sie auf diesem Gebiete zu gemeingiltigen
Erkenntnissen gelangt.


  Wie wir uns im ersten Abschnitt im gröbsten Umriß
auf dem ganzen Gebiete der Entwicklung der Kunst der Rede
orientirten, so wollen wir uns hier ebenso über die Lehre
von der Poesie geschichtlich orientiren.


  Das kann aber auch hier nur eine flüchtige Übersicht
sein. Eine Geschichte der Poetik, ein Hilfsmittel zur Orientirung
kenne ich nicht. Das Gebiet der Poetik ist eingeschlossen
oder sollte wenigstens eingeschlossen sein in den
Geschichten der Aesthetik, die es allerdings giebt, obgleich den
höchsten Anforderungen wohl kaum entsprechend.


  Robert Zimmermanns Aesthetik Bd. 1. (Wien 1858)
enthält die Geschichte der Aesthetik, aber leider nur eine Geschichte
der Aesthetik „als philosophischer Wissenschaft“, wobei
denn von vornherein die allgemeinen Lehren vom Schönen,
die Erörterungen über das Schöne und Erhabene u. s. w. zur
Hauptsache werden. Hübsch ist die Uebersicht von A. W. Schlegel,
Vorlesungen über schöne Litteratur und Kunst (Heilbronn 1884)
3 Bde.: 1, 36─89 eine Geschichte der Aesthetik von Plato bis
Kant. Max Schaslers Geschichte der Aesthetik kenne ich nicht.


  Wir besitzen eine Geschichte der Theorie der Kunst bei
den Alten von Eduard Müller (Breslau 1834─37) 2 Bde.,
woraus immerhin einiges zu gewinnen; und specieller die
Lehren der Alten über die Dichtkunst von J. A. Hartung
(Hamburg 1845).


  Ferner eine Geschichte der Aesthetik in Deutschland von
Hermann Lotze (München 1868). Aber dies Buch ist nicht |#f0051 : 35|

sehr historisch und nicht sehr eingehend; namentlich der Abschnitt
über Theorie der Dichtkunst S. 619─672 ist sehr
flüchtig und berührt nur eben die Spitzen.


  Reich an Nachweisungen über hierher gehörige Litteratur
und insofern eine vielfältige bibliographische Ergänzung zu
den vorgenannten historischen Werken sind Blankenburgs
Litterarische Zusätze zu Sulzers Theorie der schönen Künste,
3 Bde. (Leipzig 1796─98); in Folge der alphabetischen Anordnung
sind hieraus die Titel der bis dahin erschienenen
Bücher bequem zu lernen. Hauptsächlich sind zu beachten
die Artikel „Aesthetik“ (1, 27) und „Dichtkunst, Poetik“ (1, 381).


  Mit Recht beginnt Eduard Müller seine Geschichte mit
Erörterung der Stellen, in denen bei Homer Ansichten über
das Wesen der Dichtkunst hervortreten. Man sieht aber die Größe
der Aufgabe, wenn sie universal genommen wird. Alle Ansichten
über das Wesen der Dichtkunst ─ oft schon im Namen ausgedrückt
─ wie sie bei allen Völkern in Mythen und einzelnen zerstreuten
Aussprüchen hervortreten, wären zu sammeln und zu erörtern,
wenn man eine vollständige Theorie aufstellen wollte (vgl.
Wackernagel, Poetik S. 37 ff.).


  Unter den Griechen scheint Sophokles der erste gewesen
zu sein, welcher seine Kunst mit theoretischem Bewußtsein
übte. Wenigstens werden von ihm die ersten eigentlichen
Kunsturtheile überliefert.


  Dann hat namentlich Plato viele Beiträge zur Theorie
besonders der Poesie und der Poesie im Verhältniß zur
Musik gegeben. Aber wir dürfen nur das Wichtigste aus
der Theorie der Alten herausgreifen, und wir halten uns an |#f0052 : 36|

die Werke des größten Ruhms und der größten Nachwirkung,
die schon zugleich durch ihre geläufigsten Titel sich als
Lehren der Dichtkunst ankündigen: Aristoteles de arte
poetica
und Horatius de arte poetica.


  Beide sind zugleich Typen für die Behandlung des
Gegenstandes:


in wissenschaftlicher Prosa durch den Philosophen,


im Lehrgedicht durch den Dichter.


  Dabei tritt Aristoteles ganz entschieden in den Vordergrund.
Er ist nicht der Einzige, der ein eigenes Werk über
Dichtkunst geschrieben; z. B. Philodemos, der Epikureer,
den wir aus den herculanensischen Rollen fragmentarisch
kennen, schrieb περὶ ποιημάτων, ein Werk, worin er u. a.
die Theorie vorbrachte, die im Gegensatz zu den Stoikern
und Krates von Pergamon stand, daß die Poesie nicht nach
Nutzen zu streben habe und daß ihre Nützlichkeit kein Maßstab
für die Beurtheilung der Dichtung sei (s. Gomperz,
Zeitschrift für österreichische Gymnasien 1865 S. 725).


  Proclus über die Dichtkunst ed. Fr. Morell (Paris 1615)
s. Blankenburg 1, 384.


  Aber Aristoteles' Poetik ist ein Werk von weit
reichendem Ruhm und weit reichender Macht. Sie erfuhr
das gewöhnliche Schicksal der Aristotelischen Schriften: sie
wurde ins Syrische und Arabische übersetzt, und daraus zunächst
ins Lateinische; in dieser Form wurde sie bei uns
zuerst bekannt. Jn einem solchen Auszug aus dem Lateinischen
wurde sie zuerst gedruckt Venedig 1481; dann vollständig
übersetzt von Lorenzo Valla 1498; endlich 1508 erschien |#f0053 : 37|

wieder in Venedig der Originaltext (Aldus Manutius).
Seitdem zahlreiche Ausgaben (s. Susemihl Ausgabe und
Übersetzung Leipzig 1874, in der Vorrede); Übersetzungen
in alle europäischen Sprachen (s. Blankenburg 1, 381─384);
zahlreiche Erläuterungsschriften.


  Großen Einfluß gewann Aristoteles besonders auch auf
die französische Tragödie. Von da stammt die Lehre von
den drei Einheiten. Doch eben dadurch daß er hier, mißverstanden,
beschränkend wirkte, erweckte er Opposition; aber
man darf sagen: Lessing hat ihn gerettet. Den schwierigen
Erörterungen des Corneille gegenüber, welcher seine Abweichungen
von Aristoteles zu rechtfertigen suchte, appellirt
Lessing vom Buchstaben an den Geist und er hat einen
Grad von Verehrung, ja fast einen Glauben an die Unfehlbarkeit
des Aristoteles geäußert, die ich nicht umhin kann,
übertrieben zu finden.


  Von allen Ausgaben nenne ich nur eine: Ἀριστοτέλους
περὶ ποιητικῆς ed. Vahlen (Leipzig 1885), gestützt auf die
einzige alte Handschrift, die Grundlage der ganzen Überlieferung,
den Parisinus 1741 aus dem 11. Jahrhundert. Vgl. dazu
Vahlen, Beiträge zu Aristoteles Poetik I.─IV. (Wien 1865
bis 1867); ferner Zur Kritik aristotelischer Schriften (Poetik
und Rhetorik) Sitzungs-Berichte der Wiener Akademie Bd. 38;
Der Rhetor Alkidamas (zur Rhetorik) ebd. 43; Aristoteles und
Goethe ebd. 75; Wo stand die verlorene Abhandlung des Aristoteles
über die Wirkung der Tragödie? ebd. 77. Vahlens Commentar
ist eine eingehende Auseinandersetzung über das, was
Aristoteles gesagt und geglaubt hat, ohne Rücksicht darauf, |#f0054 : 38|

ob er recht hat. Außerdem namentlich Jacob Bernays, Zwei
Abhandlungen über die Aristotelische Theorie des Dramas
(Berlin 1880). Weitere Litteratur bei Döring, Die Kunstlehre
des Aristoteles (Jena 1876).


  Die Poetik des Aristoteles, etwa um 330 verfaßt, ist
bekanntlich unvollständig auf uns gekommen. Aristoteles
handelt in den erhaltenen Partien über die Poesie im allgemeinen
und über Tragödie und Epos insbesondere. Was
er über Komödie und über andere Dichtungsarten vorgetragen,
ist verloren, obgleich nicht gänzlich. Auch ist das
Erhaltene in sich nicht lückenlos.


  Der Gesichtskreis des Aristoteles ist auf die griechische
Poesie beschränkt; aber eine Kenntniß des reichsten Materials
liegt seiner Schrift zu Grunde. Er grenzt sich das Gebiet
ab: den didaktischen Dichter will er nicht Dichter nennen.
Dagegen die sicilischen Mimen (dialogische Sittenbilder in
Prosa) und die sokratischen Dialoge sind ihm Poesie. Das
Object der poetischen Darstellung sind handelnde Personen;
und eben daher sei der Lehrdichter kein Dichter. Jch zeigte
schon, daß dies nicht richtig ist: das Gedicht braucht nur
als Monolog des Dichters gefaßt zu werden, so schildert es
den Charakter des Autors und Aristoteles ist widerlegt.
Oder man denke sich ein Lehrgedicht über Epik mit Aufstellung
von Typen. ─ Aristoteles will auch lehren, wie
man behufs einer schönen Dichtung die Fabel gestalten muß,
d. h. er will jedenfalls auch eine Anweisung zur Dichtung
geben, zeigen wie man es machen muß, damit sie gelinge.


  Er spricht von den Gegenständen ─ „Kunststil“ modernisirt |#f0055 : 39|

Vahlen ─: hohe würdige für die Tragödie, niedrige
für die Komödie; von den Mitteln, der Darstellungsweise
der Poesie und unterscheidet danach die Arten.


  Er redet vom Ursprung der Poesie aus zwei in der
Menschennatur liegenden Gründen: 1. dem Nachahmungstrieb;
2. dem angebornen Sinn für Rhythmus und Harmonie.
Die Arten der Dichtung sondern sich nach den den Dichtern
eigenen Charakteren: einerseits Richtung auf nachahmende Darstellung
des Hohen und Edlen: Dichter von Lob- und Preisliedern,
Epen, Tragödien ─ auf dem Dithyrambus beruhend;
andererseits Richtung auf das Niedrige, τὸ φαῦλον: Dichter
von Tadelgedichten (ψόγος), Jamben, Komödien ─ auf den
phallischen Liedern beruhend. Diese Unterscheidung der beiden
Richtungen einerseits auf das Hohe und Edle, andererseits
auf das Gewöhnliche geht bei Aristoteles durch und ist zugleich
Unterscheidung der Kunststile, insofern die Auswahl
des Gegenstandes auf diesem moralischen Unterschied beruht.


  Er verfolgt die Entwicklung der Tragödie und Komödie
etwas näher und wendet sich dann der speciellen Erörterung
der einzelnen Dichtungsarten zu, wovon aber nur die Lehre
von der Tragödie und vom Epos erhalten ist, und zwar
so daß die Tragödie für sich sehr ausführlich behandelt
wird und dann eine Anwendung aufs Epos geschieht, sofern
die dort gefundenen Kunstgesetze auch hier passen.


  Zuletzt wird behauptet, daß die Tragödie vor dem Epos
den Vorzug verdiene.


  Die Verwandtschaft überhaupt zwischen Tragödie und
Epos beruht, wie erinnerlich, darauf, daß beide das Hohe |#f0056 : 40|

und Edle darstellen. Freilich müßte sich, um diesen Grund
zu erschöpfen, mindestens Hymnus und Enkomion anschließen,
oder wenigstens doch der Dithyrambus.


  Eine weitere Abhandlung hätte die Komödie und die
Scheltlieder, Satiren, Jamben abzuhandeln gehabt. Aus
diesem Abschnitt sind uns Excerpte insbesondere über die
komischen Charaktere und über die Arten des Lächerlichen
erhalten (Vahlen S. 77), welche Bernays musterhaft erläuterte
(a. a. O. 133).


  Auf den ersten Blick fällt eine gewisse Dürftigkeit des
allgemeinen Theiles auf, wenn man ihn mit dem Abschnitt
über die Tragödie vergleicht. Aber jene Dürftigkeit wird
hier eben ergänzt. Die Tragödie ist dem Aristoteles die vornehmste
Dichtungsart und sie ist ihm daher vielfach das
Paradigma für die Dichtung überhaupt. Die ganze Analyse
des poetischen Processes ist hier genauer. Deshalb ist
hier wohl keine Lückenhaftigkeit der Überlieferung anzunehmen,
sondern Aristoteles ging nicht recht systematisch vor.


  Man merkt, daß Aristoteles wohl unterschieden hat zwischen
dem rohen Stoff und dem Durchgang, den derselbe durch den
Geist des Dichters nimmt in die Gestalt, in die er dabei
gebracht wird; obgleich μῦθος in Doppelbedeutung so viel wie
Sujet und so viel wie σύνθεσις τῶν πραγμάτων, Composition
bedeutet (s. Vahlen, Beitr. 1, 31 ff.). Er macht sich
klar, daß weiterhin ein besonderes Feld dichterischer Thätigkeit,
die Ausbildung des Gedankens, in Betracht kommt (διάνοια),
wofür er auf die Rhetorik verweist ─ ein Hinweis, der für
uns nicht verloren sein soll. Ja weiterhin faßt er den sprachlichen |#f0057 : 41|

Ausdruck ins Auge, sowie selbstverständlich die metrische
Form, indem er zwar auf Grammatik und Metrik verweist,
aber doch einiges speciell der Poetik zugehörige erörtert, z. B.
die Eigenthümlichkeiten der poetischen Sprache, ihren Unterschied
von der Prosarede.


  Durchaus scheint ihm die Erfindung des μῦθος als
Hauptsache und die Fabel, das Sujet, „die Handlung“, wie
Lessing wohl sagen würde, wichtiger als die Charaktere. Bei
der Poesie im allgemeinen behandelt er den dichterischen Proceß
nur obenhin und nur bei der Tragödie legt er ihn näher
dar. Aber alle diese Dinge, obgleich an der Tragödie entwickelt,
wären einer Verallgemeinerung für Poesie überhaupt
fähig. Bezeichnend genug leider für die Art, wie diese Dinge
getrieben worden sind, ist es, daß trotz der Jahrhunderte lang
unantastbaren Autorität des Aristoteles niemand darauf ausgegangen
ist, seine Poetik in seinem eigenen Sinne zu ergänzen,
auszubauen. Lessing würde es vielleicht gethan haben,
wenn er zum Abschluß seiner ästhetischen Untersuchungen gelangt
wäre, denn seine Betrachtungsweise im Ganzen vergleicht
sich mit der des Aristoteles. Sein „Laokoon“ in drei
Bänden hätte mit dem Beweise schließen sollen, daß die Tragödie
höher stehe als das Epos ─ mit demselben Gedanken
also, mit dem für uns Aristoteles schließt; dies ist recht bezeichnend
für sein Verhältniß zu Aristoteles. Er würde aber
diesen Vorrang der Tragödie vor allen andern Dichtarten
viel strenger als Aristoteles (für uns!) motivirt haben und
zwar mittelst Ausbildung des aristotelischen Gedankens, daß
alle Poesie μίμησις, „nachahmende Darstellung“ sei; denn |#f0058 : 42|

dieser Grundsatz sei in der Tragödie am vollständigsten ausgedrückt.



  Während nun Aristoteles die Entstehung des poetischen
Kunstwerks so eingehend analysirt, wirft er nur bei der Tragödie
die Frage nach der Wirkung auf; hier hat er dieselbe
sogar gleich in die Definition aufgenommen. Er hat diese
Frage auch in der ursprünglichen Gestalt der Poetik beantwortet:
es ist das die berühmte Katharsislehre, worüber ebenfalls
Bernays neues Licht verbreitet hat.


  Wiederum ergiebt sich für eine empirische Poetik daraus
die Forderung einer allgemeinen Erörterung: Erörterung der
poetischen Wirkung, resp. Erörterung der Wirkung in verschiedenen
Dichtarten und bei verschiedenen Stoffen.


  Außerdem hat Aristoteles einen Abschnitt, der einen
naiven Eindruck macht, worin er die Anschuldigungen zusammenstellt,
die gegen Dichtungen gerichtet werden, fünf an
der Zahl; und die Gesichtspuncte für die Rechtfertigung:
zwölf: Er hat dabei die Kritik seiner Zeit in ein System
gebracht und stellt dadurch für die Poetik den Gesichtspunct
auf: Verhältniß des Publicums zum Dichter.


  So ungefähr ist die Poetik des Aristoteles beschaffen ─
ein außerordentliches Werk, zum Theil von ewigem Gehalt.
Wodurch? Trotz der Beschränkung auf Griechisches scheint es
doch nicht daran gebunden, sondern so sehr auf die Wahrheit
und das Wesen der Dinge zu dringen, daß vieles unumstößlich
sicher beobachtet oder doch wenigstens als nützlicher
Fortschritt in der Beobachtung dieser Dinge anzusehn ist.
Deshalb eben konnte ein so selbständiger Geist wie Lessing |#f0059 : 43|

die Poetik für unfehlbar halten. A. W. Schlegel (Vorlesungen
1, 43), wirft dem Aristoteles vor, er zergliedere und classificire
das Vorhandene wie jedes andere Naturproduct ohne
Rücksicht auf Schönheit. Er hat noch sonst allerlei zu bemerken
über den Mangel an ästhetischem Kunstsinn bei Aristoteles.
Jch sehe umgekehrt grade hierin einen großen Vorzug
des Aristoteles. Er schöpft nicht alles aus; aber innerhalb
der Beschränkung, die ihm auferlegt ist oder die er sich selbst
auferlegt, kommt er zu dauernden Beobachtungen, weil er so
treu beobachtet und classificirt. Ja, Aristoteles ist mir ─
abgesehen von der Erweiterung des Gesichtskreises, die uns
von selbst reicher macht, als er war ─ nicht Naturforscher
genug. Er behandelt mir nicht hinlänglich die vorhandene
Dichtung mit der kühlen Beobachtung, Analyse und Classification
des Naturforschers. Er ist mir zu sehr Gesetzgeber.
Er sucht die wahre Tragödie und das wahre Epos; er
macht Werthunterschiede, die sich entschieden bestreiten lassen;
er ist nicht unparteiisch gegenüber den Erscheinungen, die er
findet, und er verwirft vorschnell, wie sich noch nachweisen
läßt, vielbehandelte Gattungen; z. B. die Erzählung, in die
der Erzähler seine Persönlichkeit einmischt. Wir brauchen
ja nur den Homer anzusehn: jedes Epitheton, das er seinen
Helden beilegt, ist doch ein Urteil, das der Dichter abgiebt. ─
Aristoteles hat einseitige Jdeale; so auf dem Gebiete des
Dramas: namentlich ist er dem Aristophanes abgeneigt und
begünstigt die mittlere attische Komödie, wie denn die neuere
attische Komödie unter seinem Einfluß zu stehen scheint
(Bernays, S. 152 und sonst). Also er ist zu sehr Gesetzgeber; |#f0060 : 44|

aber ich gebe zu: er ist ein maßvoller Gesetzgeber (Bernays S. 184)
und darauf beruht nicht zum geringsten Theile seine Größe...


  Aristoteles selbst giebt sein Werk als Fragment; er verweist,
wie gesagt, für die Gedankenbildung auf seine Rhetorik.
Hiermit ist ein Gebiet bezeichnet, welches schon bei ihm selbst
und namentlich unter der Hand seiner Nachfolger auch für
die Lehre vom dichterischen Ausdruck sehr wichtig wurde. ─


  Antike Rhetorik: Versuch einer historischen
Übersicht.
Vgl. Manso, Über die Bildung der Rhetorik unter
den Griechen (in: Vermischte Abhandlungen, Berlin 1821);
Leonhard Spengel, Συναγωγὴ τεχνῶν s. artium scriptores
ab initiis usque ad editos Aristotelis de rhetorica
libros
(Stuttgart 1828), über die voraristotelischen Rhetoren;
Spengel, Über das Studium der Rhetorik bei den Alten
(Minden 1842); Ernesti, Lexicon technologiae Graecorum
rhetoricae
(Leipzig 1795); Volkmann, Die Rhetorik der
Griechen und Römer in systematischer Uebersicht (2. Auflage
Leipzig 1874). ─ Sammlung der Quellenschriften von
Walz, Rhetores graeci (Stuttgart 1832─36, 9 Bde.);
Spengel, Rhetores graeci (Leipzig 1853─56, 3 Bde.).


  Die Resultate der classischen Entwicklung sind wohlbekannt,
insbesondere bei Volkmann correct dargelegt. Aber die historische
Entwicklung dieser Lehren, ihre allmälige Ausbildung, die
Reconstruction des Verlorenen ist lang nicht genügend ins
Reine gebracht. Wir machen einen leisen Versuch; einige
Winke von Prof. Emil Hübner sind benutzt.


  Die Rhetorik geht mit der praktischen Redekunst in
ihrer Entwicklung Hand in Hand, wie die Poetik mit der |#f0061 : 45|

Poesie, und die sich ändernden Geschmacksrichtungen spiegeln
sich in der Theorie, und werden zum Theil durch die Theorie
bestimmt oder befördert.


  Quintilian giebt im dritten Buch einen Abriß der Rhetorik
bis auf seine Zeit, nur eine Art Leitfaden. Blaß, Die griechische
Beredsamkeit von Alexander bis auf Augustus (Berlin 1865).


  Die kunstmäßige Theorie der Rhetorik begann in Sicilien.
An die Spitze stellt Quintilian den Empedokles (460).
Die ältesten Verfasser von artes (τέχναι) waren Horaz und
Tisias; auf sie folgte Gorgias, der Schüler des Empedokles,
der die Lehre der Beredsamkeit nach Athen übertrug und
damit einen großartigen Erfolg erzielte. Seine Reden scheinen
stark poetisch gefärbt gewesen zu sein, und so gehört die Rhetorik
in die Poetik, weil sie für die Lehre vom Ausdruck wichtig
ist. Der berühmteste von den Zuhörern des Gorgias war
Jsokrates (doch ist es unsicher, ob jener wirklich sein Lehrer
war). Gegen Jsokrates polemisirt Aristoteles vielfach.


  Die voraristotelische Rhetorik und der Jnhalt so vieler
verloren gegangener Artes ist hauptsächlich aus Anaximenes
von Lampsacus zu entnehmen: Anaximenis ars rhetorica
quae vulgo fertur Aristotelis ad Alexandrum rec. Leonh.
Spengel
(Zürich 1844) vgl. auch Aristotelis ars rhetorica
cum adnotatione Leonh. Spengelii. Accedit vetusta
translatio latina
(2 Bde. Leipzig 1867) und Spengel, Über
die Rhetorik des Aristoteles (Abhandlungen der Münchener
Akademie, Erste Classe Bd. 6 Abth. 2. S. 457 ff.). Neben der
aristotelischen Rhetorik ist für uns diese anaximenische die
Grundlage der Erkenntniß.

|#f0062 : 46|

  Für die Zeit nach Alexander d. Gr. haben wir nur
wenige Fragmente. Es entstand die sogenannte asiatische
Beredsamkeit, mit welchem Ausdruck Griechen und Römer
den Gipfel des Ungeschmacks zu bezeichnen suchten: einerseits
schwülstiger Wortschwall mit Häufung von Tropen und
Figuren, andererseits affectirte Kürze; dort pomphafte Redensarten,
hier kleine Sätzchen, die auffallen sollen, sententiös,
pikant, gesucht. Diese Art war noch beim Beginn von
Ciceros Laufbahn so mächtig, daß sein älterer Zeitgenosse
Hortensius sie nach Rom bringen konnte. Die Vertreter
dieser asiatischen Beredtsamkeit schrieben, wie es scheint, keine
Theorien. Die Philosophen, sagt Quintilian, waren darin
eifriger als die Redner, besonders die Häupter der stoischen
und peripatetischen Schule.


  Der erste, der wieder theoretisch eingriff und sich seinen
eigenen Weg bahnte, war (nach Quintilian) Hermagoras, vielleicht
der Stoiker aus Amphipolis im 2. Jahrhundert v. Chr.
Er scheint auf die älteren Lehrbücher zurückgegriffen zu haben
und bildete sie scholastisch aus; besonders der Theorie der
inventio widmete er selbständige Studien. Jnsofern er die
Tradition wieder aufnahm, mit der classischen attischen
Beredsamkeit die Verbindung wiederherstellte, war er ein
Reformer. Er wirkt auf den römischen Rhetor Cornificius,
den Autor der Rhetorica ad Herennium, und auf Ciceros
erste rhetorische Schrift de inventione. Hier wird classische
Einfachheit erstrebt.


  Unterdessen hatte sich auch eine rhodische Schule vom
asiatischen Schwulst emancipirt und war auf die Attiker zurückgegangen, |#f0063 : 47|

und unter des Rhodiers Molon Einfluß gewann
Cicero neue Einsichten und den Standpunct, den er in De
oratore, Brutus, Orator
einhielt.


  Aber er hatte schon gegen eine Richtung zu kämpfen,
welche Brutus vertrat und die auch sonst in Rom um sich
griff: eine strengere fast archaisirende Renaissance des Atticismus,
die über Demosthenes und Jsokrates auf den schmucklosen
Lysias zurückgehen wollte; gerade die höchste Einfachheit,
die Abwesenheit aller rhetorischen Kunst war es, die an
Lysias lockte. Angeregt scheint diese ganze Richtung durch
Apollodorus von Pergamon, den Lehrer des Octavianus
Augustus, vermuthlich noch im 2. Jahrhundert v. Chr. geboren.


  Den Schülern des Apollodor standen die des (jüngern)
Theodorus von Gadara gegenüber, der sich lieber den Rhodier
nennen ließ, des Lehrers des Tiberius, und ihre Anhänger
befehdeten sich wie philosophische Secten. Es scheint,
als wenn die sententiöse Richtung der asiatischen Beredsamkeit
in Rhodus noch eine Zuflucht gehabt hätte, und vielleicht
überhaupt ein stärkerer Aufwand an rhetorischen Künsten.


  Die herrschende Richtung aber war die auf das Einfache,
ja auf das alterthümlich Strenge. Diese Richtung wird unter
Augustus in sehr vorzüglicher Weise durch Dionysius von
Halikarnaß vertreten, nur daß er ein arger Purist ist. Neben
ihm wird Cäcilius genannt, aus dessen Schrift über das
Erhabene uns einige wesentliche Gedanken gerettet sind
durch den Pseudo-Longinus περὶ ὕψους (auch noch im
1. Jahrhundert n. Chr.), welcher gegen Cäcilius polemisirt.
Cäcilius war, wenn wir den Nachrichten des Suidas trauen |#f0064 : 48|

dürfen, ein Jude; er citirt ein Stück aus der Genesis als
Beispiel erhabener Einfachheit. Diese pseudo-longinische Schrift
hat großen Ruhm erlangt.


  Um 90 n. Chr. begann Quintilian seine Institutio
oratoria
, maßvoll, classisch, Cicero verehrend, auf die großen
Muster überall gestützt aber ohne ausgeprägten Parteistandpunct;
es scheint ein Ausgleich zwischen beiden Richtungen
stattgefunden zu haben. Es wird ein gewisser Eklekticismus
an die Reihe gekommen sein, und diesen ungefähr vertritt
Quintilian. Hauptsächlich leitete er wohl aber die griechischen
Artes, Leitfäden, fort, vielleicht hauptsächlich den Hermagoras.



  Damit war die mehr scholastische Rhetorik wieder eingeleitet.
Sie hat die Tradition durch sehr feine, sorgfältig geschiedene
Distinctionen bereichert, und für jede eigene rhetorische
Mittel gesucht. Unter den späteren Lehrern ist Hermogenes
um 160 n. Chr. hervorzuheben, der die alten Artes
durch solche Distinctionen ausbildete, indem er namentlich
die verschiedenen Stile classificirte.


  Noch viele Theoretiker, lateinische und griechische, folgen,
immer unselbständiger. Aus welchen Quellen sie schöpften, wird
sich hoffentlich einmal genauer sagen und damit zugleich das
Verlorene annähernd errathen lassen. Hier ist aber noch das
Feld für eine große Untersuchung: die ältere Geschichte der
Rhetorik wäre darzustellen. Die schließlichen Resultate dieser
Entwicklung der Theorie geben Ernesti und Volkmann.


  Wir können noch ganz gut beobachten, wie die Tradition
dann dünner und dünner, geistloser wird, bis ins Mittelalter |#f0065 : 49|

hinein: Jsidor, Alcuin ─ und andere? Die weitere
Entwicklung nach Alcuin ist mir nicht bekannt und wohl
nicht untersucht.


  Natürlich lebt die Rhetorik in der Zeit der Renaissance
wieder kräftiger auf. Unter den Deutschen ragen Melanchthon
und Johannes Sturm als Verfasser von Lehrbüchern hervor;
Sturm auf Hermogenes gegründet, den er auch neu herausgab.
Vgl. Blankenburgs Zusätze zu Sulzer 2, 535 f. ─


  Wir kehren zu der Rhetorik des Aristoteles zurück.


  Die Aristotelische Rhetorik enthält nicht bloß vielerlei
Beobachtung über die Gedankenbildung zu rednerischen Zwecken,
nicht bloß eine Topik, einen Versuch die Fundstellen anzugeben,
worauf er in der Poetik verwiesen hat, sondern sie
führt auch eine Eintheilung in politische, gerichtliche und
epideiktische Beredsamkeit durch, die für die spätere Theorie
durchaus maßgebend geworden ist. Er handelt über Tugend
und Laster, Schönes und Häßliches, als Gesichtspunct der
Lob- und Tadelreden. Er handelt von den Affecten, die in
der Rede zum Ausdruck kommen und zu denen die Zuhörer
erregt werden können. Er handelt ferner vom Ausdruck,
jetzt aber im Gegensatz zum poetischen. Und er giebt gelegentliche
Bemerkungen über Beispiel, Parabel und Fabel
(2, 20) sowie über den Sinnspruch (2, 21), d. h. über Gattungen
der Rede, die auch für die Poesie Bedeutung haben
und in unserem Sinne ganz der Poesie zugerechnet werden
müssen. Er bemerkt, daß das Räthsel eine Metapher enthalte
(3,12) ...

[Annotation] Textebene Sekundärliteratur, keine Bewertung. Explizite Paraphrase. Quellenangabe Person Aristoteles. Quellenangabe Werk Rhetorik. Metapher als vorsprachliches und sprachimmanentes Phänomen. Rhetorikbezug vorhanden.Aristoteles Rhetorik 3, 12 |#f0066 : 50|

  Die spätere Rhetorik nun hat alle die Keime, die Aristoteles
gelegt hat, zu einer sehr strengen und systematischen
Theorie ausgebildet, welche für die Poetik theils ein Vorbild
sein kann, theils ihr geradezu zu gute kommt.


  Sie hat Erfindung, Anordnung, Darstellung (εὕρεσις
τάξις λέξις ─ inventio dispositio elocutio) strenge geschieden,
d. h. Acte der Hervorbringung der Rede, welche ohne weiteres
auf das Gedicht übertragen werden können. Die antike Rhetorik
hat namentlich die Lehre von der Erfindung sehr genau
analysirt und dabei insbesondere die Topik der Beweise, die
wie es scheint Aristoteles begründete, und die sonstige Topik
ausgebildet, wodurch sie ein Vorbild für die Poetik gab, das
noch kaum verwerthet ist: eine Untersuchung über die Gesichtspuncte,
nach denen Dichter einen Stoff umarbeiten, um ihn
poetisch zu fördern, oder die Gesichtspuncte, die ihnen an
dem Stoffe selbst hervortreten und wodurch er ihnen poetisch
wird, müßte angestellt werden. .. Die Rhetorik hat ferner
für die Lehre vom Ausdruck die Classification der Tropen und
Figuren so reich ausgebildet, daß die ganze Folgezeit nichts
hinzufügte. Dagegen hat sie allerdings wieder gewisse Dinge
bei der Lehre vom Ausdruck vernachlässigt, z. B. die Verschiedenheit
des Überwiegens verbaler oder nominaler Bestandtheile.
Die antike Rhetorik hat endlich sehr merkwürdige
Beiträge zur Lehre vom Stil gegeben.


  Unter den Rhetoren des Alterthums war wohl am
meisten Dionys von Halikarnaß zu dem Bewußtsein durchgedrungen,
daß in der Lehre vom Ausdruck Poetik und Rhetorik |#f0067 : 51|

ein gemeinsames Gebiet haben. Dieses Bewußtsein
wohnt in seiner Untersuchung περὶ συνθέσεως ὀνομάτων,
„von der Zusammenstellung der Worte“ ─ über den äußern
Reiz der Rede, wie er eben durch die Zusammenstellung erreicht
wird. Er lehrt dabei zu achten auf das Melodiöse,
das Eurhythmische, die Abwechslung und die Übereinstimmung
der Darstellung mit ihrem Gegenstande: „einer anderen
Zusammenstellung der Worte bedient sich der Zornige, einer
anderen der Betrübte, der Furchtsame, der Freudige“ u. s. w.
Er sondert alle Schriftsteller in drei Klassen (deren Scheidung
jedoch schon älter ist): 1. bei denen das Herbe und
Strenge; 2. bei denen das Zierliche und Blühende; 3. bei
denen die Mitte zwischen beiden Extremen der vorherrschende
Charakter der Darstellung ist ... vgl. Ed. Müller 2, 231 f.
Hierin war schon Theophrast sein Vorgänger; Hermogenes im
2. Jahrhundert n. Chr. hat dann zehn verschiedene Stilarten.


  So hat die antike Rhetorik manche directe Beiträge zur
Poetik geliefert; vor allem hat sie aber in der Strenge der
Analyse ein Vorbild für die Art gegeben, wie man ein Kunstwerk
behandeln soll. Wie vieles für die Poetik direct zu
verwerthen sei, erkannte schon die Renaissance. Die Zusammenfassung
der Poetik mit der Rhetorik und der Metrik war
den Theoretikern der Renaissance etwas ganz natürliches.
Das Hauptlehrbuch der Poetik schrieb Julius Cäsar Scaliger,
ein posthumes Werk, das 1561 erschien. Es liegt all
den zahlreichen Poetiken der Folgezeit zu Grunde, auch den
deutschen Poetiken, z. B. der von Opitz 1624; zwar ist für
Opitz auch die Poetik des Ronsard Vorbild, aber dieser fußt |#f0068 : 52|

selbst auf Scaliger. Ein Verzeichniß deutscher Poetiken in
Goedekes Grundriß der deutschen Dichtung 2, 438.


  Scaligers Poetik vereinigt jene Materien, die antike Poetik,
Rhetorik und Metrik und fügt freilich noch allerlei anderen
Stoff hinzu, namentlich litterarhistorischen und antiquarischen.
Eine wahrhafte Fortbildung der Erkenntniß ist auf diesem
Wege nicht erreicht worden, nur ein Fortleiten der antiken
Tradition. Diese Theoretiker sind nicht tiefer eingedrungen
in das Wesen und die Erscheinungsformen der Poesie. Sind
doch alle diese Poetiken in einer Zeit geschrieben worden, wo
die lateinischen Dichter als unbedingtes Vorbild galten. Gemäß
diesem antiken Jdeal sind auch die Poetiken nicht wesentlich
über das herausgekommen, was schon die antike Theorie
vorgetragen hat.


  Jn dieser ganzen Tradition steht das Vorbild des Aristoteles
als eigentliches Muster.


  Wir haben aus der Reihe der antiken Theoretiker Aristoteles
und Horaz herausgegriffen. Aristoteles und alles was
an ihm hängt ist erledigt, von Horatius noch zu handeln.


  Horaz gehört in weiterm Sinn selbst zur Schule des
Aristoteles; die aristotelischen Grundsätze von Nachahmung,
Handlung, Führerrolle der Tragödie u. s. w. finden sich bei
ihm wieder. Aber er hat doch eine besondere Strömung begründet:
das Lehrgedicht über die Poesie hat er eingeführt.
Den Brief an die Pisonen, Epist. 2, 3 (bei Batteux-Ramler
dritte Aufl. 3, 221 f. übersetzt und erläutert), nennt schon Quintilian
Ars poetica; und damit that man eigentlich wohl Horaz
Unrecht, denn er hat gewiß nicht die Absicht gehabt, hiermit |#f0069 : 53|

eine vollständige Poetik zu liefern, obgleich man die Schrift
oft so angesehn hat. Eigentlich ist es nur eine Warnung
vor Dilettantismus, an die Brüder Piso gerichtet. Nach
Porphyrio liegen die Praecepta Neoptolemi τοῦ Παριανοῦ
de arte poetica zu Grunde, von denen wir nichts wissen.
Daß dies Compendium, wenn Horaz es benutzt hat, von
Aristoteles beeinflußt war, daß jedenfalls Aristoteles' Poetik
auf Horaz, wenn auch vielleicht nur indirect und jedenfalls
sehr allgemein, eingewirkt hat, das liegt offen zu Tage. Wie
Aristoteles behandelt er die Tragödie ausführlich als Paradigma
der Poesie überhaupt. Als Zweck der Dichtkunst stellt
er prodesse oder delectare oder Verbindung von beiden
hin, und das letztere, die Verbindung des Nützlichen mit dem
Angenehmen, empfiehlt er am meisten. Von der Würde der
Poesie und ihrem Segen für die Menschheit hat er hohe Vorstellungen.
Die Frage, ob ein gutes Gedicht mehr dem
Genie oder mehr den Regeln zu verdanken habe ─ natura
fieret laudabile carmen an arte, quaesitum est
─ beantwortet
er damit: sie sind beide nöthig; weder studium
allein noch ingenium allein kann etwas leisten. Und so fast
überall: maßvolle mittlere Weisheit, sehr viel gesunder
Menschenverstand; aus diesen Eigenschaften floß die gewaltige
Autorität des Gedichtes. Diese Autorität war so groß, daß
aus dem Zusammenhang herausgerissene Worte wie ut pictura
poesis
für ganze Zeitalter verhängnißvoll wurden.


  Horazens Ars poetica wurde ferner das Vorbild für
alle Lehrgedichte über Poesie; diese Gattung wurde später vielfältig
gepflegt.

|#f0070 : 54|

  Lateinisch: Marco Girolamo Vida, De arte poetica
libri III (Cremona
1520), vgl. Blankenburg 1, 387 a.;
recht steril.


  Jtalienisch: Landi 1549; Muzio 1551; Menzini 1690;
Martelli
1710: ebd. 394a.


  Spanisch: de Mesa; Lope de Vega (Nueva arte de
hazer comedias); Juan de la Cueba
1582: ebd. 395a.


  Französisch: Jean de la Fresnaye Vauquelin 1605;
Boileau
1674: ebd. 399a.


  Englisch: Pope, Essay on criticism 1711 u. A.:
ebd. 402a.


  Stärker aber haben von allen nur Boileau und Pope
gewirkt. Den größten Einfluß hat Boileau gehabt. Seine
Art poétique ist 1674 mit einer Übersetzung des Longin
erschienen; über dessen Einfluß s. v. Stein, Boileau und
Descartes S. 219 f. (das erhabene Einfache bei Boileau
wie bei Longin ebd. 222; ebenso bei Winckelmann vgl. Justi,
Winckelmann 2², 140). Jetzt pflegt man diese Schrift zu
verachten, und sie trägt allerdings weder sehr tiefe noch sehr
neue Gedanken vor, lehnt sich auch stark an Horaz an;
man muß ihr aber das Lob ertheilen, daß sich das Gedicht
von Anfang bis zu Ende angenehm liest, ja geradezu spannend,
daß es vortrefflich abwechslungsreich, anschaulich,
unterhaltend gemacht ist und in verständig maßvoller Gesinnung
mit Horaz wetteifert. Um so mehr war es ein
Schrecken der Romantiker. So ist auch die Herausgabe des
Longin gegen den Schwulst in Boileaus Jahrhundert gekehrt. |#f0071 : 55|

Boileau sucht so seine Bundesgenossen unter den Alten.
Als im Gegensatz gegen die schwülstige Poesie jene raison
die herrschende Macht geworden war und die imagination
immer mehr zurücktrat, da konnte man die Art poétique
allerdings als philisterhaft ansehen und wieder einen höheren
Schwung erwünschen. Jmmerhin war sie doch nur ein Nachklang
antiker Theorie. ─


  So weit verfolgen wir, was auf die Tradition der Alten
zurückgeht.


  Es wäre zu untersuchen, ob es im Mittelalter selbständige
Ansätze zu einer von den Alten unabhängigen Poetik giebt.
Eine ausgebildete Künstlerpraxis war sicher vorhanden, und
ein Bewußtsein dessen was man that, auch Kunstregeln; aber
wenig Bedürfniß, darüber öffentlich zu reden. So sind
denn die paar Stellen der Polemik von Dichtern gegen ihre
Standesgenossen (Gottfried von Straßburg gegen Wolfram
von Eschenbach; Walther von der Vogelweide gegen Neidhart
von Reuenthal) und die paar sonstigen litterarischen Stellen
mit Kunsturtheilen das Einzige, wenigstens bei den Deutschen,
worauf wir uns berufen können. Jn Gottfrieds Kritik
muß uns die große Feinheit seines Kunsturtheils mit hoher
Achtung erfüllen; zwischen ihm und Wolfram herrscht jener
Gegensatz zwischen Herb und Zierlich, von dem Dionys von
Halikarnaß gesprochen hat. Aber dieser Angriff Gottfrieds
sammt Wolframs Antwort reichen nicht aus, um eine
mittelalterliche Poetik zu reconstruiren. Ein Ausdruck, den
Gottfried dabei gebraucht, ist seltsam: er spricht von der
glôse gerade wie Aristoteles über die γλῶσσαι spricht; sollte |#f0072 : 56|

dies etwa aus der aristotelischen Theorie irgendwie abgeleitet
sein?


  Jedenfalls wenn selbständige Ansätze vorhanden waren,
so sind sie verkümmert.


  Die Tradition der Alten aber, in Poetik Rhetorik Lehrgedicht,
geht bis ins 18. Jahrhundert.


  Was aber dann neu, charakteristisch einsetzt, wird am
zweckmäßigsten durch das Stichwort der Aesthetik bezeichnet,
das bei Alexander Baumgarten 1750 zuerst auftritt, indem
er die Aesthetica, die Lehre von der sinnlichen Wahrnehmung,
als besondere philosophische Wissenschaft innerhalb
des Wolffischen Systems constituirte. Er macht reichlichen
Gebrauch von den Ansichten des Aristoteles und bringt es trotz
der Neuheit des Wortes Aesthetik nirgends zu fruchtbringenden
Gedanken.


  Die Entwicklung der Aesthetik nun und der Poetik
innerhalb der Aesthetik möchte ich nicht näher verfolgen. Es
wäre schon äußerlich nicht möglich das Material zu bewältigen;
und ein besonderes Colleg wäre nöthig um für die
Speculation innerhalb dieser Lehren die metaphysischen Grundlagen
zu erläutern. Das gehört eher in die Geschichte der
Philosophie. Jch bin überzeugt daß die philosophischen
Untersuchungen über „das Schöne“ die Poetik wenig gefördert
haben. Jch spreche Jhnen also nicht von der Lehre Baumgartens,
Kants, Hegels, Vischers. Auch nicht von den Franzosen:
von Batteux, der alle schönen Künste auf Ein Princip
zurückführte und zwar auf das aristotelische der μίμησις,
und dessen Werk hauptsächlich eine Poetik ist; von Diderot, |#f0073 : 57|

der fruchtbarer war, weil feinsinniger und weil er kein
System wollte, sondern Einzelbeobachtungen gab: er schlug
den Weg ein, auf welchem Lessing so glücklich ist; nicht
von Marmontel, der eigentlich nur durch ein hübsches klares
System erfreut. Auch nicht von Burke, dessen Betrachtungen
über das Schöne und Erhabene auf Kant eingehen;
nicht von Hemsterhuis. Jch begnüge mich zu constatiren,
daß die Aesthetik des 18. Jahrhunderts doch in gewisser
Weise einen Fortschritt machte, indem man darauf ausging,
das Gemeinsame der schönen Künste aufzufinden, was von
selbst hinführte zu einer Untersuchung der Grenzen zwischen
den schönen Künsten; daß aber dieser Fortschritt dadurch
wieder halb vernichtet ward, daß man vielfach deductiv und
metaphysisch verfuhr und in der Erläuterung von Begriffen
die Wahrheit zu besitzen glaubte; daß die ausgebreitete
empirische Untersuchung zurückgedrängt wurde und die
Einsicht in die Technik der Dichtkunst, die Einsicht in den
Proceß der Entstehung dichterischer Kunstwerke nicht gefördert
ward. Nur Empiriker wie Lessing fördern. Jch verkenne
nicht den Werth einer Untersuchung über die Wirkung aller
Künste; aber eine solche Vergleichung und Abgrenzung kann
erst als Krönung des Gebäudes nützlich sein, wenn man sich
über die einzelnen Künste klar ist!


  Von den Theoretikern, die Systeme des Schönen bauen,
unterscheidet sich Lessing wesentlich. Das ist Lessings eigenthümlicher
Vorzug, daß er auf den Weg des Aristoteles
wieder einlenkend so vielfach empirisch, inductiv verfuhr und |#f0074 : 58|

z. B. über die Methode des epischen Vortrags bei Homer
neues Licht verbreitete.


  Herder, weniger sorgfältig in der Einzeluntersuchung,
drang doch durch ausgebreitete historische Kenntniß, die
seinen Gesichtskreis erweiterte, sowie durch seine geniale
Analyse, die ihn die starken Urelemente der Poesie herausempfinden
ließ und ihm über die Sprache neue Einsichten
gab, tief in das Jnnere der Poesie und hat durch seine Anregungen
vielleicht am meisten eine neue Poetik vorbereitet.


  Auf Herders Wege suchte sich früh Goethe zu orientiren,
und Herders Theorie wirkte auf Goethes Praxis. Mit hohem
urpoetischem Umblick hat Goethe stets die Poesie aller Völker
und Zeiten betrachtet, und was er theoretisch über Poesie
äußerte, sind goldene Worte, von denen keins für uns verloren
sein darf.


  Der Gedankenaustausch mit Schiller galt vielfach technischen
Fragen; und ihre Meinungen über Epos und Drama
haben sie zu einem äußerlich formulirten Abschluß gebracht.
Wo sich Schiller auf Technisches einläßt, ist er mir werthvoller,
als in seinen allgemeinen Untersuchungen auf
Kantscher Grundlage, die er übrigens selbständig fortbildet,
und die auch von fruchtbaren Bemerkungen durchzogen sind.


  Anstatt hierauf näher einzugehen, ziehe ich es vor, gelegentlich,
bei den Problemen selbst, die Schriften heranzuziehen,
durch die ich mich gefördert finde oder gegen die
mir ausdrückliche Polemik nützlich scheint. Hier soll nur
auf einen Punct hingewiesen werden; dies ist ihre Lehre vom
Jdeal. Über die Geschichte dieses Jdeals sind wir im Allgemeinen |#f0075 : 59|

unterrichtet: dasselbe wurzelt in Winckelmann und
dieser wieder in der italienischen Praxis seit dem Eklekticismus
der Carracci (s. Justi 2², 144 f.).


  Unter den systematisirenden abstracten Theoretikern muß
entschieden Hegel ausgezeichnet werden: durch die Gewandtheit
der Generalisation ist er zu Lichtblicken gekommen, bis
zur Einzelbeobachtung mit genialer Jntuition vorgedrungen.
Seine Vorlesungen über Aesthetik wurden von Hotho 1835
herausgegeben; zweite Auflage in 3 Bänden 1842─43. Jhm
schließt sich Fr. Th. Vischer an, der 1843 einen neuen
Plan zur Gliederung der Aesthetik schrieb (abgedruckt in den
Kritischen Gängen 2, 343). Sein Formalismus ist noch
strenger als der Hegels. Sofort aber als sich Vischer ankündigte,
erfuhr seine Betrachtungsweise einen lebhaften Angriff
durch H. Hettner: Wider die speculative Aesihetik
1845 (Kl. Schriften 164 ff.). Hettner schüttet aber das Kind
mit dem Bade aus: ihm war alle Aesthetik speculativ, und
so setzte er nicht empirische Aesthetik dagegen, sondern Kunstgeschichte.
Dieser Vorschlag blieb demnach erfolglos. Den
angekündigten Plan hat Vischer dann ausgeführt: Aesthetik
oder Wissenschaft des Schönen 1846─57; 3. Theil 2. Abschnitt
5. Heft (1857) behandelt die Dichtkunst. Es ist der
Schluß des Werkes, ein mäßiger Band für sich. Jn der
speculativen Grundlage ist es für uns gänzlich unbrauchbar;
die schwierige Frage vom Ursprung der Poesie z. B. wird nirgends
erörtert. Aber das Buch ist voll feiner Einzelbeobachtungen.
Die empirische Grundlage fehlt, weil sich ja der
Hegelsche Begriff ganz von selbst entwickelt. Vischer ist |#f0076 : 60|

nicht stehen geblieben, sondern er hat selbst eine „Kritik
meiner Aesthetik“ (Kritische Gänge N. F. Heft 5 u. 6) 1866
und 1873 geschrieben.


  Von denjenigen, welche von der Aesthetik aus sich mit
der Poetik beschäftigen ist noch zu nennen Moritz Carriere,
Die Poesie. Jhr Wesen und ihre Formen mit Grundzügen
der vergleichenden Litteraturgeschichte. (zuerst Leipzig 1844).
Gut ist bei ihm die Neigung, innerhalb der Gattungen die
Dinge unparteiisch nebeneinander zu stellen und zu vergleichen.


  Man darf sagen, daß auf dem Gebiete der Aesthetik
diejenigen Forscher am fruchtbarsten gewesen sind, die nicht
darauf ausgingen, ein System der Künste, eine Gesammt=
Aesthetik zu bauen, die vielmehr einzelne Probleme ins Auge
fassen. Fast immer nehmen sie die bildenden Künste zum
Ausgangspunct und konnten gerade da den Werth der technischen
Untersuchung zeigen; so haben z. B. der Anatom Henke,
der Physiker Helmholtz die Aesthetik besonders bereichert.


  Beiträge zu einer Aesthetik von nicht speculativem sondern
mehr empirischem Charakter giebt Gustav Theodor
Fechner, Vorschule der Aesthetik, 2 Bde. (Leipzig 1876).
Dies Buch ist mit dem größten Nutzen zu lesen. Alle unsere
Systeme philosophischer Aesthetik schienen Fechnern „Riesen
mit thönernen Füßen“ (S. 4). Er will eine Aesthetik von
unten statt der gewohnten Aesthetik von oben, d. h. eben inductive
Aesthetik statt der deductiven. Jmmerhin wird man
gelegentlich deductiv vorgehen können, wo eine Folgerung für
das Aesthetische aus der allgemein bekannten Natur des
Menschen möglich ist. Fechner sucht die Gesetze des Gefallens |#f0077 : 61|

und Mißfallens, der Lust und Unlust (S. 5). Er hat aber
nicht vorzugsweise die Poesie im Auge; und indem er von
vornherein das Schöne auf allen Kunstgebieten aufsucht, ergeben
sich gewisse Verrückungen der Gesichtspuncte, die mir
nicht unwesentlich und die mir gefährlich scheinen. Den Begriff
des Schönen, von dessen Erklärung (allerdings nur
Vorstellung) Fechner ausgeht, suche ich so viel als möglich zu
vermeiden ─ aus Gründen, welche die That rechtfertigen soll.


  Die Aufgabe der Aesthetik beginnt meiner Ansicht nach
erst dann, wenn alles von unten auf ausgeführt ist.


  Die Aesthetik ist durch ihre speculative Richtung stark
außer Contact gekommen mit der Litteraturgeschichte, mit der
Philologie. Man sprach von vagem Aesthetisiren nicht mit
Unrecht, und die Litteraturgeschichte sah eine Reihe von Aufgaben
vor sich, Aufgaben ästhetischer Natur, zu denen aber
die Aesthetik als Wissenschaft wenig beitrug. Suchte man
die Hilfe, welche die Aesthetik debitirte, zu bestimmten philologischen
Aufgaben z. B. zur Charakteristik eines bestimmten
Dichters oder Gedichtes anzuwenden, so ergab sich ihre Unbrauchbarkeit,
wenn man nicht bei allgemeinen und unbestimmten
Phrasen stehen bleiben wollte, welche eben nicht zu
charakterisiren im Stande waren. Die Litteraturgeschichte muß
aber darauf ausgehen, ein lebendiges Bild der Jndividualität
der einzelnen Dichter zu geben; und fragt sie bei der Aesthetik
an, so findet sie nichts; man braucht bloß einmal die
Charakteristiken dort anzusehen: überall erscheint „schwungvoll“
u. dgl.


  Die Philologie hatte sich dann lange den ästhetischen |#f0078 : 62|

Fragen überhaupt entfremdet; seit einiger Zeit aber führen
Untersuchungen über den Stil bestimmter Dichter immer
mehr wieder dazu zurück.


  Und wenn die Philologie ästhetischen Fragen nicht sehr
geneigt war, so hielt sie doch eine ziemlich entschiedene ästhetische
Tendenz fast instinctiv inne, worin eine Neuerung
gegenüber aller früheren Poetik und Aesthetik lag und zugleich
eine gewisse Fortführung der Herderschen Art, Poesie
anzusehen.


  Die frühere Poetik und Aesthetik war principiell parteiisch.
Die Philologie hatte die Tendenz unparteiisch zu sein.


  Jene suchte das wahre Epos, die wahre Lyrik, das wahre
Drama. Diese suchte verschiedenen Arten des Epos, der Lyrik,
des Dramas gerecht zu werden.


  Jene verglich um vorzuziehen und zu verwerfen, diese
verglich um Verwandtschaft und Eigenthümlichkeit schärfer zu
erfassen und perhorrescirte z. B. Vergleichungen zwischen
Homer und den Nibelungen, die auf einen Vorzug des Homer
hinausliefen.


  Sucht man mit dieser Tendenz der Philologie Ernst zu
machen und eine Poetik aufzubauen, worin dieselbe vollständig
befriedigt wäre, so scheint man damit allerdings die Hand
an ein aussichtsvolles Unternehmen zu legen, ja einer Richtung
zum Durchbruch zu verhelfen, welche schon die frühere
Aesthetik nicht abwehren konnte.


  Tritt man nun an ein Buch wie die „Poetik, Rhetorik
und Stilistik“ von W. Wackernagel (Halle 1873) heran, so |#f0079 : 63|

sollte man meinen, daß ein solcher Mann die Forderung erfüllt
haben werde; man findet sich aber enttäuscht. Zwar
viel werthvolles Material, aber der gedankliche Theil recht
schwach, und mit dem Material allein ist nicht viel anzufangen.
Die Sache ist wesentlich noch zu machen.


  Die Aufgabe der früheren Poetik, die wahre Poesie
zu suchen, hat sich als unlösbar erwiesen. Sie hat die wechselnden
Geschmacksrichtungen niemals zu beherrschen vermocht,
sie hat vielmehr oft unwillkürlich nur die Geschmacksrichtungen
abgespiegelt, nur Versuche gemacht, das in der Praxis Herrschende
zu rechtfertigen. Oder aber sie war ohnmächtig, war
doch jedenfalls nicht im Stande so einleuchtende Beweise beizubringen,
daß man sich ihr gefügt hätte. So ist z. B. die
Kritik gegenüber dem jetzigen Naturalismus ohnmächtig...
Sie hat nach dem Guten in der Kunst gestrebt und wollte
das Schlechte bekämpfen; aber sie hat keine festen Maßstäbe
gefunden zur Scheidung zwischen Gut und Schlecht... Sie
hat sich deshalb schon entschließen müssen, seit Schiller, nicht
mehr alle Erscheinungen auf den Unterschied von Gut und
Schlecht zurückgehen zu lassen und so weit wenigstens jenes
Suchen nach der reinen wahren Poesie aufzugeben, daß sie
die Gegensätze zwischen Naiv und Sentimental, Klassisch und
Romantisch, also Stilunterschiede, als quasi=gleichberechtigt
nebeneinander stellte. Auf diese Weise hat man einen Stilgegensatz
der Classification zu Grunde gelegt; und sogar
Vischer hat den Gegensatz „Klassisch“ und „Romantisch“
durch seine ganze Aesthetik durchgeführt, hierin der Erbe der
romantischen Doctrin.

|#f0080 : 64|

  Es ist nun aber sehr leicht zu zeigen, daß diese historischen
Gegensätze die Sache entfernt nicht erschöpfen, daß
diese Unterschiede nur besonders sichtbar auf einer Scala
liegen, die noch ganz andere Stufen hat. Aber wie hier die
Aesthetik von der Geschichte lernte und von der historischen
Betrachtungsweise (die zugleich die philologische ist) zur Unparteilichkeit
gezwungen worden ist, so soll sie durchweg und
consequent von der Geschichte lernen und unparteilich verfahren,
allen Erscheinungen der Dichtkunst und allen Völkern
der Erde gerecht werden und ihnen im System ihre Stelle
vorbehalten ─ und nicht vorschnell von Gut und Schlecht
reden, sondern höchstens von größern oder geringern, oder
noch lieber von den verschiedenen Wirkungen, welche durch
verschiedene Arten der Poesie hervorgebracht werden. Jn der
Analyse der Wirkungen werden zum Theil allerdings Werthurtheile
gegeben. Eine Poesie, von der gesagt werden kann,
daß sie auf die edelsten Menschen aller Zeiten gewirkt hat,
ist gewiß werthvoller als eine andere. Aber weiter braucht
die Aesthetik nicht zu gehen; des Urtheils über Gut und
Schlecht kann sie sich gänzlich enthalten.


  Hiernach werden Sie einigermaßen vorbereitet sein, um
die Berechtigung des Programms einzusehen, das ich für
eine künftige Poetik in der „Geschichte der deutschen Litteratur“
S. 770 aufstellte: „Kann selbst die Theorie der Poesie mehr
erstreben, als eine vollständige Beschreibung der vorhandenen
(und vielleicht versuchsweise der möglichen) Formen dichterischer
Production? Eine vollständige Beschreibung, d. h. eine |#f0081 : 65|

solche, welche den Blick auch auf Ursachen und Wirkungen
gerichtet hält.“


  Jm ersten Abschnitt hatten wir das Gebiet der Poetik
umschrieben: „Poetik ist vorzugsweise die Lehre von der gebundenen
Rede und von einigen Anwendungen der ungebundenen,
welche mit den Anwendungen der gebundenen in
naher Verwandtschaft stehen“ (S. 32).


  Jetzt haben wir auch ein Programm für das was zu
lehren ist: die Hervorbringung auf dem genannten Gebiete
d. h. der gebundenen Rede &c., kurz die dichterische Hervorbringung,
die wirkliche und die mögliche, ist
vollständig zu beschreiben in ihrem Hergang, in
ihren Ergebnissen, in ihren Wirkungen.


  Ehe ich weiter gehe, will ich erläutern, was mit dem
„möglich“ gemeint ist. Es giebt auf allen Gebieten, bei
denen wir die Bedingungen der Production kennen, die Möglichkeit,
diese Bedingungen zu combiniren. So sind auf dem
Gebiete der Lautphysiologie Laute durch Combination der
uns bekannten Mittel theoretisch erschlossen worden, die dann
später auch wirklich gefunden wurden. So kennen wir auch
in der Poesie die Mittel, und daher muß es für eine wissenschaftliche
Poetik möglich sein, ein Schema von allen möglichen
Gattungen zu entwerfen. So sprachen wir auch hier schon
über die möglichen Formen des prosaischen Lehrgedichts,
der prosaischen Lyrik; und so ist manches andere zu construiren,
was nicht in Wirklichkeit zu existiren braucht. Oder
ein anderes Beispiel (immer vom Wirklichen ausgehend):
durch Anknüpfen an alte Motive wäre die Modernisirung |#f0082 : 66|

des aristophanischen Lustspiels möglich. Platen hat nicht die
Form modernisirt, sondern nur den Jnhalt. Die Modernisirung
der Form bestünde in der Auflösung des antiken Chors
unter Beibehaltung der Masse, die aber in Jndividuen gegliedert
werden müßte. Dieser Unterschied wird durch die
Rücksicht auf unsere Bühnenformen gefordert. So sind die
Schillerschen Räuber, die Verschworenen im „Fiesco“ ein aufgelöster
Chor. Unsere Zeit wäre voll von Stoff für aristophanische
Lustspiele; da könnten sich satirisch gezeichnete
Typen z. B. politischer Art in einer Musterkarte vor uns
entfalten.


  Jm Übrigen bedarf meine Bezeichnung des Zwecks der
Poetik keiner Erläuterung. Diese philologische Poetik soll
der früheren Betrachtungsweise gegenüberstehen wie die historische
und vergleichende Grammatik seit J. Grimm der gesetzgebenden
Grammatik vor J. Grimm gegenübersteht. Vorbereitet
ist jene Bezeichnung durch die Kritik des Aristoteles.
An ihn und die antike Doctrin wird überall angeknüpft.


  Wir legen hier übrigens auf die mögliche Hervorbringung
kein besonderes Gewicht, sondern haben Genüge an den wirklichen
Producten.


  Die Beschreibung derselben erstreckt sich, wie gesagt,
auf Hergang, Ergebnisse, Wirkungen.


  Die Untersuchung ist am leichtesten für die Ergebnisse,
d. h. die vorhandene Poesie. Dieselben verrathen schon einiges
von ihrer Entstehung, weil das thatsächlich Vorhandene in
der Regel ein Gewolltes ist, also jede Beobachtung über das
Gedicht zugleich eine Absicht des Dichters enthüllt.

|#f0083 : 67|

  Eine umfassende Classification ist nöthig. Einen Anfang
macht die Lehre von den Dichtungsarten, aber diese ist
höchst unvollständig; besonders bezüglich des Jnhalts der Lyrik
muß man viel genauer sein, als dies bisher der Fall war.
Hier ist noch kaum ein Versuch gemacht die Klassen zu
unterscheiden; höchstens hat man innerhalb des Liedes hier und
da einen Begriff herausgegriffen, der zur Classification dienen
könnte.


  Die umfassende Classification setzt von selbst ein vergleichendes
Verfahren
voraus, wobei man keine Rücksicht
nimmt auf Verschiedenheit dichterischer Producte in Zeit und
Raum, sondern nur auf das Wesen der Sache sieht.


  Das vergleichende Verfahren verbindet sich naturgemäß
mit der Methode der wechselseitig en Erhellung, welche
z. B. in der Sprachwissenschaft fruchtbringend angewandt
worden ist. Das Deutliche, Vollständige, besser Bekannte
dient zur Erläuterung des Undeutlichen, Unvollständigen,
weniger Bekannten; namentlich die Gegenwart zur Erläuterung
der Vergangenheit. Es dienen ferner, und dies ist ein
wichtiges Element, die einfachen Erscheinungen, welche die
Poesie der Naturvölker noch in der Gegenwart lebendig bewahrt,
zur Erkenntniß und Erläuterung der älteren Stufen,
über welche die Poesie der Culturvölker zur Höhe gelangte.
Diese Beobachtung, daß die Naturvölker repräsentiren was
die Culturvölker ehemals waren und wovon sie nur noch
unsichere Kunde besitzen, hat schon Thukydides gemacht.


  Die Analysis des dichterischen Processes wird das Zusammengesetzte
überall auf Einfacheres zurückführen müssen; |#f0084 : 68|

in dieser Zurückführung des Complicirten auf Einfaches
besteht eben die Analyse, die Auflösung derselben in die einfachsten
Elemente; und wo irgend möglich muß sie Elemente
aufzeigen, bei denen eine unmittelbare Erfahrung, ein Nacherleben
möglich ist. Der dichterische Proceß muß also über==
haupt in solche Elemente aufgelöst werden, an welche das
Bewußtsein eines jeden von uns anknüpfen kann. Die
Quelle dichterischer Kraft können wir freilich nicht nachempfinden;
im höchsten Sinne kann Goethe nur von Goethe
verstanden werden. Aber auch die höchsten Hervorbringungen
haben gemeinverständliche Elemente; und zu diesen müssen
wir vordringen. So tritt dann also die unmittelbare Erfahrung
als erklärendes Moment ein.


  Für die Erkenntniß der Wirkung stehen Zeugnisse zu
Gebote, historische Erfahrungen, die um so wichtiger und
werthvoller sind, je länger sie dauern, je weiter sie historisch
zurückgehen. Diese Erfahrungen unterrichten uns über die
Dauerbarkeit gewisser Erscheinungen und die Vergänglichkeit
anderer, und wir können dann untersuchen, worauf es beruht,
wenn in einem bestimmten Kunstwerk, z. B. in den homerischen
Gedichten, die Macht läuternder Wirkung schlummert.
Hier ist dann wieder zu allgemeiner psychologischer Erfahrung
vorzudringen, die zum Theil unmittelbar nacherlebt werden kann.


  Jn dieser Analyse der Wirkung liegt, wie schon erwähnt,
ein Werthurtheil, so daß wir hier auf ähnliches kommen wie
die frühere Poetik es anstrebte, denn selbstverständlich wird
die läuternde Wirkung, die auf verschiedene Zeitalter gleichmäßig |#f0085 : 69|

ausgeübt wird, höher gelten als die rasch vorübergehende.



  Weiter ins Einzelne will ich das Verfahren nicht schildern.
Das würde mich zwingen, in die Materie selbst tief
einzugehen und den Gang der Darstellung vorwegzunehmen.
So viel ergiebt sich schon aus dem vorigen, daß es sich ungefähr
handeln muß: um Erkenntniß der allgemeinen Bedingungen
dichterischer Hervorbringungen, Dichter und Publicum,
Werth und Amt der Poesie; dann um den eigentlichen dichterischen
Proceß: Stoff, Wahl und Bearbeitung desselben,
Analyse in inventio, dispositio, elocutio, Metrum (innere
und äußere Form); dann um die Ergebnisse, d. h. Lehre von
den Dichtungsarten (zugleich noch unter „Form“; denn die
Wahl der Dichtungsart gehört doch auch zum dichterischen
Proceß), die verschiedenen möglichen Formen innerhalb jeder
Dichtungsart und ihre Wirkung. Die Frage nach der Wirkung
hat sich aber schon jedesmal vorher bei jedem einzelnen
poetischen Mittel anzuheften.


  Beim Drama ist z. B. zu fragen: ob episch oder streng
dramatisch; ob scharfer Gegensatz der Personen oder nicht;
Personenfülle oder nicht u. s. w. ─


  Alle folgenden Erörterungen können als eine Methodik
der Forschung über poetische Erscheinungen angesehen werden.
Ja, Methodik mehr als vollständige Ausführung. Nur
Grundriß, Skizze wollen sie sein ─ Anleitung zu stilistischen
Untersuchungen: das Verhältniß der Poetik zur Untersuchung
des Stils eines einzelnen Dichters ist dies, daß die Poetik
für solche stilistischen Untersuchungen eine Topik ist. Der |#f0086 : 70|

Accent liegt für mich nicht auf der Lehre von den Gattungen,
womit ich schließe ─ und da wird die Zeit schon sehr knapp
sein ─, sondern auf dem was vorhergeht: auf dem allgemeinen
Theil, der Betrachtung des dichterischen Processes.


  Überall ist zu sehen, wie weit auch für unsere neuen
Zwecke die ältere Poetik und Aesthetik Förderndes beigebracht
hat.


  Auch ist es auf dem Boden, den ich schaffen will, nicht
unmöglich in einem gewissen Sinne zu den früheren Zielen
zurückzukehren, nicht etwa um die wahre Poesie zu suchen,
aber wohl um das für eine bestimmte Zeit Zweckmäßige und
Wünschenswerthe zu finden. Eine Betrachtung, welche die
zu verschiedenen Zeiten erstrebten Zwecke der Poesie darlegt,
wird auch für eine bestimmte Zeit solche Zwecke als wünschenswerth
bezeichnen können. So verlangt z. B. die Gegenwart
eine bestimmte Art von Drama: ein Drama, in
dem keine Liebe vorkommt, hat bei dem heutigen Publicum
keine Aussicht auf Erfolg.


  Eine Betrachtungsweise, wie ich sie vorschlage, ist auch
auf andern Gebieten möglich, z. B. auf dem sittlichen, und
üblich, z. B. auf dem nationalökonomischen: die Scala aller
möglichen Erscheinungen und ihrer Wirkungen wird erforscht.
Hiernach dann Regelung für den einzelnen Fall: bestimmte
Stufen und Formen der Wirthschaft sind zweckmäßig für bestimmte
Epochen; nicht aber ist eine wahre Wirthschaft zu
finden. Jn diesem Sinn ist die Geschichte Lehrerin. ─


  Hiermit können wir das erste Kapitel schließen. Die
Methode, deren ich mich dabei bediente, war schon die eben |#f0087 : 71|

geschilderte: Bemühung, eine Übersicht der gesammten Erscheinungen
zu bekommen; so warfen wir z. B. einen Blick
auf die möglichen Arten des Vortrags ohne directen Versuch,
den wahren Vortrag zu finden. Der Mangel des ersten
Kapitels besteht in der oberflächlichen Betrachtung der ästhetischen
Doctrinen. Aber ich habe ja meine Gründe dafür
angegeben. Und im Übrigen wird sich vielleicht manches
nachholen lassen.

|#f0088 : E72|

Zweites Kapitel. ──────
Dichter und Publicum.

  Wir müssen uns hier klar werden über die Erscheinung
der Poesie im allgemeinen, über die allgemeinen Bedingungen
unter denen sie steht, Bedingungen ihres Ursprungs und
ihres Lebens; die Art, wie sie auftritt und sich fortpflanzt;
ihre Abhängigkeit von der Beschaffenheit der Geister, aus
denen sie fließt, und der Geister, in welche sie eingehen soll.
Das Haupt- und Grundverhältniß, worauf es hier ankommt,
ist durch die Überschrift des Kapitels ausgedrückt. Die gesammte
hierher gehörige Erörterung wird sich in folgenden
Abschnitten erschöpfen lassen:


Erstens der Ursprung der Poesie;
Zweitens der Werth der Poesie;
Drittens die Dichter;
Viertens das Publicum.
|#f0089 : 73|

I. Über den Ursprung der Poesie.

  Wir erinnern uns an Aristoteles: er hat eine bestimmte
Ansicht aufgestellt, indem er auf zwei in der Menschennatur
liegende Gründe hinweist, welche die Dichtung überhaupt
hervorgebracht haben, nämlich: erstens den Nachahmungstrieb,
zweitens den angeborenen Sinn für Tact und Harmonie.


  Der Nachahmungstrieb vermittelt dem Menschen das
Lernen und Wissen, womit sich die Freude an den Erzeugnissen
der Nachahmung verbindet; er äußert sich productiv
im Nachahmen, receptiv in der Freude am Nachgeahmten;
beides wurzelt in dem einen Triebe zu wissen und zu lernen,
und man freut sich über die Richtigkeit der Nachahmung,
selbst wenn der Gegenstand widerlich ist.


  Wir erinnern uns, daß für Aristoteles Poesie überhaupt
darstellende Nachahmung handelnder Menschen ist. Wir haben
diesen Begriff zu eng gefunden; wir finden die Ansicht über
den Ursprung ganz auf diesen Begriff berechnet. Wir sehen
Rhythmus und Harmonie jetzt als wesentlich bezeichnet, während
Aristoteles selbst, wo Nachahmung handelnder Menschen
erscheint, auf Rhythmus verzichtet. Der zweite Punct ist
also für Aristoteles selbst nicht maßgebend.


  Und ferner: die Freude über die Richtigkeit der Nachahmung
zu urtheilen, ist ein rein intellectuelles Vergnügen;
soll dies wirklich das Hauptsächliche sein, was Poesie hervorruft,
die wesentliche Wirkung der Poesie? Da hat doch
Aristoteles, wo er über die Wirkung der Tragödie spricht,
schon ganz anders geurtheilt und nicht auf das intellectuelle
Urtheil über Richtigkeit der Nachahmung provocirt, sondern |#f0090 : 74|

auf die Erregung von Furcht und Mitleid. Danach corrigirt
sich, was er hier allgemein sagt.


  Außerdem: das bloße Vergnügen an der Wahrheit der
Darstellung ist etwas verhältnißmäßig sehr Spätes. Jch
brauche nur daran zu erinnern, wie wenige Leser noch heute
unangenehme Schlüsse vertragen können; eine Liebesgeschichte,
bei der sie sich kriegen, hat mehr Leser als eine solche, bei
der sie sich nicht kriegen. Viel mehr Menschen sind bereit
in ein Lustspiel zu gehen als in ein Trauerspiel, und doch
ist in der Tragödie oft viel mehr Wahrheit. Auf die Wahrheit
kommts aber dem Publicum nicht so sehr an, als auf
die Annehmlichkeit der Vorstellungen, mit denen sie die Poesie
beschäftigt. Doch müssen wir anerkennen, daß die Freude
an der Richtigkeit der Nachahmung ein Moment für die
Freude an der Poesie sein kann.


  Ferner: Aristoteles setzt von vornherein voraus, daß
eine nachahmende Darstellung von einem Publicum beurtheilt
wird, und daß das Publicum sie mit dem Urbild vergleicht.
Aber das ist doch nur eine Folge der Poesie. Wie kommt
der Dichter dazu, seine Freude und seinen Schmerz in einem
Lied auszudrücken? Thut er das fürs Publicum, damit dieses
sich von der Wahrheit seiner Darstellung überzeuge? Gewiß
ist doch eines der Grundverhältnisse der Poesie dies, daß eine
innere Nöthigung für den Dichter vorliegt, gleichviel ob andere
da sind seine Gefühle zu theilen oder nicht. Hier könnte die
Ansicht des Aristoteles immer nur für einen kleinen Theil der
Poesie gelten. Und wahrscheinlich hat er auch hier schon das
Drama im Auge.

|#f0091 : 75|

  Was sonst noch über den Ursprung der Poesie vorgebracht
worden ist, ist wahrhaft kümmerlich. Die Aesthetik
hat sich fast gar nicht mehr darum gekümmert; Vischer z. B.
wirft, wie erwähnt, eine so empirische Frage gar nicht erst auf.


  Die Schwierigkeit der Frage oder wenigstens eine der
Schwierigkeiten liegt darin, daß wir, wenn wir von Poesie
sprechen, die Poesie nur anschauen dürfen als die Masse der
überhaupt vorhandenen Poesie, und daß wir, ehe wir eine
weitere Ansicht aufstellen, erst wissen müßten, in welcher Reihenfolge
die einzelnen Gattungen entstanden sind. Dann
wäre die älteste Gattung zu erforschen und zu untersuchen.
Eine solche Untersuchung giebt es aber noch nicht; und wir
können auch nur wenig über das relative Alter der einzelnen
Gattungen wissen. Freilich gewisse complicirte Formen, z. B.
die griechische Tragödie, die Epopöe, der Roman, das Pindarische
Lied u. a. scheiden als jüngere Entwicklungen sogleich
aus. Aber wenn man sie auch ausscheidet, bleibt doch noch
eine ziemliche Masse übrig; nur wenn diese relativ chronologisch
sich ordnen ließe, wäre eine gewisse Sicherheit vorhanden.
Davon kann bis jetzt nicht die Rede sein. Auch
wenn die Poesie der Naturvölker ganz genau bekannt wäre
und wir eine Stufenfolge hätten: es wäre bei verschiedenen
Völkern nur eine kleine Zahl poetischer Gattungen vorhanden,
und immer dieselben, die also für ursprünglich gehalten werden
müßten, und nun träten immer neue hinzu ─ so wäre noch
immer Verkümmerung, Verlust bei jenen denkbar... Es ist
also nur ein Annäherungsverfahren möglich.


  Besinnen wir uns auf die heutige Erfahrung und scheuen |#f0092 : 76|

wir die anscheinende Trivialität nicht. Nichts schlimmer,
als die Angst vor Trivialität und das unnöthige Suchen nach
Tiefsinn.


  Warum greifen wir zu einem Roman? Warum gehen
wir ins Theater? Um uns zu unterhalten. Dies Element
darf nicht vernachlässigt werden. Warum greift man wohl
bei längerem Zusammensein nach einem Band Gedichte und
liest ein paar vor? Um der Conversation neuen Stoff zu
geben oder, wo die eigene Kraft nicht ausreicht und etwa
Langeweile entstehen würde, diese zu verscheuchen: wieder das
Element der Unterhaltung. Wer eine Reise übers Meer, ans
Meeresufer, auf eine Jnsel unternimmt, führt wohl die
Odyssee mit sich ─ nicht als ein Object des Lernens, um
die homerischen Darstellungen mit der Wirklichkeit zu vergleichen,
sondern um eine leere Stunde damit auszufüllen,
die Elemente des Vergnügens in seiner Reiseexistenz zu verstärken
─ freilich auch mit Rücksicht auf die Harmonie zwischen
der Wirklichkeit, die ihn umgiebt, und der Dichtkunst;
aber diese Freude an der Richtigkeit der Darstellung und
Nachahmung ist nur Ein Motiv dabei. Ein anderes z. B.
die Schärfung des Blicks für die Wirklichkeit: sein Laienauge
bewaffnet sich gleichsam mit dem Mikroskop eines
Künstlerauges; ein drittes die Belebung der Wirklichkeit
mit Gestalten der Dichtung, die sich nun stärker und lebendiger
anknüpfen ─ also Steigerung des Vergnügens an der
Wirklichkeit. Die Poesie schmückt diese Wirklichkeit (vgl. z. B.
wie Roßmann, Vom Gestade der Kyklopen und Sirenen,
die betreffende Poesie mittheilt).

|#f0093 : 77|

  Oder sprechen wir vom modernen Gesang. Das Gesangbuch
soll nicht Unterhaltung bieten, aber Erhebung; das fromme
Gefühl der Erhebung wird als etwas Angenehmes empfunden.
Die frommen Sänger feiern. Jhr Gesang ist Muße, nicht
Arbeit, Muße und Erhebung über das Jrdische, in eine
höhere Region; es ist ein freies Aufathmen, ein Losgebundensein
von täglichen Sorgen um das Leben. Wo man zu
den Liederbüchern greift, zu den Psalmen, da tritt dies Moment
in anderer Art auf. Denken wir uns aber vollends
andere Formen der mit dem Cultus verbundenen Poesie: die
katholische Messe mit ihren Reizen für Aug' und Ohr, ihrem
breiten Ceremoniell, ihrer Pracht in Architektur, Decoration,
Gewändern, ja ihrem Weihrauch und ihrem vielstimmigen
von Orchester begleiteten Gesang, der oft, bei Haydn z. B.,
so jubelnd zum Himmel steigt, der in heutigen italienischen
Kirchen geradezu aus Opern schöpft .... denken wir an
das griechische Opfer mit Tanz, Gesang und Opferschmaus ...
so stellt auch hier, in den ursprünglichen Formen, sich das
Vergnügen noch viel stärker ein, mit dem Cultusgebrauch
verbunden.


  Dieses Moment wächst, wenn wir weiter zurückgehen.
Und so ist uns hier wohl einmal eine Richtung gegeben, in
der wir zu forschen haben.


  Welches sind die Vergnügungen der Naturvölker?
Schmäuse; Tänze; Schauspiele d. h. mimische Darstellungen;
Glücksspiele; Kämpfe von Menschen und Thieren; Leibes=
und Waffenübungen; Märchen und Erzählungen; Possen
und Possenspiele; Monstra. Jch schöpfe absichtlich aus einem |#f0094 : 78|

nicht gedankenreichen Autor (Meiners, Grundriß der Geschichte
der Menschheit S. 134 f.), weil er nicht in Verdacht
kommen kann, hiermit eine Ansicht über den Ursprung der
Poesie aufstellen zu wollen. Er hebt nicht einmal besonders
hervor, daß die Tänze von Gesang begleitet sein konnten.
Und doch steht hier bei ihm eine Anzahl von poetischen Bethätigungen:
Märchen, Mimik, Possenreißerei in einer Reihe
mit den andern Vergnügungen (Schmäusen, Scheinkämpfen
u. s. w.). Wir finden sie in der Reihe der Spiele; und so
meinte ja auch Schiller, die Poesie sei aus dem „Spieltrieb“
hervorgegangen.


  Wir haben gesehen, daß der Rhythmus aus dem Tanze
stammt. Fassen wir die Verbindung von Tanz und Gesang
zuerst ins Auge und analysiren wir sie. Ob wir darin die
älteste Form
der Poesie besitzen, will ich dahingestellt sein
lassen. Aber jedenfalls eine der ältesten Formen; und es ist
im Grunde gleichgiltig, wo wir beginnen: wenn wir nur
von der concreten Erscheinung beginnen!


  Wir sahen Tanz und Gesang verbunden, rhythmisch,
Silbe und Schritt sich entsprechend: wir unterscheiden unschwer
Elemente, die noch ursprünglicher, kunstloser gedacht
werden können und welche erst durch Zucht und Regel zur
Kunst gemacht wurden.


  1. Das Tanzen ist ohne Zweifel aus dem Springen
hervorgegangen; (mittelhochdeutsch heißt es noch vom Frühlingstanz:
den reien springen). Der Gang ist regelndes
Princip, vielleicht weiter regulirt durch den Herzschlag. Das
Springen nun ist Ausdruck der Freude. Es kommen wohl |#f0095 : 79|

zwei Momente zusammen: zunächst haben alle starken Gemüthsbewegungen
oder Erregungen (äußerster Schmerz, Wuth,
Schrecken, Freude, Liebesleidenschaft) die Neigung, die Muskeln
erzittern zu machen (Darwin, Ausdruck der Gemüthsbewegungen
bei den Menschen und den Thieren, deutsch von Carus,
Stuttgart 1872 S. 222); und dann ist die Bewegung an
sich Vergnügen, man wird sich der Kraft der Glieder bewußt
indem man sie übt: Freude an weiten Märschen, an
schwierigem Klettern, am Raufen, in civilisirten Zeiten am
Turnen.


  2. Das Singen des Menschen hat man oft als Nachahmung
des Vogelgesanges hingestellt, und selbst Gervinus
in seiner Schrift über Händel und Shakespeare bekennt sich
dazu. Aber diese Erklärung ist sehr zweifelhaft, sie macht
große Schwierigkeit; wohl aber kann man behaupten, daß beide
aus derselben Quelle stammen. Beide sind freie Äußerung
des Lebensgefühles, vielleicht wieder verbunden mit der Annehmlichkeit
der Stimmbänder-Übung. Vogelgesang und
Menschengesang sind gewiß vergleichbar allen Stimmäußerungen
der Thiere, die offenbar ein Vergnügen ausdrücken,
dem lustigen Bellen, dem kräftigen Wiehern &c. Ja Darwin
(Ausdruck der Gemüthsbewegungen S. 84 f.) sagt: „Die beiden
Geschlechter vieler Thiere rufen während der Brunstzeit einander
beständig, und in nicht wenigen Fällen sucht das Männchen durch
die Stimme das Weibchen zu bezaubern oder zu reizen. Dies
scheint der uranfängliche Gebrauch der Stimme überhaupt
gewesen zu sein. Hiernach wird der Gebrauch der Stimmorgane
mit der Vorausempfindung des größten Vergnügens, |#f0096 : 80|

das die Thiere zu fühlen im Stande sind, associirt worden
sein.“ Die Urahnen der Menschen stießen wahrscheinlich
musikalische Töne aus, ehe sie das Vermögen der articulirten
Sprache erlangt hatten ─ und in Folge dessen
strebte die Stimme, wenn sie bei irgend einer heftigen Gefühlsbewegung
gebraucht wurde, durch das Princip der Association
einen musikalischen Charakter anzunehmen (S. 88).
Lassen wir diese Hypothese dahingestellt. Halten wir uns
an die Thatsache des jubilirenden Singens zum Ausdruck
freudiger Stimmung: dies ist verwandt mit den freudigen
Lauten der Thiere. Auch bei den Kindern unterscheiden wir
neben Schmerz- und Bedürfnißlauten lang vor dem Gebrauch
der Sprache Vergnügungslaute, mit denen sich nur die allgemeine
Lebensfreude Luft macht.


  Bedenken wir ferner, wie oft bei Thieren und Kindern
und den natürlichen uncivilisirten Menschen die Freude sich
durch beides gleichzeitig äußert: Springen und Jubeln.


  So werden wir nicht anstehen, jene Verbindung von
Gesang und Tanz, rhythmisch gebunden, auf einen noch
älteren Ausdruck menschlichen Vergnügens, auf die ungebundene
ungeregelte Vereinigung von Springen und Jubeln als
eine Offenbarung der innern Lust zurückzuführen.


  Aber dabei ist noch zu bemerken: der ursprüngliche unwillkürliche
Ausdruck der Freude durch Muskelbewegung
(„eine Empfindung ist ein Reiz zur Muskelthätigkeit“ Herbert
Spencer bei Darwin a. a. O.), durch Springen und
Jubeln kann entweder ein einsamer sein, der jeden für sich
erfaßt, oder in der Gesellschaft auftreten und in der Gesellschaft |#f0097 : 81|

ohne Zweifel verstärkt: sociale Thiere, Thiere, die in
Gesellschaft leben also, gebrauchen ihre Stimme viel häufiger
als andere Thiere, weil sie an den Gebrauch der Stimme
zur Mittheilung gewöhnt sind (Darwin S. 85).


  Zu jenen beiden Momenten darf nun vermuthungsweise
noch ein drittes gefügt werden:


  3) Das Lachen. Walther von der Vogelweide 51, 23
in dem Liede Muget ir schouwen waz dem meien wunders
ist beſchert
? Da fordert er zur Fröhlichkeit auf: wir suln
sîn gemeit, tanzen, lachen unde singen
.


  Wir dürfen vermuthen, daß die Fröhlichkeit des ursprünglichen
Menschen, welche sich in Springen und Jubeln
äußert, auch durch Lachen zum Ausdruck kam. Ein Correspondent
Darwins beschreibt die Australier als vor Freude
umherspringend und mit ihren Händen schlagend und auch
als häufig brüllend vor Lachen (Darwin S. 211).


  Das Lachen ist noch keineswegs hinlänglich erklärt: Darwin
S. 200 f.; Hecker, Die Physiologie und Psychologie des
Lachens und des Komischen (Berlin 1873); Dumont, Vergnügen
und Schmerz S. 242 f. (Jnternat. Bibliothek Bd. 22, Leipzig
1876), wo die betreffenden Ansichten zusammengestellt sind.


  Eine allgemein giltige Lösung ist noch nicht gefunden.


  Hier nun kommt es auf die Entstehung des Lachens
auch so viel nicht an. Aber das wird wohl nicht bezweifelt
werden dürfen, daß Darwin Recht hat mit der Vermuthung,
das Lachen sei ursprünglich der Ausdruck der Freude. Wenn
man nun bedenkt, wie viel poetische Versuche darauf berechnet
sind, Lachen zu erregen, so ist klar, daß wir auch hier noch an |#f0098 : 82|

einer Quelle der Poesie stehen. Possenreißerei fanden wir
oben unter den Vergnügungen der Naturvölker. „Die
Australier“ sagt Mr. Bulmer, ein Missionär, bei Darwin
S. 211, „haben ein sehr scharfes Gefühl für das Lächerliche;
sie sind ausgezeichnete Mimiker, und wenn einer von ihnen
im Stande ist, die Eigenthümlichkeiten irgend eines abwesenden
Gliedes des Stammes nachzuahmen, so ist es sehr
häufig Alle im Feldlager convulsivisch lachen zu hören.“


  Da gewinnen wir ein weiteres: der Einzelne für sich
mag springen, jubeln und lachen; er thut's in Gesellschaft, im
Chor; ein Einzelner erregt das Lachen der Gesellschaft, des
Chores, und so haben wir zum ersten Mal Schauspieler und
Dichter und Publicum.


  Jnsofern Gesellschaft betheiligt ist, tritt die Poesie in
dieser embryonischen Gestalt ein unter die Vergnügungen
der natürlichen Menschen, die gleichsam öffentlichen Ergötzlichkeiten.
Jn einer der betrachteten Formen ist auch schon
die μίμησις, die Nachahmung, uns entgegengetreten. Da
könnte man nun wieder ähnlich wie beim Gesang die Frage
aufwerfen, ob etwa die menschliche Possenreißerei Nachahmung
des Affen sei? Und wir werden wieder antworten: Nein,
vielmehr fließt beides aus derselben Quelle. ─ Dazu nun
die Äußerung einsamer Freude ─ und was wir gleich
hinzufügen dürfen, etwa die werbenden Töne der Liebenden
als Keime individueller Lyrik.


  All dies möglicher Weise noch ohne die Sprache! Wenn
nun die Sprache hinzutritt, so ist es gewohnheitsmäßig, weil
sie zur Mittheilung, zum Verständniß im Verkehr verwendet |#f0099 : 83|

worden und mit manchen Gemüthserregungen von da her
associirt ist.


  Das erste Hinzutreten der Sprache war ohne Zweifel
directes Benennen des Freude erregenden Gegenstandes, bloßes
Aussprechen der Freude.


  Aber schon in jenem australischen Liedchen, auf welches
wir oben verwiesen, ist mehr als dies Aussprechen der Freude
vorhanden: Tanz und Gesang sind begleitet von einer
symbolischen Handlung, und die Worte des Liedes erklären
die Symbolik. Was ist genauer das Symbolische? Jm vorliegenden
Fall macht Vorempfindung eines Vergnügens sich
Luft in einer Handlung, welche mit dem künftigen Vergnügen
einige Ähnlichkeit hat; das hinzutretende Wort steigert
die Ähnlichkeit und constatirt sie dadurch zugleich.


  Da gewinnen wir die Vergleichung als ein Formelement
der Poesie (auch ihre Art ist in dem australischen
Liedchen zu beachten: Negation als Vergleichspartikel wie
im Altindischen), und wir gewinnen eine symbolische
Handlung
als ein Ausdrucksmittel der Poesie, und dadurch
das Symbol überhaupt als ein Ausdrucksmittel der Poesie:
das theilweis Ähnliche als Hindeutung ist doch etwas Anderes
als der Gegenstand selbst, der gemeint ist.


  Der eigentliche Gegenstand aber ist an dieser Stelle die
Vorstellung eines in naher Zeit eintretenden Vergnügens,
ein Künftiges also.


  Jnsofern diese Vorstellung Ausdruck gewinnt durch Tanz
und Lied, setzt sie voraus, daß der Chorus angeleitet ist durch
einen Vorsänger, durch einen Dichter, der zuerst das Liedchen |#f0100 : 84|

und die symbolische Handlung vorschlug, der das ganze Fest
erfand.


  Also wir constatiren: Erfindung eines geselligen Vergnügens,
welches darin seinen Gemüthsgehalt hat, daß man
sich ein künftiges Vergnügen vorstellt und diese Vorstellung
bekräftigt, darstellt durch eine symbolische von deutenden
Worten begleitete Handlung. Die Vorstellung wird verstärkt
durch die Handlung und Bewegung, insofern der
ganze Mensch dadurch in den Dienst der Vorstellung gestellt
wird und eine Thätigkeit ausübt; dies ist viel stärker als
wenn nur die Worte vor dem Publicum gesungen, die
Handlung durch einen andern vollzogen wird. Publicum
und Darsteller fallen hier zusammen, und das ist die kräftigste
Form, wie man poetisch ergriffen werden kann.


  Wie steht es aber mit dem Vergnügen selbst, welches
hier vorgestellt und als künftiges angesehen wird? Der
betreffende australische Festact ist nichts anderes als eine Entwicklung
des werbenden Lockrufes des Männchens nach dem
Weibchen, wovon Darwin so viel Gebrauch gemacht hat.
Es ist ein Act vorläufiger Stillung der Sehnsucht, ein
Phantasiegenuß statt des wirklichen; wobei auch anzuschlagen
die Anstrengung der Tanzenden, mit den Speeren Werfenden,
Singenden, die eine körperliche Entladung giebt. Man mag
sich vorstellen, daß die Erfindung in eine Zeit fällt, wo die
Männer im Kriege von den Weibern getrennt waren.


  Hier wäre also festzustellen: die Poesie gewährt Vergnügen
durch die Vorstellung eines künftigen Vergnügens;
sie ist begleitet von den altüberlieferten Äußerungen des |#f0101 : 85|

wirklichen Vergnügens: Springen und Jubeln, Tanzen und
Singen, aber auf höherer Stufe und vermehrt, verdeutlicht
durch eine symbolische Handlung. Und vermuthlich ist auch die
dritte Äußerung des Vergnügens, das Lachen, damit verbunden:
vermuthlich lachen diese Menschen auch im Vorgefühl
des Vergnügens.


  Jedenfalls waren wohl, wie wir schon vermutheten, die
phallischen Lieder der Griechen ähnlich, und in diesen sieht
Aristoteles den Keim der Spottlieder und Komödien. Jn
den Komödien, z. B. den aristophanischen, ist das phallische
Element nicht gering und wir erkennen darin ein Urelement
des Komischen. Ein solches Urelement ist natürlich auch
vorhanden in dem geschickt Nachahmenden, auch wohl übertreibend
Nachahmenden, d. h. Carikirenden, dem Possenreißer:
Vergnügen, Lachen ─ das bleibt der Zweck. Erinnern
wir uns an die deutsche Fastnacht, wie sie im 15. Jahrhundert
in Nürnberg gefeiert wurde: daß die Sitte erlaubte sich
zu dieser Zeit in aller Art Unanständigkeit zu ergehen, das
war eine große Lust und galt als ästhetischer Genuß. Da
haben wir das Alljährliche in der Wiederkehr der Festzeit,
wo der natürliche uncivilisirte Mensch losgebunden war und
die Fesseln der Scham abgestreift wurden. Das Gesetz hilft
der Natur nach: man dämmt die Zügellosigkeit ein, indem
man sie einmal des Jahres gestattet. Das ist alles ganz
ähnlich wie bei dem australischen Fest, nur daß bei diesem
sich alles ausschließlich um den Liebesgenuß dreht.


  Halten wir aus diesem allem fest, daß, so weit wir bis |#f0102 : 86|

jetzt durch Analyse gewisser ursprünglicher Formen die Poesie
erkennen, folgende Puncte sich ergeben:


  Die Poesie entspringt aus dem Ausdrucke des Vergnügens
durch Springen, Jubeln, Lachen;


  Der ursprüngliche Gegenstand ist vermuthlich erotischer
Natur, doch sind vielerlei Gegenstände möglich;


  Der poetische Erfinder schlägt ein Fest vor, wobei eine
angenehme vergnügliche Vorstellung geweckt wird durch symbolische
Handlungen, mit denen sie durch Worte ausdrücklich
associirt wird, und wo eine weitere Verbindung mit den alten
Ausdrücken des Vergnügens, mit Springen und Singen,
stattfindet.


  Springen und Singen sind von Alters her mit Vergnügen
associirt und dadurch geeignet, Vorstellungen des
Vergnügens hervorzurufen.


  Mannigfaltig ist das Vergnügen, welches so gestiftet
wird. Bei jenem australischen Fest wird den Theilnehmern
geboten:


  a) Das Vergnügen einer bestimmten körperlichen Thätigkeit,
denn diese ist ja wirklich an sich Vergnügen;


  b) Diese bestimmte körperliche Thätigkeit (des Tanzens
und Singens) ist mit der Empfindung des Vergnügens im
Allgemeinen schon von Alters her associirt;


  c) Eine Association derselben findet statt mit einem bekannten
und nahe bevorstehenden speciellen Vergnügen;


  d) Die mit dem Vergnügen associirte symbolische Handlung
ist aber nur eine symbolische, d. h. theilweis ähnliche Handlung
und fordert die geistige Thätigkeit des Vergleichens und Ergänzens |#f0103 : 87|

heraus, gewährt also das Vergnügen geistiger Thätigkeit;



  e) Die hinzutretenden Worte gewähren auch ein Vergnügen:
indem sie unter anschaulicher Heraushebung einer
Unähnlichkeit eben hierdurch die vergleichende Geistesthätigkeit
auf ein einzelnes Object concentriren und so gleichsam dem
Fest einen deutlichen anschaulichen Mittelpunct geben, erleichtern
sie jene geistige Thätigkeit.


  Diese Analyse ist wahrscheinlich noch unvollständig; aber
sie kann vorläufig genügen und bekräftigen, daß es sich
immer um ein Vergnügen handelt, um die Weckung angenehmer
Thätigkeiten und Vorstellungen auf eine angenehme
Weise. Für die angenehme Weise tritt schon als charakteristisch
hervor: das Vergnügen der Vergleichung zwischen
einem dargestellten Gegenstand und dessen Darstellung.


  Die Darstellung ist auswählend, andeutend, symbolisch;
keine vollständige Nachbildung. ─


  Sehen wir nun, wie weit wir mit unsern Erkenntnissen
durch die übrigen Dichtungsgattungen kommen, wie weit wir
an ihnen einen Faden gefunden haben, der uns durch andere
Erscheinungen hindurchleitet: wie weit finden sich alle oder
einzelne dieser Vergnügungsmomente wieder?


  Z. B. gleich das zuletzt hervorgehobene! Das Vergnügen
der Vergleichung zwischen zwei Gegenständen ist ja
ein bekanntes Moment alles poetischen Ausdrucks, aller Metapher,
Parabel, Allegorie zu Grunde liegend.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Explikation Metapher als verkürzte Vergleichung. Wird es als
Frage gefaßt mit Verhüllung eines oder einiger Momente,
die ergänzt werden müssen, um zu errathen, so ergiebt sich |#f0104 : 88|

das Räthsel, eine sehr ursprüngliche Dichtungsgattung, verbreitet
unter vielen Naturvölkern (Tylor, Primitive culture
1, 81─85). Der Zusammenhang zwischen Räthsel und Metapher
ist längst bekannt; das Räthsel aber ist das ältere.
Eine starke Selbstthätigkeit des Genießenden gehört beim
Rathen zum Genuß; der Genuß ist auf diese Weise größer
als der ähnliche, wenn die Auflösung mitgetheilt wird, aber
auch dies ist immer noch ein Genuß, dessen specifischer Charakter
in der Anerkennung der Richtigkeit der Vergleichung
besteht. Dasselbe Vergnügen der Vergleichung gewährt das
Sprichwort (Tylor S. 79─81), indem ein einzelner Fall
unter eine allgemeine Erfahrung oder unter Erinnerung an
ähnliche frühere Fälle subsumirt wird.


  Wir haben ferner schon gefunden: vollständige, vielleicht
übertreibende Nachbildung in der mimischen Posse, zunächst
als Verspottung eines Einzelnen gedacht. Das Vergnügen
besteht im Vergleich zwischen dem bekannten Original und
der nachahmenden Darstellung, in der Freude über eine gelungene
Leistung, in der Vorstellung der Lächerlichkeiten des
Originals, die noch einmal leiblich und eventuell gesteigert
vor Augen stehen.


  Erinnern wir uns ferner an den schon statuirten Fall:
ein Einzelner, der sich freut, legt dies durch Gebärden,
Springen und Jubeln an den Tag; er legt es auch durch
Worte an den Tag, denn sein Kopf, der den Sprachschatz
der betreffenden Nation birgt, bietet auch Worte dar, welche
mit freudigen Vorstellungen, und zwar den bestimmten, welche
den Anlaß der freudigen Bewegung geben, associirt sind, und |#f0105 : 89|

bei der Unmittelbarkeit ursprünglicher Natur treten diese
Worte auf seine Lippen und erhöhen seine Freude, indem sie
laut werden. Eine complicirte, verwickelte Freudenvorstellung
wird durch Aussprechen explicirt im eigentlichsten Sinn:
gleichsam auseinander gewickelt; jede einzelne componirende
Vorstellung wirkt durch isolirte Hervorhebung noch viel
stärker u. s. w. Vollends wenn Reize des Klanges, des
Rhythmus echt=sinnlich erfreuend hinzutreten! Da ist also
Freude, Vergnügen, das zum Ausdruck strebt: dies ist der
Keim von lyrischen Gedichten. Sehen Freunde zu, sind sie
Augen- und Ohrenzeugen, so wird die Freude sich ihnen mittheilen,
wenn sie anders nicht gänzlich innerlich abgewandt
sind: wenn in ihrem Jnnern die Freude über die Schwelle
kommen kann. Jn solcher Theilnahme haben wir den Keim
der Theilnahme an lyrischen Dichtungen, der Wirkung lyrischer
Dichtung auf das Publicum, wobei dann außer der
Freude, die im Aussprechen des Gefühls besteht, sich noch
die Freude zeigt, Andern Freude gemacht zu haben.


  Ein anderes ist ein lyrisches Gedicht, Liebeswerben ausdrückend,
Liebessehnsucht erweckend ─ sprachliche Ausbildung
uralter Lockrufe, die Vorstellung des Liebesgenusses zum
voraus erweckend, die Reize des Sprachklangs und Rhythmus
hinzufügend. Auch dies ist eine Gattung, bei der wir uns
ganz innerhalb des alten schon bekannten Kreises halten;
aber sie vertritt ein neues Element lyrischer Poesie, gewiß
eins der stärksten. Es gesellt sich hier zu dem lyrischen Bedürfniß
des Aussprechens noch eine Zweckmäßigkeit: die
Möglichkeit, daß durch dies Aussprechen der Zweck leichter |#f0106 : 90|

erreicht wird, daß das Liebeswerben verstärkte Macht übt,
wenn es ausgeübt wird durch Worte, welche die Vorstellung
erwecken. Das werbende Liebeslied ist ein erfahrungsmäßig
probat gefundenes Mittel zum Zweck: die Vorstellung, die
den Liebenden erfreut, soll durch Ausdruck in der Geliebten
wach werden; Ausdruck und Vorstellung sind associirt. Der
Werbende macht von dieser Erfahrung Gebrauch zu seinem
Zwecke, die Geliebte geneigt zu machen. Wenn hier die speciellen
Reize von Sprachklang und Rhythmus herbeigezogen
werden, so muß ich allerdings auf das spätere Kapitel
„Äußere Form“ verweisen, wo diese Dinge erst erschöpft
werden können.


  Wir bleiben auf dem erotischen Gebiet, gehen aber zu
einer andern ganz neuen Gattung solcher Poesie über. Demodokos
singt bei den Phäaken (Od. 8, 266 f.) von Ares
und Aphrodite, die mitten im Liebesgenuß von Hephaistos
überrascht und, durch ein Netz festgehalten, zum Schauspiel für
die Götter werden. Da haben wir Lachen erregende Erzählung,
vergnügliche Vorstellung erotischen Jnhalts, die in
Form einer Erzählung erweckt wird. Hier also treffen wir die
Gattung der Erzählung, die bekanntlich zu den ältesten Arten
gehört, wie wir sie bei den Naturvölkern fanden. Bei diesem
Beispiel ist Erregung von Lachen ausgesprochener Zweck und
zwar mittelst einer erotischen Vorstellung, eines Liebesabenteuers.
Hier zeigt sich die große Kunst der homerischen Erzählung
in folgenden Zügen. Es ist ein Kunstgriff des Erzählers,
daß er in seine Erzählung ein Publicum hineinbringt:
die Götter, versammelt, lachen und machen so dem Publicum |#f0107 : 91|

das Vergnügen der komischen Erregung des Lachens gleichsam
vor. Die Vorstellung wäre ja an sich schon komisch, aber
sie wird noch weit komischer, wenn Hephaistos sich noch ein
Publicum heranholt, indem so der Erzähler die Empfindung
deutlich macht und dadurch verstärkt, die sein eigenes Publicum
schon von selbst haben könnte. Die Götter oder
wenigstens die männlichen Götter sind versammelt, die Göttinnen
bleiben beschämt zu Hause; die Götter aber lachen
nicht nur, sondern sie sprechen auch: Apollo sagt zu Hermes:
„Möchtest du nicht an der Stelle des Ares sein?“ Hermes
bejaht. Damit wird wieder ein elementares Verhältniß berührt:
das Angenehme, das von einem andern erzählt wird,
beziehen wir unwillkürlich auf uns selbst und denken uns an
seine Stelle, eigene Wünsche werden dadurch angeregt und in
der Vorstellung erfüllt. Der Phantasiebesitz ist auch ein
Besitz, ähnlich wie (z. B. bei jenem australischen Fest) der
Phantasiegenuß auch ein Genuß ist. Hier wird zugleich die
Quelle aufgezeigt, welche die Erzählung uns angenehm macht.
Es braucht nicht ausdrücklich und bewußt eine Substitution
stattzufinden, durch die wir uns an die Stelle des Glücklichen
setzen. Meine Vorstellung von seinem Glück macht schon bis
zu einem gewissen Grade sein Glück zu meinem Glücke,
auch ohne daß ich mich eigentlich hineindenke. Je lebhafter
die erregte Vorstellung, desto lebhafter mein Glück.


  Was nun aber von jener Erzählung erotischen Jnhalts
gilt, das gilt überhaupt von Erzählungen, in denen den
Helden etwas Angenehmes begegnet. Dabei ist das Erotische
uns überall als ein Urmoment der Poesie begegnet, und dies |#f0108 : 92|

spricht jedenfalls zu Gunsten der Hypothese Darwins über
die ursprüngliche Anwendung der Sprache. Ob diese im
Ganzen richtig ist, weiß ich nicht; aber daß sie für diese
ersten Fälle gilt, glaube ich wahrscheinlich gemacht zu haben.


  Jene ästhetische Subsumption, die im Allgemeinen eintritt,
wo die Erzählung dem Helden Angenehmes widerfahren
läßt, hat sehr hübsch Goethe in der 1. Epistel dargestellt:


Sollen wir freudig horchen und willig gehorchen, so
mußt du
Schmeicheln. Sprichst du zum Volke, zu Fürsten und
Königen, allen
Magst du Geschichten erzählen, worin als wirklich erscheinet,

Was sie wünschen und was sie selber zu leben begehrten.

  Folgt die famose Geschichte von dem zerlumpten Rhapsoden
in Venedig. Er will nach Utopien verschlagen sein. Er
wird ausgezeichnet bewirthet, verlangt die Zeche, wird vom
Wirthe durchgeprügelt: das sei eine Verletzung des Gastrechts.
Er wendet sich an den Richter; der bestätigt es:
man beweist sich in Utopien nur tüchtig zum Bürger, wenn
man Hans Ohnesorge ist, nicht arbeitet und nur genießt...
Alle Hörer werden heiter und wünschen solche Wirthe zu
finden, ja solche Schläge zu dulden. ─


  Das Resultat unsrer bisherigen Untersuchungen ist das
folgende:


  Poesie entspringt aus den primitiven Äußerungen der
Freude, Springen, Singen, Lachen; sie fließt aus angenehmer
Stimmung und will angenehme Stimmung erregen. Das |#f0109 : 93|

stärkste angenehme Gefühl des primitiven Menschen ist das
erotische. Vermuthlich waren es daher erotische Erregungen,
welche zur ältesten Poesie führten: die stärksten und verbreitetsten
Gefühle sind die ursprünglichsten.


  Die Poesie trat ein unter die Unterhaltungen, Vergnügungen,
Ergötzlichkeiten, unter die Spiele des primitiven
Menschen. Sie wurde öfters Darstellung, nicht bloß durch
Worte, sondern auch durch Handlungen ─ und nicht bloß
durch vollständige Nachahmung, sondern auch durch theilweise,
andeutende, symbolische Nachahmung.


  Hiernach ist es wenigstens z. Th. zutreffend (obgleich doch
nur eine unvollständige Erkenntniß), wenn Schiller die Kunst,
also auch die Poesie, aus dem Spieltrieb ableitet (Briefe über
ästhetische Erziehung 14. f. Werke 10, 320 f.). Freilich gelangt
er dazu auf einem sehr abstracten Wege und so, daß
er gleich wieder Gesetze zu geben sucht, nur die ihn schön
dünkende Schönheit als Gegenstand des Spieltriebes im
Auge hat u. s. w.


  Er stellt den tiefsinnigen Satz auf: „der Mensch ist
nur da ganz Mensch, wo er spielt“ (ebd. S. 327). Jch
könnte diesem Satz eine Deutung geben, die sich mit unsern
Betrachtungen vereinigte. Aber es würde auch nichts Erkleckliches
damit gewonnen. Etwas weniger abstract S. 369 ff.
377 f. Schillers Gedanken sind hübsch erläutert und in eine
minder abstracte Sprechweise übersetzt von J. E. Erdmann
„Das Spiel“ (Ernste Spiele 3. Aufl. S. 155 f.). Er redet
von der im Spiel wirkenden Schöpferkraft der Phantasie
und verweist z. B. auf das Kind, das einen beliebigen Stock |#f0110 : 94|

für ein Pferd oder für eine Lanze oder für ein Schießgewehr
erklärt und dadurch schafft, das heißt (sagen wir) symbolisch
darstellt, die theilweise Ähnlichkeit für eine vollständige erklärt
oder als solche auffaßt. Vgl. auch Lazarus, Über die
Reize des Spiels (Berlin 1883), wo ein besonderer Spieltrieb
mit Recht abgelehnt wird.


  Die angenehme Vorstellung, mit welcher die Poesie
spielt und durch welche sie wirkt, ist nun wahrscheinlich
zuerst die erotische, aber jedenfalls nicht immer und nicht
allein die erotische, obgleich ja, wie wir wissen, auch heute
das erotische Element der Poesie ein starkes ist in allen
Gattungen, nur nicht gerade das sinnlich=erotische, wenigstens
nicht nackt.


  Die Analyse der angenehmen Vorstellung überhaupt gehört
in das Kapitel vom Stoff, d. h. der Versuch, eine
erschöpfende Aufzählung der angenehmen Gegenstände zu
geben.


  Hier will ich nur darauf hinweisen, daß zu den angenehmen
Vorstellungen Macht, Reichthum, große Körperkraft,
siegreiche Bethätigung, erfolgreiches Wirken, sei es durch
List, sei es durch Stärke, unzweifelhaft gehören. Hier erkennen
wir schon, wie das Große und Erhabene ästhetisch-erfreulich
wirkt und weshalb es Vergnügen macht. Am
deutlichsten ist es immer zu sagen: durch die Voraussetzung
der Substitution. Wenn die Bibel Gott mit dem Wort
schaffen läßt, so ist auch dies eine wünschenswerthe vergnügliche
Vorstellung: wir wünschten solche Macht zu besitzen.


  Aber noch ist eine schwere Frage zurück: wie kommts, |#f0111 : 95|

daß das Unangenehme in der Poesie angenehm
wird, daß der dargestellte Schmerz Vergnügen
macht?
Hier wird nicht die angenehme Vorstellung erweckt,
sondern gerade die unangenehme. Und dennoch wirken die
Dichter mit tragischen, schmerzlichen Sujets. Nirgends ist der
eigenthümliche Widerspruch, den das Vergnügen des Schmerzes
ausmacht, so ergreifend dargestellt wie in einer herrlichen
Stelle des Augustinus (bei Bernays, Zwei Abhandlungen
über die Aristotelische Theorie des Dramas, S. 15). Auch
Schiller hat sich mit der Frage beschäftigt in der Abhandlung
über den Grund unseres Vergnügens an tragischen
Gegenständen (Werke 10, 1 f.). Aber seine Antwort setzt
einen hochentwickelten sittlichen Zustand voraus, Sinn für das
Edle, für Aufopferung, Befriedigung darüber, daß tragisches
Leiden zu edlen Zwecken geschieht, daß der Held, der sich
hingiebt, den Tod willig auf sich nimmt, dies für die
Menschheit thut.


  Dies Erhebende im Tragischen ist gewiß vorhanden,
wird aber nur nebenbei empfunden, ist nur ein accessorisches
Vergnügen, das sich erst auf einer höheren Civilisationsstufe
einfindet. Jedenfalls erschöpft es die Sache gewiß nicht.
Gleich dies wird dadurch nicht erklärt, wie auf niederer
Culturstufe Freude am Tragischen möglich ist. Wahrscheinlich
handelt es sich um sehr complicirte, auch noch in verschiedenen
Fällen verschiedene Vorgänge; und die Frage wird
kaum befriedigend zu lösen sein, wenn wir sie nicht anders
als oben formuliren. Wir werden weiter kommen, wenn |#f0112 : 96|

wir sie zunächst ganz allgemein so fassen: wie kommt das
Unangenehme dazu, Gegenstand der Poesie zu sein?


  Das Unangenehme ─ ich analysire es nicht näher. Jch
erinnere nur: das Unangenehmste und Schmerzlichste nach
der gemeinen Ansicht des Menschen ist der Tod. Er ist
gleichsam der Gegenpol der Liebe. Tod und Liebesgenuß
sind für den Menschen die interessantesten Gegenstände: der
Liebesgenuß als Beglückendstes, Wünschenswerthestes, der
Tod als Unerwünschtestes, Hassenswerthestes; jener ersehnt,
dieser gefürchtet.


  Jch fasse meine Reflexionen hierüber in folgenden
Puncten zusammen:


  1) Aussprechen, Mittheilen, poetischer Ausdruck der
Freude fügt erfahrungsmäßig der freudigen Empfindung eine
Freude hinzu. Aussprechen, Mittheilen der Trauer zieht
von der Empfindung des Schmerzes ab: in dem Aussprechen
des Traurigen und Schmerzlichen liegt erfahrungsmäßig ein
Trost. Wenn wir uns vollends denken, daß dies Aussprechen
mit poetischem Ausdruck stattfindet, so kommt noch mehr
hinzu: der poetische Ausdruck ist erfahrungsmäßig mit angenehmen
Empfindungen associirt, woraus ein noch größerer
Trost erwächst. Besonders aber: das Dichten ist eine
Thätigkeit, die nach gewissen Regeln geschieht; das erfordert
eine gewisse geistige Concentration, Sammlung; wenn ich
die Kraft habe, im Schmerze mich zu dichterischem Ausdruck
aufzuraffen, so ist dabei so viel Anderes mit erregtem Sinn
zu erfassen und zu beachten, was nicht die Trauer selbst ist,
daß darin ein Abgezogenwerden, eine Tröstung, Zerstreuung |#f0113 : 97|

liegt ─ eine Befreiung von dem Affecte fast. Wir wissen,
daß Goethe die Poesie als ein Mittel betrachtete, sich vom
Druck, der auf ihm lastete, zu lösen. Jn dem Herbeiholen
von andern Dingen liegt so viel Thätigkeit, daß schon hierdurch
der Geist abgelenkt wird. Aber noch weiter: das
Aussprechen giebt uns das Vergnügen, Theilnahme zu erwecken.
Ein Kind fällt hin und thut sich weh, schreit aber
nicht; man fragt, warum es geschwiegen, und es antwortet:
„Es war ja niemand da!“ Man will Theilnahme erwecken,
man münzt den Schmerz aus, um etwas Anderes einzutauschen.
Man kommt sich wichtig vor, weil Andere um
uns beschäftigt sind. So wirkt auch die Theilnahme von
außen: der banale Trost der allgemeinen Theilnahme, das
„schöne Begräbniß“. So ist das Schreien im Schmerz ein
Aufruf zum Antheil.


  2) Eine gewiß alte Gattung der Poesie sind die Klagelieder
um einen gefallenen Häuptling, Helden, geliebten Angehörigen.
Solche Lieder fallen z. Th. unter 1) Aber außerdem
ist der Fest- und Trauerpomp, ja der Trauerschmaus
ein Vergnügungsmoment. Ferner fand schon Aristoteles (Rhet.
1, 11 C 370b) in den Klagegesängen als ein Element des
Vergnügens: die Erinnerung an den Todten und die Vergegenwärtigung
dessen, was er gethan und wie ers gethan; also
alles Preisen des Todten erweckt eine angenehme Vorstellung.
Analoges können wir noch heut erfahren. Müllenhoff schrieb
mir: „Der Tod ist der treueste Freund des Menschen, weil
er erst das vollkommene Bild der Persönlichkeit giebt.“
Endlich sind die Trauergesänge vielfach verbunden mit dem |#f0114 : 98|

Cultus der abgeschiedenen Seelen, mit Manen-Cultus: dieser
beruht darauf, daß die Seele fortlebt, und das Lied soll den
Todten geneigt machen, seine Kraft oder seinen Willen zu
schaden einzuschränken; es dient also zur Besänftigung des
Gespenstes.


  3) Wie hier vielleicht auf den Willen eines Todten
eingewirkt werden soll, so kann die Poesie überhaupt benutzt
werden, um auf den Willen einzuwirken. Es kann die unangenehme
Vorstellung in Poesie behandelt werden, um verstärkt
zu werden und so auf den Willen oder die Gefühle
des Publicums anregend einzuwirken. Auf den Willen,
z. B. um zur Rache anzuspornen; so kann das Häßliche,
Unangenehme, sittlich Bedenkliche dargestellt werden, um es
als strafbar zu denunciren. Auf das Gefühl, um Abscheu
vor dem Bösen zu erwecken, um den Sündigen, der das
Böse gethan, zur Reue zu bringen; um vor Ähnlichem zu
warnen. So hat wiederum der Tod im Mittelalter in diesen
Dingen eine große Rolle gespielt: das Memento mori, zugleich
noch verbunden mit der schrecklichen Vorstellung künftiger
Strafen. Solche Vorstellung soll natürlich gar nicht
angenehm sein; die Poesie wird hier nicht benutzt, um angenehme
Vorstellungen zu erwecken, sondern um einen
bestimmten sittlichen Zweck zu erreichen. Ebenso die Todtentänze,
welche schildern, wie der Tod alles gleich macht.
Poetisch aber drücken sich hier die Vortragenden deshalb
aus, weil die Annehmlichkeit der Form des Vortrags die
Macht des wirksamen Schrecklichen erhöht.


  4) Das Unangenehme, Häßliche, Abschen Erregende, |#f0115 : 99|

das komisch wirken kann, fällt selbstverständlich unter die
vorigen Betrachtungen über das Vergnügen des Lachens.


  5) Das Vergnügen, das wir an der darstellenden Nachahmung
des Häßlichen, des Schmerzlichen, des Todes empfinden,
indem wir die Richtigkeit der Darstellung controliren, die
Darstellung mit dem Original vergleichen ─ dieser aristotelische
Gesichtspunct kommt natürlich auch hier als einer
neben andern in Betracht, setzt aber schon ein intelligentes,
lebenserfahrenes, bewußtes Publicum voraus; ein naives
Publicum auch von heut ist nicht im Stande, dies Vergnügen
zu würdigen.


  6) Das Vergnügen, welches ich empfinde, wenn ich
etwas Unbekanntes dargestellt sehe, das Vergnügen der befriedigten
Wißbegierde, wenn ich z. B. nie einen Wahnsinnigen,
wenn ich nie einen Todten gesehen habe und nun zum
ersten Mal, etwa auf der Bühne oder in einer anschaulichen
Erzählung, den Wahnsinn, das Sterben vor mir sehe, ist
gewiß auch ein Element des Vergnügens, das hier mitspielen
kann, aber gewiß so wenig als das unter 5) besprochene ein
ursprüngliches und altes.


  7) Das Unangenehme, das einem Andern begegnet,
kann für mich ein Angenehmes sein: der Triumphgesang
über erschlagene Feinde, der Opfergesang bei der Schlachtung
gefangener Feinde, der Schmausgesang der Menschenfresser
mag leicht zu den uralten Gattungen der Poesie gehören,
obgleich ich nur die erstere Gattung nachweisen kann. Da
ist ja auch die Vorstellung des Todes vorhanden, großes
Sterben, ungeheure Verwüstung, massenhafte Vernichtung; |#f0116 : 100|

diese Vorstellung wirkt aber nicht unangenehm, wenn wir
selbst sicher sind: der menschliche Egoismus spricht mit und
die Erwägung, daß die Feinde sonst uns getödtet hätten.


  8) Durch das Verfahren der ästhetischen Substitution
kann sich das Verhältniß von 7) auch auf Andere übertragen,
auf die Helden epischer Erzählungen oder dramatischer
Darstellungen. Wir treten für die sympathische Sache
ein, auch wenn wir nicht mehr direct davon Vortheil haben;
so haben wir, als bloß betrachtendes Publicum dem Verlauf
gegenüberstehend, Vergnügen daran, wenn der Held siegreich
ist. Wir begleiten den Sieger, identificiren uns mit ihm,
schreiten mit ihm über die Leichen erschlagener Feinde, genießen
mit ihm die Aufregung und Spannung des Kampfes
und die Freude des Sieges. War der Kampf mühsam,
glaubten wir den Helden in ernstlicher Gefahr zu unterliegen, so
wirkt der Triumph um so göttlicher. Hier kommt zunächst
wieder der Egoismus indirect in Betracht, insofern wir uns
mit dem Helden identificiren. Außerdem wirken aber noch
andere Momente:


  a) Ein Princip des Contrastes, dessen Werth wir noch
im vierten Abschnitt dieses Kapitels näher erwägen wollen: wir
empfinden das Vergnügen, durch Nacht zum Licht gekommen
zu sein, wenn wir den Helden durch Gefahren hindurch
zum Siege gelangen sehen. Dasselbe Princip kann sich
auf die Gestalten ausdehnen, die uns überhaupt vorgeführt
werden: dem sympathischen Sieger könnten unsympathische
Feinde gegenübergestellt werden; die Gegner, die er besiegt, |#f0117 : 101|

werden um so sicherer keine Theilnahme erregen, je häßlicher
sie dargestellt werden;


  b) Die Freude am Kampf als solchem wirkt hierbei noch
mit: den Kämpfen von Menschen und Thieren zuzusehen,
gehört zu den Vergnügungen der Naturvölker, wie Sie sich
erinnern werden; auch höher entwickelte Völker erfreuen sich
an Gladiatorenspielen, an Stierkämpfen; die Griechen freilich
nur an unblutigem Wettkampfe. Doch immer ist auch dies
ein Kampf; die Spannung, die Angst, wie es werden wird,
ist ein Vergnügen, welches aber nur dann rein ausklingt,
wenn der sympathische Held siegt.


  9) Das älteste Verhältniß dieser Art ist gewiß das bei
8) vorausgesetzte: der sympathische Sieger, der unsympathische
oder mindestens gleichgiltige Besiegte. Dies ist das älteste
und noch heut allgemeinste, beliebteste, welches das größte
Publicum zählt. Schon Aristoteles Poetik Kap. 13 bezeugt,
daß Fabeln von der Art der Odyssee die beliebtesten sind und
den Wünschen der Zuschauer am meisten entgegenkommen.


  Hier schlägt es ein, daß wenn eine Erzählung in Fortsetzungen
erscheint, oft der Autor vor dem Ende angefleht
wird, die Erzählung zu dem erwünschten Schluß gelangen
zu lassen. Und solche anonymen Zuschriften aus dem Volke
sind sehr häufig, wie mir Herr Rodenberg gesagt hat.


  Auch ist darauf hinzuweisen, daß die primitiven Menschen
Freude haben an Glücksspielen und Wetten aller Art,
am Wagen und Gewinnen ─ aber am Wagen immer um
des Gewinnes willen, in der Hoffnung, in der Berechnung
der Möglichkeit, daß sie gewinnen. Der primitive Mensch |#f0118 : 102|

versucht das Glück. Das definitive Verspielthaben ist schlechthin
Unglück. So lange Hoffnung bleibt, ist das gewagteste Spiel
reizvoll. So haben wir auch für den Helden die größten
Befürchtungen, aber wir sind befriedigt, wenn er siegreich
herauskommt.


  Jünger ohne Zweifel und in der Wirkung nicht so allgemein
ist das abweichende Verhältniß: daß der Besiegte
Sympathie und in Folge dessen Mitleid einflößt oder daß
der sympathische Held schließlich unterliegt, das Licht von der
Nacht verschlungen wird. Dies Verhältniß, wie gesagt, ist
offenbar jünger! Denn der primitive Mensch ist überhaupt
nicht mitleidig, sondern eher grausam; er wird über den Besiegten
eher lachen als weinen, und unzählige Mal gleichgiltig
über ihn hinwegschreiten. Der unterliegende sympathische
Held aber giebt nothwendig eine unangenehme Empfindung,
die auf der ästhetischen Subsumtion beruht. Für Viele ist
noch heute oder heute wieder mehr als zu anderen Zeiten, z. B.
im 16. und 17. Jahrhundert, dieses Unangenehme schlechthin
unüberwindlich und durch nichts gemildert oder compensirt;
das sind die Leute, die in keine Tragödie gehen mögen, weil
es sie zu sehr angreift, oder weil es des Traurigen im Leben
genug gebe und man es daher nicht noch auf der Bühne
suchen wolle.


  Für diejenigen, welche in Tragödien gehen und also
ein Vergnügen darin finden müssen, können nun sehr verschiedene
Gründe maßgebend sein, z. B. die unter 5) und 6)
angeführten; das Vergnügen an der Schauspielkunst, oder |#f0119 : 103|

sonstige Compensationen. Von diesen wollen wir wieder eine
Reihe anführen:


  a) Setzen wir den Fall, daß der Held durch einen Fehler
unterliegt; dies empfiehlt Aristoteles vorzugsweise für die
Tragödie. Dann tritt doch eine Befriedigung ein: über die
Gerechtigkeit des Weltlaufs, besonders wenn es Fehler sind,
unter denen wir selbst zu leiden haben würden: wenn z. B.
der Held ein blutiger Tyrann ist. Jedenfalls liegt in dem
Fehler des Helden eine Milderung des Unangenehmen, der
Tragik des Unterliegens; sei es daß der Held an Sympathie
einbüßt, sei es daß eine gewisse Verstandesconsequenz
in seinem Schicksal liegt: „geschieht ihm recht“, wenn er
sich nicht mäßigen kann oder wenn er verblendet ist. Dies
sind die wünschenswerthen Dinge für die Allgemeinheit, als
deren Glied der Zuschauer sich fühlt, und ihre Zweckmäßigkeit
bewährt sich, indem der Held unterliegt. Wir sagen uns:
die Summe des Wohlseins wird durch solche Leute gestört.
Aber setzen wir, davon absehend, das Verhältniß einer ungemilderten
Sympathie:


  b) Der Tod des Helden kann der Preis sein für ein
auch dem Zuschauer wünschenswerthes Gut; er kann sich
opfern für den Ruhm, wie Achill; er kann sich opfern zum
Wohl der Menschheit, für eine Jdee (wie es Schiller in der
erwähnten Abhandlung im Auge hat) ...


  c) Der größere Schmerz hebt den geringeren auf.
Das gilt körperlich: der stärkere Schmerz absorbirt den
geringeren; und das läßt sich hierher übertragen: neben
furchtbaren Schicksalen, die unsere ganze Theilnahme fesseln, |#f0120 : 104|

neben Weltschicksalen verschwinden die kleinen Leiden des Lebens;
wir haben einen Werthmaßstab zur Schätzung der
Dinge; was uns drückt, erscheint klein den ungeheuren Schicksalen
gegenüber. Droht uns ein großes Unglück, sind wir
gefaßt darauf Alles zu verlieren, so läßt die Erinnerung
daran uns lange Zeit Geringeres verschmerzen.


  So wirkt die Tragödie als Aufhebung des geringeren
Schmerzes: und das ist gewiß ein starkes Motiv des Vergnügens.



  Aber das Unglück, mit dem die Tragödie uns bedroht,
trifft uns doch schließlich nicht:


  d) Das Leiden, das wir vor uns sehen, das unsere
Phantasie gefangen nimmt, ist doch schließlich nicht unser
Leiden. Wie wir uns bei glücklichen, erwünschten Ereignissen
den Trägern substituiren, so unterscheiden wir uns von ihnen
in unerwünschten Begebenheiten ─ bis zu einem gewissen
Grade; wir sind uns bewußt, daß nicht wir es sind, die da
leiden, und das ist ein großes Milderungsmotiv. Bricht das
Unglück über uns selbst hinein, hört der Werthmaßstab für
Freude und Schmerz auf, so hört auch die ästhetische Wirkung
auf; die Tragik ist dann zu gräßlich.


  e) Wie es im Leben so große körperliche und moralische
Schmerzen giebt, daß der Leidende für sich und seine Theilnehmenden
für ihn den Tod herbeiwünschen, so kann auch
in der Poesie der Tod als ein Erlöser zu tröstlichem Abschluß
erscheinen; der noch größere Schmerz des Lebens läßt
den Tod als den geringeren erscheinen. Dann also erscheint
der Tod nicht mehr als Unangenehmes, sondern als Erlösung. |#f0121 : 105|

So für das moralische Leiden besonders: „Das Leben ist der
Güter höchstes nicht, der Übel größtes aber ist die Schuld“
─ das behält eine ewige Wahrheit. Die Compensation
von c) erfüllt sich im Stoff selbst.


  f) Der Tod an sich ist für den Menschen etwas unendlich
Jnteressantes, weil er ihm sicher bevorsteht, weil er
dieses Künftige, wie alles Künftige, durchdringen möchte. Er
ist unendlich interessant, selbst abgesehen von dem Jnteresse
an einem künftigen Leben, welches seinerseits so manche poetische
Production veranlaßt, so manches poetische Motiv geliefert
hat. Bei dem Jnteresse an dem Tod an sich ist wieder
das Jnteresse der Wißbegierde rege. Dies Jnteresse muß
wohl das Motiv sein, weshalb sich die Menschen zu Hinrichtungen
drängen. Man liest gern Erzählungen über die Art,
wie bedeutende Menschen gestorben sind, oder über die bedeutende
Art zu sterben, die vielleicht bei unbedeutenden
Menschen gefunden worden. Die Heldenmüthigkeit, mit
welcher jemand leidet, die Ruhe, mit der er dem Tod entgegensieht,
seine Fassung, die bedeutenden Worte, die er in
dieser Lage noch spricht ─ alles das ist uns ungeheuer interessant,
und wiederum durch die ästhetische Substitution ein
Gegenstand unserer Bewunderung und somit des ästhetischen
Gefallens, des Vergnügens.


  Aber auch wo blasse Todesfurcht sich zeigt, ist das
Schauspiel uns interessant, weil es immer mit der Frage
verbunden ist: wie wird es uns einmal ergehen?


  g) Einer Hinrichtung beizuwohnen, ist gewiß nicht ungemischt
angenehm. Es wird vielmehr wohl etwas Schmerzliches |#f0122 : 106|

haben, etwas Grausiges, weil uns der Tod entsetzlich
ist, weil er hier von einem Menschen einem andern zugefügt
wird, mit Bedacht, nicht in der Leidenschaft, so daß man
das Tödten allmälig und sicher herankommen sieht. Ja
eine körperliche Sympathie mag hinzukommen, daß man den
Todesstreich fast selber fühlt; bringts doch die Vorstellung
körperlicher Schmerzen bis zu der Jllusion ihres Vorhandenseins
oder bis zur wirklichen Erregung der betreffenden
Nerven, um wie viel mehr in sinnlicher Anschauung des
wirklichen Vorganges.... Also gewiß schauerlich. Aber
das Schauerliche hat seinen Reiz, wie die Freude an Gespenstergeschichten
zeigt, die gerade in niedrigen Regionen
sehr stark vertreten ist, in niedrigen Regionen, die starke
Erregung brauchen, um überhaupt gerührt zu werden. Es
scheint also die starke Erregung, die Aufregung an sich ein
Vergnügen zu sein. Das Schauerliche muß eine gewisse
Befriedigung gewähren und zwar nicht bloß der Wißbegierde,
sondern etwas Elementares muß mitspielen. Die Aufregung
kann nun ein Vergnügen sein.


  Geistig α) weil die Aufregung ein Außersichsein, Absorbirtsein
ist, wodurch immer die unter c) beschriebene Wirkung
erzielt wird: die täglichen kleinen prosaischen Leiden sind zurückgedrängt.
Der Bauer, der sich eine Gespenstergeschichte
erzählen läßt, denkt nicht an die Steuern, die er zahlen muß,
nicht an die Prügel, die er vielleicht von seinem Weib bekommt,
nicht an den Regen, der zu lang ausbleibt, nicht an
die Wärme, die nicht kommen will, nicht an den Proceß, den
er führt, nicht an die Diebe, die ihm sein Obst stehlen, nicht |#f0123 : 107|

an die Kinder, die ihm Verdruß machen u. s. w. Dies
Außersichsein, diese Concentration auf ein äußeres Object,
bildet ferner eine Gegenwirkung gegen die Zerstreutheit,
welche unangenehm ist.


  β) Das Schauerliche ist doch immer nicht Erlebniß, es
gewährt das Vergnügen der Spannung, und die Geschichte
ist einmal aus. Das Peinliche endigt; durch den Contrast
mit der täglichen Gewohnheit verursacht dann die Besinnung
auf die schlichte leidlose Gegenwart eine behagliche Empfindung.
Dies Aufathmen am Schluß ist eine Wohlthat, die
man erfahrungsgemäß vorausahnt. ─ Da wirkt also das
Bedürfniß nach Abwechslung, s. Abschnitt IV. Dieses Unangenehme
ist nun einmal gründlich abgemacht; nun kommt
etwas anderes an die Reihe: die Affecte erschöpfen sich (s. Bernays,
Zwei Abhandlungen S. 131).


  Körperlich: γ) Zu diesen geistigen Momenten kommt vieles
Körperliche. Die Aufregung ist wahrscheinlich wohlthätig,
jedenfalls angenehm: sie erleichtert die Circulation, das Blut
rollt rascher durch die Adern, das giebt ein Gefühl von
Kraft, Leichtigkeit und Freiheit; wahrscheinlich vermehrten
Blutandrang gegen das Gehirn, der bis zu einem gewissen
Grade angenehm sein mag. Hier schlagen Untersuchungen
des Jtalieners Mosso ein, der zuerst Beobachtungen hierüber
angestellt hat, doch ohne über allgemeine Erfahrungssätze sicher
herauszukommen.


  Hierher gehört es vielleicht oder zu h), wenn unter Umständen
sogar körperliche Schmerzen ein Vergnügen zu bereiten |#f0124 : 108|

scheinen: das Prügeln im russischen Lied, das Zwicken
und Zwacken, von welchem Forster erzählt?


  Endlich h) ist zu fragen, ob vielleicht der Ausdruck
des Schmerzes, das Weinen, an sich ein Vergnügen sein
könnte? Auszuscheiden ist zunächst das sehr complicirte
Phänomen der Freudenthränen des 18. Jahrhunderts, die
man über seine eigene moralische Vollkommenheit oder Gutherzigkeit
vergießt. Man sieht das Mitleid als eine sittliche
Pflicht an und freut sich daher über jede mitleidige
Regung; man freut sich desto mehr, je stärker sie ist, je
sichtlicher sie sich manifestirt, man freut sich über eine mitleidige
Thräne als ein Unterpfand des eigenen guten Herzens.
Aber wenn wir nun davon absehen: auch ohne solchen
sittlichen oder pseudosittlichen Drang können Thränen ein Vergnügen
sein: sie erleichtern ein belastetes Herz. Jnsofern
kann eine gesteigerte tragische Erregung angenehm werden,
wenn sie bis zu Thränen geht; aber soll sie an sich angenehm
sein, so müßte das auf den vorhin berührten Verhältnissen
des Contrastes und der Compensation beruhen.


  Kann außerdem das Weinen an sich unter Umständen
angenehm werden? Das Lachen kann ja bis zu Thränen
gehen; und solche Thränen sind doch nicht unangenehm, obgleich
es Personen giebt, die bei heftigem Lachen „o weh“
zu sagen pflegen. Jn dieser Verwandtschaft des Lachens
und Weinens, die auch sonst vorhanden (die Mienen des
Lachens und Weinens sind auch nicht so sehr weit von einander
entfernt), könnte ein weiterer Aufschluß liegen. Aber
man müßte wohl immer an besondere Dispositionen denken. |#f0125 : 109|

Der Durchschnitt der Menschen scheut tragische Gegenstände
und wünscht nicht zu weinen.


  Hier haben die Psychophysiker einzusetzen: es wäre zu
untersuchen, ob das Vergnügen an tragischen Gegenständen
auf solcher besondern Disposition beruht; Gegenstände ästhetischer
Natur wären aufzusuchen, von denen man sich gern
bis zu Thränen rühren läßt. Nach Herrn Dr. Ebbinghaus
sind sie hier noch nicht weiter gekommen.


  10) Mit der unter 9) behandelten Frage hat sich auch
Aristoteles beschäftigt, und hier schlägt die berühmte Katharsis
ein. Aristoteles spricht Kap. 14 von der aus Mitleid und
Furcht entspringenden Lust, dem daraus entspringenden Vergnügen
(ἡδονή): er weiß also zunächst, daß Mitleid und
Furcht erregt werden durch tragische Gegenstände in Tragödie
und Epopöe, nicht nur in der Tragödie, und er behauptet,
dahinter liege ein Vergnügen; er spricht sich aber hier nicht
näher darüber aus, wie das geschehe. Aber wenn er in der
bekannten Definition der Tragödie im selben Kapitel behauptet:
sie weckt Mitleid und Furcht und bewirkt die
Katharsis dieser Affecte, so ist es wohl offenbar, daß eben
diese Katharsis zugleich das Vergnügen ist, daß eben in ihr
das Lustgefühl, die ἡδονή, besteht. Was ist nun aber diese
Katharsis, welche Mitleid und Furcht in der Tragödie erfahren?
J. Bernays hat unzweifelhaft nachgewiesen, daß
Katharsis ein medicinischer Ausdruck sei; und zwar besteht
die kathartische Heilung darin, daß Medicamente eingeführt
werden, welche selbst zugleich mit dem Störenden, das durch
sie beseitigt werden soll, aus dem Körper wieder heraustreten; |#f0126 : 110|

also, übertragen, die Katharsis besteht in der Befreiung
von gewissen Affecten mittelst der Anregung gewisser
Affecte (Überweg, Übers. S. 58). Also das Vergnügen, das
wir in der Anregung von Mitleid und Furcht finden sollen,
besteht darin, daß wir durch die Anregung der Affecte Mitleid
und Furcht befreit werden von eben diesen Affecten, daß
wir diese krankhaften Affecte verlieren, indem sie angeregt
werden. Und in dieser Befreiung eben besteht nach Aristoteles
das von den tragischen Gegenständen erregte Lustgefühl.


  Aristoteles sprach vermuthlich in den verlorenen Theilen
der Poetik, wie Bernays aus späteren, wahrscheinlichen, Anspielungen
der Neuplatoniker schloß, auch von κίνησις τῶν
παθῶν („Sollicitation der Affecte“, Bernays S. 47) und
einer dadurch bewirkten ἀφοσίωσις τῶν παθῶν („Abfindung
der Affecte“); er sprach auch von ἀπέρασις, wieder mit einem
medicinischen Ausdruck: „Abschöpfung einer überfließenden
Feuchtigkeit“, also etwa „Ableitung“ (ebd. S. 52).


  So weit scheint mir alles sicher und unzweifelhaft. Die
Zweifel beginnen bei der näheren Erklärung. Hierüber sind
unzählige Vermuthungen aufgestellt worden, zum Theil allerdings
rein subjectiv. Aber uns interessirt nicht so sehr die
Meinung des Aristoteles, als was für die Sache daraus zu
gewinnen. Und die verschiedenen Erklärungen des Aristoteles
sind ebenso viele Ansichten über die Wirkung der Tragödie.
Es fragt sich, ob dabei Momente auftauchen, die uns auf
unserem bisherigen Wege noch nicht begegnet sind.


  Mitleid und Furcht können im Einzelnen umstritten
werden; im Ganzen ist klar, um was es sich handeln muß: |#f0127 : 111|

Mitleid mit dem sympathischen Helden, welcher leidet; Furcht
durch Substitution: Furcht vor ähnlichem Fehlen, Furcht vor
ähnlichem Leiden, das uns treffen kann, weil auch wir
Menschen sind. Diese Gefühle sind unangenehm. Wodurch
werden sie angenehm?


  Bernays S. 143 f. sammelt die Spuren, nach denen
die Griechen schon früh auf die gemischte Natur der Empfindungen
aufmerksam geworden; er verweist auf den platonischen
Philebus, wo die gemischte Natur aller für gewöhnlich in
Lust und Unlust geschiedenen Empfindungen aufgewiesen
wird: in aller Lust doch ein Stück Unlust, in aller Unlust
ein Stück Lust; was übrigens neuerdings von Schopenhauer
sehr breit auseinandergesetzt worden ist. Er verweist ferner
auf Stellen der aristotelischen Rhetorik, wo z. B. das Vergnügen
des Zorns hervorgehoben wird, ein Vergnügen, das
man besonders lebhaft in der Jugend empfindet, weil es
ein gesteigertes Daseinsgefühl mittheilt. Endlich verweist er
auf Lessing in seinem Brief an Mendelssohn vom 2. Februar
1757. Dazu ist vorauszuschicken, daß dieser Brief Gedanken
enthält, die später nicht ausgeführt wurden. Jn Lessings
Terminologie begreift der Ausdruck „Leidenschaft“ die Affecte
mit in sich und zwar in erster Linie. Lessing schreibt
also: bei jeder heftigen Begierde oder Verabscheuung (Leidenschaft,
Affect) sind wir uns eines größeren Grades unserer
Realität bewußt und dieses Bewußtsein ist angenehm.
„Folglich sind alle Leidenschaften, auch die allerunangenehmsten,
als Leidenschaften angenehm.“ Dies ist was
wir schon sagten: das Bewußtsein eines höheren Grades |#f0128 : 112|

der Realität. Aber das „Bewußtsein unserer Realität“ ist
mir ein zu abstracter Begriff. Doch wenn ich dafür setze:
Freude an uns selbst, so kann ich es verstehen. Nun,
wenn ich mir darunter ein gewisses Bewußtsein, eine
Selbstbespiegelung denke, so erkenne ich das 18. Jahrhundert
darin und etwas Analoges wie die Befriedigung über die
eigenen Thränen. Die Kraft der Erregung wird für die Kraft
der That genommen. Ziehe ich alles Bewußtsein ab, so
ists die Freude der Übung, die wir schon kennen: wie es eine
Freude am Laufen u. s. w. giebt, so auch eine Freude an der
Übung der Affecte. Hierdurch komme ich wiederum auf den
schon bekannten Punct, daß es sich immer um individuelle
Dispositionen handelt: in jungen Jahren kann man leidenschaftliche
Wallungen mit Vergnügen ertragen, aber diese
selben Vergnügen würden uns im spätern Alter intensiven
Kopfschmerz einbringen; deshalb meiden wir sie dann lieber.
Wir haben also dieselben Unterschiede wie zwischen denen,
die Tragödien gern besuchen, und denen, die sie vermeiden.
Soweit daher nicht die Freude der Übung mitwirkt, müssen
die unter 9) h) oder 9) g) behandelten Gesichtspuncte in
Betracht kommen.


  Geht Bernays hauptsächlich von dem Vergnügen der
Ekstase aus, so wird wohl auch 9) g) mehr in Betracht
kommen als die bloße Entladung. Menschen von starker
Sentimentalität, welche unter der Disposition zu Mitleid
und Furcht leiden, werden zeitweilig geheilt durch die Entladung
dieser Affecte; das ist nichts Anderes als was wir
von der Wirkung der Aufregung überhaupt sagten: Herausheben |#f0129 : 113|

über die kleinen Leiden, Freimachen für Anderes.
Aber die Sache geht, wie wir sehen, tiefer. Die bloße
Entladung wirkt viel weniger als die Aufregung, die zur
Erschöpfung führt.


  Wenn übrigens von moralischen Wirkungen geredet
wird, so sind diese unter 3) vorausgesehen; auch 9) c) kann
dazu gerechnet werden.


  Dies scheinen die Gründe, die in dem dargestellten
Schmerz Angenehmes empfinden lassen.


  Es bleibt also dabei: die Poesie entspringt aus der
Heiterkeit und wirkt auf die Mehrzahl der Menschen als
Vergnügen. Die weit überwiegende Masse sucht in der
Poesie nur Vergnügen durch Darstellung von Vergnügen.
Traurige Gegenstände, die wirklichen Schmerz erregen, werden
ursprünglich von ihr wahrscheinlich gemieden, wo nicht
das Leben sie aufdrängt und die Poesie als Trösterin zu den
trauernden Menschen hinzutritt. Und für einen verhältnißmäßig
kleinen Kreis von Menschen wird aus Gründen, die
wir kennen lernten, auf höheren Culturstufen der dargestellte
Schmerz zur Lust.


  Aber wir haben auf unserem mühsamen Wege zugleich
gefunden, daß die Poesie nicht bloß Ergötzlichkeit oder
Trösterin, daß sie auch ein Mittel ist, um auf den Willen
zu wirken, eine Erregerin, eine Zaubermacht, mit welcher
der, der sie übt, die Menschen zum Guten und zum Bösen
lenken und durch ihre Phantasie auf ihre Leidenschaften und
Thaten wirken kann. S. oben 3).

|#f0130 : 114|

  Die Gründe für diese erregende Macht der Poesie sind
wohl ziemlich klar. Die Poesie ist durch Ursprung und
Tradition, durch jahrhundertelange Übung associirt mit angenehmen
Vorstellungen, die sie ursprünglich auf eine angenehme
Weise erweckt. Darauf beruht ihre Macht. Diese
Macht kann angewandt werden zu andern Zwecken.


  Wie die Poesie zu praktischen Zwecken benutzt, ja mißbraucht
werden kann, so wird sie auch zu Lehrzwecken benutzt,
wenn dem Wissenden daran gelegen ist, sein Wissen
zu verbreiten. Die Poesie wird immer ein Mittel gewähren,
eine neu gefundene Wahrheit leichter zu verbreiten. Dazu
kommt das Folgende: wer in schriftloser Zeit eine Wahrheit
in poetische, rhythmische, chorische Form faßte, übergab sie
damit dem Gedächtniß in einer für die Aufbewahrung zweckmäßigeren
Gestalt: man behält Verse leichter als Prosa.
Schon die Zweckmäßigkeit, daß so eine Wahrheit treuer bewahrt
werden kann, wird also den Forscher alter Zeit veranlassen,
seine Sätze poetisch zu fassen. Aber außerdem wird
die Macht, die ein Wissender mit seinem poetischen Wissen
ausübt, größer durch die Association mit angenehmen Vorstellungen.
Hier spielt in alter Zeit etwas, was wir noch
heute beobachten können: wer eine Wahrheit in einer anmuthigen
kunstmäßigen Form vorbringt oder sie in schwungvoller
Sprache vorträgt, wirkt dadurch auf weitere Kreise,
als wer es in abstruser Form thut. Wissen ist Macht in
aller Zeit, und ein Wissender will seine Macht gebrauchen,
indem er sein Wissen mittheilt; er hat ein Jnteresse hieran,
und zum Theil beruht das Vergnügen, welches das Wissen |#f0131 : 115|

dem Menschen macht, auf dieser Macht des Wissens. Ja
das Wissen ist Macht schon deshalb, weil der Hörende Vergnügen
hat an der Beantwortung von Fragen, Lösung von
Räthseln ─ kurz also weil er die Freude der befriedigten
Neugier hat, und weil nun der Wissende, der seine Kenntnisse
offenbart, die Menge erfreut. Und das sind zum Theil die
Gründe, welche dazu führten, in alter Zeit die Poesie als
Form der Wissenschaft zu benutzen. Hier bleibt die Poesie
also ihrem Amte der Ergötzlichkeit getreu.


  Sie kann es um so eher, als sie ein Mittel der Forschung,
der Erkenntniß in den Urzeiten und auch später ist.
Die Phantasie ist ein großes Mittel der Erkenntniß in allen
Geisteswissenschaften. Wo es gilt, alte Zeiten lebendig zu
machen, da ist die Phantasie eine große Macht; für historische
Wissenschaften pflegte Müllenhoff hervorzuheben, daß das
reichste Mittel für die Erkenntniß der zerstreuten Notizen u. s. w.
die Phantasie sei, nur natürlich eine geschulte Phantasie,
welche aus der lebendigen Anschauung heraus zum lebendigen
Zusammenhang vorzudringen weiß. Der kleinste Knochen,
das kleinste Glied eines Fingers kann so beschaffen sein, daß
ein vergleichender Anatom das ganze Knochengerüst des betreffenden
Thieres aufzubauen vermag (Cuvier). Und ebenso
können wir aus einer kleinen Notiz vermittelst der Phantasie
das Ganze zu erkennen versuchen. Für die kleinsten
Schlüsse ist noch heute Phantasie erforderlich; und noch viel
stärker mußte sie in der Urzeit arbeiten, wo die Poesie also
ein Mittel der Forschung war. Damals war freilich die
Phantasie noch weniger als jetzt geregelt und oft voreilig. |#f0132 : 116|

Das Causalitätsbedürfniß des Menschen wird leicht durch
die Voraussetzung eines bekannten epischen Zusammenhangs
befriedigt; dies ist der Ursprung des Mythus (vgl. Vignoli,
Mythus und Wissenschaft. Jnternationale Bibliothek Bd. 38).


  Der Ursprung des Mythus, wenigstens soweit er
Naturmythus ist. Also z. B. in den poetischen Darstellungen
der Menschen sind schon gewisse Anschauungen des Lärmens
und des Kämpfens associirt. Nehmen wir etwa an, daß
die Poesie der Urvölker schon geübt ist, den Kampf zu
schildern: Triumphgeschrei der Sieger u. s. w. Nun wirft
das Causalitätsbedürfniß der Menschen die Frage auf, wenn
ein Donner ertönt: was ist das für ein Lärm dort oben?
Die bekannte Verbindung von Lärm und Kampf wird benutzt,
um diesen Lärm zu erklären; man schließt also: der
Donner ist der Lärm eines Kampfes, unsichtbare Geister
kämpfen, schlagen auf einander los, schreien Triumph u. s. w.
So wird das Gewitter mythisch erklärt, durch eine äußerst
vorschnelle Hypothese, aber man fühlt sich beruhigt. Da
man nun das Bedürfniß hatte, diesen Kampf weiter zu
dichten, so wird dies wieder geschehen nach Analogie der
bekannten wirklichen Vorgänge: der Kampf wird ausgedeutet
als Streit um geraubte Rinderheerden, um geraubte
Frauen u. s. w.


  Weiter ist ein bekanntes poetisches Mittel die Personification,
schon in der Sprache mitspielend, wenn leblosen
Gegenständen ein Geschlecht zuerkannt wird. Sie wird auf
Naturkräfte und Naturgegenstände ausgedehnt, und so tritt |#f0133 : 117|

eine Vermenschlichung der Natur durch Personification ein,
welche die Entstehung von Mythen begünstigt; und die
Personification wird erleichtert durch symbolische Darstellung.
Theilweise Ähnlichkeit wird durch poetische Bekräftigung
als vollständige Gleichheit aufgefaßt, gerade wie
das Kind einen Stock für ein Pferd erklärt, weil sich darauf
reiten läßt, wie wir das schon besprachen. So wird der
Mensch die wandelnde Sonne als wandelndes menschenähnliches
Wesen auffassen. Nun kommt aber hinzu, daß dies
Wesen in höheren Regionen zu wandeln und zu leuchten
vermag, daß es also Dinge vollbringen kann, deren der
Mensch nicht fähig ist, und damit ist die Vorstellung eines
übermenschlichen, überkräftigen Wesens gegeben. Und wenn
die Poesie im Stande ist, den Willen des Menschen zu bewegen,
so wird man es wohl auch versuchen, mittelst der
Poesie auf dies überirdische Wesen zu wirken, um die übermenschliche
Kraft in den Dienst der Menschen zu stellen.


  Diesen Naturpersonen gegenüber, welche so vieles können,
was die Menschen nicht können: stürmen, blitzen, donnern,
in den Himmelsregionen wandern ─ ihnen gegenüber
also führt die Voraussetzung einer großen Macht zu nützen
und zu schaden auf Zauberlieder und Gebete, Hymnen und
alle Formen der Anrufung. ─


  Wir hätten demnach gefunden als aus der Erkenntniß der
Macht der Poesie erwachsend: 1. Lehrgedicht; 2. Mythus;
3. Gebet, Hymne; 4. Zauberlieder.

|#f0134 : 118|

II. Über den Werth der Poesie.

  Hier gehen wir rascher vorwärts.


  Jndem wir im Vorigen den Ursprung der Poesie zu ergründen
suchten, wurden wir schon vielfach auf die Aufgaben,
welche die Poesie zu erfüllen sucht, auf die Functionen, die
Ämter, welche die Poesie übernimmt, geführt:


  Die Poesie dient zum Vergnügen;


  Die Poesie dient zur Belehrung (sie ergötzt und nützt,
s. Horaz), und zwar:


zur Belehrung im Sinne der Befriedigung der Wißbegier,



zur Belehrung im Sinne der Einwirkung auf den
Willen der Menschen und der Götter.


  Die ersten Aufgaben, die Befriedigung der Wißbegier
und die Function des Ergötzens, sind bloß angenehm; die letzte,
die Einwirkung auf den Willen, kann auch unangenehm sein:
sie kann uns zum Zorn, zur Rache, zur Reue, zur Furcht
(vor den Göttern und Menschen) erregen.


  Jn allem zeigt sich die Poesie als eine Macht.


  Es ist ein würdiger Gegenstand des Strebens, an dieser
Macht theilzuhaben um sie auszuüben, an ihren Segnungen
theilzunehmen um sie zu genießen.


  Wie viel ist den Menschen ihr Vergnügen werth! Wie
viel thun sie, um sich Vergnügen zu verschaffen! Und wer
ihnen Vergnügen verschafft, wie viel kann der bei ihnen erreichen!



  Die Leute in priesterlichen oder ähnlichen Lebensstellungen
mögen es gewesen sein, die am frühesten consequent nach Benutzung |#f0135 : 119|

der Poesie strebten, um mittelst derselben Macht auszuüben
auf die Gemüther, auf den Willen der Menschen.


  Die ganze sacrale, hieratische Poesie, die Opfergesänge
und Hymnen, die Gebete und Zaubersprüche, von Priestern
gelehrt und gleichsam verwaltet, dienen zugleich zur Vermehrung
der Macht ihrer Träger.


  Von unschätzbarem Werth ist die Poesie für diejenigen,
welche mittelst ihrer den Willen zu beherrschen wünschen.
Die Poesie schärft die Tugenden ein, welche den Machthabern
erwünscht sind ─ so die von Priestern begünstigte Poesie.


  Nicht minder thut das die von Königen begünstigte
Poesie. Was schärft das germanische Epos ein? Was die
Volkskönige von ihren Unterthanen verlangen, erwarten:
Tapferkeit und Treue. Es singt den Ruhm der sangliebenden
Könige der Völkerwanderung; es preist den Mann, der sich
in edler Aufopferung für seinen Herrn hingiebt, der einen
ruhmvollen Tod höher achtet als ein schmachvolles Leben.
So schärft diese Poesie die Tugend ein, die jenen Königen
erwünscht war.


  Gewisse Richtungen der Poesie werden von denjenigen
begünstigt, die Vortheil davon haben. Die Priester wünschen
die Gottesfurcht verstärkt, weil sie ihrem eigenen Ansehen,
als der Vermittler zwischen Gott und Mensch, zu gute
kommt. Die geistlichen Dichter des 11. und 12. Jahrhunderts
stellen die christlichen Heiligen als Tugendmuster auf, die
Entsagenden, Demüthigen, Glaubenstreuen, Bescheidenen; sie
preisen den Segen der guten Werke; sie verdammen die weltlichen
Tugenden als Sünde.

|#f0136 : 120|

  Die aristokratischen Dichter hinwiederum, die aus dem
Kreise des Adels hervorgehen, preisen die aristokratischen
Tugenden: Selbstgefühl, Tapferkeit, Stolz, aber auch Freigebigkeit...



  Die fahrenden Sänger preisen die Milde vor allem, die
Freigebigkeit, die ihnen selbst zu gute kommt ─ sie preisen
sie für sich selbst; für das Publicum, dem sie gefallen wollen,
preisen sie die geistlichen Tugenden, wenns ein geistliches, die
weltlichen, wenns ein weltliches ist.


  Hier sehen wir schon, wie dem Sänger sein Vortheil
aufgeht. Der Dichter, der von Tapferkeit und Treue sang,
war am Hofe der Volkskönige der Völkerwanderung willkommen.
Die Sänger schmeichelten. Sie gaben dem Könige
nicht bloß gewaltigen Ruhm, sondern auch göttliche Ahnen.
Sie verherrlichten die Thaten des Königs und logen gewiß,
wo es sich besser machte. Vgl. meinen „J. Grimm“² S. 146.


  Jn der Völkerwanderung wie im 12. und 13. Jahrhundert
betheiligten sich adelige Herren als Dilettanten an der Poesie,
wie es Achill bei Homer thut. Aber die Poesie ist auch
Fach; und die Fachleute sind die eigentlichen Träger. Litterarischer
Ruhm scheint erst spät angestrebt zu werden: die
Sänger nennen sich nicht, die Volkssänger bis ins 13. Jahrhundert
nicht ─ sie verweben nie ihre Namen in die Schlußstrophen
oder Schlußzeilen, wie Otfried, wie die ritterlichen
Dichter des 12. und 13. Jahrhunderts es wohl thun. Auch
der Begriff des litterarischen Eigenthums kommt erst ungefähr
im 13. Jahrhundert auf: nun erwartet der Dichter, daß die
für seine Gedichte erfundenen Strophenformen als sein Eigenthum |#f0137 : 121|

anerkannt werden, und wer sie sich aneignet, soll sie
gestohlen haben.


  Früher als litterarischen Ruhm aber erstrebt der Berufsdichter
um seiner selbst willen, um des Werths willen, den
er in sich trägt und dem Publicum mittheilt, gute Behandlung,
freie Bewirthung, reichliche Anerkennung.


  So hat die Poesie schon in alter Zeit einen Tauschwerth.


A. Der Tauschwerth der Poesie und der litterarische
Verkehr.

  Ruhm ist immerhin eine der Belohnungen, welche der
Sänger erstrebt. Noch früher aber strebt er nach materieller
Begünstigung. Er war ein Fürstendichter, und er wollte,
daß man ihn erhielt. Der Possenreißer, der umherzog,
erwartete auch beschenkt zu werden.


  Der Dichter, der zum Gefolge des Fürsten gehört, wie
der, der von Hof zu Hof zieht, begehrt Lohn, will sich bereichern.
Er begehrt vielleicht einen Armring, und diese
Armringe geben einen Werth. Und so früh dies vorhanden,
so früh hat die Poesie nicht bloß einen idealen, sondern auch
einen nationalökonomischen Werth, Tauschwerth.


  Die Poesie ist also schon in alter Zeit eine Art von
Waare. Jhr Werth regelt sich nach Angebot und Nachfrage,
nach dem Verhältniß von Production und Consumtion. Dies
Verhältniß hat in neuer Zeit einen bestimmten Ausdruck
erhalten, insofern es das litterarische Product als bloße
Waare angeht. Seit dem 15. Jahrhundert mindestens gab
es in Deutschland einen Buchhandel, der dann durch die |#f0138 : 122|

Leichtigkeit der Production bald einen Aufschwung nahm;
der Buchhandel hat die Anerkennung der Poesie als Waare
durchgesetzt. Jm 16. Jahrhundert waren die Buchhändlerhonorare
noch nicht fest eingeführt; es war noch zweifelhaft,
ob es ehrenvoll sei, ein Honorar anzunehmen. Nach und
nach wurde es immer fester. Ganz fest ist es indessen noch
heute nicht; wenn hochgestellte Männer, die nicht Schriftsteller
von Beruf sind, einmal schreiben, so nehmen sie in der Regel
kein Honorar oder widmen das Honorar öffentlichen gemeinnützigen
Zwecken.


  Die Poesie oder, besser gesagt, das poetische Product,
ist heut eine Waare wie eine andere, und die nationalökonomischen
Gesetze des Preises und Umsatzes haben auch auf
das poetische Product, wie auf das Buch im Allgemeinen,
ihre Anwendung. S. Zola, La question d'argent dans
la littérature
. Morley in seiner englischen Litteraturgeschichte
fügt Angaben über die Honorare der Schriftsteller
bei, was ich doch bei so beschränktem Raum nicht wagen
würde zu thun. Doch wäre eine Geschichte der Preise sehr
wünschenswerth, d. h. eine Geschichte der Honorare, und dabei
das Verhältniß zum jeweiligen Werth des Geldes zu berücksichtigen.



  Jn Beziehung auf den Verkehr der litterarischen Waare
hat ein ungeheurer Umschwung der alten Zeit gegenüber sich
vollzogen. Man braucht nur an den Contrast zu denken,
der sich im Nachrichtenwesen zeigt: der fahrende Sänger, der
Spielmann, welcher im Mittelalter die Rolle des Journalisten
spielt ─ und die Zeitungen von heute. Es hat sich auch |#f0139 : 123|

die Production dadurch vielfach verändert: denn die Factoren
der Vermittlung zwischen Producent und Consument, d. h.
zwischen Dichter und Publicum, sind außerordentlich complicirt
geworden; und diese haben einen gewissen Einfluß
auf die Production. Jetzt sind die Zeitungen solche Vermittler
auch für die Poesie: sie theilen z. B. Romane im
Feuilleton mit, Gedichte weniger. Sonst steht zwischen
Dichter und Publicum der Verleger und der Sortimenter.
Dazu kommen dann noch weitere Factoren, z. B. in Deutschland
die Leihbibliothek. Alle diese Factoren wirken auf die
poetische Production ein; sie tragen dazu bei den Preis
zu bestimmen, sie stehen in Concurrenz und werben um das
Publicum.


  Durch alle diese Vermittlungen sind schon gewisse Formen
geschaffen, und Formen ganz neuer Art. Z. B. wäre
das Feuilleton ohne das heutige Journalwesen nicht möglich;
und es ist gar nicht mehr, was es eigentlich heißt. Ebenso
ist es mit der Recension, der litterarischen Notiz. Andererseits
sind in der neuen Form die alten Keime oft noch kenntlich;
so vertritt die Tagesneuigkeit das uralte Element der
Anekdote oder Novelle, das Herumtragen merkwürdiger Fälle,
welches Kern des Märchens ist. Deshalb konnte Achim
von Arnim den Dichtern rathen, ihren Stoff in der Zeitung
zu suchen. Denn dies Element des Unterhaltenden ist das
eigentliche Element der Poesie, und so repräsentirt die unterhaltende
Nachricht in der heutigen großen politischen Zeitung
die Poesie. Freilich sieht man näher zu, so ist vieles complicirter.
Dann ergiebt eine Analyse z. B. eben des Feuilletons, |#f0140 : 124|

daß dies mannigfacher Art ist; es ist aus verschiedenen
Theilen zusammengesetzt, die schließlich doch wieder auf die
alten Gattungen zurückgehen. Es ist z. B. belehrender Natur
wie das Lehrgedicht, z. B. Nekrolog wie das Klagegedicht.
Man sollte einmal das Feuilleton irgend einer gut redigirten
und viel gelesenen Zeitung daraufhin analysiren. Am glänzendsten
ist das eigentliche Feuilleton im Pariser „Figaro“
vertreten, der im Grunde von Anfang bis zu Ende nur
Feuilleton ist.


  Neben diesen neuen Formen wirken aber die alten noch
direct auch in der Zeitung fort. Die Tagesneuigkeiten z. B.
sind nicht immer aus dem Leben geschöpft. Wenn kein Stoff
da ist, werden sie gemacht, erfunden, wobei poetische Traditionen
wirken.


  Jn all diesen Formen vermittelt der Journalismus
zwischen dem Producenten und dem Consumenten litterarischer
Producte.


  Aber auch der Buchhandel ist nicht ohne Einfluß auf
das Publicum. Die Sortimenter haben ihre Erfahrungen
von dem kaufenden Publicum; sie benachrichtigen den Verleger,
und so wirken die Erfahrungen der Sortimenter auf
den Verleger. Diese Erfahrungen lassen sich statistisch ausdrücken
in den Zahlen der bestellten Exemplare. Und unter
dem Druck dieser Erfahrungen, unter dem Druck dessen, was
ihm sein Verleger, was ihm die Redaction der Zeitung, mit
der er in Verbindung steht, mittheilen, steht die Production
des Autors.

|#f0141 : 125|

  Aber damit nicht genug; es kommt noch ein Hauptfactor
für den Erfolg: die Recensenten.


  Noch schlimmer steht es für den Dramatiker. Er hat
auch mit dem Urtheil des Directors über Bühnenfähigkeit,
mit den Wünschen der Schauspieler zu rechnen. Der Einfluß
der Schauspieler ist oft sehr groß gerade bei gesunden
Verhältnissen; sie urtheilen nach ihren Rollen, und der
Durchschnitt der Rollen ergiebt die Stimmung der Schauspieler
dem Stück gegenüber. Denn wie natürlich wollen
Alle dankbare Rollen haben. Dafür genügt die Vertheilung
der Rollenfächer auf bestimmte Schauspieler nicht. Oft
nimmt der Dichter schon auf ein bestimmtes Theater Rücksicht:
vornehme Wiener Dichter nehmen Rücksicht auf das
Burgtheater und schreiben gewissermaßen den Schauspielern
die Rollen auf den Leib. Der Autor muß sich für die
Schauspieler einrichten. Es ist nicht wahr, daß der Dichter
sich damit wegwirft: denn wenn er diese Rücksicht auf die
vorhandenen Schauspieler nimmt, hat er eine starke Garantie
des nöthigen Erfolgs. Bei einem tüchtigen Theater wird
der Dichter auch nicht leicht damit auf schlechte Wege
gerathen.


  Dann kommen wieder die Recensenten, welche oft den
Erfolg ganz allein entscheiden ─ in gewissen Grenzen; wenn
man in einem Lustspiel viel lachen kann, so mögen die Recensenten
sagen was sie wollen: das Publicum geht hinein.
Dagegen beim Trauerspiel steht es anders; wenn die Recensenten
nicht sagen: du mußt hineingehen, das ist höchst ausgezeichnet
oder höchst merkwürdig ─ so geht niemand |#f0142 : 126|

hinein. Die Meisten suchen nach der nächsten betreffenden
Recension, um eine Tragödie nicht sehen zu dürfen.


  Die Lehre vom litterarischen Erfolg ist äußerst schwierig,
und die Erfahrensten, welche dies Kapitel schon lange studiren,
trauen sich selten eine Vorhersage zu. Ja es können plötzlich
Zeitverhältnisse eintreten, die das Werk völlig ersticken.


  Gewiß sind die fachmäßigen Recensenten ein maßgebender
Factor. Nicht immer sind sie ihres verantwortungsvollen
Amtes eingedenk. Die Recensenten von Fach haben in der
Regel wenig Zeit und können die Bücher nicht alle lesen;
und die Hauptsache ist, daß Recensent und Publicum es
immer für sicherer halten zu tadeln. Jn Wahrheit ist richtig
loben das Allerschwerste.


  Über die Geschichte der Recensionen ließe sich viel sagen.
Für die deutsche Litteratur ist es nicht zu bezweifeln, daß im
18. Jahrhundert die Kritik sich um das riesige Aufsteigen
sehr verdient gemacht hat; ja man würde das Ansehen der
Kritik in Deutschland gar nicht begreifen ohne die Verdienste
Lessings; und schon vor Lessing wird die Principienfrage
über Homer und Milton erörtert. Lessings Stellung ist
eine ganz unvergleichliche; wenn er nicht ein so starkes Regiment
geführt hätte, würde unter der Masse des Unbedeutenden
das Bedeutende nicht groß geworden sein. Lessing wirkt
erziehend auf Wieland, beschränkend auf die kleinen Dichter.
Aber freilich konnte Lessings Kritik allein nicht dauernd aufräumen;
es war ein starkes Gewitter, aber von Zeit zu Zeit
mußte immer ein neuer Hagelschlag kommen. So mußten
wieder die Xenien aufräumen. Goethe selbst hatte für sich |#f0143 : 127|

das Gefühl, daß er durch die Kritik nirgends wirklich gefördert
worden sei. Etwas wahrhaft Bedeutendes wird niemals
durch die Kritik zerstört oder vernichtet, wohl aber
kann es aufgehalten werden. So mußten Goethe und Schiller
durch das Strafgericht, welches sie ergehen ließen, für ihre
bedeutenden Anschauungen erst Raum schaffen. Schiller
hatte ja überhaupt eine populäre Ader; aber für Goethe
war viele Jahre hindurch das Publicum ein engerer Freundeskreis.
Und diesem Publicum konnte er denn freilich Großes
zumuthen.


  Von Zeit zu Zeit ist ein scharfes Vorgehen der Kritik
durchaus nöthig; so mußte seiner Zeit der überschätzte Gellert
zurückgedrängt werden, während die Litteraturgeschichte jetzt
ihm wieder gerecht werden muß. Jnnerhalb der kleinen
Gattung, die er pflegte, hatte er jedenfalls große Verdienste;
er wurde in allen Ländern anerkannt, ihm haben wir es
mitzudanken, daß später die Poesie so große Kreise gewann.


  Ob im 19. Jahrhundert die Kritik auch auf der Höhe
gestanden hat, ist sehr fraglich. So war es wohl gewiß
keine segensreiche That, wenn man sich an Goethe glaubte
vergreifen zu dürfen, wie Wolfgang Menzel und das „junge
Deutschland“ ihn heruntersetzen wollten. J. Rodenberg hat
mir erzählt, wie Gutzkow, als sie am Weimarer Denkmal
vorbeikamen, wüthend die Hand aufhob, voll Neid und Zorn,
daß diese Großen ihm im Wege standen; aber es blieb ihm
ein Trost; er sagte: „neunbändige Romane haben sie doch
nicht schreiben können!“ Allein eine Kritik ist jedenfalls |#f0144 : 128|

falsch, die Goethe und Schiller beseitigen will, um einem
Gutzkow Platz zu machen.


  Die Kritik war auch oft zu streng. Bei einer im Verfall
begriffenen Gattung, wie es z. B. jetzt das deutsche
Drama ist, müßte die Kritik die ernste Gesinnung unterstützen.
Statt dessen können jetzt wahre Talente wie
E. v. Wildenbruch todt gemacht werden, z. B. weil sie Fehler
in der Motivirung begehen, wie es Schiller auch thut.
Dem Drama gegenüber hat der Recensent eine ganz besondere
Verantwortlichkeit, weil das Publicum hingehen und
Arbeit thun muß. Dazu kommt dann noch die Gefahr, daß
die Schauspieler dem Stück schaden.


  Viel leichter ist der Erfolg, wenn man den Stoff in
Buchform hat. Hier liegt ein unmittelbarer Contact vor.
Ferner kann man das Buch ja zu jeder Stunde lesen, wo
man gerade aufgelegt ist. Nach der Ansicht der Meisten
thut hier mündliche Empfehlung das Beste; gegen diese kann
schließlich selbst die Kritik nicht aufkommen. Denn zuweilen
ermannt sich das Publicum zu eigener Meinung und wirft
seine Vormünder ab: die mündliche Empfehlung überwindet
alle Verkehrtheit und allen bösen Willen der Kritik. Das
mannhafte Eintreten des Einzelnen kann oft viel in einem
bestimmten Kreise und selbst in weiten Kreisen wirken.


  Lehrreich wäre eine Analyse der Kritik. Die kleinen
Kritiker achten auf den oder die großen Kritiker, auf das
was er sagt oder was er vermuthlich sagen wird. Das
Publicum horcht auf die Kritik. Dazu die Premieren: ein
starker Erfolg macht häufig die Kritiker zu Schanden.

|#f0145 : 129|

  Das Grundverhältniß ist doch dies, daß diese Beherrscher
des Publicums nur die Diener des Publicums sind. Der
entschiedene Ausspruch des Publicums zähmt die Recensenten.
Und so darf man sagen: bei der heutigen Organisation des
litterarischen Verkehrs haben im Allgemeinen die Culturvölker
die Poesie, die sie verdienen. So kann die ganze
Nation für den Stand ihrer Litteratur verantwortlich gemacht
werden. Doch aber mit Einschränkung? Die hinreißenden
Genies, die alles mit sich fortziehen ─ ob die
kommen oder nicht kommen, dafür ist das Publicum doch
wohl nur in geringem Maße verantwortlich, darauf hat es
nur geringen Einfluß.


  Es herrscht heut auf dem litterarischen Gebiet eine entschieden
demokratische Verfassung mit allgemeinem gleichem
Wahlrecht. Wie anders früher die monarchische oder aristokratische
Verfassung! Wie anders die Zeiten, in denen die
Dichter keine anderen Rücksichten kannten als auf den einen
Mäcen, oder auf einen Freundeskreis! Der frühere Dichter
mußte nur Einem schmeicheln, um zu gefallen, der heutige
Dichter muß dem ganzen Publicum schmeicheln. Wenn nun
jener Mäcen ein freisinniger, ein groß denkender Mann war,
wie etwa Carl August ─ ein Mann, der nur die Freude
haben wollte, um sich Poesie blühen und gedeihen zu sehn,
dann konnte sich der Dichter nichts Günstigeres wünschen.
So war Goethe gestellt. Und doch war dieser Umstand in
gewissem Sinn für ihn vielleicht verhängnißvoll, weil er gleichsam
nur sich selbst zum Publicum hatte: daher kommt es denn,
daß, wo er sich am eigenthümlichsten gab, seine Producte |#f0146 : 130|

unvorbereiteten Boden trafen und nur ganz allmälig durchdrangen.
Noch heute wird z. B. die „Achilleis“ oder die
„Natürliche Tochter“ nicht genügend gewürdigt.


  Das Vorstehende sind einige Bruchstücke aus einem
wichtigen Theile der Poetik, aus der Lehre vom Erfolg.


  Sie zeigen zugleich andeutungsweise, wie der Erfolg
zum Theil abhängig ist von den Factoren, welche an der
Verbreitung der Poesie betheiligt sind. Diese haben wir
noch nicht vollständig besprochen. Hierher gehören z. B.
noch die Leihbibliotheken: es ist wichtig für den Erfolg
mancher Bücher, ob die Leihbibliotheken sie anschaffen oder
nicht und die Anschaffung richtet sich u. a. nach der Dicke
der Bände. Noch ein anderes Jnstitut mag erwähnt werden:
die Buchhandlung von Volckmar, welche gebundene Bücher
herstellt, falls ein Sortimenter Absatz nachgewiesen. Hier
handelt es sich besonders um die Präsumtion, ob ein Buch
ein Weihnachtsbuch ist oder nicht.


  Sobald das Buch einmal ins Publicum gedrungen ist,
steht im Allgemeinen nichts mehr zwischen dem Dichter des
Buchs und dem Publicum. Dann redet der Autor unmittelbar.
Beim Drama steht es nicht ganz so. Das Drama
ist nur vollständig in der Aufführung; denn das Lesedrama
bleibt doch ein Ding, das nicht leben und nicht sterben kann.
Hier kann also der Dichter nicht unmittelbar zum Publicum
reden; der Schauspieler ist ihm unentbehrlich. Damit hat
das Schauspiel einen Zustand gewahrt, der früher allgemeiner
auch auf andern Gebieten herrschte. Heute spielt der
Vorleser eine geringe Rolle. Vorleser, die in Declamationen |#f0147 : 131|

Gedichte, Novellen vortragen, wie z. B. Lewinsky in Wien,
sind jetzt Ausnahmen. Meistens liegt die Sache heute so,
daß die Declamatoren von einem schon vorhandenen Ruhm,
z. B. Reuters, zehren, daß sie also nicht erst Ruhm schaffen.
Jn früherer Zeit war das anders, der Vorleser hatte eine
wichtige Aufgabe. Man denke auch an den Märchenerzähler.
So bei Naturvölkern, und so in älteren Epochen bei Culturvölkern.



  Gehen wir zurück ins 15. und 16. Jahrhundert, so ist
die Kunst des Lesens noch wenig verbreitet, und deshalb erscheinen
viele Bücher mit Holzschnitten. Freilich haben wir
auch heut eine Zunahme der Jllustration, ein wahres Jllustrationsfieber:
der heutige Leser ist zu faul um zu lesen
und soll deshalb aufgelegte Bücher müßig durchblättern.
Aber jene Holzschnitte des 15. und 16. Jahrhunderts sollen
dem Vorleser das Werk erleichtern, und dem, der nicht lesen
kann, mit dem Bild einen Anhaltspunct geben. So haben
Sebastian Brant und Thomas Murner Gemäldelieder verfaßt:
das Bild ist die eigentliche Hauptsache, und die Verse
sind nur Commentar zum Text.


  Noch weiter zurück kommen wir in Zeiten, wo noch
weniger gelesen wird, wo daher Vorsänger und Vorleser
eine noch bedeutendere Rolle spielen, etwa ins 12. und 13. Jahrhundert,
wo die Fahrenden aus dem Vortragen, dem Sagen
von epischer und Singen von lyrischer Poesie ein Gewerbe
machen. Die Handschrift ist hier ein Hilfsmittel für den
Vorleser; durch die Vortragenden wird die Poesie Wolframs,
Walthers u. s. w. verbreitet. Jn diese Zeit ragt auch noch |#f0148 : 132|

ein älterer Zustand hinein: daß die Dichter selbst nicht
schreiben können, wie Wolfram von Eschenbach und Ulrich
von Lichtenstein. Sie dictiren dann ihren Schreibern.
Aber es ist doch in dieser Zeit die Regel, daß der Dichter
schreiben und lesen kann.


  Noch weiter zurück wird überhaupt nicht geschrieben:
die Poesie pflanzt sich nur mündlich und gedächtnißmäßig
fort.


  Vgl. meinen „J. Grimm“ Kap. 5 (S. 117─153), wo ich
andeutungsweise ausführte, daß der Unterschied von Natur=
und Kunstpoesie, ja annähernd auch der Unterschied von
Volkspoesie und Kunstpoesie ─ soweit er überhaupt richtig ─
zurückgeht auf den zwischen ungeschriebener und geschriebener
Poesie. Diese Frage gehört also in die Lehre vom
litterarischen Verkehr, soweit die Behauptung jenes tiefgreifenden
Unterschiedes überhaupt wahr ist; denn in Wirklichkeit
ist es ein sehr relativer Unterschied.


  Herder hat wohl zuerst jenen scharfen Unterschied machen
zu müssen geglaubt; dann besonders die Romantiker. So
ist auch in den früheren Schriften der Brüder Grimm viel
davon die Rede. Dieser Unterschied ist ja auch für das
Mittelalter grundlegend: in der deutschen wie in der französischen
Dichtung müssen Volksepen und Kunstepen geschieden
werden; in Deutschland sind sogar auf dem Gebiete der
Heldensage beide Arten vertreten. Aber es geht doch zu
weit, wenn Carriere (Die Poesie S. 173 ff.) den Unterschied
von Volks- und Kunstpoesie für so wichtig hält, daß er ihm
ein eigenes Kapitel widmet. So berechtigt es ist, z. B. um |#f0149 : 133|

1200 von Volkspoesie einerseits, von höfischer Poesie andererseits
zu reden: es ist doch für die Poetik kein fundamentaler
Unterschied; es ist ein Stilgesetz, aber nicht anders zu beurtheilen
als andere Stilgesetze.


  Die alte Anschauung führte mit der Überspannung
dieses Gegensatzes zu gefährlichen Consequenzen. Ging doch
J. Grimm so weit zu meinen: „Volkslieder dichten sich nur
selbst“ ─ eine unklare Vorstellung, die schon Lachmann
widerlegte, als er die Nibelungennoth in Lieder von verschiedenen
Verfassern auflöste. Sie ist ferner gefährlich, weil
man damit die Vorstellung von radicalen Unterschieden in
der dichterischen Production verbindet, während das dichterische
Geschäft überall dasselbe ist.


  Es ist von vornherein zuzugeben, daß der Unterschied
zwischen volksthümlicher und höfischer Dichtung für das
Mittelalter völlig richtig ist. Aber dieser Unterschied besteht
darin, daß dem kunstmäßigen Stil hier, dem volksmäßigen
dort verschiedene Traditionen zu Grunde liegen. Die volksthümliche
Poesie ist die ältere, die einheimische Kunst, die
höfische eine halb importirte, durch fremde Muster zum Theil
bedingt, unter dem Einfluß fremder Muster aus jener einheimischen
Manier herausgebildet. Die Moden sind noch
local gesondert: in gewissen Theilen Deutschlands haben wir
die einheimischen, in andern neue, fremde Moden. Das Land,
welches auf die Kunstpoesie den meisten Einfluß hatte, war
Frankreich; daher zunächst am Rhein die Einwirkung, die
sich später weiter verbreitet und ins innere Land eindringt.
Wir haben also einfach den allbekannten Gegensatz von Antiqui |#f0150 : 134|

und Moderni, der sich so oft in Poesie und Wissenschaft
wiederholt; niemals ist ja eine Litteratur ganz einheitlich.
Sehr wichtig ist ein weiteres Moment: der verschiedene
Stand der Dichter, welcher zugleich verschiedene Bildung
voraussetzt. Träger der Volkspoesie sind die fahrenden Sänger,
Vertreter der kunstmäßigen Dichtung die Adeligen. Aber auch
dieser Unterschied, die verschiedene Einwirkung von Stand
und Bildung auf die Production, ist einer, der sich zu allen
Zeiten geltend gemacht hat, nicht bloß im Mittelalter.


  Es wäre nun möglich alle solche Momente, die wir für
den Gegensatz in der deutschen Poesie des 12. und 13. Jahrhunderts
in Anschlag gebracht haben, näher zu untersuchen
und zu prüfen, ob sie maßgebend oder unwesentlich sind.
Einzelne Momente liegen in der Natur des Dichtens überhaupt
und sind daher unvermeidlich; dafür wäre der Nachweis
zu führen. Andere aber sind nicht wegzuschaffen und
schließlich bleiben nur die Momente, die auf den Unterschied
von geschriebener und ungeschriebener Dichtung zurückgehen.
Es sind das zwei Momente:


  1. Die höfischen Dichter schöpfen aus dem Buch, die
volksthümlichen aus gedächtnißmäßiger Überlieferung. Dort
kann der Stoff ausschließlich von Buch zu Buch gegangen
sein; hier dagegen waltet die lebendige Sage. Für die Entstehung
der Sage und für das eigenthümliche Leben der
Sage ist der Mangel an schriftlicher Überlieferung geradezu
entscheidend in der Lehre vom Epos. Hier giebt der Unterschied
von Sage und Epos einerseits, Geschichte andererseits,
d. h. genauer und ungenauer Überlieferung den Ausschlag. Das |#f0151 : 135|

Epos ist in älterer Zeit Ersatz der Geschichte. Was man
nicht genau weiß, wird durch ungenaue Versionen ersetzt.
Die Sage ist die unwillkürliche und nothwendige Entstellung
historischer Berichte, beruhend auf dem unvollständigen Wissen
und der mangelhaften Fortpflanzung derselben; eine Entstellung,
wie sie ohne schriftliche Controle, d. h. ohne die Controle
von schriftlichen Zeugnissen der Zeitgenossen und
Augenzeugen, sich einstellen muß. Dazu kommt nun noch,
daß man eine lückenlose Erzählung zu geben und deshalb
die Lücken auszufüllen sucht, und dies geschieht dann nach gewissen
Schablonen und wahrscheinlich oft vorkommenden und
deshalb dem Erzähler nahe liegenden Mustern. Das gilt
sowohl für Stellen, in denen der ursprüngliche Bericht nicht
genau, nicht ausführlich genug scheint, als für solche, die der
Erzähler vergessen hat, und so bilden sich in der Sage gewisse
typische Formen. Schon das vergrößernde Gerücht, das
die Kunde von einer Thatsache weiter trägt und bis in ferne
Gegenden bringt, wird diese Umformung der Verhältnisse
vornehmen und zwar im Sinne der Durchschnittsverhältnisse.


  2. Eine weitere Folge der schriftlosen Verbreitung ist
das Zurücktreten des individuellen Stils in der Naturpoesie.
Nicht der Dichter selbst ist in der Lage sein Werk zu verbreiten:
er kann nicht überall hingehen, und wenn erst Gedichte
ihren Verfasser überleben, laufen sie durch vieler Leute
Mund. Das Gedächtniß pflegt nicht so unbedingt treu zu
sein; und wo das Gedächtniß im Stich läßt, tritt das Gewöhnlichere
für das Seltenere ein, weil die Verbreiter in der
Regel weniger bedeutend sind als die Autoren. Wo Autoren |#f0152 : 136|

sich stark ins Ungewohnte erheben, da verwischen das die beschränkteren
Verbreiter, theils aus Unfähigkeit (das Gewöhnliche
findet sich in ihrem Gedächtniß leichter ein), theils aus
Mangel an ästhetischer Bildung (das Gewöhnliche gefällt
ihnen besser). Man kann Studien über die Verbreiter machen
bis auf die Gegenwart: Volkssänger, Sammler, sogar Abschreiber,
ja noch Setzer, so auch Reporter. Das schnellere
Schreibtempo im 15. Jahrhundert ─ eine Folge der größeren
Nachfrage ─ zieht leichtsinnigere Überlieferung nach sich: der
Schreiber liest den ganzen Satz nur einmal und gestaltet ihn
sich nun um; so ist es noch heute mit den Setzern. Der Reporter,
der eine Rede wiederzugeben hat, macht sie ordinärer:
z. B. wo der Redner nur eine Strophe anführt, da verlängert
der Reporter das Citat, und wo jener einen Gedanken als
trivial verschweigt, da findet man ihn sicher im Bericht ausgesprochen.
So macht ein Gedicht, das von Mund zu Mund
durch viele Leute geht, alle Moden mit und gewinnt auf
diese Weise etwas Typisches und Formelhaftes. Das eben
ist das Typische und Formelhafte der „Volkspoesie“, und dies
beruht auf der mangelhaften Überlieferung: das Jndividuelle
hat eine geringere Macht in der mündlich verbreiteten ungeschriebenen
Poesie.


  Etwas Anderes, aber verwandt, ist der Gegensatz der
großen natürlichen Talente und derer, die es nicht sind; jene
sind von Natur Dichter, diese bloß durch Reflexion und
Bildung. Mit dieser Frage hat der Streit des 18. Jahrhunderts,
ob es auf Natur und Genie oder Kunst und Regel
ankomme, den Gegensatz von Naturdichtung und Kunstdichtung |#f0153 : 137|

vermischt. Das giebt allerlei Kreuzungen. Faßt man aber
den letzterwähnten Unterschied allein ins Auge, so ergeben sich
drei Klassen, die Lessing in seiner Vorrede zu Jerusalems
„Philosophischen Aufsätzen“ unterscheidet: die Regel, meint er,
ist immer von Nutzen; denn dem Genie kann sie nicht schaden,
wenn es sie auch nicht braucht; ein geringerer Dichter kann
mit Kenntniß der Regel noch immer etwas leisten; aber ein
geringer Dichter ohne Fleiß ist nichtig.


  So viel über Tauschwerth der Poesie und litterarischen
Verkehr. ─


B. Jdealer Werth der Poesie.

  Wir sagen „idealer Werth“, um nicht zu viel mit
nationalökonomischen Begriffen zu wirthschaften. Die Nationalökonomie
unterscheidet „Gebrauchswerth“ und „Tauschwerth“.
Der Tauschwerth ruht auf dem idealen Werth.
Ein Buch hat Tauschwerth. Der Vortrag eines Liedes hat
Tauschwerth oder kann ihn haben, wenn der Sänger nur
gegen Belohnung singt. Gebrauchswerth haben die Sonne,
das Meer, die Luft und andere Dinge, die nicht verkauft
werden können; höchstens kann etwa im dunklen Gefängniß
der Wärter den Anblick der Sonne verkaufen u. s. w. Also
wir verstehen unter dem Gebrauchswerth einen größten Werth,
ein allgemeines Gut ohne Tauschwerth. Wie weit ist denn
nun die Poesie ein solches allgemeines Gut der Menschheit?


  Sie ist es nicht ganz. Sie ist schon in den ältesten
Zeiten Eigenthum nur der Wenigen, die sie verstehen und
Anderen mittheilen können, sei es um Macht zu gewinnen |#f0154 : 138|

wie die Priester, sei es zu andern Zwecken. Sie ist immer
an die Talente, an die mittheilenden Besitzer gebunden. Der
ideale Werth der Poesie richtet sich nach ihren Zwecken: man
wünscht sie zur Ergötzlichkeit, zur Belehrung, zur Erbauung.


  Es erhebt sich die weitere Frage: läßt sich ein festes
Verhältniß angeben, in welchem die Poesie zu ihren Wirkungen
steht?


  Das Hauptbeispiel hierfür bietet das Verhältniß der
Poesie zur Sittlichkeit. Läßt sich ein festes Verhältniß
der Poesie zur Sittlichkeit angeben? Jst es möglich, feste
Gesetze aufzustellen, wie die Poesie sich zur Sittlichkeit verhalten
soll?


  Jch halte diese Frage für unlösbar. Historisch ist unzweifelhaft,
daß die Poesie eine große sittliche Bildnerin der
Völker, daß sie ein Haupterziehungsmittel der Nationen ist.
Die Poesie hat in unzähligen Fällen seit Jahrtausenden das
zu empfehlen gesucht und in glänzenden Farben dargestellt,
was die Aufopferung in den Menschen verstärken und den
Egoismus zurückdrängen konnte. Sie hat unendlich viele
Vorbilder des Großen, Guten, Edlen aufgestellt.


  Vom Standpunct der Poetik aber ist es wieder eine
unlösbare Frage: soll die Poesie sittlich wirken? soll sie eine
sittliche Bildnerin der Völker sein?


  Sie ist es thatsächlich gewesen, und oft.


  Aber sehr große Dichter, wie Goethe, haben sich gegen
diese sittliche Function der Poesie erhoben als eine Profanation
der Poesie, und neuere Theoretiker erklären den
Zweck der Poesie für einen Zopf. Man darf wohl annehmen, |#f0155 : 139|

daß Goethe und die anderen Dichter, die diese Ansicht
aufstellten, bewußt oder unbewußt unter dem Einfluß
der aristotelischen Theorie standen, welche die nachahmende
Darstellung für den einzigen Zweck erklärt. Wenn das
allein der Zweck, dann ist die sittliche Wirkung gleichgiltig.
Es wird dann eine Scala nur in der Darstellung selbst,
nicht etwa in den behandelten Gegenständen nach ihrer sittlichen
Bedeutung den Werth ausmachen. Jn der That hat
Goethe bei seinen vielen Untersuchungen über die Wirkung
des Stoffes immer nur die Fruchtbarkeit im Auge gehabt.
Es wird aber trotzdem Jeder zugeben, daß Goethe selbst ein
großer sittlicher Bildner war, der Tiefen des sittlichen Lebens
aufschloß, und daß er immer das Wesen der Sittlichkeit, die
Aufopferung, als „Wurzel aller Tugenden“ in seinen Werken
empfahl.


  Wie haben die Dichter überhaupt sich zu dieser Frage
verhalten? Man kann vielleicht folgende Standpuncte unterscheiden,
welche zu verschiedenen Zeiten verschiedene Dichter
eingenommen haben:


1) einige wollten direct sittlich veredelnd wirken;


2) einige indirect;


3) einige gar nicht.


  Nun ist es möglich, daß die Natur der Dinge stärker
ist als der Wille: der Dichter kann z. B. den Grundsatz
aufstellen, nicht sittlich veredelnd wirken zu wollen, und kann
dennoch so wirken. Das scheint mir z. B. der Fall zu sein
bei Goethe. Deshalb ist die praktische Frage viel wichtiger |#f0156 : 140|

als der theoretische Standpunct, und da haben wir dieselben
Klassen:


1) der Dichter wirkt sittlich veredelnd: direct.


2) der Dichter wirkt sittlich veredelnd: indirect.


3) der Dichter wirkt nicht sittlich veredelnd.


  1) Unter directer sittlicher Veredelung können noch viele
Abstufungen begriffen sein: Belohnung des Guten, Bestrafung
des Bösen; Lob der Tugend, Tadel des Lasters.
Oder der Accent wird ausschließlich auf die Darstellung tugendhafter
Handlungen gelegt, das Lasterhafte möglichst zurückgedrängt,
so daß nur Vorbilder gegeben werden. Der Dichter
kann weiter gemischte Charaktere darstellen; diese können erst
recht dasselbe leisten: die tugendhaften Handlungen führen zum
zeitlichen Wohl, die lasterhaften zum zeitlichen Übel. Die
kindlichste Form ist die, daß die Tugend schon hier ordentlich
belohnt, das Laster schon hier gründlich bestraft wird.
So z. B. in naivster Weise in Gellerts Fabeln, oder in
Kindergeschichten, wo der tugendhafte arme Mann einen
Beutel mit Dukaten findet. Überhaupt hat diese Art vorzugsweise
in Erzählung und Drama statt; im Lehrgedicht
und in der Lyrik wird sie modificirt zur ernsten und lachenden
Satire.


  2) Jndirecte sittliche Wirkung wird erzielt, indem der
Autor sich in die Laster vertieft und sie darstellt, um sie
recht abschreckend zu malen. Hierher würde z. B. Zola gehören.
Aber solche Schilderung des Lasters setzt eine gewisse
Liebe zur Sache voraus, und die Wirkung ist sehr zweifelhaft:
denn natürlich kann es auch verführerisch wirken; das |#f0157 : 141|

hat der Autor dann nicht so in der Hand. Eine ganz
andere Form ist die, daß der Autor sich sagt: ich will nur
wahr sein, will die Wahrheit des Lebens darstellen, wie es
durchschnittlich ist. Eine solche Schilderung der Wahrheit
des Lebens nach seinen Licht- und Schattenseiten sucht im
Ausschnitt doch eine gewisse Totalität zu geben: die sittliche
Haltung erwirbt allgemeine Achtung, die unsittliche führt zu
Schwierigkeiten aller Art; wer den Leidenschaften unterliegt,
zerrüttet sein Leben, ihm ist kein dauerndes Glück gestattet.
Die idealen Gestalten wirken von selbst als Kritik für
die unidealen, und so bilden die Contraste eine Art Kritik.
Diesen Standpunct hat praktisch Goethe immer eingenommen,
auch im „Wilhelm Meister“. Er zeigt allerdings eine furchtbare
Nachsicht in Bezug auf geschlechtliche Vergehungen, ein
allgemeines Verzeihen ohne jeden sittlichen Maßstab, z. B.
für Philine; dem Menschen ist von vornherein nichts verwehrt.
Und dennoch wird eine sittliche Wirkung erreicht in
der ungeheuren, vollen Lebenswahrheit. Es wird nichts
vertuscht, nichts weiß gemacht, was schwarz ist. Wir leben
in einer Gesellschaft, in der besondere sittliche Ansichten
herrschen, wie sie im vorigen Jahrhundert im Schwung
waren. Aber über diese Figuren kann der Leser urtheilen
wie über Mitlebende. Eben dies erzielt eine abschreckende
Wirkung. Die jungen Mädchen haben dem Wilhelm gegenüber
sofort das Gefühl: das ist ein Mensch, den du nicht
heirathen möchtest! Vor allem aber sind hier die Contraste
meisterhaft durchgeführt. Neben solchen Charakteren stehen
ganz reine, ideale Gestalten, wie der reuevolle Harfenspieler, |#f0158 : 142|

der zeigt, wie ein Mensch unter der Sünde seufzt, die Gestalt
der Mignon, Lydia ─ dies die Kranken; und von den
Gesunden Natalie, Therese, Fräulein von Klettenberg. Mithin
eine vollkommen sittliche Haltung, trotzdem eine directe
sittliche Wirkung nicht erstrebt ist.


  3) Der Dichter wirkt gar nicht sittlich. Diesen Standpunct
hat z. B. Goethe theoretisch eingenommen; und viele
reden ihm nach, sprechen von dem moralischen Zöpfchen des
18. Jahrhunderts. Aber in Wahrheit hat Goethe immer
auf dem zweiten Standpunct gestanden. Mehr als irgend
ein anderer Dichter hat er sittlich geweckt, erbaut; und so
widerlegt seine Wirkung praktisch seine Theorie. ─ Es fragt
sich, ob dieser dritte Standpunct überhaupt praktisch vertreten
ist. Dies ist der Fall in solchen Büchern, die nur amüsant
sein sollen, welche die Wahrheit verläugnen und der Unterhaltung
wegen die Welt anders darstellen, als sie ist: Lustspieldichter,
die bloß lachen machen wollen u. s. w. Dennoch
kann auch daran, soweit das Lachen gesund ist, soweit es die
Stirn heiter macht, entladet und rein fegt, eine indirecte
sittliche Wirkung hängen. Jemand, der bloß unterhalten
will und dazu den Stoff nimmt, wo er ihn findet, kann so
noch immer auf den Willen wirken.


  Aus dieser Theorie, nicht sittlich veredelnd wirken zu
wollen, hat sich nun aber eine eigenthümliche Consequenz
ergeben. Es giebt Dichter, welche dafür halten, der idealste
Stoff der Poesie sei der Conflict zwischen Willen und
Moral. Ein bestimmter Dichter bekämpft diese allgemeine
Moral mit der „höheren Sittlichkeit“. Hier also ist ein |#f0159 : 143|

weiteres Feld: „Moral“ nennt er die Grenzen, mit welchen
die Gesammtheit den Einzelnen beschränkend umgiebt; und
dem gegenüber macht er Propaganda für das „Sichausleben
der Natur“, d. h. für die Gelüste. Seine Dichtung nimmt
Partei für die Gelüste gegen die Schranken der Gesellschaft.
Er kämpft also im Grunde doch für ein sittliches Jdeal ─
freilich im Gegensatz zu den bestehenden Verhältnissen.
Dieser Standpunct ist gefährlich: er schmeichelt den Leidenschaften;
er sucht direct unsittlich zu wirken. Aber der
Dichter verletzt auch die Wahrheit des Lebens: er zeigt
nicht, wie die Gesellschaft sich rächt. Nur durch eine gewisse
Unwahrheit, durch eine Täuschung, als wenn die Welt
anders wäre als sie ist, gelingt seine Darstellung. Diese
Poesie ist also nicht bloß vom sittlichen Standpunct aus
gefährlich, sondern durch die Unwahrheit der Darstellung ist
auch der aristotelische Grundsatz der Nachahmung verletzt.
Der Dichter verkennt, daß in Wahrheit kein Unterschied ist
zwischen Sittlichkeit und Moral; daß dies die Forderungen
sind, die die Menschheit an den Einzelnen stellt.


  Gefährlich ist dieser Standpunct eben, weil er den
Leidenschaften und den Wünschen der Menschen schmeichelt.
Jmmer ist es etwas Angenehmes, was zunächst für die
sich Auslebenden herauskommt, oft eine bloße willenlose
Schwäche gegenüber einem Gelüst, einem sinnlichen Begehren.
Zuweilen gehen sie nach Befriedigung der Gelüste direct in
den Tod, aber mit Anklagen gegen die Menschen; sie betonen
die Rechte der Wahlverwandtschaft. Andere gehen durch und
versammeln dazu eine Anzahl Freunde; zwei anderweitig verheirathete |#f0160 : 144|

Menschen verbinden sich auf ungesetzliche Weise
miteinander u. s. w. All das ist möglich; aber dann haben
sie in Wahrheit zu kämpfen, es wird ihnen schwer gemacht
und kaum werden sie schweren Leiden entgehen. Ernst gebildete
Männer werden oft davon auf das äußerste abgestoßen,
weil sie nicht wollen, daß die Poesie Jllusionen über
das gegenwärtige Leben verbreitet. ─


  Verschiedene Stände, Altersstufen, Bildungsklassen u. s. w.
stellen verschiedene besondere Forderungen an die Poesie. Die
Massen werden am meisten befriedigt werden durch solche
Dichtungen, die direct sittliche Zwecke verfolgen. Der anständige
mittlere Mensch, der sich seiner Ehrlichkeit und
mancher Entsagung bewußt ist, wünscht in der Poesie eine
bessere Welt zu finden, wo die Ehrlichkeit belohnt und das
Gegentheil bestraft wird. Die Menschen stehen hierin auf
einem etwas kindlichen Standpunct; was sie gar nicht ertragen
können, ist, daß ein Schurke ohne Strafe ausgeht; sie
vertragen es eher, daß es einem Guten schlecht als daß es
einem Schlechten gut geht. Eine Novelle, in der zufolge
einer durchgeführten Jntrigue es einem Schlechten gelingt,
einen Bessern zu verderben, ohne daß er selbst bestraft wird,
schreckt die Meisten auf lange Zeit vom Lesen ab. Diese
Forderung, in der Poesie eine bessere Welt zu sehen, ist die
einzige Ursache, welche man anführen kann für die sittliche
Forderung, die man ans Drama gestellt hat: die der tragischen
Schuld und Sühne. Das Drama muß in der That
mit dem sittlichen Jnstinct der Masse rechnen.


  So wenig es richtig ist, in der Poesie den Stoff von |#f0161 : 145|

der Form zu sondern, so wenig ist es richtig, die Poesie
ausschließlich nach dem Grade des Vergnügens, welches sie
gewährt, oder nach der sittlichen Wirkung, die sie erzielt, zu
beurtheilen. Der Dichter wird also Rücksicht nehmen müssen
auf die sittlichen Jnstincte der Menge, und eben deshalb
darauf gefaßt sein müssen, daß er von der Seite, wo er diese
verletzt hat, keinen Beifall erntet. Unter Sittlichkeit kann
ich aber nichts anderes verstehen als die Summe der Forderungen,
welche die Gesammtheit an den Einzelnen stellt, die
Schranken, mit denen die Gesellschaft ihr Mitglied umgiebt;
und da doch jeder Einzelne sich als ein Mitglied der Gesellschaft
fühlt, so wird der Dichter also gut thun, auf diese
Gesellschaft Rücksicht zu nehmen. Stellen wir uns auf den
Standpunct des öffentlichen Wohles, so werden wir unbedingt
sittliche Wirkung von der Poesie verlangen, und
zwar verschieden je nach den Kreisen: die directe sittliche
Wirkung für die Masse, die indirecte für die feiner Gebildeten.
Ein Buch, welches seiner ganzen Haltung nach
hohe geistige Jnteressen voraussetzt, wie „Wilhelm Meister“,
ist nicht für das große Publicum: es wird Leser aus dem
Volk abstoßen, während es für gebildete Kreise sittlich genug
ist. Für jene Kreise braucht man mehr directe sittliche
Wirkung, wie sie etwa Gellert bietet.


  Wir wissen, daß man dem Theater gegenüber die
Censur nicht entbehren zu können meint; und man thut
recht daran. Man controlirt so die Wirkung auf die Massen.
An sich könnte die Censur überhaupt ein edelgedachtes Jnstitut
sein; was aber dagegen entscheidet, ist, daß die Censoren |#f0162 : 146|

leider zu dumm sind und daher den Staat blamiren. Die
kleinen Übel des Fehlens der Censur sind besser als die
großen Dummheiten der Censoren, welche erfahrungsmäßig
schwache Menschen sind. So kann vom Standpunct des
öffentlichen Wohles aus ein sittlicher Maßstab an die Poesie
gelegt werden. Eine aristophanische Komödie mit Persönlichkeiten
dürfte nicht aufgeführt werden, weil sie die Leidenschaften
der Menge entfesselt; und so kann das herrlichste
Kunstwerk als zu aufregend mit Recht verboten werden.


  Stellen wir uns auf den Standpunct der Kirche, so
treten noch andere Rücksichten ein. Man denke an das
Urtheil der Stolbergs über „Wilhelm Meister“. Jn manchen
Ländern hat die Kirche die Poesie tief geschädigt. Wir sind
heute weniger gewöhnt damit zu rechnen, weil ihrem Verbot
jetzt keine solche Macht mehr zur Seite steht wie einst. Aber
daß überhaupt die Kirche Stellung nimmt gegenüber poetischen
Producten, das ist etwas in der Menschennatur tief
Begründetes. Es liegt darin nur die Anerkennung des hohen
idealen Werths der Poesie als einer Macht, mit der dann
die Macht der Kirche streitet. ─


  Vom Standpunct des Vergnügens aus kann man nur
sagen, daß aus allen drei Auffassungen heraus großes Vergnügen
möglich ist ─ nur nach verschiedenen Gesichtspuncten
verschieden.


  Es giebt hier keine allgemeinen Gesetze. Es ist unmöglich,
das Verhältniß von Poesie und Moral endgiltig theoretisch
zu bestimmen.


  Natürlich aber giebts für die Menschen eine Beurtheilung |#f0163 : 147|

des Verhältnisses zwischen dem Gegenstand und
seinem Stoff, seinem Stil. Eine Nana als Hauptperson,
das ist etwas Anderes als eine Philine als Nebenperson! ─


  Wir blicken noch einmal zurück auf unsere Betrachtungen
über den Werth der Poesie.


  Weil die Poesie mit Vorstellungen des Vergnügens
associirt ist und weil diese Erinnerungen in der Ferne, wenn
auch der Jnhalt verblaßt, sympathisch bleiben, ist sie ein
Hebel um andere Dinge den Menschen nahe zu bringen, um
durch das Lustgefühl auf den Verstand, auf den Willen zu
wirken. Die Poesie entspringt aus der Stimmung des
Dichters, aus seiner Freude, seinem Vergnügen, das sich
äußert. Er fängt dann aber an mit dem Publicum zu
rechnen, um dasselbe zu erfreuen, und die Poesie wird dadurch
verwerthet. Sie wird eine Quelle der Freude, des
Wohlbehagens für den Dichter und eine Macht, die er ausübt
dadurch, daß sie so stark zu wirken im Stande ist. Sie
wird ein Lebensberuf. Es ist mit der Poesie wohl ähnlich
wie mit der Wissenschaft: diese entspringt aus der Wißbegier,
aus dem eigenen Erkenntnißtrieb; dann aber wird sie verwerthet,
um den fremden Erkenntnißtrieb zu befriedigen, und
wird dadurch ein Beruf, ein Amt.


III. Die Dichter.

  Hier handelt es sich wieder um Erschöpfung der möglichen
Fälle und um die Vorstellung der dichterischen Production
sowie der persönlichen Bedingungen, unter denen
dieselbe sich zu vollziehen pflegt.

|#f0164 : 148|

  Die verschiedenen Fragen habe ich wieder nach Nummern
geschieden.


1. Factoren der Production.

  Die Nationalökonomen unterscheiden drei Factoren der
Production: Natur, Kapital, Arbeit. Nicht genau dieselben,
aber ähnliche Factoren sind für die dichterische Production thätig.
Zunächst ist auch hier ein ewiger Factor die Natur: die Natur
ist der unerschöpfliche Stoff des Dichters und dadurch Factor
der Production ─ die Natur, die sich ewig gleich bleibt und
sich ewig erneut; alle Erscheinungen dieser Welt, sowohl die,
welche wirklich sind, als die Folgerungen, welche daran hängen.
Hierüber ist näher zu handeln im Kapitel vom Stoff (äußere
und innere Welt, und die dritte Welt, welche eigentlich schon
in das „Kapital“ gehört). Aber diese Erfassung der Natur,
des Stoffes setzt die persönliche Arbeit des Dichters voraus.
Der Dichter darf die Welt nicht ansehen wie jedermann ─
er muß sie mit Dichteraugen ansehen.


  Doch auch dem Kapital entspricht ein Factor: es sind
schon angesammelte Producte vorhanden, Tradition, traditionelle
Stoffe, traditionelle Behandlungsart der Form, die der
Dichter vorfindet: das ist das Kapital, das frühere Generationen
für ihn sammeln. Was die übrigen Dichter vorgearbeitet
haben in Stoff und Form, das kann sein Auge
schärfen, seine Technik bereichern.


  Endlich Arbeit: die Art, wie er diese Tradition sich aneignet,
das Kapital fortpflanzt und vermehrt und von neuem
aus der poetischen Stoffwelt schöpft. Unter diesen Gesichtspunct
gehört die Frage, ob er Erlebtes oder Erlerntes darbietet.

|#f0165 : 149|

  Wie nun auf wissenschaftlichem Gebiet ein großer Werth
auf die Arbeitstheilung gelegt wird, so kann auch auf dem dichterischen
Gebiet Arbeitstheilung stattfinden. Aber wenn es
auf wirthschaftlichem Gebiet eine sehr hohe Stufe bezeichnet,
daß die Arbeitstheilung möglichst weit getrieben wird, so
kann man dies nicht auf die Poesie übertragen: die höchste
Stufe der Poesie ist gerade die Vereinheitlichung der Arbeit.
Wenn Einer in sich Alles vereinigt, was Andere nur getrennt
besaßen, dann kommen neue große Wirkungen zum
Vorschein.


  Wie weit ist es möglich, daß mehrere Dichter sich an
demselben Werk betheiligen? Andere Dinge kommen weniger
in Betracht. Es giebt eine Theilung der Arbeit in der Art,
daß ein und derselbe Dichter nur Romane verfaßt, oder gar
innerhalb der Romane sich auf ein bestimmtes Gebiet specialisirt,
z. B. historischer Roman, und etwa wieder nur
ägyptischer oder assyrischer Roman. So schon früher: ein
Dichter bildet eine bestimmte Gattung aus, z. B. die Spruchdichter,
Didaktiker des Mittelalters gegenüber den Lyrikern;
dann folgt wieder Arbeitsvereinigung wie bei Walther von der
Vogelweide. Auch in der Poesie hat beides seine Vortheile:
wer z. B. sich auf den historischen Roman wirft, wird zur
Entdeckung immer neuer Stoffe geführt werden, weil er ein
specielles Gebiet bebaut; so Walter Scott. Aber andererseits
kann man die Beobachtung machen, daß die ersten
Producte solcher Specialisirung frisch sind, die späteren aber
aufgewärmt, matt; denn solches Specialisiren führt leicht zu
handwerksmäßigem Vielschreiben und dient weniger der Verbesserung |#f0166 : 150|

und Vertiefung, wie auf wissenschaftlichem Gebiet,
als mercantilen Zwecken.


  Jn früherer Zeit herrscht die Specialisirung: die Homer=
Sänger sind so viel wir sehen nur Epiker; Archilochus nur
Jambendichter; die athenischen Dramatiker nur Dramatiker.
Shakespeare, Lope de Vega sind ganz vorzugsweise Dramatiker.
Aber das Höchste in modernen Zeiten beruht auf Arbeitsvereinigung,
auf Vielseitigkeit in Poesie: Goethe.


  Hierauf also gehen wir nicht näher ein, sondern handeln
nur von poetischer Arbeitstheilung in dem Sinne, daß mehrere
Dichter an einem Werk arbeiten. Sie ahnen schon, wohin
das führt: zu der Frage der höheren Kritik in einheitlich
überlieferten Werken. Können z. B. die homerischen Epen
oder das Nibelungenlied von mehreren Dichtern verfaßt sein
oder nicht?


2. Betheiligung mehrerer Dichter an demselben
Werke.

  Dies ist eine Art der Arbeitstheilung, welche speciell
dem Gebiet der Poetik angehört. So macht sich hier z. B.
die frühere Methode bloß mündlicher Verbreitung geltend.


  A) Die Dichter, die gemeinschaftlich arbeiten, wissen von
einander:


  a) Jndem sie sich zu gemeinsamer Arbeit, zu gleichzeitiger
oder rasch abwechselnder Production vereinigen und sich an
demselben Kunstwerk verschiedene Arbeitsgebiete zutheilen.
So machen es die französischen Dramatiker oft, neuerdings
auch deutsche Dramatiker. Von der näheren Art der Production |#f0167 : 151|

habe ich keine Vorstellung, ob sie etwa in Rollen
sprechend den Dialog skizziren, ob der eine das Scenarium
macht, der andere den Dialog. Große Kunstwerke sind auf
diesem Wege wohl nicht entstanden, doch gute Repertoirestücke.
Dieses Verfahren wissen wir für ältere Zeiten nicht nachzuweisen.
Mein Freund Diemer stellte zwar für Ezzos Gesang von den
Wundern Christi (aus dem elften Jahrhundert) eine derartige
Vermuthung auf, aber sie scheint mir recht unwahrscheinlich.


  b) Jndem sie einander fortsetzen: B. findet ein Werk
von A. und würdigt es einer Fortsetzung, sei es, daß das
Werk noch nicht fertig ist, sei es, daß es in sich fertig ist,
aber sich weiter führen läßt: es enthält etwa das Schicksal
eines Helden, der noch weiter gelebt haben muß, aber hier
nicht mehr vorkommt. So wurde im Mittelalter Gottfrieds
„Tristan“ fortgesetzt, ebenso Wolframs „Willehalm“; hier
waren die Dichter wohl gestorben. Wenn aber Wolframs „Willehalm“
nach vorn fortgesetzt wird, eine Vorgeschichte erhält, so
beruht dies darauf, daß man die früheren Schicksale des
Helden wissen wollte. So ist Schillers „Dreißigjähriger Krieg“
nach vorn fortgesetzt worden; ferner ist sein „Demetrius“ zu
Ende gebracht worden. So werden die weiteren Schicksale
poetischer Gestalten geschildert: „Don Juans Ende“ von Paul
Heyse; Goethe hat die „Zauberflöte“ fortgesetzt; sein „Bürgergeneral“
folgt älteren Stücken. Hier liegen also sichere Fälle,
auch aus früherer Zeit, vor. Nach diesen Erfahrungen hat
dann z. B. Müllenhoff für den „Wolfdietrich“, wo ein solches
Zusammenarbeiten nicht direct bezeugt ist, dasselbe aus stilistischen
Gründen angenommen.

|#f0168 : 152|

  c) Ein Zusammenarbeiten bewußter Art, indem ein
Dichter Einschaltungen in ein vorhandenes Werk macht:
Jnterpolationen. Solche Fälle finden sich sicher überliefert,
wenn ein Dichter noch erhaltene Gedichte überarbeitet hat,
z. B. Shakespeare; die Veränderungen, die im Einzelnen angebracht
werden, gehören hier hinzu.


  d) Jndem eine Veränderung im Einzelnen eindringt, andere
Partien aber nicht antastet (partielle Überarbeitung).
Dies ist ein äußerst fruchtbares Gebiet, besonders für die
Volkspoesie; hierher gehören auch die unwillkürlichen Entstellungen
der Überlieferung.


  e) Jndem einer überhaupt das ganze Werk durcharbeitend
umformt (totale Überarbeitung). So wenn man im
15. Jahrhundert ältere Gedichte aus Versen in Prosa umgearbeitet
hat. Auch gewisse Übersetzungen, die Goethe „travestirende“
nennt, gehören hierher, z. B. die höfischen Epen.


  Zu d) und e) gehören die unwillkürlichen Entstellungen
des improvisirenden Vortrags ebenso, wie das einheitliche
Zusammenarbeiten von nach b) c) entstandenen Werken. Ein
Werk, das nach c) entstanden ist und dann einheitlich überarbeitet
wurde, ist z. B. nach Lachmann die Nibelungenhandschrift
C: eine einheitliche Umarbeitung eines interpolirten
Werks. Am wichtigsten aber sind jene unwillkürlichen Entstellungen
des Vortrags: fassen wir die Volkslieder des
16. Jahrhunderts ins Auge, so finden wir an sehr vielen
Stellen ältere Gedichte, die noch im 14. Jahrhundert entstanden
sein mögen; die meisten verrathen verschiedene Hände.
Dann ist der ursprüngliche Zusammenhang durch den Gesang |#f0169 : 153|

verdunkelt, und man hat das Ursprüngliche fallen lassen,
Strophen umgestaltet u. s. w. Von der eigentlichen Blüthe
des Volksliedes besitzen wir wenig.


  Jn all diesen Fällen arbeiten also die Dichter zusammen,
indem sie von einander wissen. Aber auch das Andere kommt vor:


B. Die Dichter wissen nicht von einander.


  Wie ist das möglich? Können zwei oder mehrere Dichter
genau an einander arbeiten, ohne von einander zu wissen?


  Dies fände statt z. B. in folgendem Fall, den ich gleich in
ein concretes Beispiel kleide, wie es für Entwicklungen der Sage
oft vorkommen mag. Ein Dichter verfaßt ein Lied von Kriemhilds
Untreue gegen ihre Brüder (wir wissen, daß im Anfang
des 12. Jahrhunderts ein solches existirte). Weiter nehmen wir
an, ein anderer Dichter, der es kennt, überarbeite es total
(nach A. e), indem er es ausführlicher macht; er sucht das
alte Gedicht auf eine andere Stufe des Geschmacks zu
bringen, indem er dem sich bildenden Geschmack des Publicums
folgt, welches epische Vorgänge nicht mehr balladenartig
vorwärts stürmend, sondern an gewissen Stellen behaglich
verweilend dargestellt zu finden wünscht. Wenn wir dort
nach W. Grimms Ausdruck nur leuchtende Berggipfel sehen,
und die Thäler verschwinden, so läßt uns der neue Autor
auch durch die Thäler gehen. Diese Annahme ist durchaus
möglich. Das nun ausführlichere Gedicht wird aber zu
lang, um hinter einander auf einem Sitz angehört zu werden.
Der Sänger vertheilt es nun auf zwei oder drei Vorträge, z. B.
1) Werbung Attilas um Kriemhild; 2) Einladung und Zug
der Burgunden nach Hunnenland; 3) Empfang der Burgunden, |#f0170 : 154|

Conflict, Angriff, Kampf, Gemetzel. Diese Abschnitte
sind natürlich auf den Vortrag eingerichtet mit eigener Einleitung
und Schluß. Jeder dieser Abschnitte kann nunmehr
ein selbständiges Leben gewinnen und seine Geschichte für
sich haben, indem er sich fortpflanzt und verändert wird
nach A. c) d) e). Die Varianten können neben einander
bestehen und die Vortragenden können bald dem einen, bald
dem andern folgen: der Dichter, der den zweiten Vortrag
ausbildet, kann auch über die Vorgänge, die ins Gebiet des
ersten fallen, sich neue Vorstellungen bilden, welche von
Nr. 1, oder vollends von einer neuen Überarbeitung von
Nr. 1 weit abweichen. Denke man sich nun, daß ein
anderer, ein Sammler von Gedichten, eine ihm bekannte
Gestalt von Nr. 1 mit einer ihm bekannten Form von Nr. 2
und desgleichen mit einer Überarbeitung von Nr. 3 zu Einem
Gedicht verbände mit Bezug auf einen einzelnen Helden ─
oder daß er gar zwei verschiedene Varianten etwa von Nr. 2
in einander schöbe und durch einander flöchte ─ so entsteht
eine neue Einheit oft der sonderbarsten Art; so hat man die
Erscheinungen, wie sie durch Lachmanns Kritik in der Jlias
und im Nibelungenlied aufgedeckt sind. Ein solches „Auseinandersingen“
läßt drei verschiedene Dichter zusammen
arbeiten, ohne daß wirklich einer vom andern weiß. Diese
Überarbeiter können neue Tendenzen in den Stoff hineinlegen,
und die Sache beruht allein darauf, daß eine Einheit
aus einander ging in drei Abtheilungen, daß jedes dieser
drei Lieder für sich bearbeitet wurde und dann alle von
neuem zu einem Ganzen vereinigt wurden.

|#f0171 : 155|

  Wenn wir diesen ganzen Vorgang ein „Auseinandersingen“
nennen können, so ist ebenso gut ein „Zusammensingen“
möglich. Die verbindenden Dritten können selbst
wieder Sänger sein. Es kann ein Sänger zwei bestehende
Sagen in dichterischer Behandlung vereinigen. Jm 5. Jahrhundert
gab es eine Überlieferung von Hildico, der Mörderin
Attilas, und es gab davon ganz unabhängig eine
Überlieferung von Kriemhild und ihren Brüdern, von einem
Siegfried, dem Gatten dieser Kriemhild, den sie früh verloren.
Nun kam ein Sänger, welcher diese Überlieferung
von Hildico mit der von Kriemhild verband. Er trug nur
die Geschichte von Attilas Tod vor, indem er eine Motivirung
hinzufügte: er behauptete, Hildico habe Attila aus Rache
getödtet, weil er ihre Brüder getödtet habe. So wird die
„Rache“ für den Tod der Burgunden in die andere Überlieferung
hineingebracht, wozu wenige Sätze ausreichten, in
der balladenartigen Poesie ein einziger Satz. Hierdurch
aber kann dann ein Lied vom Untergang der Burgunden
und ein Lied vom Tode Attilas verbunden, „zusammengesungen“
sein und Nachfolgenden nun als eine Einheit erscheinen
oder sie zur Herstellung einer Einheit reizen: so
sind nachträglich die Verfasser der beiden älteren Lieder
zu Mitarbeitern an demselben jüngeren Werk geworden, ohne
es zu wissen.


  Es ist beiläufig zu bemerken, daß von unseren beiden
Beispielen aus der Geschichte des Nibelungenliedes das erste
eine jüngere Sagengestaltung voraussetzt. Das „Zusammensingen“
von Kriemhild und Hildico ist älter; dann kommt |#f0172 : 156|

eine Lücke, und erst im 12. Jahrhundert das „Auseinandersingen“.



  Durch das Zusammensingen entsteht das Anwachsen
von Sagen, es entstehen Cyklen und was solchen ähnlich;
dies ist also ein wichtiger Proceß. Aber auch das Auseinandersingen,
wo durch den innern Zusammenhang der Episoden
wieder die Sänger unwissentliche Mitarbeiter sind,
kann durch die bloße äußerliche Zusammenfassung schon eine
Art Einheit geben. So kann also das Auseinandersingen
zur Bildung größerer volksthümlicher Epopöen führen, wo
die ordnende vereinigende Hand nicht fehlt. Es wird also
nur bei regem litterarischem Jnteresse eintreten. Wir haben
in Niederdeutschland und Oberdeutschland im 12. Jahrhundert
ähnliche Fälle mit ganz verschiedener Wirkung. Auch in Niederdeutschland
gab es eine Reihe solcher Nibelungenlieder. Aber
sie wurden nicht zusammengefaßt und gingen deshalb bis
auf kümmerliche Reste ganz verloren; wir wissen von ihnen
nur dadurch, daß ein fremder Sänger sie in Norwegen zur
Thidreksaga vereinigt hat.


  Bei solchen Vorgängen der Mitarbeit ergeben sich Verschiedenheiten
des Stils von selbst: entweder schon auf Grund
der verschiedenartigen Überlieferungen, die zu Grunde liegen,
oder durch die verschiedenen Auffassungen der Mitarbeiter,
Anspielungen, die sich Bearbeiter von Episoden erlauben,
Widersprüche, welche sie hereinbringen u. s. w. Solche Verschiedenheiten
und Widersprüche gewähren uns die Möglichkeit,
diese Vorgänge zu erkennen und die ursprünglichen Arbeiten
zu scheiden.

|#f0173 : 157|

  Aber ganz ähnliche Erscheinungen zeigt


3. Unterbrochenes Arbeiten.

  Auch wenn ein und derselbe Dichter nicht bei der Arbeit
bleibt, sondern seine Arbeit fallen läßt und wieder aufnimmt,
vielleicht nach Jahren, werden sich Widersprüche einschleichen,
wo er sich nicht genau überwachen konnte, und es werden sich
wirklich Stilverschiedenheiten einfinden, wenn sich der Dichter
nicht ganz hineinzuversetzen weiß. Denn der Dichter ändert
in der Regel ja fortwährend seinen Stil; ein ganz constanter
Stil ist bis jetzt wenigstens mit Sicherheit noch nirgends
beobachtet worden. Hierüber vgl. Müllenhoff, Zeitschrift für
deutsches Alterthum 23, 114 f.; Aufsätze über Goethe S. 294 f.


  Ein solches Werk gelangt mithin in der Regel nicht zu
einer völligen durchgearbeiteten und tadellosen Einheit; es trägt
die Spuren der allmäligen Entstehung deutlich an der Stirn.
Das lehrreichste Beispiel hierfür ist Goethes „Faust“; aber
auch andere zeigen die Spuren allmäliger Entstehung. So
der „Wilhelm Meister“: als Charlotte Schiller das Manuscript
des Romans in die Hand bekam, da merkte sie dies
daran, daß in verschiedenen Theilen dieselben Personen verschiedene
Namen führten; so heißt Lothario mit dem für
einen typisch=deutschen Edelmann sonderbaren italienischen
Namen im ersten Druck das erste Mal noch Lothar. Die
„Wanderjahre“ vollends weichen im Stil total ab, so daß man,
wenn man nicht das Gegentheil wüßte, ganz gewiß auf verschiedene
Autoren schließen würde. Ja selbst in einem Werk
wie Schillers „Wallenstein“ finden sich über das Verwandtschaftsverhältniß |#f0174 : 158|

zwischen Wallenstein und der Gräfin Terzky
verschiedene Voraussetzungen. So begegnen öfters Widersprüche
bei Shakespeare: vielleicht hat er nach einer Aufführung Zusätze
gemacht. Der Autor hat die Arbeit aufgenommen
und sich der Voraussetzungen nicht mehr genau erinnert;
oder er hat hineingearbeitet, und das Neue paßt nicht zum
Alten. Sehr unwahrscheinlich, aber doch möglich ist, daß
ein Dichter absichtlicher Effecte willen Widersprüche stehen
läßt oder hereinbringt; z. B. eine Botschaft wird überbracht,
die zu den Annahmen nicht vollständig stimmt, weil sich der
Autor sagt, daß ein betheiligter Zuschauer von der tragisch
erregten Phantasie zu Übertreibungen hingerissen wird.


  Eine eindringende Analyse muß auf diese Widersprüche
achten, nicht nur damit dadurch ein Einblick in die Entstehung
des Werkes eröffnet werden kann, sondern auch aus
ästhetischen Gründen. Denn die Forderung der Einheit und
Widerspruchslosigkeit ist zu erheben und festzuhalten ─ wenn
sie nicht erfüllt wird, ist daraus ein wohlberechtigter Tadel
abzuleiten. Wo Widersprüche und Abweichungen des Stils
hinzukommen, ist dieser Tadel nicht einheitlichen Stils auch
gegen Goethes „Faust“ zu erheben.


4. Anhaltendes Arbeiten.

  Das Wünschenswertheste, um die Einheit des Werks zu
erzielen, ist anhaltendes Arbeiten, die völlige Concentration,
welche dem Werke bleibt von der ersten Conception bis zur
Vollendung. Freilich auch kurze Unterbrechung kann ihren
Vortheil haben: Schwierigkeiten werden leicht, Dunkelheiten |#f0175 : 159|

klar, wie man Manches aus der Ferne besser sieht als aus
allzu großer Nähe. Kleine Pausen der Sammlung lassen der
Phantasie Spielraum im Gegensatz zu dem einseitigen Willen;
durch consequentes Zwingen kann man öfters auf einen Holzweg
kommen. Aber groß ist der Vortheil für die Production, wenn
Eins Hauptsache ist und alles Andere im Hintergrunde steht.
Mir sind keine Schilderungen dieses Zustandes von Seiten der
Dichter als Selbstbekenntnisse bekannt, obgleich es dergleichen
geben mag. Nachfühlen kann mans auch vom Standpunct wissenschaftlicher
Production. Eins hat Wissenschaft und wissenschaftliche
Darstellung auch heute mit dichterischer gemein:
beide haben die Aufgabe, Personen, Charaktere, innere Zustände
zu errathen, soweit sie verborgen sind, und darzustellen.
Das Klarwerden, das Deutlichwerden der Personen
und Vorgänge ist für beide dasselbe: die Menschen bewegen
sich vor mir, reden, handeln ─ innen ─ und doch nicht
innen ─ eher außer mir.


  Das Glück dieser concentrirten, am meisten productiven
Stimmung hat Goethe oft geschildert, so in „Hans Sachsens
poetischer Sendung“ und unter „Kunst“ in den Gedichten
von 1784, auch in „Künstlers Erdenwallen“.


5. Die schaffenden Seelenkräfte.

  Ob nun unterbrochenes oder concentrirtes Arbeiten ─
schon aus den Betrachtungen über den Ursprung der Poesie
ist es wahrscheinlich, daß das poetische Schaffen eine starke
innere Erregung voraussetzt. Mindestens wird dies normal
sein; freilich giebt es Zeiten, wie den Übergang vom 17. zum |#f0176 : 160|

18. Jahrhundert, wo Poesie nur als Nebenbeschäftigung müßiger
Stunden angesehen wird; daher die Titel „Poetische Nebenstunden“
u. dgl. bei den Canitz, Besser u. A. Und so läßt sich
denn eine handwerksmäßig prosaische Dichtweise denken, in
welcher von besonderer innerer Erregung nicht gesprochen werden
kann ─ aber das werden nicht die Zeiten großer Schöpferkraft
sein, sondern die Zeiten, in denen man höchstens erlernte
Mittel kunstgerecht anwendet. So wurden damals nur
mit erlernter Technik platte Gedanken versificirt.


  Aber für Zeiten wahrer Schöpferkraft und für starke
Jngenien hat man diese Erregung sicher vorauszusetzen, und
ebenso für die Conception der Urzeit.


  Jene Erregung aber was ist sie? Erregung, Thätigkeit,
Spiel der Phantasie.


  Und was ist Phantasie?


  Michaut, De l'imagination (Paris 1876); Cohen, Die
dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußtseins,
Zeitschrift für Völkerpsychologie 6, 171─263; Steinthal ebd.
6, 301; J. B. Meyer, Das Wesen der Einbildungskraft, ebd.
10, 26─41. Vischer hat der Lehre von der Phantasie einen
ganzen Band seiner „Aesthetik“, Theil 2, Abth. 2 gewidmet.
Aber er hat Dichtung durchweg mit Speculation vermischt
und geht nicht so empirisch=psychologisch vor, wie wir es
brauchten, obgleich voll von hergehörigen und fördernden
Bemerkungen.


  Der ganze Proceß, der zur Schaffung poetischer Kunstwerke
führt, von dem ersten Aufleuchten des poetischen Motivs
bis zur letzten vollständigen Behandlung in Sprache |#f0177 : 161|

und Rhythmus kann als ein Proceß der Phantasie bezeichnet
werden. Aber darauf kommts uns hier nicht an, sondern
wir wollen jetzt vor allem die elementare Fähigkeit unserer
Seele erkennen, welche dabei in Thätigkeit ist ─ diejenige
Fähigkeit, welche wir als die Kraft der Phantasie zu bezeichnen
pflegen.


  Es ist nun ganz klar, daß die Phantasie als solche
Grundkraft mindestens in starker Verwandtschaft mit dem
Gedächtniß steht; ja die Frage ist nothwendig, ob sie nicht
überhaupt mit dem Gedächtniß zusammenfällt. Jch bin geneigt
anzunehmen, Gedächtniß und Phantasie seien allerdings dasselbe:
die Fähigkeit zur Reproduction alter Vorstellungen.
Es fragt sich, ob jemals eine Vorstellung genau so reproducirt
wird, wie sie ursprünglich in den Geist eintrat. Es
giebt Psychologen, welche das läugnen und annehmen, daß
jedesmal mit der Reproduction eine Veränderung verbunden
sei. Wir brauchen die Frage hier nicht zu entscheiden; genug,
die Reproduction ist mehr oder weniger genau: es giebt
Grade der Genauigkeit und Ungenauigkeit im Gedächtniß.
Sofern die Vorstellung ungenau ist, hat eine Umwandlung
stattgefunden; diese Umwandlung alter Vorstellungen ist die
Arbeit der Phantasie. Die Phantasie ist also die verwandelnde
Reproduction. Für die Einen wäre demnach Phantasie
und Gedächtniß gleich, für die Andern nicht ganz.


  Ganz ähnlich steht es mit dem Zusammenhang, in
welchem Vorstellungen reproducirt werden. So oft jene
Umwandlung stattgefunden hat, tritt eine andere Einordnung
ein; durch diese Einordnung werden neue Vorstellungen erweckt. |#f0178 : 162|

Der Abbruch kann verschieden sein nach den möglichen Associationen,
und durch die Associationen können verschiedene
Combinationen in die Reproduction eintreten. Das ist die
Arbeit der Phantasie.


  „Sie ruft nicht ihre gaukelnden Bilder aus dem Nichts
hervor, sie weckt nur die schlummernden aus dem Dunkel der
Erinnerung: sei es, daß Erlebnisse vorschweben oder die
Phantasiegebilde früherer Dichter. Die Production der Phantasie
ist im Wesentlichen eine Reproduction“ (Aufsätze über
Goethe S. 128).


  Die Phantasie ohne die Herrschaft des Willens, ohne
die Richtung auf ein Ziel, das ihr der Wille verleiht, aber
vielleicht unter dem Einfluß von körperlichen Stimmungen
und von unbewußten Reizen, treibt ihr Wesen im Traum.
Diese Wichtigkeit der Lehre vom Traum für die Erkenntniß
der Phantasie betonte schon Jean Paul und dann besonders
F. Th. Vischer. Schubert, Die Symbolik des Traumes (1814),
unklar geschrieben, aber voll feiner Bemerkungen. K. A. Scherner,
Das Leben des Traumes (Berlin 1861); Strümpell, Die
Natur und Entstehung der Träume (Leipzig 1874); Volkelt,
Die Traum-Phantasie (Stuttgart 1875), recensirt von Vischer,
Altes und Neues 1, 187; J. Sully, Die Jllusionen (Leipzig
1884). S. auch Jean Paul, Vorschule der Aesthetik und
Vischer, Aesthetik 2, 2 § 390 (S. 330); Just. Kerner, Bilderbuch
S. 242.


  Vischer a. a. O. hat unterscheiden wollen zwischen productiven
und reproductiven Träumen. Unter letzteren versteht
er bloße Erinnerungsbilder, die im Traum erscheinen; |#f0179 : 163|

unter ersteren die unmittelbaren Einwirkungen von Sinnenreizen,
die oft unter symbolischer Gestalt aufgenommen und
in den Zusammenhang einer bestimmten Geschichte oder Situation
gebracht werden. Solche erst im Schlafe sich herstellenden,
durch die Lage bestimmten Sinnreizungen werden also
von der Traumphantasie sofort aufgenommen und verarbeitet,
oft in symbolischer Gestalt. Es scheint mir leicht nachzuweisen,
daß die Sinnreizträume eigentlich auch nicht productiv
sind; sie bringen nichts Neues, sondern der wirkende Reiz
verbindet sich mit theilweise ähnlichen Vorstellungen aus der
vorhandenen Vorstellungsmasse der Seele und geht von da
aus weitere Verbindungen ein, z. B. Störungen des Herzschlags
und Blutumlaufs spiegeln sich in den Angst= und
Verlegenheitsträumen. „Die Vorstellung des Fliegens ist ein
Lungenreiz-Traum; das Ein und Aus des Athmens, die
beiden Flügel der Lunge spiegeln sich sinnbildlich als Auf=
und Niederschweben in der Luft mit den gedoppelten Bewegungsorganen“
(Vischer). Doch bleibt es sehr fraglich, ob das
die richtige Erklärung ist; hier ist schon eine Deutung des
Forschers im Spiel. Nach Scherner soll der Körper als
Haus erscheinen, wie er das in mythologischer Vorstellung
auch thut (vgl. Wackernagel, Zs. f. d. Alt. 6, 297: Haus Kleid
Leib). Aber noch fehlen sichere Beweise für die Symbolik
des Traums. Und so ist überhaupt auf diesem Gebiet vieles
zweifelhaft. Zwar die Einwirkung körperlicher Beängstigung
ist recht erklärlich ─ mit denselben körperlichen Zuständen
sind Vorstellungen der Verlegenheit und Angst associirt,
und diese werden nun angeregt. Jm Leben ruft wahrscheinlich |#f0180 : 164|

umgekehrt die Angst die Beklemmung hervor, im Traum die
Störung des Herzschlags die Angst: beides ist eben im Kapital
unserer Vorstellungen associirt und diese Association wird reproducirt.



  Aber wie hierbei der Schein der Productivität erzeugt
wird, so auch im Vorstellungsleben des Wachens: wenn ein
Eindruck an uns herantritt und sofort ganze Vorstellungsreihen
ablaufen macht; wenn uns eine Gestalt begegnet
und uns sofort nöthigt, uns zu ihr eine ganze Geschichte zu
dichten; wenn andererseits eine Geschichte, die wir im Umriß
erfahren, uns nöthigt, die Personen uns anschaulich vorzustellen,
die darin spielen.


  Das ungehinderte freie Spiel der Phantasie im Traum
wird nun im wachen Dichten zusammengehalten und auf
feste Ziele gelenkt. Der Vorgang des Schaffens kann sich
aber blitzartig vollziehen, und so, daß wir nichts dazu zu
thun scheinen. Ebenso kann aber auch durch zielbewußtes
Wollen, also mühsamer, die Phantasie angeregt und herangezogen
werden: wenn zwar ein bestimmter Verlauf im
Ganzen vorschwebt, es aber darauf ankommt, ihn im Einzelnen
als einen wirklichen anschaulich zu machen.


  Zu dem, was die Phantasie gleichsam freiwillig thut,
kommen die bestimmten Leistungen, die ihr ein zielbewußter
Wille abverlangt.


  So treten im Bewußtsein der dichterischen Production
sehr häufig zwei Factoren auf. Man weiß, daß die Phantasie
arbeiten muß, andererseits aber auch, daß mindestens
eine Auswahl stattfinden muß. Schon im 17. Jahrhundert |#f0181 : 165|

standen sich entgegen imagination und raison, und bei
Boileau wurde der letztere Factor ausschließlich begünstigt,
während die üppigen gehäuften Figuren und Tropen der
imagination und ihren Excessen zugeschrieben wurden. Der
Streit setzte sich bis Gottsched fort.


  Die Wahrheit ist wohl, daß in der Regel bei Kunstwerken
beides nöthig ist: die unbewußte Überfülle poetisch
anmuthender Einfälle, und die bewußte Arbeit, der Geschmack,
die vernünftige Herrschaft darüber, die sie zu Rath
zu halten weiß.


  Das erste Erfassen des Stoffs und das verschwenderisch
reiche Aufquellen desselben, das ihn als einen fruchtbaren
zeigt, ist zunächst das Werk der Phantasie. Wenn es dann
gilt, auszuwählen, für die Darstellung zuzubereiten, dann
tritt der ordnende Verstand in seine Rechte. Dieser Verstand
ohne Phantasie führt zur Trockenheit und Nüchternheit, die
Phantasie ohne den Verstand zur Unordnung und Überhäufung.
Dort werden wir nicht angeregt, hier wird der
Anregung zu viel und wir ermüden. Für den Beobachter aber
bleibt immer die Frage: was ist thatsächlich, und was folgt aus
den thatsächlichen Verhältnissen?


  Die eigentliche Quelle also, aus der die Dichtkunst
fließen muß und immer floß, ist die Phantasie.


  Jhre Production, sahen wir, ist Reproduction; aber
gerade bei großer Fähigkeit und lebhafter Wirkung der Phantasie
eine nicht getreue, sondern möglichst variirende und
variable Reproduction, so daß die einzelnen Vorstellungen
gleichsam Durchschnittspuncte vieler sich kreuzender Fäden |#f0182 : 166|

sind, deren jeder wieder Tausende von aneinander hängenden
Vorstellungen aufregt.


  Die Lebhaftigkeit der Phantasie besteht zunächst in der
Leichtigkeit vielfacher Jdeenassociation. Dem phantasievollen
Menschen fallen bei jedem starken Eindruck und bei jeder
Concentration auf eine einzelne Vorstellung unzählige andere
Vorstellungen ein, die damit zusammenhängen. Ein Samen
fällt: und es entsprießt sofort ein ganzes Blumenbeet, aus
dem er die Wahl hat, zu pflücken was ihm beliebt. Das
Blumenbeet liefert die Phantasie; bei der Auswahl des
Pflückens muß der Verstand helfen.


  Der Phantasie stehen nun aber für die Umwandlung
der in der Erinnerung bewahrten Thatsachen verschiedene
Methoden zu Gebote. Jmmer sind es Combinationen verschiedener
Vorstellungen. Eine große Rolle spielen dabei die
Größenvorstellungen. Vieles, worin man eine besondere
Fruchtbarkeit der Phantasie zu erblicken pflegt, beruht nur
auf Steigerung: große Zahlen, große Zeiträume, große
Raumdimensionen, die man zu einer gegebenen Vorstellung
hinzubringt, so daß die kleinen Verhältnisse multiplicirt
werden. So z. B. Schillers Beschreibung der Charybdis
im „Taucher“ nach dem Muster ─ eines Mühlbachs, dessen
Sprudeln er einfach ins Große projicirt und mit homerischer
Überlieferung combinirt.


  Ein anderes Verfahren ist die Einführung von Negationen:
z. B. das Unendliche, das Wüste, Meer, Ebene,
moralische Leerheit, dumpfes Brüten, kurz was sich über
weite Ausdehnung erstreckt, wird dargestellt durch Negationen; |#f0183 : 167|

man citirt, was nicht vorhanden ist, aber vorhanden sein
könnte.


  Aber nicht bloß Reichthum und Mannigfaltigkeit sind
charakteristisch für die große, lebhafte Phantasie, sondern
auch die Deutlichkeit der einzelnen Vorstellungen und die
rasche Bestimmtheit, in der sich das Bild verdeutlicht, sowie
man darauf verweilt.


  Nach beiden Seiten hin ist folgende Betrachtung
wichtig:


  Die Production der Phantasie ist Reproduction, sagten
wir schon. Das Material sind die empfangenen Vorstellungen,
welche direct oder indirect der Niederschlag der Natur, d. h.
hier der Außenwelt, in den menschlichen Geist, in die Phantasie
sind ─ und neben diesen empfangenen Vorstellungen
die Fäden, die zwischen ihnen hin und her laufen und die
Combinationen vermitteln.


  Hier tritt also das Verhältniß zwischen Außenwelt und
individueller Seele als bestimmend ein. Aber die Außenwelt
hat ihren Zugang zum unendlichen Geiste durch die
Sinne.


  Und wie sich die Eindrücke der Sinne in der Seele
treffen, so können sie sich auch unter einander verketten und
einander gegenseitig reproduciren und zusammenhelfen, wo
es gilt, einen Eindruck, an dem sie alle Theil haben, zu
reproduciren.


  Soll ich mir einen zornigen Mann vorstellen, so muß
mir das innere Auge ihn bis ins Einzelne in Umriß, Gestalt,
Farbe zeigen, und das innere Ohr muß mir seine |#f0184 : 168|

Stimme vergegenwärtigen; und je deutlicher ich glaube seine
Stimme zu vernehmen, desto besser für die Lebhaftigkeit der
Vorstellungen, desto stärker meine Phantasie.


  Aber wie sich hier die Sinne zusammenfinden, um ein
bestimmtes Bild auszugestalten, so können auch allgemeine
Analogien obwalten zwischen Tönen, Farben, Formen, Stimmungen
─ und diese aus dem Unbestimmten zu bestimmten
Gebilden fortschreiten. Die Wirkung der Phantasie zeigt
sich dann eben darin, daß die zuerst ganz allgemeinen Anregungen
sich allmälig ins Einzelne verdichten.


  Über diesen Punct besitzen wir merkwürdige Selbstbekenntnisse
eines Dichters: von Otto Ludwig (Werke 1,
S. XI), begleitet von Betrachtungen G. Freytags, welche auch
Erfahrungen beibringen, die er an sich gemacht hat, aber
die Sache wohl nicht erschöpfen.


  „Mein Verfahren ist dies: es geht eine Stimmung
voraus, eine musikalische, die wird mir zur Farbe; dann sehe
ich Gestalten, eine oder mehrere, in irgend einer Stellung
und Gliederung für sich oder gegen einander, und dies wie
ein Kupferstich auf Papier von jener Farbe, oder genauer
ausgedrückt wie eine Marmorstatue oder plastische Gruppe,
auf welche die Sonne durch einen Vorhang fällt, der jene
Farbe hat. Diese Farbenerscheinung habe ich auch, wenn
ich ein Dichtungswerk gelesen, das mich ergriffen hat; versetze
ich mich in eine Stimmung, wie sie Goethes Gedichte
geben, so habe ich ein gesättigt Goldgelb, ins Goldbraune
spielend; wie Schillers, so habe ich ein strahlendes Carmoisin; |#f0185 : 169|

bei Shakespeare ist jede Scene eine Nuance der besonderen
Farbe, die das ganze Stück mir hat.“


  Das ganze Bekenntniß ist sehr merkwürdig, auch wo
etwa unwillkürlich die Absicht und Berechnung eintritt und
wieder verwischt werden muß. Der zweite Theil seiner Bekenntnisse
scheint mir weniger wichtig.


  Ob nun diese Bekenntnisse allgemein giltig sind, weiß
ich nicht zu sagen; Freytag z. B. scheint Ähnliches nicht
empfunden zu haben.


  Hätten wir doch mehr solche Selbstbekenntnisse von
Dichtern!


  Das, was etwa vorhanden, wäre sorgfältig zu sammeln.


  Einiges hierher Gehörige findet sich bei Alfieri. Er wird
durch Musik zum Dichten gestimmt (2, 5): „Mein Geist,
mein Herz und mein Verstand werden durch nichts so heftig
und unermeßlich angeregt als durch Töne überhaupt und
insbesondere durch die Stimme der Altisten und Sängerinnen.“
„Nichts weckt in mir mehr die mannigfaltigen und
schrecklichen Leidenschaften (affetti), und fast alle meine
Trauerspiele sind unter dem Anhören von Musik oder
wenige Stunden nachher von mir concipirt“ (ideate) 3, 3:
Melancholische Anfälle kommen periodisch, meist im Frühling,
vom April bis Ende Mai. Sein Geist hat gleichsam nach
dem Barometer mehr oder weniger Productionskraft, je nachdem
die Luft mehr oder minder schwer ist; bei den großen
Winden, zur Zeit der Sonnenwende und Nachtgleiche vorzüglich,
Unfähigkeit; des Abends unendlich weniger Scharfsinn
als des Morgens; im kältesten Winter und heißesten |#f0186 : 170|

Sommer weit mehr Phantasie, Enthusiasmus und Erfindungsgabe,
als in den dazwischen liegenden Jahreszeiten. Er
glaubt, daß diese metroide Beschaffenheit mehr oder weniger
allen Menschen von zarten Nerven gemein sei.


6. Genie und Wahnsinn.

  Die künstlerische Anlage wird oft Genie, Genius
genannt. Man unterscheidet auch Talent und Genie,
was pervers, da es sich nur um verschiedene Grade
handelt. Vgl. J. B. Meyer, Genie und Talent, Zeitschrift
für Völkerpsychologie 11, 269─302. Das Wort „Genie“
wurde im vorigen Jahrhundert durch die Franzosen aufgebracht;
damals hatte es noch nicht genau die jetzige Bedeutung:
es wurde als „specifische Anlage“ genommen. Die
Deutschen haben zwischen den Synonymen oft gewaltsam
scharfe Grenzen gezogen, so auch hier.


  Dieselbe Unterscheidung begegnet uns bei Schopenhauer.
Über das Genie sinden sich geistreiche und tiefsinnige
Betrachtungen in seinem Werk „Die Welt als Wille und
Vorstellung“ 1, 217 f. 2, 429 f. Aber im Wesentlichen ist
es doch verfehlt. Schopenhauer, kann man sagen, setzt das
Bild des Genies aus sich und Goethe zusammen, aus Goethe
aber nur, so weit er zu Schopenhauer stimmt. Schopenhauer
versteht unter Genie den höchsten Grad des Jntellects, die
anschauliche Betrachtung der Welt im Gegensatz zum Willen,
die interesselose Betrachtung des Wesens der Dinge ganz
ohne Antrieb des Egoismus. Dies ist allerdings Goethes
höchste in Jtalien erreichte Stufe, auf der er ein Weiser |#f0187 : 171|

nach Spinoza geworden war. Aber auch Goethe war zu
anderen Zeiten ganz anders, und zu allen Zeiten ist bei
ihm der Antrieb des Willens mächtig, der ihm Stoff zur
Dichtung geben soll, und von einer Betrachtung, die im
Gegensatz zum Willen, zum Eigenwillen des Herzens steht,
ist bei ihm nie die Rede. Der Wille befruchtet bei ihm
den Jntellect. Schopenhauer geht insofern ganz in die Jrre,
als er nur Eine Erscheinungsform des Genies, allerdings die
höchste, ins Auge faßt; aber auch hier ist er bei der Analyse
noch nicht erschöpfend, sondern unvollständig und ungenau.
Wie die Philosophen pflegen, nimmt er ein particulares
Phänomen für das Ding an sich. Überhaupt ist er ganz zu
widerlegen, wenn man sich mit meinen Betrachtungen über
den Ursprung der Poesie durchdrungen hat. ─


  Wir haben uns vom Dichter und seinem inneren Leben
ein anschauliches Bild zu machen gesucht, indem wir die
schaffenden Kräfte ins Auge zu fassen suchten. Wir wollen
nun fragen, ob wir etwas wissen können von den körperlichen
Bedingungen künstlerischer Anlagen. Mit welchen
körperlichen Beschaffenheiten pflegt jene Phantasie-Kraft verbunden
zu sein, die wir als wesentlich und charakteristisch
erkannten?


  Eben diese Frage und der Versuch, sie zu beantworten,
wird aus auf den im Titel angedeuteten Zusammenhang
führen.


  Schon viele Vorgänger haben sich damit beschäftigt und
Zusammenhang des dichterischen Talents mit bestimmter
körperlicher Beschaffenheit angenommen.

|#f0188 : 172|

  Die ersten Angaben sind sehr kindlich. Plato verlegt
den Sitz des dichterischen Vermögens in die Leber; Aristoteles
leitet das Genie aus einer besonderen Wärme der schwarzen
Galle ab und behauptet, alle genialen Männer seien Melancholiker
(Vischer 2, 2, S. 333).


  Vischer selbst sagt: „So viel ist gewiß, daß die phantasievollen
Naturen launisch, reizbar, Kinder der Stimmung
sind, und man wird den nächsten physiologischen Grund
immerhin in einer erregbaren Disposition der Organe suchen
müssen, die auch die Verdauung besorgen; sie reizen zur
Hypochondrie, sind schreckhaft und Alterationen pflegen ihrerseits
schnell den Magen zu afficiren.“ Vischer fügt gleich
sehr richtig hinzu: „Schreckhaft sind sie allerdings, weil
ihnen die Einbildungskraft rasch das Drohende verdoppelt ..
die schnelle ganz unmittelbare Entzündbarkeit der Einbildung
muß aber durch die besondere Stimmbarkeit des Nervenlebens
vermittelt sein.“


  Daß das Genie melancholisch sei, führt Schopenhauer
näher aus und sucht es mit jenen seinen Grundgedanken zu
vermitteln. Mit großem Recht zieht er stets Goethes Tasso
herbei ─ in der That die vollendetste, eingehendste, reichste
Schilderung des Dichters, sofern er zur Melancholie, Hypochondrie
neigt und eine hochgradige Reizbarkeit kundgiebt.
Aber Schopenhauer, der fortwährend auf Goethe hindeutet,
sollte sich doch auch klar gemacht haben, daß Goethe zwar zu
gewissen Zeiten seinem Tasso geglichen haben mag, aber nur
sehr annähernd, und daß Goethe selbst einen ganz anderen
Typus des Dichters repräsentirt, durchaus nicht einen |#f0189 : 173|

melancholischen und kranken, sondern einen gesunden, kräftigen,
resoluten, der klar und mannhaft, keineswegs trüb und
finster, in die Welt sieht und der zwar ergreifendes Unglück
zu besingen und also auch wohl zu erleben wußte, aber noch
mehr und noch schöner das Glück! Alle bisherigen Betrachtungen
gehen nicht davon aus, was das Erste sein
müßte, eine Scala sämmtlicher Dichtertypen zu entwerfen
und dann erst eine Verallgemeinerung zu versuchen! Und
dabei werden wir sofort auch cholerische, sanguinische und
phlegmatische Temperamente aufweisen können. Vielleicht
ist es möglich darzulegen, daß gewisse dichterische Wirkungen
mit Melancholie verbunden sind: allerdings wird der
Tragiker oft zur Melancholie geneigt sein, denn er heftete seinen
Blick auf das Tragische nicht mit Vorliebe, wenn er nicht
zum Düstern neigte. Ähnlich der lyrische Dichter des Liebesschmerzes
─ aber der Dichter der „Römischen Elegien“? Er ist
doch kein Melancholiker; er zeichnet sich gerade dadurch aus,
daß auch die Freude befruchtend in seine Seele fällt und die
Phantasie anregt.


  Dies ist also wohl eine einseitige Lehre: die körperlichen
Voraussetzungen der Melancholie sind für das Genie nicht
nöthig. Und vollends Schopenhauers eingehende körperliche
Schilderung des Genies 2, 448 f. ist ganz erträumt und aus
den Fingern gesogen, soweit sie nicht allbekannte Dinge enthält,
z. B. daß große intellectuelle oder künstlerische Begabung
mit großem Umfang des Gehirns verbunden zu sein
pflegt.


  Eine andere Betrachtung aber verspricht mehr Aussicht |#f0190 : 174|

und ist auch schon lang dem Aperçu nach gemacht (Maudsley,
Die Zurechnungsfähigkeit der Geisteskranken, Jnternat. Bibl.,
Leipzig 1875, S. 46). Schon Horaz nennt die dichterische
Begeisterung amabilis insania („holder Wahnsinn“ Wieland
im „Oberon“). Aristoteles soll nach Seneca gesagt haben:
nullum magnum ingenium sine mixtura dementiae
fuit
(kein Genie ohne Beimischung von Wahnsinn), vgl.
Schopenhauer 1, 224 f., J. Kerner, Bilderbuch S. 40 f.
Aber dies Aperçu, die Verwandtschaft von Genie und Wahnsinn,
ist nicht exact ausgebeutet, wie Schopenhauer zeigt.
Bastian, Der Mensch in der Geschichte 2, 529 f. Moreau,
La psychologie morbide
(Paris 1859) übertreibt: „Genie
ist eine Nervenkrankheit“; Maudsley dagegen sagt sehr gut,
was sich ungefähr sagen läßt. H. Joly, Psychologie des
grands hommes; Sully Prudhomme, L'Expression;
Gabriel Séailles, Essai sur le génie dans l'art
(Paris
1884).


  Es scheint eine Verwandtschaft zu bestehen zwischen den
körperlichen Dispositionen des Wahnsinns und seiner Verwandten
(Epilepsie u. dgl.) und den körperlichen Dispositionen
außerordentlicher Anlagen, der Genialität. Reiche Beispielsammlung
bei Moreau, auch bei Maudsley. Hiernach darf
man hoffen, daß die Untersuchung über den Jrrsinn weiter
führen werde. Aber auch hier muß man auf die Ausnahmefälle
achten. Unzweifelhaft ist eine gesteigerte Reizbarkeit
des Nervensystems und eine sehr lebhafte Phantasie vorhanden;
bedeutende Naturen entladen selbst gelegentlich in extraordinären
Geisteszuständen (Dichter wohl namentlich in Hallucinationen; |#f0191 : 175|

bei Goethe ist wenigstens ein Fall sicher) oder dergleichen,
oder es kommt etwa Epilepsie in ihrer Familie vor.


  Maudsley sagt: „Originelle Anregungen, entschiedene
Äußerungen des Talents oder gar des Genies gingen vielfach
von Jndividuen aus, die aus Familien entstammten,
worin eine gewisse Prädisposition zum Jrrsinn vorkam.“


  Hiernach darf man hoffen, daß die fortschreitende Erkenntniß
der körperlichen Dispositionen, auf denen Jrrsinn
beruht, auch zu fortschreitender Erkenntniß der körperlichen
Dispositionen, auf denen künstlerische Genialität beruht,
führen werde.


  Gesteigerte Erregbarkeit des Nervensystems wird ja unzweifelhaft
dabei zu constatiren sein ─ und man kann so
leicht verstehen, daß eine sehr lebhafte Phantasie, die eine
einzelne Erscheinung lebhaft zu erfassen weiß, eine Vorstufe
für die Hallucination ist.


  Maudsley handelt über epileptische, ja wahnsinnige Zustände
der Propheten; Mahommeds Entzückung sei ein epileptischer
Zufall gewesen.


  Wenn so wenigstens der Blick eröffnet ist auf eine
Untersuchung nach der körperlichen Seite hin, durch welche
Licht auf die körperliche Beschaffenheit des Dichters fallen
kann, so möchte ich noch einen andern Zug herausheben,
der die Urzeit und einfache Zustände charakterisirt und zugleich
den Dichter nach der körperlichen Seite.


  Unter den modernen Dichtern, welche tief eingewirkt
haben, war Einer blind: Milton. Lessing wollte in der
Fortsetzung des „Laokoon“ untersuchen, wie weit sich dies in |#f0192 : 176|

seinen Bildern etwa spiegle. Unter unseren Vorfahren sangen
Blinde vom hörnernen Siegfried. Die serbische Dichtung
findet sich bis heute hauptsächlich im Gedächtniß blinder
Greise aufbewahrt. Homer, Ossian werden für blind
gehalten, offenbar auf Grund ähnlicher Thatsachen, daß
blinde Greise bei Griechen, bei Celten die poetische Überlieferung
bewahrten. J. Grimm, Über das Alter (Kl. Schr.
1, 200) sagt: „Da die Kraft des Gedächtnisses durch innere
Sammlung, unter Abgang des zerstreuenden Augenlichts
unglaublich steigt, so waren aufgeweckte Blinde vorzugsweise
für den Gesang und das Hersagen der Volkslieder geeignet.“
Dies ist gewiß ein Theil der richtigen Erklärung. Außerdem
aber waren sie zu keiner Arbeit geeignet und lebten
so doch nützlich, weil zur Freude ihrer Mitmenschen. Aber
ob damit die Erklärung erschöpft ist? Ob nicht die Concentration
und Sammlung an sich durch die Trennung von der
Außenwelt gesteigert ist und dadurch die poetische Fähigkeit?
S. oben 4) über das gesammelte Arbeiten. Treten keine
neuen Gesichtseindrücke von außen ein, so fällt die Arbeit
des Verarbeitens dieser zutretenden hinweg, und das innere
Leben wirft sich auf ein immer vollständigeres Bearbeiten der
schon vorhandenen aus der Zeit des Sehens, so daß sichere
Herrschaft hierüber, verbunden insbesondere mit sicherer
Herrschaft über den poetischen Ausdruck, erreicht wird. ─
Die Organisation der Vorstellungsmasse als poetischer Stoff
und geformter Stoff kann immer weiter getrieben und zu
großer Vollkommenheit gebracht werden, so daß productiven
Dichtern die Fortpflanzung der Überlieferung mit gelegentlicher |#f0193 : 177|

Jmprovisation, wo das Gedächtniß im Stich läßt, sehr
erleichtert ist.


  Von blind Gebornen kann natürlich nicht die Rede sein.
Es handelt sich also um solche, welche die schöne Welt gesehen
haben. Nun sehen sie sie nicht mehr, und das muß die
Eindrücke, die sie einmal haben, immer mehr verstärken. Die
Arbeit muß eine höchst interessante sein. Der Stoff wird
immer wieder von neuem von allen Seiten betrachtet. Das
wird mitwirken, die poetische Fähigkeit zu erhöhen. Die
Reproduction aus der Erinnerung wirkt steigernd. Die
blinden serbischen Dichter variiren auf diese Weise im Einzelnen
bei fester Bewahrung des Ganzen. Der Sänger trägt
vor, indem er gleichsam den Stoff noch einmal selbst producirt.



7. Verschiedenheiten der Dichter.

  Wenn wir zunächst in das allgemeine Wesen der Dichter
einzudringen suchten, so müssen wir jetzt die principia individuationis
zu ermitteln suchen. Doch ist das eine Erörterung,
die nicht zu Ende zu bringen ist.


  Einige sind schon von selbst im Vorigen gegeben, z. B.
ob Dichter von starker Originalität aus sich oder aus der
Natur, oder aber in minderer Originalität fast nur aus der
Tradition schöpfen; ob Dichter mehr mit Phantasie oder mehr
mit Urtheil und Geschmack oder mit starker Betheiligung beider
Kräfte schaffen; ob sie ihr Werk fürs Gedächtniß oder auf
Schrift einrichten. Jm letzteren Fall kommt es darauf an, ob der
Dichter dictirt oder nicht, und wieder ob er das thut, weil |#f0194 : 178|

er selbst des Schreibens unkundig ist oder nicht. So hat das
Dictiren auf Goethes Prosa gewirkt.


  Weiterhin ergiebt sich der Unterschied, ob der Dichter
Fachmann oder Dilettant ist; z. B. bei den Minnesängern
eine wichtige Verschiedenheit. Dann das Verhältniß zur
Sittlichkeit.


  Fernerhin Verschiedenheiten körperlicher Beschaffenheit
(blind oder sehend) oder des Temperaments (melancholisch
oder sanguinisch oder cholerisch oder phlegmatisch).


  Die Verschiedenheiten der Menschen überhaupt können
den Dichter individualisiren und in dem eigenthümlichen
Stil seiner Producte, d. h. in der Eigenthümlichkeit seiner
Schriften, zur Erscheinung kommen. Hier treffen wir das
Wort Stil in seiner ersten Bedeutung: der persönliche Stil
eines Schriftstellers ist eben die Art, wie die Jndividualität
in seinen Schriften zum Ausdruck kommt, überall, sogar in
der Orthographie, z. B. beim jungen Goethe; ferner im
Versmaß, im Satzbau, ja in der Lautform und dem Wortgebrauch,
sofern ein bestimmtes Mischungsverhältniß zwischen
Dialekt und Schriftsprache sich geltend macht ─ kurz die
ganze individuelle Grammatik und Metrik kann hierher gezogen
werden. Vollends die feineren, verborgenen Processe des
Schaffens, das ganze dichterische Geschäft und dessen Verlauf
vermögen dazu zu dienen. Schon auf dem Gebiet des Stils
ist die Eintheilung unendlich. Es wäre aber dennoch ganz
nützlich, allgemeine Schemata der Charakteristik zu entwerfen.


  Jch nenne ein oberflächliches Buch, weil es für alle
diese Fragen das einzige mir bekannte seiner Art ist: |#f0195 : 179|

Deschanel, Physiologie des écrivains et des artistes
(Paris 1864).


  Sein Versuch eines Schemas ist in den Gesichtspuncten
enthalten, die er als Kapitelüberschriften benutzt: le siècle;
le climat; le sol; la race (le génie des nations
! dichterisch
begabte Völker! man könnte aber doch fragen: was
ist an Goethe deutsch?); le sexe; l'âge; le tempérament;
le caractère, la profession; l'hérédité physique et
morale
(Goethes Verschen über seine Familie: „was ist
denn an dem ganzen Wicht Original zu nennen?“); la santé
(Einfluß dauernder Krankheit oder auch Freiheit von diesen
Einflüssen); le régime; les habitudes (Erregungsmittel der
Dichter, z. B. Kaffee, Thee, Wein ─ schon von Hegelianern beobachtet
─, Arbeitszeit der Dichter: Nacht, Morgenfrische u. s. w.
Solche Mittheilungen sind meines Wissens zu einer Verallgemeinerung
noch nicht geeignet, wenn es auch wohl möglich
ist, daß man damit etwas anzufangen lernt).


  Auf den Stand des Dichters pflegen wir seit lange
namentlich in der deutschen Litteraturgeschichte zu achten; es
ist ein sehr fruchtbarer Gesichtspunct, über den wir schon im
1. Kapitel eine Bemerkung gemacht haben: Geistliche, Ritter,
Spielleute, Gelehrte u. s. w.


  Wichtiger ist die Frage nach dem Bildungsgrade des
Dichters: die Vortheile und die Nachtheile, welche daraus
fließen können. Brandes sagt von Goethe, er habe die gesammte
Bildung und die Wissenschaft der Zeit beherrscht. Es
giebt eine Gefahr zu hoher Bildung: der Dichter schreibt dann
nur für Wenige, er kann leicht von dem allgemeinen Gedankeninhalt |#f0196 : 180|

des Publicums abgeschnitten werden. Aber macht er
von seinem Wissen richtigen Gebrauch, so kann es nicht zu
viel Bildung geben. Wenn er die tiefsten Gedanken nur
errathen läßt, so wirkt das gerade anziehend.


  Es wird auch auf die Achtung gesehen werden müssen,
in welcher die Dichter standen, was z. B. Koberstein in seinen
sehr gründlichen, lehrreichen und wirklich aus philosophischem
Geist entsprungenen Einleitungsabschnitten regelmäßig erörtert.
Jn alten Zeiten stehen die epischen Sänger am
Hofe des Königs als gleichberechtigt neben dem Gefolge;
es wurde ihnen ein großer Platz eingeräumt, denn sie waren
mit dem König und dem Volk intim. Daneben aber steht
der verachtete Possenreißer. Dieser wird zum Spielmann,
bleibt aber in der Verachtung, bis er im Laufe des 12. Jahrhunderts
ein Gefühl bekommt, daß es doch elend sei ohne
Heimath, und gleichzeitig mit seiner zunehmenden Neigung
zur Seßhaftigkeit größere Neigung des Publicums und
Gönner findet, die ihm ein festes Heim bereiten, so daß er
gegen Ende des 13. Jahrhunderts fast wiederum eine ähnliche
Stellung wie früher der Sänger in den Zeiten der Völkerwanderung
einnimmt. Natürlich wirkt die verschiedene
Achtung auf seine Haltung und Production. Auch im
18. Jahrhundert bemerkt man ein Aufsteigen der persönlichen
Achtung des Dichters; die Sängerwürde ist durch Klopstock,
der ein starkes Selbstgefühl als gottgeweihter Sänger besaß,
ungemein gehoben worden. Dadurch wurde es möglich,
daß ein Fürst einen jungen Mann, bloß weil er Dichter war, |#f0197 : 181|

in seinen Dienst zog und so Carl August die große Zeit
Weimars heraufführte.


  Wünschenswerth wären typische Dichterbiographien,
welche den biographischen Stoff generalisirten und dadurch
vereinfachten: verwandte Lebensverhältnisse wären zusammenzustellen
u. s. w.


  Alles das sind fast selbstverständliche Dinge ─ und die
Menschen sind überhaupt anders, wenn sie jung, als wenn
sie alt sind; das ist also nichts Specifisches für den Dichter.
Ferner ist es selbstverständlich, daß ein Dichter seinem Zeitalter
den Tribut zahlen muß, daß sein Stil Antheil hat an
dem Stile der Zeit und dadurch bestimmt wird. Und wie
es sonst doch vorkommt, daß Menschen außerhalb der Zeit
stehen, d. h. unter der Nachwirkung der abgelaufenen stehen
oder als die ersten Menschen einer künftigen auftreten ─ so
kommt es auch unter den Dichtern vor, daß sie nachhinken
oder voraneilen, und es hängen daran oft tragische Lebensschicksale,
wie bei Heinrich von Kleist.


  Eine Eintheilung der Dichter, wenn sie überhaupt gelingen
soll, müßte sich auf das specifische dichterische Geschäft
gründen.


  Eine solche versuchte Schiller mit jener Eintheilung in
naive und sentimentalische Dichter, die sehr folgenreich war:
sie wirkte weiter auf die Scheidung der Schlegels in
antike und moderne, Vischers in classische und romantische
Dichtung.


  Aber Schillers Eintheilung ist noch niemals scharf
kritisirt und doch der Kritik sehr ausgesetzt. Er schiebt dabei |#f0198 : 182|

vieles zusammen, z. B. die Unterscheidung von Antik und
Modern. Die antike Dichtung soll naiv sein; aber darf man
die griechische Poesie als ein Ganzes ansehen? ist es erlaubt,
sie bloß naiv zu nennen? Naiv ist die Dichtung der
Naturvölker; aber das Athen des 5. Jahrhunderts vor Chr.
lebt nicht im Naturzustand. Homer und Euripides gehören
nicht in Eine Kategorie der Dichter. Und von Homer ist
noch ein weiter Weg zu den Naturvölkern mit der wahrhaft
naiven Poesie. Schiller geht immer noch aus von den
Rousseauschen Urzuständen. Er glaubt noch an dieses
Paradies der Natur, in welches die Segnungen, aber auch
die Laster der Cultur noch gar nicht Eingang gefunden
haben. Wir wissen heute ganz genau, daß die ersten Zustände
der Menschen mehr den thierischen Zuständen nahe stehen.
Schiller begeht, wie die meisten älteren ästhetischen Betrachtungen,
den Fehler, die Scala der Abstufungen den von
vornherein ins Auge gefaßten scharfen Contrasten gegenüber
zu vernachlässigen. Er sucht den Gegensatz von Cultur und
Natur scharf hervorzubringen und macht deshalb nicht genug
Abtheilungen nach Zeitaltern und deren Geschmack, Bildungsgraden
in ihren Abstufungen zwischen Natur und Cultur.
Wenn diese Charakteristik Schillers ausläuft in die Contrastirung
von Realismus und Jdealismus, so fällt das nicht
mit der Scheidung von Naiv und Sentimentalisch zusammen,
sondern es ist ein sittlicher und ein Stilgegensatz zu gleicher
Zeit. Den sittlichen Gegensatz haben wir schon berührt; insofern
Schiller einen Stilgegensatz meint, werden wir darauf
beim Kapitel „Jnnere Form“ zurückkommen.

|#f0199 : 183|

  Schiller giebt ferner Beiträge zur Lehre von den
Dichtungsarten: Elegie, Jdylle, Satire. Endlich macht er
aufmerksam auf den Unterschied von Objectivität und Subjectivität.
Der objective Dichter verschwindet selbst hinter
dem Stoff ─ Homer und Shakespeare werden darin verglichen;
während andere Dichter uns ihre Persönlichkeit aufdrängen und
dem Stoff eine bestimmte Färbung geben. Dieser Unterschied
ist ja gewiß wichtig; es ist aber ein technischer Gesichtspunct
für sich, der schon im Kapitel vom Stoff und den Stoffmischungen
vorkommt. Die Eintheilung Schillers ist also,
wie sie vorliegt, nicht direct brauchbar, sie müßte von vorn
bis hinten nachgeprüft werden. Mit der Gesammtunterscheidung
von Naiv und Sentimental können wir wenig
anfangen, weil dabei Dinge vermischt werden, die nicht zusammengehören.



  Eine andere Eintheilung gab Dilthey, Über die Einbildungskraft
der Dichter, Zeitschrift für Völkerpsychologie
10, 42 ff. Wieder zwei Gruppen: 1) Dichter, die wie Goethe
im allgemeinen in den eigenen Zuständen und Jdeen leben
und daraus den Stoff nehmen, also hauptsächlich aus der
inneren Welt; 2) solche, die ihren Stoff vorzugsweise von
außen empfangen, wie Shakespeare, Dickens. Sehr hübsch
und fein ist dabei die Methode der gegenseitigen Beleuchtung
benutzt: was wir von Dichtern genau wissen, sucht
Dilthey auf Shakespeare anzuwenden. Sonst aber reducirt
sich der Unterschied, den er hier ausführt, ebenfalls auf Unterschiede
im „Stoff“. ─


  Als Resultat ergiebt sich also: es sind sehr mannigfaltige |#f0200 : 184|

Eintheilungen der Dichter möglich ─ die Abstufungen
sind einerseits so mannigfaltig wie die Charaktere der Jndividuen
überhaupt, andererseits giebt die ganze Poetik in
allen ihren Theilen Motive und Gesichtspuncte an die Hand
für Verschiedenheiten, weil da ganz verschiedene Methoden
möglich sind. Die Charakteristik eines Dichters zu entwerfen
ist daher außerordentlich schwer. Aus all solchen Eigenthümlichkeiten,
sofern sie in den Werken der Dichter sich
ausprägen, setzt sich der persönliche Stil zusammen.


  Eins aber gehört hierher, in den Zusammenhang dieses
Kapitels, ein Unterschied in der Productionsweise der Dichter:
ob ohne Rücksicht auf Publicum oder mit Rücksicht auf Publicum.
Schon früher haben wir immer, beim Ursprung der
Poesie, auf die innere Freude des Dichters und ihren Ausdruck
hingewiesen, und andererseits auf das herbeigerufene,
zur Theilnahme aufgeforderte Publicum.


  Es ist aber die Frage, ob die erstere Art für uns überhaupt
praktisch zur Perception kommt. Wenn ein Dichter
sich einsam ausklagt, dann sind die Freuden und Schmerzen,
in denen er schwelgt, sofern er sie bei sich behält, oder höchstens
ohne den Gedanken an ein Publicum seinem Tagebuch
anvertraut, überhaupt kaum Gegenstand der Untersuchung.
Sie liegen nicht vor, treten nicht ans Licht; auch solche
Tagebücher wohl nur in beschränktestem Maßstab. Wo sie
aber vorhanden sind, werden sie leicht eintönig, unerschöpflich
dasselbe wiederholend und zu demselben zurückkehrend,
weil eben die Rücksicht auf das Publicum fehlt.


  Denkt man sich eine herrliche, breite, Millionen von |#f0201 : 185|

Versen füllende einsame Poesie, in der alles Einzelne schön,
das Ganze ungenießbar erschiene, weil der Dichter immer in
denselben Empfindungen, denselben Anschauungen schwelgt,
so wäre doch diese Kritik nicht berechtigt, indem ein unerlaubter
Maßstab angelegt und der Factor des Publicums, der bei der
Entstehung gänzlich fehlte, hinterher hineingetragen würde.


  Poesie, wie wir sie kennen und unserer Betrachtung
unterwerfen, ist in der Regel Poesie fürs Publicum; oder
sie wird dazu, sobald sie gedruckt wird, sollte auch der Verfasser
nicht die Verantwortung dafür tragen.


  Wiederum giebt es mancherlei Übergänge: Dichter, die
ganz ausschließlich oder immer ans Publicum denken; die ein
bestimmtes Publicum im Auge haben; die nur wenig oder
gar nicht ans Publicum denken; die dem Leser schmeicheln
u. s. w.


  Nach alle dem ist auch die Lehre vom Publicum eine
wichtige Lehre der Poetik.


IV. Das Publicum.

  Der Ausdruck „Publicum“ ist erst im vorigen Jahrhundert
von Berlin her eingeführt, vermuthlich nach dem
französischen le public. Früher sagte man „die deutsche
Welt“ oder „Leserwelt“ statt „das deutsche Publicum“.


  Jetzt können wir den Ausdruck gar nicht mehr entbehren,
als den einzigen, der Leser, Zuschauer, Zuhörer umfaßt
─ mithin eben den Kreis, für welchen der Dichter seine
Producte berechnet.

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1. Die Verschiedenheiten des Publicums.

  Die Verschiedenheiten des Publicums müssen nothwendig
auf die Production einwirken. Die Verschiedenheiten sind
wieder unzählig wie bei den Dichtern, aber nicht so individuell;
der Autor hat in der Regel mit Massen zu rechnen. Darauf
kommts eben an: die Art der Gliederung ist sehr wichtig.
Sind alle Stände, alle Bildungsgrade vertreten, so muß ein
Durchschnitt genommen werden. Weiß dies der Dichter nicht
oder nimmt er nicht darauf Rücksicht, so wird eben ein Theil
befriedigt werden, ein anderer nicht. Er muß sich mit gewissen
Theilen des Publicums durch gewisse Abschlagszahlungen
abfinden: er wirft der letzten Galerie ein Schaustück
zu, damit sie einen Monolog vertrage, den sie nur halb
versteht. So Richard Wagner, der dem Publicum die stärksten
Zumuthungen macht. Eine Ausnahme bildet ein Liebhabertheater.
Auch Stücke wie „Jphigenie“, „Tasso“ können die
Künste ganz entbehren, die ein Dramatiker braucht, der für eine
bestimmte Bühne wirken will. Jn anderer Art setzen z. B. auch
die „Römischen Elegien“ einen engen Kreis voraus. Ein
solches bestimmtes engeres Publicum, das der Dichter ausdrücklich
im Auge hat, kommt ganz außerordentlich in Betracht.
Ja es werden in einer großen Stadt die verschiedenen
Theater mit ihrem conventionellen Geschmack berücksichtigt
werden müssen; so in Wien und Paris. Ein Stück kann
durchfallen, bloß weil es auf einem falschen Theater aufgeführt
wird und also vor einem ungeeigneten Besucherkreise.
Aber bei einem Lesepublicum liegt die Sache etwas anders
als bei einem Schaupublicum.

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  Es ergiebt sich also die Nothwendigkeit, darauf zu achten,
welche Nuancen des Publicums in der Litteraturgeschichte auftreten.
Das Publicum arbeitet sehr stark mit. Es fragt
sich, was es sich bieten läßt. Das Publicum von Athen,
Florenz, Paris ist Bedingung für die betreffende Litteratur
und verdient deshalb große Beachtung. Ohne die specifische
weimarische Gesellschaft hätte Goethe nicht werden können,
was er geworden ist. Blieb er in Frankfurt, dann mußte
sich das ganze Niveau auf einer bestimmten Stufe halten,
und die Höhe von „Tasso“ und „Jphigenie“ wäre nicht zu
erreichen gewesen.


  Bei den folgenden Erörterungen sehen wir von diesen
Verschiedenheiten möglichst ab und setzen ein Durchschnittspublicum
voraus.


2. Altes und Neues.

  Wie oft kann man dasselbe Gedicht hören? Jedenfalls
mehrmals, ja wir haben sogar das Bedürfniß, was uns gefallen
hat, wiederholt zu hören. Das plastische und malerische
und architektonische Kunstwerk bleibt stehen, und so
können wir lange davor verweilen, wenn es uns gefällt;
aber das Gedicht geht vorüber, und wie in der Musik ist
dauernder Genuß hier nur durch Wiederholung möglich: wir
haben kein anderes Mittel den Genuß zu verlängern als das
da capo.


  Der moderne Tanz ist immer derselbe, fortwährende
Wiederholung derselben Bewegung; anders nur bei den Franzosen.
Man tanzt hier nicht fürs Publicum, sondern zum |#f0204 : 188|

eigenen Vergnügen. Dagegen beim Ballet, wo für das Publicum
getanzt wird, ertrüge man das nicht. Da haben wir
eine schlagende Parallele für einsames Dichten und öffentliches
Dichten.


  Das Publicum verlangt eine Arie da capo aus Freude
am Vortrag, es will dann dasselbe noch einmal hören; verlangt
es dagegen ein Couplet noch einmal, so will es Variationen
hören, neue Strophen, nicht die alten. Der Unterschied
ist wohl der, daß beim Couplet ein wesentlich stoffliches
Jnteresse, bei der Arie ein überwiegend formales herrscht.
Bei der Arie will man sich die Theile nochmals vergegenwärtigen.
Einen Witz verlangt man nicht zum zweiten Mal.


  Aber man sieht dasselbe Stück doch wiederholt; man liest
dasselbe Buch doch wiederholt.


  Die Wiederholung ist ein Genuß anderer Art, außer
wenn man vergessen hat. Aber, gutes Gedächtniß vorausgesetzt,
tritt bei der zweiten Lectüre das stoffliche Jnteresse
zurück gegenüber dem formalen: also nicht vorübereilende
Spannung, sondern verwirklichter Genuß. Man will im Einzelnen
sehen, wie es der Autor gemacht hat. Jedenfalls ist
die Absicht, schon Bekanntes noch genauer, noch im Einzelnen,
also überhaupt wieder zu genießen.


  Wenn uns dagegen ein alter Stoff ohne neue Seiten,
bloß unter neuem Titel vorkommt, so ist das eine Enttäuschung:
getäuschte Erwartung!


  Wenn vollends derselbe Gegenstand von einem neuen
Autor behandelt wird, so erwartet man, daß er dem Gegenstand
neue Seiten abgewinnt.

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  Es ist also sehr wichtig, daß Dinge richtig angekündigt
werden. Ein Buch drängt sich uns nicht auf; wir müssen
angelockt werden. Bei stofflichem Jnteresse gefällt nur das
Neue; wird daher ein Buch als neu angekündigt, so liegt
darin eine Verführung. So gehen die Ankündigungen im
16. Jahrhundert auf Actualität und dadurch auf Sensation:
„Neues Lied“, „Neue Zeitung“.


  Die Ankündigung ist in der Regel der Titel. Seine
Wahl ist wichtig: das Publicum muß auf den richtigen
Standpunct gestellt werden, damit keine Enttäuschung eintritt;
z. B. ob es ein Lustspiel oder ein Trauerspiel zu erwarten hat.
So fiel Grillparzers „Weh dem der lügt“ durch, weil es
als „Lustspiel“ angekündigt war.


3. Die genießenden Seelenkräfte.

  Es ist hier ganz Analoges zu sagen wie über die schaffenden
Seelenkräfte der Dichter.


  Eine Erregung wird auch dem Publicum mitgetheilt.
Jn Bewegung gesetzt wird einerseits die Phantasie, andererseits
der Geschmack, d. h. das Urtheil, welches bestimmte
Maßstäbe anlegt und daher immer ein tüchtiges Verstandeselement
voraussetzt ─ oft nicht unmittelbar wirkend, aber
hinterher.


  Mit beiden Elementen muß beim Publicum gerechnet
werden.


  Ferner gelten Otto Ludwigs Bekenntnisse auch für ein
fortgeschrittenes Publicum. So ist auch Mitleidenschaft der
übrigen Sinne möglich bei Reception, wie das Ludwig ja |#f0206 : 190|

von sich selbst aussagt: Farbeneindrücke, die er von Gedichten
Anderer empfing. Dann handelt es sich dabei eben nur
um einen geringeren Grad, als bei der Produetion. Genossen
kann nur werden, was man allenfalls auch hätte
produciren können: „Jede Lehre geht nur deswegen ein ins
Gemüth, weil sie auch darin hätte entstehen können“ sagt
ein Romantiker.


  Aber diese Dinge sind im Grunde secundär. Es handelt
sich noch um elementarere Erscheinungen, um die Arten des
Gefallens und Fesselns. Der Dichter muß die Aufmerksamkeit
zu gewinnen wissen, die Phantasie zu locken, dem Geschmack
zu genügen verstehen. Hier sollten die elementarsten und
allgemeinsten Functionen besprochen werden...


  Sind auch die genießenden Seelenkräfte wohl im Ganzen
dieselben wie die schaffenden, so macht es doch für die Wirkung
aufs Publicum einen großen Unterschied, ob stark gerechnet
wird auf Einbildungs- und Vorstellungskraft des Publicums,
wie in der Erzählung, oder ob alles handgreiflich sichtbar
vorgestellt wird, wie im Drama. Jm Epos bekommt der
Zuhörer nur Worte und muß die Handlung wirklich mit
der Phantasie nachschaffen; im Drama braucht er keine
selbständige Phantasie. Jm Drama ist also der Genuß leichter,
wenn nur die Handlung fesselt; es wird weniger Selbstthätigkeit
verlangt. Daher hier stärkere Wirkung, aber eben
deshalb größere Ansprüche des Publicums an ein unaufhaltsames
Vorwärts, an fortwährende Abwechselung: es hat
mehr Zeit, alles zu beachten. Arbeitet es andererseits am |#f0207 : 191|

Epos mit, so ist dafür auch sein Antheil an der Erzählung
um so stärker.


4. Aufmerksamkeit und Spannung.

  Spannung, kann man sagen, ist der höchste Grad der
Aufmerksamkeit, sie besteht in der Ungeduld, welche fragt:
wie gehts weiter? Gewiß ist dann keine Gefahr, daß der
Leser das Buch wegwirft, der Zuhörer davonläuft. Freilich
der fein gebildete Sinn kann durch eine rohe Art zu spannen
abgeschreckt werden, weil er, gewohnt auf die Mittel zu
achten, eine abgebrauchte Technik sieht und darauf nicht
hereinfällt, sondern sich ärgert, daß man ihm zutraut, er werde
hereinfallen. Aber für die Masse ist Spannung leicht zu
bewirken: ein Wunsch wird im Leser erregt und es wird
zweifelhaft, ob sich der Wunsch erfüllt. Es muß für eine
Person Antheil erweckt werden; nun kommt ein Held in
Lebensgefahr; der Leser wird den Wunsch haben, daß der
famose Kerl sich auch famos durchschlage. Da wird nun
durch Hindernisse Spannung erregt: der Spielmann im
„Salomon und Morold“ macht an solchen Stellen eine Pause.
Oder der Autor hat das Jnteresse für ein Liebespaar erweckt;
dem stellen sich Hindernisse in den Weg; es ist zweifelhaft,
ob sie sie überwinden werden.


  Aber diese Spannung, dieser höhere Grad der Aufmerksamkeit
ist leichter zu erzielen als die edlere stille Aufmerksamkeit,
das Gefesseltsein, welches doch nicht durch
drastische Mittel bewirkt ist.


  Es wäre wünschenswerth, die Erfahrungen, welche hierüber |#f0208 : 192|

vorliegen, aus der Natur der menschlichen Aufmerksamkeit,
wie sie die Psychologie darlegen müßte, abzuleiten.
Aber vielleicht wird umgekehrt die Psychologie aus unseren
Erfahrungen Nutzen ziehen:


  A. Die Dauer des poetischen Products und die Aufmerksamkeit
des Publicums stehen in umgekehrtem Verhältniß.



  Freilich spielen gleich die Verschiedenheiten des Publicums
mit herein, und die Eigenthümlichkeiten des Dichters. Es
giebt Autoren, die dem Publicum viel zumuthen, z. B. Richard
Wagner: er läßt ungewöhnlich lange Reden halten, aber er
rechnet auch gleich mit Abschlagszahlungen. Das Publicum
ist in verschiedenen Zeiten auch hierin verschieden. Das
Publicum des 17. Jahrhunderts fühlte sich durch die romans
de longue haleine
, durch die langathmigen Romane der
Buchholz, Lohenstein, Anton Ulrich von Braunschweig gefesselt.
Auch Gutzkow setzte es noch durch, daß seine neunbändigen
Romane gelesen wurden. Jetzt geht man über das
Mittelmaß von drei Bänden nicht leicht hinaus. So überall
zu verschiedenen Zeiten verschiedene Erfahrungen: das
Mittelmaß des epischen Gedichts variirt augenscheinlich. Es
fragt sich, wie lang eine Predigt, ein Vortrag sein darf?
der Abschnitt, den das Publicum in einer Sitzung verträgt?
Ein Vortrag darf in der Regel nicht über eine Stunde
dauern. Jst das Publicum geduldig oder ungeduldig?
Natürlich ist auch hier ein Unterschied zwischen Lesen und
Hören: zur Lectüre kann man zurückkehren, das Hören muß
auf Einem Sitz geschehen. ─ Die Länge des Dramas ─ |#f0209 : 193|

man kann keine Dauer angeben, die eingehalten werden
muß. Auch die Actschlüsse, die Pausen also haben ihre feste
Tradition. Auch hier bestehen zeitliche und nationale Verschiedenheiten,
verschiedene Länge des Dramas in Deutschland und in
Frankreich; die Franzosen sind geduldiger, ihr Theaterabend
ist länger als ein deutscher.


  Ein poetisches Product wird um so sicherer wirken, je
kürzer es ist. Das allerkürzeste, ein schlagendes Wort,
„geflügeltes Wort“, thut verhältnißmäßig die allergrößte
Wirkung. So das Sprichwort ─ es wird fast so allgemein
wie die Sprache, d. h. es hat in den weitesten Kreisen und
für die fernsten Zeiten die Aufmerksamkeit gefesselt.


  Jn den verhältnißmäßig engen Schranken der lyrischen
Poesie, besonders der ältesten, einstrophigen, ist Verschiedenes
möglich, was bei weiterer Ausdehnung sofort unmöglich wird;
das zeigen z. B. die Leiche des 12. Jahrhunderts. Wie vielerlei
Stoff müssen die langen Minneleiche fortschleppen, während
die Lieder in ihrer Kürze eine gewisse Eintönigkeit vertragen!


  Also für längere Producte ist ganz wesentlich


  B. Die Abwechselung.


  Hier kommt das Motiv von 2) in Betracht: das Neue.
Das Neue reizt zunächst die Aufmerksamkeit; am Alten erlahmt
sie, wenn es nicht ganz besondere Form als Vorzüge
einsetzt. Wir verstehen unter Abwechselung die Eigenschaft,
durch welche wir am Einzelnen nicht zu lange festgehalten
werden, sondern rasch zu Neuem übergehen. Wir können sie
auch Reichthum nennen. Der Reichthum eines poetischen
Products setzt ein Vielerlei in Stoff und Form voraus. |#f0210 : 194|

Gegensatz ist die Armuth: die Eintönigkeit. Der Stoff muß
sich reich entfalten, um zu fesseln. Freilich ist auch hier
wieder zu fragen: wie weit verträgt man die Eintönigkeit?
Das wird von formalen Vorzügen abhängen, denn
formelle Gewandtheit kann über die Eintönigkeit täuschen.


  Ein recht eclatantes Beispiel bietet eine Sammlung von
Liebesgedichten! Jedes einzelne kann sehr schön sein; alle
hinter einander verträgt man sie nicht. Eine Sammlung
von Gedichten ist wider die Wahrheit, das einzelne Gedicht
ist für sich geschaffen. Eine solche Sammlung ist nur ein
Nothbehelf, damit nichts verloren geht, an sich aber etwas
Unnatürliches; jedes Gedicht schadet seinem Nachbar, so daß
die Eindrücke sich gegenseitig stören und verdunkeln. Man
müßte denn nach jedem Gedicht eine Pause machen, welche
genügt, um das Gedicht vor dieser Schädigung zu schützen.


  Wenn aber Eintönigkeit gefährlich ist, weil die Aufmerksamkeit
erlahmt, so zerstreut allzu große Buntheit. Ein
bloßes Vielerlei ermüdet so gut wie ein bloßes Einerlei, und
die Abwechselung allein thut es nicht, sie muß mit Einheit
und Folge verbunden sein.


  C. Einheit und Folge.


  Als „Folge“ ist die innere nothwendige Verkettung des
Abwechselnden gemeint, oder die Annäherung an eine solche
Verkettung. Man denke an die Noth, die es Goethe machte,
seine zerstreuten Gedichte zu sammeln. Wie der Gedanke
einer Sammlung, das bloße Zusammensein verschiedener
Producte ihn ärgerte, ihm mit Recht als etwas Widriges |#f0211 : 195|

erschien. Er hat Abtheilungen nach Form und Stimmung
gemacht; er hat durch gewisse Gruppen einen epischen Faden
durchgeleitet, besonders für die Liebesgedichte, als ob der
Dichter wie Wilhelm Meister durch verschiedene Liebesverhältnisse
hindurchginge; er hat Analoges zusammengeordnet,
damit sich Gruppen und Massen bildeten ─ kurz er hat
„Einheit und Folge“ hineingebracht. Wie nothwendig vollends
ist die Folge für Werke, die sich als etwas Einheitliches ankündigen!
Da würde zu der Ermüdung des bloßen Vielerlei
noch die getäuschte Erwartung kommen. Man denke an
Ottiliens Tagebuch in den „Wahlverwandtschaften“! Es ist
die Meinung des Dichters, daß man für die Jndividualität
genügend interessirt sei, um uns hier zumuthen zu dürfen, was
wir aus persönlichem Antheil gern thun: geliebten Personen ins
Innerste zu schauen und in allen ihren Äußerungen den Stempel
der Individualität zu erblicken. Trotzdem ermüdet man leicht!


  Wir haben hier in B. und C. nur auf unsere Weise ein
altes Princip adoptirt: die Einheit in der Mannigfaltigkeit oder,
wie Fechner (Vorschule 1, 53 f.) sagt, die einheitliche Verknüpfung
des Mannigfaltigen. Diese entspringt für mich
also aus dem Publicum, während sie bei Andern anders
hergeleitet wird.


  Fechner stellt noch mehrere Principien von ähnlicher
Allgemeingiltigkeit auf (nur daß wir unsererseits immer ihre
Relativität und die Grade betonen müssen), die sich alle
aus der Natur des Publicums erklären, z. Th. sich auf die
Natur der Aufmerksamkeit beziehen, z. Th. auf die Bedingungen
des Vergnügens, von denen schon beim Ursprung der Poesie |#f0212 : 196|

die Rede war. Doch legt er diese verwandten Principien
besser und klarer als ein Andrer dar.


  Zunächst das „Princip der Widerspruchlosigkeit“ (Fechner
S. 80) folgt schon aus Einheit und Zusammenstimmung. „Wahrheit“
ist von Fechner (S. 84) oberflächlich behandelt: Engel
sollen uns gefallen, weil Flügel symbolisch Boten Gottes
andeuten. Nein! das ist mythologisch. Wahrheit, nicht bloß
in sich, sondern bei Vergleichung des nachgebildeten Gegenstandes,
ist allerdings zuweilen, d. h. in gewissen Zeiten und
vor einem gewissen Publicum, Bedingung des Gefallens.
Daz ist wâr“ sagt der Erzähler des Mittelalters bei den unglaublichsten
Dingen; er rechnet also auf ein wundergläubiges
Publicum. (Vgl. unter 5.)


  Dann das „Princip der Klarheit“ (S. 84). Jch würde
sagen: Klarheit und Verständlichkeit, welchem Princip ich
einen großen Platz einräume. Unklarheit, Unverständlichkeit
verdirbt den Zusammenhang, ist eine Trübung für Einheit
und Folge, die Aufmerksamkeit sinkt. Höchstens kann als
ein Übergang etwas schwerer Verständliches gestattet sein,
wenn die Trübung nachher beseitigt wird.


  Auf die Aufmerksamkeit bezieht sich auch Alles, was
die Leichtigkeit der Auffassung befördert, entschiedene Eindrücke,
starke Eindrücke giebt. Dies „Princip der Leichtigkeit“
ist mit dem der Klarheit und Verständlichkeit nahe verwandt.
Hierüber sind Erfahrungen vorhanden, so an der Sprache:
erfahrungsmäßig werden Bewegungen in der Sprache leichter
aufgefaßt als Ruhe; ein Nacheinander leichter als ein Nebeneinander;
Verba besser als Substantiva; Situationen, die |#f0213 : 197|

sich dramatisch concentriren lassen, besser als aufgelöstere
Zustände u. s. w. Hierüber handelt auch Lessing im „Laokoon“;
vgl. Kap. 5 „Äußere Form“.


  Endlich verstärkt Alles die Aufmerksamkeit, was das
Vergnügen befördert ─ aber nicht umgekehrt: eine ungeschickte
Häufung des Gefallenden kann zur Ermüdung führen.


  Wir nehmen also heraus als Bedingung des Gefallens,
des Jnteresses des Publicums (nicht bloß seiner Aufmerksamkeit
─ es kann mit Aufmerksamkeit hören und dann sich
doch ärgern, weil herauskommt, daß man ihm was aufgebunden
hat): die Wahrheit.


5. Die Bedingungen des Gefallens.
A. Die Wahrheit und Wahrscheinlichkeit.

  Wir fanden die Ansicht des Aristoteles über den Ursprung
der Poesie in allerdings beschränkter Giltigkeit, d. h.
bei der Freude an der Poesie wirkt die Freude an der gelungenen
Nachahmung mit; deshalb ist kein Widerspruch
zwischen dem Dargestellten und der Erfahrung des Publicums
erlaubt. Ferner stammt die Poesie aus denselben
Wurzeln wie die Wissenschaft, und deshalb muß sie natürlich
wahr sein.


  Also: vergleicht man die Poesie mit bekannten Dingen,
so verlangt man Wahrscheinlichkeit, das Vorgestellte soll sich
in den Rahmen der bekannten Dinge einreihen lassen. Soweit
man sie dagegen als Verkündigung ansieht, will man
Wahrheit, d. h. sachgemäße Belehrung.

|#f0214 : 198|

  Über das nähere Verhältniß zwischen Original und
Nachbildung s. Kap. 4 „Jnnere Form“.


  Vgl. auch für das Verhältniß von Poesie und Wissenschaft
Kap. 3 (S. 208). Die Poesie kann bei der Erscheinung
stehen bleiben und die geheimnißvollen Gründe der Dinge im
Dunkel lassen, während die Wissenschaft verpflichtet ist, diese
Gründe soweit sie es kann zu enthüllen.


B. Die ästhetische Schwelle.


  Der Begriff stammt von Fechner, Vorschule 1, 49 f.
Es handelt sich um den Grad der Empfänglichkeit des Publicums.
Wer vom tiefsten Schmerz bewegt ist, wird nicht im
Stande sein über eine lustige Geschichte zu lachen. Wer in
erregter Heiterkeit ist, wird sich nicht für Tragisches interessiren.
Das Jnteresse für den poetischen Gegenstand muß erst über
die ästhetische Schwelle kommen, vorbereitete Stimmung treffen.
Deshalb ist die Ankündigung des Gegenstandes nothwendig,
besonders für das Theater: man will ein Lustspiel nur besuchen,
wenn man sich im allgemeinen zum Lachen aufgelegt
fühlt. Aber darum ist auch das Theater günstig: es setzt
eine gewisse Bereitwilligkeit voraus, und es bereitet die Stimmung
selbst von vornherein vor; das Local isolirt die Aufmerksamkeit
u. s. w.


  Daß durch einen poetischen Gegenstand die Schwelle
überschritten werde, die Schwelle der Aufmerksamkeit und des
Gefallens, ist besonders für den Anfang wichtig. Daraus
ergeben sich Folgerungen für die Disposition: der Anfang
ist besonders wichtig. Die Exposition ist eigentlich außerhalb
der Bühne noch wichtiger als im Theater, wo eben die |#f0215 : 199|

Stimmung schon vorbereitet ist. Dagegen ein lyrisches Gedicht
muß gleich mitten in die Sache führen; ähnlich ists
bei Reden. Wenn es zu lange mit der Exposition dauert, so
wird das Publicum müde. Als Einleitung ist höchstens ein
Aufrütteln des Publicums gestattet. Abraham a Sta. Clara
verstand sich voll darauf, wenn er begann: „Allerlei Nasen!
allerlei Nasen!“


  Dramatische, epische Eingänge müssen erfahrungsmäßig
stark wirkende Elemente bringen, z. B. Sprichwörter, geflügelte
Worte. Für das Epos ist es eine gute Exposition,
wenn die ersten Worte jemand in den Mund gelegt werden.
So macht es ein gewandter Autor, der sein Publicum wohl
kannte, der Verfasser der „Asiatischen Banise,“ indem er mit
einem fürchterlichen Fluch eröffnet.


  Vgl. Kap. 5, III „Composition“.


C. Die ästhetischen Hilfen.


  Fechner 1, 50 f. Jnhalt und Form z. B. wirken in
der Poesie als Hilfen, d. h. sie unterstützen sich gegenseitig,
und die Summe beider wird bei ihrem Zusammenwirken weit
übertroffen. Fechner exemplificirt folgendermaßen: Hören wir
ein Gedicht in fremder Sprache, die wir nicht verstehen, so kann
es durch Klang und Rhythmus wohlgefällig wirken; aber wie
viel mehr, wenn man den Jnhalt versteht! Ein Gedicht
in Prosa dagegen, ohne Versmaß, Rhythmus, Reim, wie
wenig wirkt es! Man braucht nur einmal Goethes „Füllest
wieder Busch und Thal“ im Originaltext mit Düntzers Prosaauflösung
zu vergleichen.


  Das Zusammenwirken solcher sich unterstützender Elemente |#f0216 : 200|

des Gefallens erleichtert das Übersteigen der ästhetischen
Schwelle; jedes für sich allein wäre vielleicht zu schwach, doch im
Zusammenwirken werden sie stark, und die Steigerung, die so
entsteht, ist sogar unverhältnißmäßig groß. Denn Rhythmus
und Reim für sich ist ein mäßiges Vergnügen; Prosainhalt
eines Gedichts gleichfalls (hierüber Manches in meinen „Anfängen
des Minnesangs“, Deutsche Studien II. 1874).


D. Die Associationen.


  Fechner 1, 86 f. gründet auf den Unterschied zwischen
directen und associirten Eindrücken das „ästhetische Associationsprincip“.
Seine Erörterungen umfassen die einfachste und
sicherste Sache von der Welt, und dennoch wurde dies anfangs
als paradox bestaunt und angezweifelt. Es hängt so zu
sagen die halbe Aesthetik daran, sagt Fechner. Jn der That
ist unzweifelhaft: wenn wir uns an der lebendigen Orange
freuen, so geschieht das nicht bloß an dem, was wir sehen
und fühlen und riechen, sondern es geschieht auch, weil wir
an das denken, was wir sonst davon wissen: Geschmack,
Baum, Landschaft, Jtalien. „Wenn ich Pfefferkuchen esse,
so esse ich Weihnachten“, sagte Bogumil Goltz.


  Fechners Erläuterungen des Princips beziehen sich alle
auf bildende Kunst, Landschaft, kurz auf Sichtbares, wie
denn die Aesthetiker meist von diesem oder von Natureingängen
ausgehen. Von der Poesie redet er fast gar nicht;
aber auch für sie ist das Princip selbstverständlich, schon aus
der Natur der Sprache.


  Da ist zunächst das Wort. Wohl besteht die Gewalt
desselben in den Vorstellungen, die mit ihm associirt sind. |#f0217 : 201|

Aber immerhin hat das Princip auch hier seine weitere Geltung:
es sind auch hier directe und associirte Vorstellungen zu
scheiden. Das Wort hat zunächst eine Fläche, mit der es auf
uns wirkt; es hat aber auch eine Tiefe. Zuerst wirkt der
nackte Begriff, jene Vorstellungen also, die mit dem Wort
selbst associirt sind; dann aber auch Vorstellungen, welche
sofort und weiterhin daran hängen: Etymologie, Gelegenheit
und Zusammenhang früher vernommenen Gebrauchs und
solche Vorstellungen, welche in weiterem Abstand mitklingen.
Der Klang des Worts hat gleichsam seine Obertöne.


  Die Kunst des Dichters besteht daher häufig darin, ein
Wort so in uns erklingen zu lassen, daß eine ganze Welt in
dem schlichten Wort lebendig wird: so versteht Klopstock das
Wort wirken zu lassen. Hiervon aber muß im Kapitel der
äußern Form die Rede sein.


  Jndessen es handelt sich hier nicht bloß um das Wort.
Gerade hier ist die Lehre vom Publicum zu beachten: die
besondere Resonanz, welche bestimmte Vorstellungen (durch
das Wort geweckt) in der Seele des Menschen haben können
durch besondere Zusammensetzung des Publicums, durch den
Ort, den Moment ─ mit einem Wort die begleitenden Umstände.
Es tritt eben eine Anwendung des Princips der
ästhetischen Hilfen ein.


  Ein Kirchenlied klingt anders als Chorgesang in der
Kirche, denn im Concertsaal oder vollends bei einsamer Lectüre.
Uberhaupt gilt hier das Hilfsprincip: auch das Zusammenwirken
von Text und Musik macht einen ganz anderen Eindruck
als der bloße Text. Ein Kriegslied, welches Todbereitschaft |#f0218 : 202|

der fürs Vaterland verbundenen Herzen ausdrückt,
ergreift diejenigen anders, die es in der Schlacht singen, als
die, welche es bei der Heimkehr singen. Die „Wacht am
Rhein“ blieb unbeachtet bis 1870 ─ und seitdem, wenn das
Lied gesungen wird, wirkt es gar nicht durch directe Schönheit,
sondern durch Erinnerung an jene große Zeit.


  So kommt also zum directen Eindruck ein associirter.


  Gustav Freytags „Soll und Haben“ hat unter Kaufleuten
noch mehr gewirkt als unter anderem Publicum; die
„Verlorene Handschrift“ unter Gelehrten noch mehr, weil
eine besondere Resonanz hinzukam.


  Meine Erfahrung mit Reisebeschreibungen bestätigt dies.
Jch lese italienische Reiseschilderungen gern, seit ich dort gewesen;
ein erlebter Eindruck tritt als Association hinzu.


  Studentenlieder, von Studenten gesungen, haben in den
Gemüthern der Singenden eine stärkere Resonanz, als wenn
Andere sie vortragen.


  Darauf beruht es, daß so oft Dinge, die in bestimmten
Kreisen gefallen, nicht in andere verpflanzbar sind. Man
meint z. B., daß die österreichischen, d. h. der österreichischen
Geschichte entlehnten Dramen Grillparzers im übrigen
Deutschland keine hinreichende Resonanz finden würden.
Ja der begründete Ruf des Dichters, der Eindruck der persönlichen
Verehrung ist ein associirtes Element: „Weh dem
der lügt“ ward erst nach Grillparzers Tod gut aufgenommen,
weil man eine alte Schuld abtragen wollte.


  Richard Wagners Sache wurde als deutsche Sache propagirt |#f0219 : 203|

und ernsthaft anerkannt von Kritikern, die Gegner
seiner Poesie und seiner Musik waren.


  So ist „national“ jetzt überhaupt ein Element, auf
dessen Resonanz viel gerechnet wird. „Deutsch“ im Titel
der Bücher seit 1870 ist zahlreicher. Und sogar ganz verwerfliche
Bestrebungen, Ausflüsse vielleicht des gemeinen
Neides und niedriger Demagogie, suchen sich ein patriotisches
Mäntelchen umzuhängen, um durch dessen Glanz neue Anhänger
zu verführen. Man sucht, in Gemäßheit des Princips
der ästhetischen Hilfe, eine hohe Vorstellung als associirten
Reiz oder associirte Lustquelle zu gewinnen.


  Eine günstige Resonanz bildet auch das Gefühl: das ist
unser Landsmann! besonders in noch wenig entwickelten,
zurückgebliebenen Litteraturen. ─


  Wir hätten damit Kap. 2 beendet. Von nun an ist
Abkürzung nöthig.


  Über die folgenden Kapitel werfen wir zunächst einen
Vorblick.


Kap. 3. Die Stoffe.


Kap. 4. Jnnere Form.


Kap. 5. Äußere Form.


  Zum 5. Kapitel will ich die Lehre von den Dichtungsarten
ziehen.


  Jm Ganzen entspricht diese Eintheilung den alten
rhetorischen Lehren, diese aber erweisen sich als unvollständig,
als auf einer nicht genug eindringenden Analyse beruhend.
Inventio bedeutet hauptsächlich Topik, Fundstellen, Fundörter
─ davon ist nach eingeführter Weise im 3. Kap. zu handeln. |#f0220 : 204|

Dispositio, Anordnung, kann als Theil der inneren Form angesehen
werden, wenn nicht schon als Theil der äußeren ─
insofern der Plan möglichst fertig sein muß oder fertig sein
sollte, wenn die elocutio beginnt. Elocutio, „äußere Form“,
umfaßt dann bei der Poetik sowohl Sprache als Metrik.


  Aber es wird sich vielleicht empfehlen, die Anordnung
zur äußeren Form zu rechnen, weil sie doch direct zur Perception
kommen muß, während innere Form nur ein unsichtbarer
Quell ist, aus dem die äußere Form fließt.


  Mithin fehlt die innere Form ganz in der Theorie der
Alten, also unser Kap. 4. Was ist innere Form? Die specifische
Auffassung des Gegenstandes durch den Dichter. Andeutungen
sinden sich indessen bei den Alten: Aristoteles theilt
ja die Dichtung in φαῦλον und σπουδαῖον. Zum Theil
kann allerdings derselbe Gegenstand ernst und komisch behandelt
werden, und insofern gehört dies zur inneren Form;
aber im Ganzen zur Stoffwahl.

|#f0221 : E205|

Drittes Kapitel. ──────
Die Stoffe.

  Jch weiß nicht, ob es mir gelungen, dieses Kapitel so
zu vereinfachen, wie es möglich, d. h. ob durch den Gang
der Darstellung hinlänglich dafür gesorgt ist, daß nichts
öfter als durchaus nothwendig zur Sprache kommt. Aber
Hauptsache ist, daß nichts vergessen werde. Und zu diesem
Behuf, mit dieser Rücksicht ist das folgende Schema eingerichtet:



I. Die drei Welten.


II. Allgemeine Motivenlehre.


III. Die Figuren der Verwicklung.


IV. Die Klassen der Wirkungen.


I. Die drei Welten.

  Jch schließe mich hier der Terminologie Schillers und
Goethes an in dem Aufsatz über epische und dramatische
Dichtung, worin Goethe die Resultate ihres Gedankenaustausches |#f0222 : 206|

zusammenfaßt (Kunst und Alterthum 6, 1, 1─7;
Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe 1, 408; Hempel
29, 223) ─ höchst aufschlußreich und anregend.


  Diese drei Welten sind die Stoffgebiete. Jch nenne sie
einfach: die äußere Welt; die innere Welt; die dritte Welt.
Goethes Terminologie ist etwas anders:


  1) Die äußere; Goethe sagt: „die physische, und zwar
erstlich die nächste, wozu die dargestellten Personen gehören
und die sie umgiebt; .. zweitens die entferntere Welt, wozu
ich die ganze Natur rechne“;


  2) Die innere; Goethe sagt: „die sittliche“;


  3) Die dritte Welt; Goethe sagt: „die Welt der Phantasien,
Ahnungen, Erscheinungen, Zufälle und Schicksale.“
Das ganze Gebiet religiöser Anschauungen ist hierher gehörig.
Es versteht sich, daß diese Welt an die sinnliche, d. h.
äußere herangebracht werden muß, „wobei denn für die
Modernen eine besondere Schwierigkeit entsteht, weil wir für
die Wundergeschöpfe, Götter, Wahrsager und Orakel der
Alten, so sehr es zu wünschen wäre, nicht leicht Ersatz
finden“.


  Goethe deutet aber schon selbst auf Ersatz hin: Ahnungen,
Erscheinungen, Zufälle, Schicksale ─ das Gebiet des
Aberglaubens. Der Dichter braucht sich nicht ganz auf den
Boden des Aberglaubens zu stellen; aber wie es in der
Natur selbst vorkommt, daß scheinbare Bestätigungen eintreten,
so darf er es auch halten: Träume, die zufällig eintreffen
u. s. w. Die Welt des Wahns mit ihrem Schwanken
zwischen scheinbarer Berechtigung und rationeller Unberechtigung |#f0223 : 207|

ist ganz in diesem Zwielicht darzustellen: Wallensteins
astrologischer Wahn; so auch prophetische Träume ─ heute besser
mit Betonung der Zweideutigkeit; und ebenso Geistererscheinungen,
weil als subjective Phänomene gedacht (vgl. Lessing
in der „Hamb. Dramaturgie“). Aber auch namentlich die oft
furchtbare, oft lächerliche Wirkung der Zufälle. Freilich ist es
eine große Frage, ob nicht doch Zufall die Völker bestimmt,
oder ob die Zufälle sich gegenseitig corrigiren. Jedenfalls
sind die Zufälle ein keineswegs aus der Dichtung auszuscheidendes
Element. Ein „zu früh“, ein „zu spät“, wie schrecklich
kann es wirken! Ein entscheidender Entschluß ist gefaßt
auf bekannte Factoren hin; kaum ist er gefaßt, tritt ein neues
Element, ein neuer Factor ein; wäre der wenige Minuten
früher eingetreten, so wäre der Entschluß nicht gefaßt und
wären alle seine Consequenzen nicht eingetreten.


  Über die Natur der Mythologie und ihre Brauchbarkeit
für poetische Zwecke pflegt in allen Poetiken gehandelt zu
werden. Die alte Mythologie in der neueren Dichtung ergiebt
einen Mittelzustand: man glaubt nicht mehr an diese
Götter, macht sie aber zu allegorischen Fictionen: Phoebus ─
Sonne, Poseidon ─ Meer. So hat man einfache Personificationen,
die aber auch etwas platt sind. Dagegen herrscht
innere Vertiefung z. B. in Goethes „Römischen Elegien“ und
„Achilleis“. Der Hauptvortheil dabei ist, daß dies uns bekannte
Charaktere sind, an die sich feste Vorstellungen
anknüpfen. Deshalb war z. B. Klopstocks Mythologie unbrauchbar,
denn er hatte die eddischen Götter eingesetzt, und
weil diese unbekannt waren, thaten sie keine Wirkung.

|#f0224 : 208|

  Über Entstehung der Mythologie s. o. Kap. 2 (Seite 116)
in dem Abschnitt über Ursprung der Poesie.


  Über poetischen Gebrauch der Mythologie handelt z. B.
Schlegel, Vorlesungen 1, 329 f.


  Natürlich rechne ich Alles hierher, was zu den übersinnlichen
Vorstellungen der Religionen gehört, alle Begriffe
von göttlichen Dingen, die Wunder Christi und der
Heiligen. ─


  Die äußere Welt kennen wir durch unsere Sinne; die
innere Welt durch eigenes inneres Erleben, durch Selbstbeobachtung
(das ganze Seelenleben ist darin eingeschlossen);
die dritte durch Glauben und Vermuthen ─ Fiction.


  Das Stoffgebiet der Poesie ist also im Ganzen dasselbe
wie das Stoffgebiet der Wissenschaft.


  Durch diese Bemerkung wird die Angabe der Fundstellen
für poetischen Stoff sehr erleichtert und die Einsicht
in das dichterische Geschäft befördert. Nun muß man eine
Abgrenzung zwischen ihnen versuchen. Das Wesentlichste
liegt im Unterschied der Behandlung: wie hat die Wissenschaft
und wie die Poesie die Welt aufzufassen? 1) Jn der Poesie
dürfen die Lücken der Forschung ohne Weiteres ausgefüllt
werden, ein Recht, das z. B. Goethe in seiner Biographie
ausgeübt hat: „Dichtung und Wahrheit“ Dasselbe zeigt
schon die Existenz der Mythologie. Die Poesie braucht nicht
wahr zu sein. Sie behält um der poetischen Brauchbarkeit
willen überwundene Ansichten bei, z. B. Geisterglauben; sie
fingirt an die griechischen Götter zu glauben u. s. w. 2) Die
Poesie ist niemals, wie die Wissenschaft, zur vollständigen |#f0225 : 209|

Erschöpfung des Stoffs verpflichtet, sie darf, ja soll errathen
lassen, mit der Selbstthätigkeit der Einbildungskraft rechnen
und dieselbe anregen. Eine einzelne Andeutung schafft oft ein
deutlicheres Bild als pedantische Ausführung.


  Betrachtungen über das Verhältniß von Poesie und
Wissenschaft könnten zu viel größerer Genauigkeit getrieben
werden. Wir nahmen dasselbe oben historisch vor; die thatsächliche
Verwandtschaft besteht in der Entwicklung der Wissenschaft
aus der Poesie.


  So fallen ins Bereich der Poesie, da sie die äußere
Welt behandelt, alle sichtbaren Naturgegenstände; auch hörbare,
fühlbare, faßbare, so weit sie mit ihren Mitteln dieselben
darstellen kann. Und zwar entweder als Hauptmotive,
wie in beschreibender Dichtung, z. B. bei Brockes; oder als
Nebenmotive, wie namentlich bei Goethe:


  Mineral: „Granit“.


  Botanik: Mignons „Kennst du das Land“.


  Landschaft (meteorologische und mineralogische Physiognomie
der Gegend): „Werther“. Landschaftlicher Wechsel der
Jahreszeit ist ein uraltes Motiv der Lyrik.


  Astronomie: Mond, Sonne.


  Sowie nun aber die sehr leicht eintretende Personification
gebraucht wird, kommt zur äußern Welt Jnneres hinzu
und die äußere Welt erhält den Schein, als ob sie auf
innern Motiven beruhe. Wie im Menschenleben die äußere
sichtbare Handlung, der hörbare Schrei psychologische Motive
hat, also äußere und innere Welt meist Hand in Hand gehen,
so kann dies auch in die umgebende physische Welt projicirt |#f0226 : 210|

werden. Dies ist eine Hauptquelle der Mythologie, wie wir
schon sahen. Daher werden auch mythologische Wesen menschenähnlich
gebildet; bei etwaigen Combinationen der äußeren
Gestalt, menschlicher und thierischer, muß doch das innere
Leben dieser Gestalten menschenähnlich gedacht werden, wie
wir uns das innere Leben der Thiere nicht anders denken
können als nach Analogie unseres eigenen Jnnern.


  Und muß die Wissenschaft in der Ausdehnung ihrer
Analogien behutsam sein, so hat die Poesie keine Vorsicht
nöthig, sofern sie nur die bekannte Wahrscheinlichkeit nicht
zu sehr verletzt. Wenn also z. B. Thieren und Dingen von
Schopenhauer Wille zugesprochen wird, so ist das für die
Wissenschaft gefährlich, für die Poesie sehr schön.


  Hieraus ergiebt sich, daß der überwiegenden Mehrzahl
nach die poetischen Motive humaner Natur sind, und zwar
mit Verkettung der innern und äußern Welt meist als innere
Ursachen und äußere Folgen.


  So sind denn Darstellungen aus der Menschenwelt
Mittelpunct der Poesie; daneben noch Dinge der äußeren
Welt, landschaftlicher Natur. Man kann damit historische
Malerei nebst Genre, andererseits Landschaftsmalerei nebst
Stillleben vergleichen. Beides ist auch in der Poesie möglich;
aber bloße poetische Landschaftsmalerei interessirt nicht
mehr genügend. Deshalb tritt sie heute nur noch nebenbei auf.


  Soweit die Poesie nun menschliche Dinge behandelt,
wird Alles, was darzustellen ist, entweder mehrere Menschenleben
oder ein ganzes Menschenleben oder Stücke aus solchem
Menschenleben sein. Jnsofern hat die Poesie ein Verhältniß |#f0227 : 211|

zur Biographie und Geschichte (wie in der bloßen
äußern Welt zur Mineralogie, Botanik und Astronomie);
allerdings auch als Krankengeschichte u. dgl. zur Medicin,
Pathologie. Überwiegend ist der Stoff aber psychologischer
Natur. Seelisches bildet immer den Kern: seien es psychologische
Regungen (Stücke, Momente aus dem Menschenleben),
sei es die Entwicklung eines ganzen Charakters, wie
sie die Biographie geben muß. Die wissenschaftliche Biographie
muß ihren Stoff zu erschöpfen suchen, das Werden und
Wachsen; so vollständig als möglich muß sie das Verhältniß
zu den verschiedenen Seiten des Menschenlebens darzustellen
streben. Die poetische Erzählung hat es einfacher. Die
Biographie ist aber fast nie ein rein wissenschaftliches Werk;
sie nähert sich sehr oft darin der poetischen Erzählung, dem
biographischen Roman, daß sie nur allgemein Wissenswürdiges
auswählt. Das Publicum fordert nicht bloß Gemeinverständlichkeit,
sondern wünscht besonders auch das allgemein Menschliche
betont zu sehen. Nehmen wir z. B. eine Gelehrtenbiographie,
so wird ein wissenschaftlicher Verfasser die specifisch
wissenschaftliche Thätigkeit schildern, ein Romancier wird andeutungsweise
davon reden ─ warum? Es liegt nicht in
der Natur des Gegenstandes, sondern in der Natur des
Publicums. Der Dichter will nicht für Gelehrte schreiben,
die ein Fachinteresse haben, sondern für ein gemischtes Publicum.
Selbst Dichterbiographien ─ strenggenommen müßten
sie von Metrik, Sprachgebrauch u. s. w. reden; trotzdem hat
Goethe in „Dichtung und Wahrheit“ nur in kurzen Andeutungen
Derartiges berührt. Fachmäßiges findet keine Resonanz |#f0228 : 212|

außer bei den Fachleuten. So auch in der Biographie eines
Staatsmannes: ist er Gegenstand eines Romans, eines Dramas,
so wird man nicht seine Finanzverwaltung im einzelnen
schildern ─ das wäre nur für Finanzleute interessant. Eher
sind Mittheilungen aus den Finanzoperationen eines Privatmanns
möglich ─ derlei findet Resonanz in weiteren Kreisen,
wenn Schicksalswendungen daran hängen.


II. Allgemeine Motivenlehre.

  Was ist ein Motiv? Ein elementarer, in sich einheitlicher
Theil eines poetischen Stoffs. Es kann ganz kurze
Gedichte geben, die nur Ein Motiv haben. Das gewöhnliche
Verhältniß aber wird eine Verbindung eines Hauptmotivs
mit Nebenmotiven, eines herrschenden Motivs mit untergeordneten
Motiven sein. Die letzteren können bloß Entfaltungen,
Theile des ersteren, können aber auch ganz andere Motive
sein.


  Das Hauptmotiv wird zuweilen „Jdee“ genannt. Mit
diesem Wort ist ein furchtbarer Unfug getrieben worden.
Jch möchte vorschlagen, den Ausdruck fallen zu lassen; wir
sagen dafür Stoff, Thema, Vorwurf, Hauptmotiv. Wir behalten
den Ausdruck höchstens bei für eine bestimmte Gruppe
von Werken: für die äußerliche Einheit eines Gedichts, die
durch ein Fabula docet entsteht, wie Goethe von der „Jdee
des Faust“ spricht. Da indessen deutsche Dichter des 19. Jahrhunderts
unter dem Einfluß einer Aesthetik standen, welche
überall von Jdeen sprach und darunter gern allgemeine Sätze
verstand, die sich in den dargestellten Fällen verwirklichten, |#f0229 : 213|

so muß man für die Beurtheilung solcher Werke auch mit
der Aesthetik ihrer Autoren, d. h. mit den ästhetischen Ansichten
dieser Schriftsteller und ihrer ästhetischen Terminologie
rechnen. Wenn ich freilich einen vollständigen Roman um
solch einer „Jdee“ willen lesen soll, dann sage ich mir: tant
de bruit pour une omelette
! Die Schilderung des Lebens
wird da zu einer Fabel degradirt. Wo man aber an die
großen Weltdichter herantritt: Homer, Shakespeare, Goethe,
da handelt es sich um mehr als eine solche Jdee. Stoffe,
Motive bietet das Verhältniß des Achilleus zu Agamemnon,
aber nicht einen einzelnen Moralsatz.


  Goethe spricht zuweilen vom „Motiviren“ eines Stoffes
in dem Sinn, daß er die Entfaltung des Hauptmotivs nach
den Nebenmotiven hin, wie sie im Entwurf stattfindet, meint.


  Welche Motive stehen dem Dichter zu Gebote?


  Abgesehen von den Fällen, wo es sich um Unbeseeltes
und unbeseelt Gedachtes handelt, hat die allgemeine Motivenlehre
eine Übersicht menschlichen Wesens, Fühlens, Denkens,
Thuns zu geben.


  Mit einem Wort: die allgemeine Motivenlehre ist die
Ethik ─ die Ethik nicht wie sie ist, sondern wie sie sein
sollte nach der Schleiermacherschen Absicht, die aber auch
von ihm nicht breit genug entfaltet ist: eine volle Schilderung
menschlichen Denkens und Thuns. Noch könnte eine
solche Ethik mehr aus der Poesie schöpfen als umgekehrt:
ausgeführt ist sie noch nicht. Ethische Documente
können ─ neben der Poesie ─ viel helfen: was von
der Kirche über Tugend und Laster geschrieben worden, wie |#f0230 : 214|

Pönitentialbücher und Beichten des Mittelalters; dazu die
Strafgesetzbücher alter und neuer Zeit.


  Freilich vor allem ist wichtig: das Verhältniß des
Menschen zu Gott, zu andern Menschen, zu sich selbst.


  Hier wären auf jedem Gebiet die Themata zu bezeichnen,
welche die Poesie thatsächlich behandelt hat, und die möglichen,
die sie behandeln könnte.


  Und all diese werden individualisirt, d. h. an bestimmte
Jndividuen geknüpft, deren Charaktere dargestellt werden.
Ein gesetzmäßiges Verhalten findet statt zwischen bestimmten
Charakteren und bestimmten Handlungen. Die Poesie wird
der Forderung der Wahrheit und Wahrscheinlichkeit bei dem
Verhältniß zwischen Handlung und Charakter gerecht zu
werden suchen. Andererseits wird öfters auch ein scharfer Contrast
zwischen Charakter und Handlung gesucht; z. B. in Bulwers
„Eugen Aram“: ein Mörder, der sich später bekehrt hat
und eine Art Heiliger geworden ist. Aber der Wille des
Menschen ist unfrei, gebunden durch angeborene Charaktereigenschaften.
Deshalb eben muß die Poesie die nothwendige
Entsprechung von Charakter und Handlung respectiren.


  Jch will nicht alle Gebiete herzählen, das können Sie
selber. Z. B. das große Gebiet der Liebe ─ heut als Nebenmotiv
mindestens unerschöpflich. Es fällt in das Gebiet vom
Verhältniß der Menschen unter einander:


  Unnatürliche Liebe: z. B. La réligieuse von Diderot
(vgl. Pönitentialbücher).


  Natürliche Liebe, erhörte oder unerhörte:


zu einem Mädchen;

|#f0231 : 215|

zu einer Frau;


zur Frau eines Andern ─ die verschiedenen möglichen
Formen des vollzogenen, gewünschten, gehinderten
Ehebruchs.


Ehestand: Egoismus des Mannes, der Frau;


Aufopferung des Mannes, der Frau;


Frau, die sich ihrem Mann weigert, (Aristophanes
„Lysistrate“);


Scheinehe;


Ungerecht angeklagte Frau (Genovefa) u. s. w.


Verhältnisse zwischen Eltern und Kindern:


König Lear;


Der Muttermörder Orest;


Der Vater, der sein Kind opfert (Abraham und
Jsaak), richtet (Brutus);


Die Mutter, die ihr Kind tödtet („Kindesmörderin“,
Gretchen);


Brudermord: (Kain und Abel).


Unklare Mischungen: Mutterehe (Oedipus);


Blutschande, ehebrecherische Liebe (Phädra);


Geschwister, die sich lieben und nicht kennen
(Goethes „Geschwister“).


Freundschaft: Freunde, die sich für einander opfern
(Damon);


die in guter Absicht zum Bösen treiben (Carlos
im „Clavigo“).


Herr und Diener: die Sclaven des römischen Lustspiels;


die Schmeichler;

|#f0232 : 216|

Don Quixote und Sancho Pansa.


Gegenseitige Aufopferung: Dienstmann für den
Herrn, Wolfdietrich für die Mannen.


  Verhältniß des Jndividuums nicht zu einem
andern Jndividuum, sondern zu sich selbst oder zu einer
Masse,
zur Gemeinsamkeit, zu Lebenskreisen und ihren großen
Jnteressen: der Held im Verhältniß zum Staat, zum Volk
(Codrus, Armin).


  Verhältniß von Volk zu Volk: Jlias;


  Verhältniß zum Besitz: der Geizige;


Verhältniß zu geistigen Gütern: zur Wissenschaft (unbefriedigter
Forscher: Faust), zum Recht (Kohlhaas).


  Diese letzteren Motive gehören zum Gebiet des Verhältnisses
des Menschen zu sich selbst.


  Verhältniß zu Gott: Religionshelden; Christus als
poetischer Stoff; Muhammed.


III. Die Figuren der Verwicklung.

  Ein einzelnes Motiv, mehrere Motive nach derselben
Richtung können nicht lange festgehalten werden, wenn man
nicht die Aufmerksamkeit des Publicums auf eine zu harte
Probe stellen will.


  Für längere Composition empfiehlt sich daher statt derselben
Richtung Abweichung resp. Störung, Verwicklung
eintreten zu lassen, dann freilich auch die Auflösung;
nicht geradlinig, sondern abwechselnd; Umwege, Hindernisse
durch entgegengesetzte Motive oder Abwechselung durch verschiedene
Motive.

|#f0233 : 217|

  D. h. es empfiehlt sich Verwicklung und Lösung, mit
Einem Wort Conflict und Beendigung desselben.


  Auch der bloße Conflict an sich ist möglich, es kann
für kurze Gedichte auch der Conflict ohne Lösung dargestellt
werden; aber vom Publicum wird das wohl nur geduldet,
wenn rasch vorübergehend. Und zwar ist für den bloßen Moment,
für lyrische Gedichte also Conflict ohne Lösung möglich: sie
sind dann von vornherein fragmentarisch, bloß Zustandsschilderung;
z. B. sind Goethes Lililieder bloß ein momentaner
Ausschnitt aus dem menschlichen Leben. Sonst aber
kommt hier eine wirkliche Unterbrechung zu Stande, wie in
Crugantinos „Es war ein Buhle frech genung“ in der „Claudine
von Villa Bella“, einer absichtlich fragmentarischen Ballade.
Aber das ist eben eine Ausnahme; sonst will man z. B.
bei einem Kampf den Ausgang wissen, das Publicum kommt
sonst nicht auf die Kosten seiner Spannung.


  Alle Versuche nun, welche die Verwicklung herheiführen,
nenne ich Figuren der Verwicklung (vgl. „Die Anfänge
des deutschen Prosaromans“, 1877, Quellen und Forschungen
21, 49).


  Z. B. Verwicklung durch gehemmtes Streben,


Anziehung und Abstoßung,
                    örtliche Trennung,
                    Täuschung.


  Figuren der örtlichen Trennung kann sich Jeder leicht
entwickeln; reich ausgebildet z. B. in der Odyssee. Motive:
Räuber und Seestürme, wie in den griechischen Romanen;
während der Abwesenheit dann allerlei Spuk und Schabernack; |#f0234 : 218|

das geraubte Kind; die neue Geliebte (Circe). Forderung
ist dabei, daß die Verwicklung allemal durch Wiedervereinigung,
Zurückkommen u. s. w. gelöst werde: unerwartete
Rückkehr des Helden u. s. w.


  Sehr fruchtbar ist ferner die Figur der Täuschung oder
des Nichtwissens. Die Täuschung kann bewußt oder unbewußt,
allgemein oder getheilt sein. Ein Mensch lügt über
sich (Odysseus u. a.; Verkleidung, Maske, Schwindler u. s. w.)
oder über Andere (Jntrigant, Verleumder). Ein Mensch
ist in wirklicher Unkenntniß über sich oder Andere, weiß das entweder
oder weiß es nicht; ein Mensch weiß etwas von Andern
Gewußtes und Andere Beschäftigendes nicht. Es entsteht die
Figur der tragischen Jronie: daß nämlich ein Mensch etwas
nicht weiß, was das Publicum weiß ─ wenn z. B. zwei Personen
sich über das künftige Glück einer todten Person unterhalten.
Jrrthümer über die Verhältnisse machen sich plötzlich geltend,
unbekannte Hindernisse treten mit einem Male vor. Blindheit,
körperlich und moralisch, Taubheit, Verblendung im
Handeln, Unerfahrenheit, Naivetät: überall ist das Nichtwissen
das eigentlich Bewegende, das Folgenreiche und die Spannung
Erregende. Dahin gehören ferner Mißverständnisse; Menschen,
die mit einander verwechselt werden (Doppelgänger, Menächmen),
Menschen, die sich in einander täuschen u. s. w.


  Forderung: die Täuschung muß zu einer Entdeckung
führen. ─


IV. Die Klassen der Wirkungen.

  Wir unterscheiden zunächst Motive der Handlungen
und Motive der Charaktere und fragen, welche Wirkungen |#f0235 : 219|

an bestimmten Handlungen und bestimmten Charakteren
hängen.


  Die Charaktere sind am besten vom moralischen Standpunct
aus zu sondern: böse, gute, gemischte. An diesen drei
Klassen von Charakteren hängen drei Klassen von Wirkungen:
sie erregen Abscheu, Bewunderung, Antheil. Schon
Aristoteles hat richtig die günstigen Wirkungen, die poetischen
Vortheile der gemischten Charaktere hervorgehoben. Sie erwecken
die reinste und stärkte Sympathie. Der mittlere fehlbare
Mensch, der aber ein anständiger Mensch ist und das
Gute will, so weit es ihm nicht zu schwer ist, wird den
bösen wie den fleckenlosen Charakteren etwas fremd gegenüber
stehen ─ aber den gemischten kann er gut nachfühlen.
Der mittlere fehlbare Mensch aber ist der Kern des Publicums,
und diese Wirkung ist also die günstigste für die
Darstellung. Jm vorigen Jahrhundert ist in England
Shaftesbury auf diese Theorie zurückgekommen und hat damit
gewirkt. Noch Richardson glaubte mit großen Tugenden
und großen Lastern wirken zu müssen. Gegen ihn reagirte
Fielding: Tom Jones ist gar kein Tugendheld, aber ein
braver Kerl, dem man seine Fehler gern verzeiht. Danach
gingen in Deutschland Wieland, Lessing u. s. w. vor.


  Doch ist die Sache damit lange nicht erschöpft!


  Für die Handlungen verwies ich auf die Ethik: Strafgesetzbuch
u. s. w. Hier fragt es sich nun bloß nach den
Wirkungen. Wir müssen für unsere unparteiische Poetik
einen Gegensatz herausgreifen. Die Handlungen zerfallen |#f0236 : 220|

in solche, welche niedrige Gefühle in uns erregen, und in
solche, welche hohe Gefühle in uns erregen.


  Jch sage nicht: die Poesie soll hohe Gefühle anregen,
sondern ich sage dem Dichter: willst du die Anerkennung
der Edlen, so zeige dich edel. Genügt es dir z. B. die
niedere thierische Sinnlichkeit des Menschen anzuregen, gut!
thue es. Aber sei darauf gefaßt, daß die Menschen dich
betrachten als ein Werkzeug niedriger Lüste und dich nicht
höher achten als eine käufliche Schöne.


  Dies Gesetz beruht auf unserm Antheil: wir dehnen die
Wirkung des Stoffs auf den Autor aus. Wir denken uns
in die Situation selbst hinein; führt uns der Dichter durch
Cloaken, so stinkt's eben und wir fühlen uns beschmutzt,
wenn wir auch für die Technik Bewunderung haben. Er
sagt: „Jch will nur wahr sein.“ Nun denn, das ist ein
ehernes Gesetz: wenn etwas angeregt wird, was wir selbst
verachten, dann dehnt sich dies Gefühl aus auf den, von
dem jene Anregung ausgeht. Da hilft all sein Reden nicht,
wenn er uns Häßliches vorführt. Der Dichter hat danach
die Wahl. Der weise Dichter wird mindestens die Gegenstände
in Contrast bringen und so unsern Blick auf die
Totalität lenken.


  Jch darf bei dieser Gelegenheit darauf aufmerksam
machen, wie viel wirksamer gerade eine derartige empirische
Poetik, eine einfache Feststellung der Thatsachen einer legislativen
Poetik gegenübersteht, weil sie deutlicher ist und
die Folgen klarer macht.


  Betrachtungen, wie sie uns bei der Frage nach dem Ursprung |#f0237 : 221|

der Poesie beschäftigten, müssen hier fortgesponnen
und ins Reine gebracht werden. Alles, was in diesem Kapitel
unter I. II. III. vorkam, Stoffe, Motive, Verwicklungen,
wäre zusammen zu nehmen in einer Gesammtübersicht der
möglichen Fälle, und sie wären sämmtlich zu durchmustern
in Bezug auf ihre Wirkungen: directe und associirte. Ferner
wäre zu fragen, ob solche Wirkungen weitere oder engere
Kreise erfassen. Liebesaffairen z. B. interessiren die weitesten
Kreise. So wird die Liebesepisode im „Faust“ weiter nachgefühlt
als der Anfangsmonolog. Dieser kann nur ein
beschränktes Publicum haben: nur die wirklich großen Gelehrten
fühlen etwas von dem Schauer bei der Erkenntniß,
daß man nicht weiter kann; die mittelmäßigen fühlen sich
sehr zufrieden mit ihrer Untersuchung.


  Die poetischen Stoffe zerfallen ihrer Wirkung nach
ganz allgemein in:


  1. Angenehme: Ernste: hohe (erhabene),


mittlere,
                        niedrige;
                    Komische: hohe,
                        niedrige.


  2. Unangenehme.


  Die angenehmen sind für die Wirkung am günstigsten;
die unangenehmen machen nur unter gewissen Bedingungen
einem beschränkten Publicum bei der Darstellung Vergnügen,
wovon ausführlich die Rede war.


  Aber auch die angenehmen Wirkungen bedürfen sehr |#f0238 : 222|

oft einer Beimischung des Unangenehmen, damit die nöthige
Abwechselung und Spannung herauskomme.


  Eine besondere Bemerkung will ich hier nur noch den
komischen Motiven widmen. Sie haben die Wirkung, daß
man lacht. Über die Entstehung des Lachens wurde früher
geredet, aber die Frage nach dem Wesen des Komischen
wurde offen gelassen, d. h. die Frage, ob es eine Eigenschaft
giebt, welche an allen Lachen erregenden Dingen gleichmäßig
wiederkehrt, so daß sie als das entscheidende Merkmal des
Komischen angesehen werden kann?


  Jch zweifle, ob es ein durchgängiges Merkmal giebt,
besonders, wenn wir von Darwins Theorie ausgehen, daß
das Lachen Ausdruck der Freude ist. Es erregen wohl verschiedene
Motive unter verschiedenen Bedingungen Lachen.
Auf sehr viele Fälle paßt Eines: jede auffallende Verfehlung,
die nicht Mitleid, Abscheu, Ekel, Ärger, Überdruß erregt, ist
komisch. Diese Einschränkung ist höchst nothwendig, um die
Relativität des Komischen zu zeigen. Lachen, sahen wir, ist
nach Darwin Ausdruck der Freude: entweder der Schadenfreude
oder der Freude über die eigene Vollkommenheit (aber auch Freude
an eigenem oder fremdem Scharfsinn). Die relativ machende
Einschränkung „die nicht Mitleid oder Ekel erregt“ ist nothwendig,
denn die Freude kann unter solchen Umständen sich
in Mitleid verwandeln und umgekehrt. Wenn ein Gefährte
gleitet und fällt, so fragt es sich, ob er sich arg zerschlagen
hat oder nur wenig; thut er einen Fehltritt und verschwindet
in einem Graben, so lachen wir, wenn wir wissen, daß es
nur ein Graben ist ─ aber unser Mitleid ist erregt, ja mehr |#f0239 : 223|

als Mitleid: Schrecken, wenn Zweifel möglich, ob der Graben
nicht vielmehr ein Abgrund ist. So kann sich unter Umständen
Lachen in Mitleid, Mitleid in Lachen verwandeln. Mitleid
aber ist verschieden nach den Charakteren: grausame können noch
lachen, wo normale heutige Menschen Mitleid fühlen. So
ist manches heute tragisch, was sonst komisch schien.


  Ein großes Thema älterer Komik waren Unanständigkeiten
und Entblößungen, welche vielfach heute nur Ekel erregen
würden. Auch Prügel gelten nicht mehr für komisch.
Das Komische besteht darin, daß die Betheiligten durchweg
die Sitte vergessen, indem sie sich erst schimpfen und dann
in die Haare greifen u. s. w. Nun ist aber doch in beiden
Fällen die Verfehlung gegen die Sitte und Lebensart heute
noch größer als früher ─ eben deshalb, sie ist zu groß! sie
ruft Ärger hervor.


  Mißverständnisse, Dummheiten, Äußerungen, die wie die
Faust aufs Auge passen, sind Verfehlungen. Naivetäten des
Kindes und Erwachsenen desgleichen. Schiller hebt richtig das
Lächerliche als Element des Naiven hervor. Colossale Lügen
und Aufschneidereien, wobei komisch ist, daß dem Lügner geglaubt
wird oder geglaubt werden soll. Geprelltwerden: ein
gefährliches Grenzgebiet! z. B. der geprellte Ehemann bei
Boccaccio u. A. Das kann sehr ernst genommen werden. ─
Enttäuschungen sind unter Umständen komisch: wenn auffallend
und unerwartet auftretend. ─ Die auffallende Verfehlung
im Nachahmen, die aber beabsichtigt sein kann: Caricatur;
Parodie ─ wo aber vielmehr das Nachgeahmte,
Parodirte als ein auffallend Verfehltes dargestellt wird.

|#f0240 : 224|

  Du sublime au ridicule il n'y a qu'un pas ─ nämlich
das auffallende Verfehlen dessen, der sich erhaben machen
will, der sich bläht: so oft bei Victor Hugo.


  Die komische Kraft witziger Bemerkungen besteht oft
darin, daß der Zuhörer zu einer bestimmten Erwartung fürs
Folgende verführt, dann aber plötzlich und auffallend enttäuscht
wird ─ über das auffallende Verfehlen, das in seiner
eigenen Erwartung lag, lacht er, wenn er sich nicht ärgert;
oder es lacht der Dritte, der Zeuge war.


  Aber es gehören doch nicht alle Motive unter diesen Gesichtspunct,
das auffallende Verfehlen eines Ziels ─ ein
Merkmal, das ich sonst noch nicht gefunden habe.


  Anders ist z. B. das Lachen über einen guten Witz, über
eine geistreiche Bemerkung, wo zwei an sich disparate Dinge
zusammengebracht werden: es scheint mir hier Freude an dem
fremden Scharfsinn und an dem eigenen Verständniß des
fremden Gedankens vorzuliegen.


  Eine reiche Beispielsammlung komischer Dinge in Carrieres
Aesthetik 1³, 198 f. Aber wie die meisten Aesthetiker
geht er über die Empirie hinweg und bringt nur, was er
selbst komisch findet. Ein Aufsatz wie der von Weinhold
„Über das Komische im altdeutschen Schauspiel“ (Gosches Jahrbuch
für Litteraturgeschichte 1, 1 f.) schlägt durch die
Sammlung des Materials ganze Aesthetiken auf einmal in
die Flucht.


  Es ließen sich nun verschiedene Mischungen des Ernsten
und Komischen denken, und für solche Mischung, ja die
Mischung des Rührenden und Lächerlichen ist der etwas fatale |#f0241 : 225|

Ausdruck „Humor“ noch am ersten zulässig. Es sind
verschiedene Mischungsverhältnisse möglich, man würde am
besten thun sie zu classificiren, statt durch geistreiche Definitionen
sie alle unter einen Hut bringen zu wollen. Jm Leben
wird der Ausdruck verschiedenartig gebraucht. Classiker des
Humors sind Sterne und Jean Paul. Jngredienzien des
Humors sind z. B. die Mischung des Hohen und Niedrigen,
so namentlich bei Sterne, wo kleine Unanständigkeiten neben
dem Rührendsten stehn, Parodie der Gelehrsamkeit, oft langathmig
und Geduld fordernd, neben kleinlichen Witzen und
wohlfeilen Späßen. Jch würde es deshalb für nützlich halten,
Sternes Motive zu classificiren; das würde äußerst lehrreich
sein.

|#f0242 : E226|

Viertes Kapitel. ──────
Jnnere Form.

  Der Begriff ist zuerst von W. v. Humboldt für die
Sprache geprägt. Man kann die Dinge nicht benennen,
wenn man ihr Wesen zu erschöpfen versucht; man muß sich
also entscheiden, welche eine charakteristische Eigenschaft man an
dem zu benennenden Gegenstand auswählen will. Verschiedene
Auffassungen sind möglich, aus ihnen muß Eine
ziemlich willkürlich herausgegriffen werden: der Wolf ist für
die Arier der Zerreißer; er könnte aber auch nach der Farbe benannt
sein oder nach dem Glanz der Augen ─ was nun
am meisten auffällt. Diese bestimmte Auffassung ist die
innere Form Natürlich braucht nicht bloß Eine Eigenschaft
gewählt zu werden; möglich sind auch Combinationen, ja zu
genauerer Charakteristik sind zwei Worte in Composition bequemer:
so heißt der Mantel bei Philipp von Zesen „Windfang“.



  Jch übertrage diesen Begriff der inneren Form auf die
Dichtkunst, indem ich auch hier die „innere Form“ als |#f0243 : 227|

charakteristische Auffassung verstehe. Man kann nicht darstellen
ohne auszuwählen, wenigstens nicht poetisch darstellen.
Die Poesie muß also auswählen; die specifische Auffassung
durch den Dichter ist wieder ziemlich willkürlich. Die Wissenschaft
muß im Princip auf Erschöpfung ausgehen, die Poesie
braucht es nicht. Aber die Wissenschaft generalisirt: sie bleibt
nicht beim Jndividuum stehen, sondern steigt auf zu Arten,
Klassen, Gattungen. Die Wissenschaft muß also genau
beobachten, sie müßte etwa einen Käfer im Einzelnen nach
Gestalt, Sinneswerkzeugen u. s. w. beschreiben; aber wo sie viel
Ähnlichkeiten findet, bringt sie das eine Jndividuum mit
andern in Zusammenhang. Nun kann die Poesie, die es in
der Regel mit Jndividuen zu thun hat, annäherungsweise
dasselbe thun, gleichsam von einem wissenschaftlichen Gesichtspunct
herauswählen, indem sie an Jndividuen nur solche Züge
hervorhebt, welche das einzelne Jndividuum mit vielen theilt.
Vater, Sohn sind die meisten, bezw. alle Menschen. Die Auffassung
eines Jndividuums als „Vater“ ist also zugleich eine Einordnung
in eine Gattung, eine Typisirung, ein Act der
Generalisirung, also ein Verfahren, das auch in der Wissenschaft
begegnet. Das Aufsteigen kann noch weiter gehen.
Es kann das Jndividuum ganz allgemein als Mensch genommen
werden, oder mit Anknüpfung an etwas Allgemeineres,
z. B. als tugendhaft oder lasterhaft.


  Darstellen ist eng verwandt mit Forschen: ein Factor ist
der Gegenstand, ein anderer Factor der Darsteller oder
Forscher. Man kann dabei der Natur der Dinge treu zu
bleiben suchen, ohne Specielles mit aufzunehmen. Aber damit |#f0244 : 228|

Darstellung zu Stande kommt, müssen die Gegenstände
den Durchgang durch das Jndividuum nehmen: da fragt sich,
wie viel von dem Jndividuum an dem Gegenstande haften
bleibt. Jrgend etwas wird in der Regel vom Anschauer an
dem Angeschauten haften. Aber der Möglichkeit nach kann
man den Fall statuiren, daß gar nichts hafte: dann wäre
die Darstellung vollkommen objectiv. Je mehr von dem auffassenden
Jndividuum daran haftet, desto mehr wird sie subjectiv.
Objectiv und subjectiv sind also die beiden Hauptarten der
inneren Form.


  Jm Ganzen liegt den folgenden Betrachtungen Goethes
Aufsatz: „Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil“
zu Grunde (Hempel 24, 525 f.), vgl. „Aufsätze über Goethe“
S. 298 f.; aber ich habe jetzt Modificationen eintreten
lassen, um schärfer zu sondern. Früher vermischte ich noch dort
und in der „Litteraturgeschichte“ für Goethe charakteristische
Stoffwahl und Auffassung, also Kap. 3 und 4 unseres Collegs.


  Dies ist noch zu betonen: Naturalismus, Realismus
u. s. w. werden lässig als Termini für die Stoffwahl verwandt,
weil diese für die Weltanschauung allerdings bezeichnend
ist. Solche Unterschiede sind aber hier nicht gemeint.
Fragen wir nach der poetischen Auffassung der Welt, die
einem Dichter als charakteristisch zuzuschreiben sei, so würde
diese in der Auswahl der Stoffe, die er ausschließlich behandelt
oder die er begünstigt, bestehen. Jst ein Dichter sehr
wählerisch, pflegt er nur zarte und hohe Gefühle und Handlungen,
edle Gesinnungen im siegreichen Kampfe mit den
unedlen zu begünstigen, so nennt man ihn idealistisch. Greift |#f0245 : 229|

er ohne Wahl zu, kommt es ihm auf Maß und Auswahl nicht
an, stört ihn das Unangenehme und Crasse, die stärksten
Ausbrüche der Thierheit am Menschen nicht, schwelgt er gar in
Lastern und ekelerregenden Dingen, so pflegt man ihn einen
Naturalisten zu nennen.


  Von diesen Unterschieden sehe ich hier ab; nicht den Dichter
im Verhältniß zur gesammten Stoffwelt fasse ich hier ins
Auge ─ das gehört in das dritte Kapitel, so gut wie der
Unterschied ernster und komischer Stoffe: wählt jemand ausschließlich
komische Stoffe, so ist seine poetische Weltanschauung,
wie sie sich in seiner generalisirenden Stoffwahl kund giebt,
eine andere, als wenn ein Dichter ausschließlich ernste Stoffe
wählt.


  Auch das ist noch zuzugeben, daß mit einer gewissen
Stoffwahl eine gewisse Behandlungsart verbunden zu sein
pflegt. Der Jdealist pflegt nicht so ins Detail zu gehen
wie der Naturalist u. s. w. Aber in der Poetik müssen wir
diese Dinge sondern. Es kommt hier darauf an, die verschiedenen
möglichen Auffassungen eines und desselben Gegenstandes
zu ermessen.


  Jenes ist nur Wahl des Gegenstandes, hier handelt
es sich um die Behandlung des schon Gewählten. Und diese,
wie gesagt, ist entweder


I. objectiv ─ oder


II. subjectiv.


  Hierbei ist jedoch zu bemerken, daß die vollendete Objectivität
nur eine Richtung, ein Ziel sein kann, aber schwerlich je
vollständig erreicht wird. Alles was über objective Auffassung |#f0246 : 230|

gesagt wird, ist daher unter der Einschränkung gesagt:
„so weit die gänzliche Absonderung einer persönlichen
Beimischung gelingt“. ─


I. Objective Auffassung.

  Vergl. in meiner „Litteraturgeschichte“ den Abschnitt
über Goethe, wo die drei Formen nachgewiesen sind.


  1) Naturalismus, portraitartige Darstellung eines bestimmten
Modells, einer bestimmten Handlung u. s. w.; Versuch,
das Jndividuum wie es ist, mit allen zufälligen Eigenheiten
wiederzugeben und eine Handlung mit allen zufälligen
Nebenumständen oder wenigstens mit reichlicher Auswahl
charakteristischer Nebenumstände. So „Götz“, „Faust“ in den
Anfängen; Wagners „Kindermörderin“ und manche andere
Producte des Sturms und Drangs: bürgerliche Väter mit all
ihren Schimpfwörtern, ihrer Polterei, ihrem Zorn und Unmuth,
oder gemeine Gesellen mit allen schlechten, niedrigen Motiven.
Doch gerade in der Sturm- und Drangperiode fehlt es daneben
nicht an colossalischer Übertreibung, welche statt objectiver
Darstellung eine subjective Verzerrung der Wirklichkeit giebt.
Echt naturalistisch ist z. B. das Jnterieur von Götzens Burg,
von Gretchens Zimmer; der Vater der Heldin in Wagners
„Kindermörderin“.


  2) Typischer Realismus, vgl. die Einleitung zu diesem
Kapitel. Goethe nennt diese Art „Stil“ mit unberechtigter
Einschränkung dieses Begriffs. Er machte sich diese Behandlungsweise
seit der italienischen Reise zur Pflicht: „Hermann
und Dorothea“; „Natürliche Tochter“; „Wahlverwandtschaften“; |#f0247 : 231|

Helena im „Faust“. Am Jndividuum werden die
Züge hervorgehoben, welche der Einzelne gemein hat mit
solchen Leuten, die zu demselben Typus gehören, d. h., namentlich
bei Goethe, die in denselben bürgerlichen sittlichen
Familien-Verhältnissen stehn. Die bleibenden Verhältnisse der
Menschheit, das typische Gepräge in den sittlichen Dingen
─ das wird in der Charakteristik herausgearbeitet. Die
Menschen werden also dargestellt nicht bloß nach ihren
sittlichen Eigenschaften, sondern auch nach ihrer Stellung in
der Welt u. s. w. So der Herzog in der „Natürlichen
Tochter“: betont ist seine Eigenschaft als Vater. „Hermann
und Dorothea“ zeigt die Charaktergegensätze des Entwurzelten
und Beharrenden, des Festhaftens an der Scholle und des nomadischen
Zustandes; Verhältnisse der Gegenwart klingen an
die Wanderung der Jsraeliten durch die Wüste an, religiöse
und politische Verfolgung u. s. w. Die Beleuchtung hebt nun
diesen bleibenden Gegensatz voll hervor. Goethe nimmt also
Gestalten aus der Gegenwart heraus und nimmt doch Verhältnisse,
welche schon in den Uranfängen der Menschheit walteten.
Außerdem aber stehen volle Jndividuen vor uns, und es
könnten auch Portraits sein; aber das Jndividuum repräsentirt
zugleich einen Typus der Menschheit. ─ Oder in den
„Wahlverwandtschaften“: die Begehrlichen und die Entsagenden.
Das Entsagen ist verkörpert an der höchst eigenartigen Figur
der Ottilie, die als geistig Blinde (Motiv der körperlich
blinden heiligen Ottilie im Elsaß) begehrend auftritt, sehend
entsagt; Eduard nur begehrend, Charlotte und der Hauptmann
entsagend. ─ So ist der Helenaact im „Faust“ auf den |#f0248 : 232|

Gegensatz der höchsten Schönheit Helenas und der Häßlichkeit
der Phorkyas gebaut. ─


  An einer Handlung werden ebenso die Züge hervorgehoben,
welche in ihr der Regel nach treibend sein werden:
die regulären Motive der Jndividuen zeigen sich uns hier
von der Seite der Handlung gesehen.


  Goethe hält die typische Kunst für die wahre Kunst, und
seine Ansicht kehrt bei Schopenhauer wieder, der sie aber so
ausdrückt: Gegenstände der Kunst sind die Jdeen, d. h. die
platonischen Jdeen. Was Goethe typische oder bedeutende
bleibende Verhältnisse der Welt nennt, die am Jndividuum
zur Erscheinung kommen, eben das nennt Schopenhauer
in seinem Hauptwerk „Jdeen“.


  Goethe nennt diese Art auch „symbolisch“ und definirt
dies (an Schiller 17. August 1797, 1, 338): „es sind eminente
Fälle, die in einer charakteristischen Mannigfaltigkeit als Repräsentanten
von vielen andern dastehn, eine gewisse Totalität
in sich schließen, eine gewisse Reihe fordern“.


  Eben solche Typen, wie er sie darzustellen sucht, glaubt
er mit Recht in der griechischen Kunst dargestellt zu finden,
wo individuelle Beziehung fast nie über das herausgeht, was
Typen repräsentirt. Goethe legte Werth darauf, daß seine
Poesie dasselbe suche wie die Wissenschaft und die griechische
Kunst.


  3) Jdealismus: z. B. Goethes „Jphigenie“ geht nur aus
auf das allgemein Menschliche, oft auch auf die gesteigerte
Menschheit, auf menschliche Herrlichkeit, wie sie nicht ganz
vorhanden ist. Der Begriff des allgemein Menschlichen ist |#f0249 : 233|

ein mehr oder weniger willkürlicher, eine Vollkommenheit,
wie sie sich der Dichter gerne denkt und ausmalt und die er
auf alle seine Figuren gleichmäßig vertheilt. Dadurch herrscht
hier am meisten die Gefahr subjectiver Beimischung statt klar
objectiver Auffassung des Gegebenen. ─ Doch ich breche ab
und verweise auf meine Aufsätze.


II. Subjective Auffassung.

  Das entspricht ungefähr dem, was man „Manier“
nennt. Die subjective Auffassung kann so vielartig sein, als
die Subjecte; aber Gattungen der subjectiven Auffassung sind:


Humoristisch;


Satirisch;


Elegisch;


Jdyllisch.


  Die drei letzteren hat Schiller in der Abhandlung über
naive und sentimentalische Dichtung dargelegt und geschieden.
Das Jdyllische kann sehr wohl objectiv sein, wenn die natürliche
Einfachheit des Lebens naturwahr ist, wenn Verhältnisse,
die der wirklichen Natur nahe und daher einfach sind,
wahrheitsgetreu dargestellt werden. Aber subjectiv ist es,
wenn die Jdylle eine künstliche Form ist, ein Suchen nach
der natürlichen Einfachheit bei Menschen aus complicirten
Zeiten; immer zugleich halb elegisch, so wenn Werther
homerische, patriarchalische Einfachheit sich herzustellen sucht.


  Die subjective Auffassung kann geschehen nach allen drei
Arten der objectiven Auffassung. Subjectiv idealistisch ist
etwas Anderes als objectiv idealistisch. Es tritt ein, wenn |#f0250 : 234|

Menschen sehr complicirter verkünstelter Zeiten nach natürlicher
Einfachheit suchen: dies Jdeal entspricht einer elegischen
Sehnsucht nach einer entschwundenen Reinheit und sucht ein
Höheres.


  Das Merkmal der subjectiven Auffassung sind vielfach
Reflexionen: der Dichter tritt gradezu persönlich hervor. ─

|#f0251 : E235|

Fünftes Kapitel. ──────
Äußere Form.

  Folgendes ist der Plan des fünften Kapitels:


I. Die Grundformen der Darstellung.


II. Die Dichtungsarten.


III. Die Composition.


IV. Sprache.


V. Metrik.


  Hierbei ist aber nicht Absicht, die Lehre von den Dichtungsarten
zu erschöpfen, sondern wesentlich nur zu zeigen,
in welchem Verhältniß diese zu den Grundformen der Darstellung
stehen.


I. Die Grundformen der Darstellung.

  Jch weiß nicht, ob es mir gelungen ist, Alles was
hierher gehört zu erschöpfen.


A. Directe und indirecte Darstellung.

  Vielleicht ist es allgemeiner, wenn ich sage: die Technik
des Errathenlassens. Nämlich wo ich stark auf Selbstthätigkeit |#f0252 : 236|

des Publicums rechne, kann ich das Jnteresse durch die indirecte
oder symptomatische Darstellung erhöhen, indem ich
die Ursache verschweige und sie aus Symptomen errathen
lasse. Wo man nichts errathen läßt, ist die Darstellung
direct. Ein Mittel indirecter Darstellung ist aber auch die
Jronie.


  1) Darstellung eines Charakters: sie erfolgt entweder
durch directe Charakteristik, d. h. ich zähle die Eigenschaften
auf, die jemand besitzt. Das geschieht gewöhnlich in der
Historiographie, wo ein bedeutender Mann zu schildern ist.
Wir arbeiten dann direct mit psychologischen Kategorien. Dies
ist wissenschaftliche Charakteristik. Solche Charakteristik wird
vielfältig auch in Romanen angewandt. Aber diese Form gilt
jetzt nicht mehr für eine kunstvolle Darstellung. Man zieht
die indirecte vor, bei welcher man aus Worten, Gesinnungen,
Thaten gewisse Eigenschaften und so den ganzen Charakter errathen
läßt. Der Autor bezeichnet also gar nicht direct, und
der Leser muß schließen ─ gerade wie wir im Leben verfahren,
indem ein Jeder das Bild eines Menschen aus seinen Thaten,
Worten, Neigungen sich entwirft. So also verfährt die
heutige Poesie mit Vorliebe. Dabei kann noch der Unterschied
sein, ob man den Charakter sich episch entwickeln läßt
oder ob man dennoch eine zusammenfassende Charakteristik
giebt, die nicht mit Eigenschaftswörtern operirt, sondern an
Stelle einer directen Charakteristik eine Reihe von Thaten
des Helden zur Übersicht stellt.


  Mvn kann Beides vereinigen, indem man ein Bild des
Charakters so entwirft, daß man die Eigenschaften nennt und |#f0253 : 237|

Belege dafür angiebt; und das directe Aufzählen braucht nicht
durch den Autor zu geschehen: der dargestellte Charakter kann
über sich selbst Auskunft geben, oder andere Personen, die neben
ihm auftreten, können diese Auskunft geben. Es wird etwa einem
König ein Brief vorgelesen, in welchem seine Gesandten ein
Bild entwerfen, während seine Botschaft andeutet, was für
Thaten er erwarten läßt; in der Berathung lassen sich entgegengesetzte
Meinungen vernehmen, bei denen ein Jeder
offenbart, was er im Auge hat ─ durch That oder Wort.
Diese Darstellung durch rein epische Mittel wird oft nur
fragmentarisch gegeben, aber bei geschicktem Verfahren wird
kein wesentlicher Zug fehlen.


  2) Gefühle werden ebenfalls entweder direct ausgesprochen,
oder man läßt sie errathen, z. B. aus Gebärden,
aus Worten, welche nicht direct sagen, was das Jnnere
birgt. Selbst ein Dichter, der von sich selbst spricht, kann
in Form, Ton u. s. w. so andeuten, daß er nicht direct sein
Jnneres enthüllt; er kann sich durch seine Thätigkeit charakterisiren,
wo er handelnd auftritt.


  3) Auch Handlungen können direct oder indirect dargestellt
werden. Man kann sie vielfach errathen lassen
durch Beziehung auf verschwiegene Dinge, z. B. was im
Drama als hinter der Scene geschehend gedacht ist, wovon
bloß gesprochen wird. Meisterhaft verstehen es die Volkslieder,
aus Reden Ereignisse errathen zu lassen. Ganze Menschenschicksale
enthüllen sich aus dem Dialog. Die erste Strophe
bringt ein Wort des Liebesgesanges, die zweite deutet den Abschied
an, und in der dritten findet sich ein Wort, aus dem |#f0254 : 238|

Untreue hervorgeht, in der vierten steht die treu Liebende
auf der Warte... So kann aus einzelnen Worten indirect
eine ganze Reihe von Handlungen herausgelesen werden.


B. Fictionen.

  Die Poesie bedient sich zuweilen conventioneller Annahmen,
daß etwas möglich sei (das in Poesie Vorgeführte als
wirklich vorausgesetzt), was in Wirklichkeit überhaupt nicht
oder doch nicht in dieser Form möglich ist.


  Es giebt einige Menschen, welche die Gewohnheit haben,
laut mit sich selbst zu reden; die Poesie setzt im Drama
voraus, daß alle Menschen diese Gewohnheit haben. Wenige
Menschen haben die Gabe, sich selbst oder Andern gegenüber
einen klaren Bericht über die Vorgänge in ihrer eigenen
Brust zu geben; nur wenige wissen sich zusammenhängend
über innere Zustände auszudrücken: die Poeten fingiren
Beides.


  Unter den Menschen, die die Gewohnheit haben, mit
sich selbst zu sprechen, wird wohl niemand im Selbstgespräch
sich Dinge vorsagen, die er längst weiß, oder vollends sich
sagen, wer er selbst sei. Aber eine dramatische Technik,
allerdings früherer Zeit, gestattet Eingangsmonologe, in
denen das geschieht, wo die Personen sich selbst vorstellen. Auch
Tieck hat sich das noch erlaubt. Es ist kindlich, wenn Einer
gar erzählt: „Jch bin der wackre Bonifacius“, obwohl es ja
vorkommt, daß jemand sich sagt: Jch bin ein famoser Kerl.
Die Personen reden also eigentlich zum Publicum, das aber
doch nicht mitspielt. Alles Reden zum Publicum ist ein |#f0255 : 239|

Stören der Jllusion, wie schon in alter Zeit Aristoteles bestätigt.
Voraussetzung des Dramas ist, daß die Leute, die
da spielen, unter sich sind, und daß nur ein guter Gott den
Vorhang weggezogen hat, damit das Publicum zusehen kann.


  Nur wenige Menschen pflegen sich im Leben eines bilderreichen
gehobenen Ausdrucks zu bedienen. Niemand pflegt
in Versen zu reden. Die Poesie fingirt vielfach Beides.
Andere Richtungen, welche die strenge Wahrheit und Wahrscheinlichkeit
anstreben, haben auch schon hierin sich zur Pflicht
gemacht, bei einer getreuen Naturnachahmung zu bleiben.
Daher griff man im 18. Jahrhundert zu den prosaischen
Tragödien. Man kam davon zurück, als die Poesie wieder
statt stricter Naturwahrheit eine idealische Welt zu schaffen
suchte: der typische Realismus, ja der Naturalismus sogar
findet hier für die Naturwahrheit gewisse Grenzen gezogen;
nur darf kein Mißverhältniß hervorgerufen werden bei Vergleichung
von Darstellung und Wirklichkeit. Der Grundsatz:
jede Person nur reden zu lassen, was sie vermöge ihres
Standes und Bildungsgrades wirklich sagen kann, ist wohl
selten streng durchgeführt worden; am meisten noch im
Lustspiel. Wie oft aber hören wir die Sprache des Dichters,
gleichmäßig schön gehoben, im Mund aller Personen! Ein
Dichter müßte sonst darauf verzichten, dichterisch zu reden,
wo er nicht zufällig einen Dichter einführt. Man thut nur
gut, jene Vergleichung von Darstellung und Wirklichkeit
nicht zu stark herauszufordern, weil sonst die Jllusion gestört
wird.


  Und für die Erzählung gilt dasselbe wie für das Drama. |#f0256 : 240|

Die Erzählung sucht darin genau zu sein und nichts zu fingiren.
Dennoch steht im „Wilhelm Meister“ manche bedeutende
Rede, wie sie nur Goethe auszusprechen vermochte. Jst
es aber nicht schön, auch auf Kosten der Natürlichkeit den
Dichter sprechen zu hören? Ebenso herrscht eine gleichmäßig
gehobene Sprache bei Shakespeare. So ist gerade in Deutschland
eine Reaction eingetreten gegen allzu große Natürlichkeit;
es ist ein Vortheil, wenn eine Poesie sich auf eine etwas
höhere Stufe des Lebens erhebt.


C. Aus der Lehre von den Zeichen.

  Es ist dies eine Lehre, die Lessing in der Fortsetzung
seines „Laokoon“ angedeutet hat. Er wollte die Bezeichnungsmittel
der verschiedenen Künste näher prüfen und eine Scheidung
zwischen willkürlichen und natürlichen Zeichen (Darstellungsmitteln)
durchführen.


  Was sind natürliche Zeichen? Dies sind nach Lessing
Mittel der unmittelbaren Nachbildung; wo Wirklichkeit in
nachahmende Kunst direct übertragen wird, da liegen natürliche
Bezeichnungsmittel vor. Die Plastik arbeitet mit natürlichen
Zeichen nach Form der Dinge, nicht nach Farbe.
Ebenso die Malerei nach Farbe der Dinge, nicht nach Form
Bemalte Plastik, bemalte Holzschnitzerei bildet Form und
Farbe nach; beide aber unbeweglich. Und die Plastik
ahmt die Farbe, die Malerei die Form nur indirect mit
willkürlichen Zeichen nach.


  Poesie, sofern sie mit Sprache operirt, hat nur willkürliche,
nur künstliche Zeichen, denn die Verbindung zwischen |#f0257 : 241|

dem Wort und der dargestellten Sache ist für uns willkürlich;
ob für den Ursprung der Bezeichnungsweise, ist hier gleichgiltig.
Das Wort wird Darstellung gewiß nur für Diejenigen,
die mit der Bedeutung der willkürlichen Zeichen
vertraut sind. Die Sprache ist nicht entstanden durch Willkür,
sondern durch Nothwendigkeit; aber nur in den seltenen
Fällen der Onomatopöie glauben wir nocheinen Zusammenhang
zwischen Wort und Gegenstand zu erkennen. Trotzdem sind
in der Sprache Möglichkeiten natürlicher Beziehung, unmittelbarer
Nachbildung. Z. B. das Nacheinander der Handlung
wird durch Nacheinander der Darstellung wiedergegeben.
Näheres im vierten Abschnitt.


  Größtentheils also arbeitet die Poesie doch mit willkürlichen
Zeichen, soweit sie sich der Sprache allein bedient.
Aber wenn die Poesie zum Drama wird, da ist Alles natürliches
Zeichen: Rolle; da wird die Poesie die directeste, vollständigste
nachahmende Darstellung, die es überhaupt giebt.
Auch die Bewegung wird ganz direct wiedergegeben. Und die
Worte sind Darstellung der Reden, wie sie von Menschen
in Wirklichkeit geführt werden. Das Drama ist also in
allen seinen Theilen Darstellung mit natürlichen Zeichen.
Deshalb steht das Drama im Mittelpunct der Poesie.


  Die Schauspielkunst, ihr Stil, ihre Fictionen, wie weit
Jllusion erstrebt wird, und welche Möglichkeit vorhanden ist,
sie zu erreichen, das müßte Alles in der Lehre vom Drama
näher zur Sprache kommen.


  Auch die Declamation wirkt nachahmend durch Tempo,
Stärke, begleitende Mimik.

|#f0258 : 242|

D. Die Arten der Rede.

  Die Poesie ist lebendig zu denken, wie schon im 1. Kap.
verlangt, also als lebendige Rede. Wir fragen, wie die
Rede sich darstellt:


  Erster Eintheilungsgrund. Die Rede ─ im wirklichen
Leben oder in poetischer Fiction ─ ist entweder einsame
Rede, in der Poesie zuweilen fictive Vertretung einsamen
Denkens; oder Rede zu Andern oder zu einem Andern: sofern
der oder die Andern bloß Zuhörer sind und selbst
schweigen, ist es Vortrag; sofern Antwort erfolgt, ist es Gespräch,
Dialog. Danach:


1. Monolog;


2. Vortrag;


3. Dialog.


  Die Poesie darf auch mehrere Personen zugleich sprechen
lassen, fingiren, daß mehrere Personen gleichzeitig dasselbe
sagen: Chorrede.


  Monolog und Vortrag sind natürlich nahe verwandt,
sofern nur Einer redet. Aber ob der Eine für sich oder für
Andere redet, ist doch ein tiefer Unterschied. Jch wies oft
darauf hin: der Andere genirt; er fordert Rücksichten, Überlegung,
wie man es am besten macht, um zu überreden, zu
überzeugen, zu unterhalten. Mit dem Andern ist ein Publicum
vorhanden, und hier treten alle Forderungen des Publicums
ein.


  Für den Dialog ist die Anzahl der Zuhörer gleichgiltig:
complicirtere Formen sind eben zurückzuführen auf den
Dialog zu Zweien.

|#f0259 : 243|

  Die Grenzen zwischen Vortrag und Dialog können ebenfalls
fließend sein: der Redner kann eine Frage in das
Publicum werfen, worauf Antwort erfolgt; der Redner kann
seinen Zuhörern den Eindruck ablesen, in Mienen und Gebärden,
Beistimmung und Widerspruch ─ was beides für
ihn bestimmendes Moment der Fortführung werden kann.
Es mögen auch Zurufe, Beifall, Murren, directe Unterbrechungen,
Einwendungen erfolgen. Alles wird Moment
der Fortführung ─ aber auch Übergang im Dialog.


  Dialog also in der Urform ist Unterredung von Zweien.
Schemata: die Beiden sind einverstanden oder sie sind es nicht.


  Einverstanden: der Eine behauptet, der Andere stimmt
bei; der Andere nimmt dem Ersten das Wort aus dem
Munde und setzt seine Gedanken fort; Jeder bringt von seiner
Seite etwas bei, um dieselbe Meinung zu bekräftigen.


  Nicht einverstanden: Erörterung, Streit, Discussion;
dies ist eine günstigere Form für poetische Wirkung, weil
Conflict und damit spannende, erregende Momente gegeben sind.


  Jn diese Schemata ist beinahe Alles zu fassen. Ein
Bote, welcher kommt und berichtet: das ist eigentlich nicht
Dialog, sondern Vortrag. Frage und Auskunft; die Antwort
kann auch zum Vortrag werden; es redet eigentlich
nur Einer, der Andere hat nur Eindrücke, entweder freudige
(einverstanden) oder schmerzliche (nicht einverstanden).


  Freilich giebt es unzählige Übergangsformen, die man
durch Classisication des Vorhandenen erforschen müßte.
Die Technik des Dialogs bei Plato, Lucian, Erasmus,
Hutten, Shakespeare u. s. w. wäre zu untersuchen.

|#f0260 : 244|

  Zweiter Eintheilungsgrund. Der Redner kann in
eigenem Namen sprechen oder in einem fremden, und zwar
entweder in einer Maske oder Verkleidung, hinter der er er
selbst bleibt, sich nur versteckt, aber erkannt werden will ─ oder
in einer Rolle, in fremdem Namen, sich selbst ganz verläugnend.
Z. B. Goethe unter der Maske des Hatem will
erkannt sein; Goethe in der Rolle der Suleika will nicht erkannt
sein: indem er ein Suleika-Lied verfaßt, läßt er die Geliebte
reden, und in der That sind mehrere Suleika-Lieder von Frau
v. Willemer gedichtet. Zahllose Poeten des 17. Jahrhunderts
nehmen Hirtencostüm an: das ist Maske, sie wollen als
Opitz, Rist u. s. w. erkannt sein. Dagegen der Dramatiker
verschwindet vollständig hinter der Rolle, die er schafft, und
wenn er selbst mitwirkte als Schauspieler, würde er sich doch
verläugnen.


  Also: der Dichter redet a) im eigenen Namen;


b) in einer Maske;
                    c) in einer Rolle.


  Jn der Lyrik ist es manchmal nicht leicht, ja oft
ganz unmöglich, zwischen Maske und Rolle zu unterscheiden.
Und selbst ob im eigenen Namen, ist nicht immer zu sagen.


  Dritter Eintheilungsgrund. Der Redner kann:


α) allgemeine Betrachtungen anstellen, die völlig
zeitlos sind;


β) von Vergangenem reden;


γ) von Gegenwärtigem;


δ) von Zukünftigem prophezeihen;

|#f0261 : 245|

ε) wünschen;


ζ) auffordern.


  Die Kategorien stimmen, wie man sieht, mit bekannten
grammatischen Kategorien aus Tempus- und Moduslehre
überein. Aber sie sind doch nicht identisch: präterital ohne
Scheidung der vollendeten und eintretenden Handlung, des
Perfectums und des Aorists; die vollendete eher präsentisch,
weil die vollendete Handlung unter Umständen als gegenwärtig
dargestellt wird; futurisch; optativisch; imperativisch.
Die bloße Möglichkeit, der Potentialis, kann man unter α)
rechnen; sie spielt in der Poesie eine geringe Rolle. Auch
ε) könnte man unter die zeitlosen zu α) setzen.


  Vierter Eintheilungsgrund. Ob der Dichter von
sich oder von Anderen redet, oder fingirt, daß ein Anderer
von sich redet.


II. Die Dichtungsarten.

  Es kommt hier darauf an, das Verhältniß der Dichtungsarten
zu den Arten der Rede zu erforschen und festzustellen.
Schwierigkeit macht dabei hauptsächlich die Lyrik, für die es
nichts Einheitliches giebt, als daß sie früher stets für den
Gesang bestimmt und im ganzen auch heute noch immer sangbar
gehalten wird. Es treten aber manche große Unterschiede
in den Arten der Rede ein, durch welche Vieles von der
Lyrik abgezogen und näher an andere Dichtungsarten herangerückt
wird.


  Zunächst sprechen wir von den bestimmten, ihrem Charakter
nach unzweifelhaften Dichtungsarten.

|#f0262 : 246|

  Die epischen Dichtungsarten sind dadurch absolut festbegrenzt,
daß sie der Art der Rede nach als Vorträge aufgefaßt
werden müssen, als Vorträge, die von Vergangenem
handeln und in denen der Dichter in der Regel im eigenen
Namen redet, nicht in Maske, nicht in Rolle ─ obgleich an
sich möglich wäre eine Figur einzuführen, welche dann die
Erzählung vortrüge; aber selbst diese würde im eigenen Namen
reden. Er kann aber dann entweder von sich oder von Andern
erzählen.


  Hier ist natürlich wieder dies das ursprüngliche Verhältniß:
lebendige Rede; die Zuhörer im Kreise; der Redner spricht zu
ihnen. Dies Natur- und Grundverhältniß tritt auch vielfach
litterarisch hervor: durch die Anrede „Jhr“; durch die Betheuerung
der Wahrheit (mittelhochdeutsch): daz ich iu sage
daz ist wâr
; auch als Berufung auf Zeugen (althochdeutsch):
ik weiz, ik gihôrta; oder die Trinkforderung im „Salomo
und Morold: der leser, der ein trinken haben will. ─
Aus diesem alten natürlichen Grundverhältniß ergiebt sich nun,
daß die Forderung, der Redner, der Dichter der epischen Erzählung,
solle vollständig verschwinden, ungerechtfertigt, weil
gegen die Wahrheit der Dinge ist. Er redet ja, er weiß davon,
es steht bei ihm, was er uns mittheilen will. Die neuerdings
beliebten Einkleidungen ändern nichts an der Sache.
Es hängt freilich von dem Erzähler ab, wie weit er sich einmischen
will; er thut es aber überall. Wo ein Urtheil ausgesprochen
wird, da erscheint er: zu dem Wissen tritt die Meinung.
Wo er irgend ein Epitheton beifügt: der edle, herrliche u. s. w.,
tritt der Dichter hervor, und so auch Homer selbst. Jn jedem |#f0263 : 247|

epitheton ornans erscheint der Dichter; und es ist also
ganz falsch, wenn man sich hierfür auf Homer beruft. ─
Wirklich verschwinden muß der Dichter im Drama, wo er
ja auch gar nicht erscheinen kann; hier könnte ja höchstens
eine auftretende Person von einer kommenden Figur dergleichen
sagen. ─ So ist es an sich auch durchaus erlaubt,
daß der epische Dichter selbst Reflexionen einmischt, und
didaktische Elemente einfügt; das ist eben nichts Anderes, als
wenn die Personen, die er auftreten läßt, didaktische Äußerungen
thun. Auch die subjective Auffassung (s. „Jnnere Form“)
hat dadurch besonders viel Raum, daß eben die Einmischung
der Person des Dichters erlaubt ist; und darauf ruht ganz
Ursprung und Möglichkeit des humoristischen Romans bei
Sterne und Jean Paul.


  Aber gewiß ist dies ein Kennzeichen verschiedenen Stils
und deshalb darauf zu achten, wie weit und in welcher Form
der Dichter sich einmischt, wie stark er sich durch Epitheta,
durch Reflexionen u. s. w. geltend macht. Das ist wohl
wichtig für die Art der Erzählung; aber ein bestimmtes
Gesetz hierüber existirt nicht. Es giebt hier kein Soll, keine
allein seligmachende Form des Epos. ─


  Es müssen noch andere Unterscheidungen erwähnt werden.
Wir scheiden:


Kleine und große,


Poetische und prosaische Erzählungen.


  Zu den kleinen poetischen Erzählungen gehören die
epischen Lieder des 9. und 10., die Volkslieder des 15. und |#f0264 : 248|

16. Jahrhunderts; zu den kleinen prosaischen die prosaischen
Novellen und Schwänke.


  Zu den großen: das große Epos. Aus kleineren
epischen Liedern entwickelt sich fast regelmäßig die volksthümliche
Epopöe; dabei wird wohl immer nur Ein Vortrag
auf einmal recitirt, weil das Publicum nicht den des Ganzen
auf einmal auszudauern vermag. ─ Neben dem volksthümlichen
Epos stehen die Kunstepopöen. ─ Die Epopöe in
Prosa ergiebt den Roman.


  Es kommen zur kleinen Erzählung hinzu: das Märchen,
denn dies ist nichts anderes als Novelle; die Jdylle; die
Allegorie als erzählende Dichtungsart; die Fabel und Parabel
─ beides Erzählungen mit starker Beimischung von Didaktik.
Die Parabel braucht nicht unbedingt episch zu sein; aber sie
ist es in der Regel.


  Zu den kleinen Erzählungen gehören aber auch: Balladen
und Romanzen, was man wohl als episch=lyrisch bezeichnet ─
durchaus nichts anderes als kleine Erzählung, nur sangbar,
in gebundener Rede, oft in Strophen.


  Und nun ist es für diese Dichtungsart ganz gleichgiltig,
ob der Dichter von Andern oder von sich erzählt. Erzählt
er von sich, von einer Begebenheit, die er selbst erlebte, so
ist es ganz gleich, ob von einer Begegnung mit der Geliebten,
Besuch und Abschied, oder sonst einer Liebesepisode,
oder vielleicht von einer Reise: es bleibt immer eine kleine
Erzählung und ist ins epische Fach einzureihen. Nur daß
das Persönliche dabei leicht einen größeren Raum gewinnt,
daß sich eine Reflexion, eine Schilderung des Zustandes aus |#f0265 : 249|

der Gegenwart anschließt, oder daß etwa davon ausgegangen
wird. Das ist aber bei der Epopöe auch möglich, so im
Eingang von Goethes „Ewigem Juden“, der auch höchst persönlich
anfängt. Unzählige Liebeslieder sind demzufolge
nichts Anderes als kleine Erzählungen und durchaus nur so
anzusehen, sind aus der Lyrik in das Epos zu übernehmen.
Es geht also ein großes Stück Lyrik da ab und tritt zur
Epik hinzu. Dies ist eine nothwendige Vorbedingung zur
Erkenntniß der Lyrik. Alles Epische ist auszuscheiden und
wenn sich auch Gegenwärtiges einmischt: das kann auch bei
Erzählung der Fall sein. Das Epische mag allerdings mit
„lyrischen“ Elementen versetzt werden. Denn die ganze
neuere Theorie, wie sie namentlich Spielhagen aufgestellt
hat, bekämpfe ich: daß eben der Epiker ganz verschwinden
müsse hinter seinem Gedicht. Jedes Liebeslied mit Bezug auf
die Vergangenheit ist als Vortrag über Geschehenes episch.


  Jndessen unser Sprachgebrauch ist bei kleinen Erzählungen
in Strophen geneigt, wenn der Dichter von sich redet,
es ein Lied zu nennen, wenn er von Andern redet, eine
Ballade.


  Die Stufen, die Maße der Länge sind dabei recht wesentlich
─ ich meine bei der gesammten epischen Dichtart; schon
der ganze Unterschied zwischen großer und kleiner Erzählung;
Namentlich das Verhältniß von Länge zu Jnhalt, von Länge
des Gedichts zur Länge der Zeit, welche durchlaufen wird
im Gedichte. Ein kurzes Gedicht, das über viele Jahrhunderte
weggeht, wird schon springen müssen. Ein langes,
das an einem Tag beginnt und endigt, kann sich ausbreiten. |#f0266 : 250|

Die starke Ausbreitung im kleinsten Zeitraum, wie in „Hermann
und Dorothea“, erfordert die höchste Kunst. Das sind
die Extreme: dazwischen liegt Vieles.


  Auch in der Erzählung kann natürlich die Form des
Dialogs auftreten; und in der Art, wie die redenden Personen
eingeführt werden, herrscht eine große Verschiedenheit.
Heinrich von Kleist z. B. findet es richtig, bloß indirecte
oder fast bloß indirecte Rede in seine Novellen einfließen zu
lassen. Ferner ist es ein alter Unterschied, ob die Redner
ausdrücklich eingeführt werden, oder ob man sie errathen muß.


  Über die Technik der Erzählung handelt Spielhagen an verschiedenen
Orten; er hat hauptsächlich den Roman im Auge.
Dergleichen ist sehr lehrreich. Ferner Heinzel, Beschreibung der
isländischen Saga (Wiener Sitzungsberichte 97, 107).


  Romane in Briefen sind eine besondere Form für sich
und fallen eigentlich in die Abtheilung der Briefe. ─


  Ebenso bestimmt ist andererseits das Drama charakterisirt.
Der Dichter redet nur in Rollen, und zwar in einzelnen
Personen durch Rollen; er verschwindet vollkommen und
Alles ist immer nachahmende Darstellung des Gegenwärtigen;
auch wenn Vergangenes erzählt wird, ist es als gegenwärtig
dargestellt. Das Drama verwendet alle Formen der
Rede: Monolog, Dialog, Vortrag.


  Daran schließen sich nun aber weiter an als eine halbdramatische
Gattung, sofern der Dichter in Rollen spricht,
eine Rolle durchführt: die Rollenlieder der Lyrik. Ferner die
Dialoge der Lyrik, überhaupt alle Dialoge, höchstens modificirt
dadurch, daß der Autor sich selbst einführt als einen |#f0267 : 251|

der Unterredner, sich selbst ausdrücklich nennt: „ich“, oder
in einer andern Maske auftritt.


  Jm Drama verschwindet der Autor völlig. Selbst
wenn Goethe im Vorspiel zum „Faust“ den Dichter einführt,
so kann nicht bestimmt behauptet werden, daß das er selbst sei,
eher, wenn in der „Zueignung“ wirklich gesprochen wird. ─


  Was bleibt nun von kleinen Gattungen?


  Das Sprichwort ─ entweder zeitlos


oder erzählend: ein einzelner Fall.


So besonders das apologische Sprichwort: „sagte dieser“,
„sagte jener.“ Höfer, Wie das Volk spricht (Stuttgart 1885).


  Die Gnome: ebenfalls zeitlos oder erzählend.


  Das Lehrgedicht: Vortrag.


  Das Räthsel: halb dialogisch, weil es Einen, der es aufgiebt
und Einen, der es löst, voraussetzt.


  Das Epigramm kann die verschiedenartigsten Formen
tragen. Es kann erzählend sein, kann gegenwärtig sein, d. h.
etwas Gegenwärtiges erläutern u. s. w. Über das Epigramm
ist wenig gehandelt. Hier müßte einmal gründliche Durchmusterung
einiger großer Epigrammensammlungen eintreten. Bei
Lessing ist Vieles mit behandelt, was gar nicht Epigramm ist.


  Epigramm als Jnvective ist im 17. Jahrhundert verkürzte
Satire genannt worden. Aber die Jnvective ist älter
als die Satire: uralt ist das Spottlied.


  Das Spottlied kann wieder episch sein, ja wird es meist
sein in der alten Zeit: Erzählung komischer Thatsachen, die
einem Menschen begegnet sind. Später auch präsentisch, gegen
Zustände polemisirend.

|#f0268 : 252|

  Das Loblied kann ebenso entweder historisch oder auch
präsentisch sein.


  Trauerlieder desgleichen; episch.


  Lieder der Aufforderung und des Wunsches: Hymnen,
Gebete; flehende, wünschende Liebeslieder. Ferner Mahnungslieder,
die gleichsam Reden an die Masse sind, predigtartig,
zum Guten, zu Thaten ermunternd, zu Gesinnungen führend,
tröstend, zur Freude auffordernd.


  Zustandslieder: einen gegebenen Zustand abspiegelnd,
sei es eine einzelne Situation, sei es Übersicht des Zustandes,
und dann durch mehrere Situationen hindurchführend.


  Das ist eine specifisch lyrische Sphäre, wo in Monolog
oder Chorlied (oder Cantate) und im eigenen Namen Gegenwärtiges
ausgesagt oder Künftiges gewünscht wird: wenn
bei der Aussage von Gegenwärtigem und bei Wünschen der
von Zukünftigem Redende von sich selbst spricht, von sich und
seinen Zuständen aussagt oder seine Wünsche formulirt.
Dies ist das Hauptgebiet der Lyrik: das Lied in der Welt
der Wünsche, in Gegenwart und Zukunft.


  Wogegen Gebet, Aufforderung etwas Dramatisches,
Dialogisches haben; ebenso der Brief (Epistel, Heroide), der
natürlich in sich sehr episch werden kann.


  Und wogegen eine Prophezeihung etwas Episches hat:
Künftiges, das sich hinter einander vollzieht, wird vorhergesagt;
das ist im Grunde dasselbe, wie wenn von Vergangenem
gesprochen wird.


  So ist streng zu scheiden. Das eigenste Gebiet der
Lyrik ist wesentlich die Abspiegelung eines Zustandes, wie er |#f0269 : 253|

vorliegt, oder wie er mit Wünschen sich für die Zukunft
vorbereitet.


III. Die Composition.

  Es ist schwer, hier allgemeine Grundsätze aufzustellen. Nur
dieser eine Grundsatz steht fest aus dem Princip der Klarheit
und Verständlichkeit, daß nichts gesagt werden darf, wozu
dem Publicum die Voraussetzungen fehlen. Doch auch dies
erleidet Einschränkung: Verschweigen zum Behuf der Spannung
ist erlaubt; eine Einzelheit, an sich verständlich, aber noch
nicht dem Zusammenhang nach, wirkt als spannendes Moment.
Dann darf also eine kleine Weile verschwiegen werden;
aber man muß damit sehr vorsichtig sein und schon ahnen
lassen, wie dies sich abwickelt. Denn die Beziehung eines
jeden Factums zu dem Hauptmotiv ist zu eng, als daß man
darin leichtsinnig vorgehen dürfte.


  Die Frage: wo anzufangen? muß der Dichter nach
Zweckmäßigkeit beantworten. Nicht immer: vom Anfang an.
Sondern sehr oft in der Mitte: dann muß zurückgegriffen
werden. Häufig ist dies ein Mittel um größere Einheit,
z. B. der Zeit, herzustellen. Ja für das Drama ist das
ganz unumgänglich; es sollte schwer werden, den Helden als
Baby dramatisch einzuführen, mit dessen Tod das Stück
schließt. Wiederum ist dies zugleich ein Mittel der Spannung,
in der Mitte anzufangen: indem manches erst nachträglich
aus der Vergangenheit zu Tage kommt, das in seinen Wirkungen
schon zu merken war.

|#f0270 : 254|

  Ein wichtiger Theil der Composition ist die Exposition,
und sie spielt keineswegs bloß für das Drama, sondern fast
in aller Poesie eine Rolle. Es müßte wenigstens besonders
untersucht werden, in welchen Fällen Exposition nicht nöthig.
Jm Gelegenheitsgedicht ist sie überflüssig: diese Gelegenheit
ist jedermann gegenwärtig. Jn vielen Epigrammen kann
die Exposition entbehrt werden, wenn sie wirklich auf dem
Gegenstand stehen, dem sie gelten; aber wenn sie im Buch
erscheinen, muß dies durch Überschrift hinzugefügt werden. Und
so vertreten häufig die Überschriften, zuweilen schon die
Büchertitel die Exposition.


  Eine allgemeine Regel ist, daß Steigerung günstig
wirkt. Diese Empfehlung der Steigerung ergiebt sich aus
der Lehre vom Publicum, speciell von der Aufmerksamkeit.
Das Theaterpublicum ist im Anfang williger Thatsachen
hinzunehmen, gegen Ende hin schwieriger zu fesseln: und
gegen Ende hin herrscht auch mehr Ungeduld, fertig zu
werden; deßhalb muß die Handlung rascher verlaufen.


  Jn der Lyrik ist es ein wesentlicher Unterschied, ob der
Eingang ausgebildet wird, wie im deutschen Volkslied des
14. und 15. Jahrhunderts; oder ob eine Schlußpointe gesucht
wird, wie in der galanten Lyrik des 17. Jahrhunderts.
Dort ist die Meinung: vor allem gewinnen! hier ist Steigerung
erwünscht, Spannung auf den Schluß; dort auf Melodie
gerechnet, hier im allgemeinen eine Lesepoesie gemeint.


  Hier schlägt die Betrachtung von Goethe zur Lehre von
der Composition im Aufsatz über epische und dramatische
Dichtung (Hempel 29, 224) ein:

|#f0271 : 255|

  „Der Motive kenne ich fünferlei Arten:


  1) Vorwärtsschreitende, welche die Handlung fördern;
deren bedient sich vorzüglich das Drama.


  2) Rückwärtsschreitende, welche die Handlung von ihrem
Ziel entfernen; deren bedient sich das epische Gedicht fast
ausschließlich.


  3) Retardirende, welche den Gang aufhalten oder den
Weg verlängern; dieser bedienen sich beide Dichtarten mit
dem größten Vortheile.


  4) Zurückgreifende, durch die dasjenige, was vor der
Epoche des Gedichts geschehen ist, herausgehoben wird.


  5) Vorgreifende, die dasjenige, was nach der Epoche
des Gedichtes geschehen wird, anticipiren; beide Arten braucht
der epische, sowie der dramatische Dichter, um sein Gedicht
vollständig zu machen.“


  Als selbstverständlich ist dabei übergangen: der Unterschied
zwischen Hauptmotiven und Nebenmotiven, was aber
doch gerade sehr wichtig. ─


  Zur Lehre von der Composition gehört auch die Frage:
durch welche Mittel wird die nöthige Abwechselung erzielt?


  Am schwierigsten ist hierin das Drama, weil hier die
Forderung am gebieterischsten, weil hier die selbstthätige
Arbeit der Phantasie am wenigsten angeregt wird. Zum
Theil hängt das wieder vom Schauspieler ab: sie sollen nicht
zu viel unbeweglich dastehen, und sie müssen sich deshalb die
Methode der Abwechselung oft allein ausdenken oder der Regisseur
giebt sie an: Wechsel des Standortes, Wechsel zwischen
Stehen, Sitzen, Gehen. Zum Theil ordnet auch schon der |#f0272 : 256|

Dichter dergleichen an, indem er sie immer beschäftigt zeigt.
Der Dichter schreibt z. B. Essen vor: für das Lustspiel
außerordentlich dankbar. Oder was mit den Händen geschieht:
da kann man auf dem Théâtre français die wunderbarsten
Sachen sehen. Der Eine ist mit dem Spazierstock
gekommen, und dieser Spazierstock wandert mechanisch hin und
her zwischen Beiden. ...


  Doch von der Darstellung abgesehen! Jm Drama selbst
haben wir:


  1) Abwechselung im Stoff, die keiner weiteren Erläuterung
bedarf. Bei der ersten Ausbildung des Stoffs muß
auf Motive gedacht werden, die Abwechselung hineinbringen.


  2) Abwechselung in der Form, d. h. zunächst in den
Personen und ihrem Auftreten, in der Art der Rede: schicklicher
Wechsel zwischen Monolog und Dialog; keine Häufung
von Monologen. Jn der Oper wird das besonders deutlich:
Wechsel zwischen Ensembles, Duetten, Terzetten, Quartetten,
Solostücken. ─ Dagegen wird im Drama die äußere Form
weniger gewechselt; Wechsel z. B. im Metrum wirkt nicht
günstig. Doch ist das oft versucht worden: Wechsel zwischen
Prosa und fünffüßigen Jamben; vielfältig andere Metra. Bei
Schiller noch selten: in der „Jungfrau“ Trimeter; „Braut von
Messina“; auch bei Goethe in der „Jphigenie“ an Stellen
lyrischer Stimmung. Bei den Romantikern stark, besonders
bei Zacharias Werner. Es scheint, als ob das mehr eintönige
Gewand der fünffüßigen Jamben festzuhalten sich empfehle.


  Ebenso ist nun aber die Abwechselung auch im Roman
günstig. Nicht zu viel Situationen, wo der Held allein sein |#f0273 : 257|

Schicksal überschlägt; eine schickliche Abwechselung zwischen Handlung
und Reden; nicht zu viel von Einer Art; und namentlich
nicht zu viel Reden. Der Handlung kann fast nicht zu viel
werden; es müßte denn ein Übermaß von Buntheit eintreten
und das Aufregende gar zu sehr gehäuft sein, zu viel athemloses
Fortstürmen ohne Momente des Ausruhens, so daß man ermüdet
und die Effecte sich gegenseitig todtschlagen.


  So viel über die Frage der Abwechselung. Ferner muß
die Frage der Einheit und Folge hier wieder behandelt
werden, weil es sich jetzt um die Mittel handelt, dieselbe herzustellen.
Hauptsächlich wichtig ist ein schickliches Verhältniß
zwischen Haupt- und Nebenmotiven. Aber wie immer giebt
es auch hier keine allein seligmachende Form. Auch hier
verschiedene Möglichkeiten: straffere Einheit, losere Einheit.
Jene in Tragödien von französischem Bau, diese bei Shakespeare:
Doppelhandlung wie im „König Lear.“


  Losere Einheit also z. B., wo Episoden sich verhältnißmäßig
stark ausbreiten, wo Nebenfiguren große Bedeutung
gewinnen; so Gawan in Wolframs „Parzival“ absichtlich, dagegen
Rudolf in Grillparzers „Ottokar“ vielleicht nicht absichtlich:
verfehlt, daß der Gegenspieler eine gute Sache zu
vertreten scheint. Die Schwierigkeit der Einheit ist eben
dann recht groß, wenn die Hauptfigur einen bedeutenden
Gegenspieler hat, wie in „Maria Stuart“: Schiller mußte
Elisabeth so drücken, daß sie Nebenperson bleibt.


  Losere Einheit ist auch dann vorhanden, wenn mehrere
Handlungen, die nach einander folgen, nur durch die Einheit
des Trägers zusammengehalten werden: eine Art biographischer |#f0274 : 258|

Composition. Auch im Roman vertreten solche Compositionen
eine lockere Einheit. ─


IV. Sprache.

  Wir haben von der Sprache schon gehandelt in der
Lehre vom Publicum: unter 4) „Aufmerksamkeit und Spannung“
und besonders d) „Leichtigkeit der Auffassung“; ferner
Kap. 5, I. c) „Aus der Lehre von den Zeichen.“


  Verhältnißmäßig geringere Wichtigkeit hat die Sprache
im Drama, der Handlung gegenüber; so ist z. B. Grillparzer
ein sehr guter Dramatiker trotz seiner Schwäche in der Sprache.
Aber die Sprache gehört immer zu den ästhetischen Hilfen.


  Vgl. Lessing im „Laokoon“ Abschnitt 16 und 17 (Hempel
6, 38 f.) und die Entwürfe (S. 307 f.); dazu Marty,
Die Frage nach der geschichtlichen Entwicklung des Farbensinns
(Wien 1879) S. 130 f.


  Lessing hat auch die beschreibende Poesie bekämpft. Es
wurde schon oben bemerkt, daß beschreibende Poesie allerdings
möglich sei, d. h. man kann die im Raum coexistirenden
Züge nacheinander anführen, wie das Auge allmälig darüber
schweift ─ aber wenn das Gesammtbild entstehen soll, so
setzt dies voraus, daß ich als Publicum gleichsam innerlich
male, die Züge auf eine Fläche eintrage ─ was ein starkes
und dafür geschultes Gedächtniß erfordert und eine geordnete,
darauf gerichtete Thätigkeit, kurz Anstrengung des
Lesers, nicht Genuß. Diese Arbeit leisten wir ungern. Wie
ungern lesen wir die langsamen, gründlichen Eingänge und
Personalbeschreibungen des Walter Scott! Jch selbst bin |#f0275 : 259|

immer ungeduldig, wenn ich Dramen lese und erst eine Beschreibung
des Schauplatzes studiren soll ─ ich denke wohl
auch ohne das folgen zu können.


  Der Dichter wetteifert in solchen Beschreibungen mit
dem Maler und kann ihn nicht erreichen, während er, wenn
er nicht Körperliches, sondern Seelisches ausdrückt, ein eigenstes
Gebiet hat, wo er dem Maler weit voraus ist. Und nicht
bloß das Seelische, sondern ebenso die Bewegung, und beides oft
verbunden: eine körperliche Bewegung und ihr seelisches Motiv.


  Lessing hat nur Ein malerisches Beiwort zulassen wollen
und sich auf Homers Praxis berufen. Nicht ganz mit
Recht (vgl. Marty S. 145); z. B. Jlias 12, 294 f.: „den Schild
von gerundeter Wölbung, schön gehämmert aus Erz, den
prangenden, welchen der Wehrschmied hämmerte, wohl inwendig
gefügt aus häufiger Stierhaut, Stäbe von lauterem
Gold, langreichende, rings um den Rand hin.“ .. Aber
man muß das Einzelne erwägen: die Form des Schildes ist
dem Publicum bekannt, also durchs Wort eine körperliche
Vorstellung sofort gegeben; ungefähr auch die Zusammensetzung
der Arbeit aus Erz, Stierhaut und Goldstäben ─ der
Dichter explicirt nur eine bekannte Vorstellung, indem er Züge
wie „schön prangend“, „häufig“, „langreichend“ beibringt,
nicht ohne Vorstellungen der Thätigkeit („hämmern“, „fügen“).
Hier ist die Mühe des Eintragens auf eine Fläche die
denkbar geringste. Unserem Gedächtniß wird nichts zugemuthet.


  So auch bei Beschreibung eines Gesichts; die allgemeine
Configuration ist bekannt: große Nase, großer Mund, buschige
Augenbrauen. Auffallende Eigenschaften stellen wir uns |#f0276 : 260|

ohne Mühe vor, z. B. eine hohe oder auffallend niedrige Stirn
─ es muß nur nicht zu viel werden. Jedoch wenn man sich
an die Haupttheile hält, so ist das nicht schwer aufzufassen.


  Aber es kommt hinzu: einen großen Mund vorzustellen
macht mir keine Mühe; welcher Unterschied aber, wenn es
heißt: „er verzog seinen großen Mund zu einem unschönen
Lachen“ ─ durch diese Verbindung mit der Handlung prägt
es sich ganz anders ein!


  Oder: „rother Mund“ ─ das ist ohne Schwierigkeit vorzustellen.
Aber „ihr rother Mund, der so minniglich lachet“
bei Walther von der Vogelweide ─ um wie viel lebhafter
wirkt dies! Hier schwebt jedem gleich der Kuß vor. Bewegung
ist Zeichen des Lebens; hinter dem, was sich bewegt,
setzt man Seele voraus. Was sich bewegt, erweckt etwa eine
Art Sympathie. Es ist eine Erfahrung, daß in einem Landschaftsbild
am meisten ein Vogel, der fliegt, ein Reiter, der
reitet, auffällt. Der rothe Mund lächelnd, als Ausdruck der
Liebenswürdigkeit, ist eine reichere Vorstellung, als der bloße
rothe Mund: hier wirkt das Princip der ästhetischen Hilfen.
Die bloße Versicherung der Liebenswürdigkeit würde eben
auch nicht stark wirken ohne das sinnliche Bild. Beides zusammen
unterstützt sich, das Körperliche und Psychologische,
beide zusammen wirken mehr, als jedes für sich. Auf das
erstere, Unterstützung des Körperlichen durchs Ethische, reducirt
sich Martys Satz (S. 148): die Vorstellung vom Psychischen
habe unter sonst gleichen Umständen mehr Werth, als die
vom Physischen. Mit Psychischem ist eben immer stärkere
Sympathie, reichere Anregung der Phantasie verbunden.

|#f0277 : 261|

  Halten wir fest: Lebhaftigkeit ist das Günstigste, und
Handlung ist immer lebhafter, als ruhende Eigenschaft.


  Verweilen wir noch einen Augenblick: so wie es möglich
ist, leichtfaßliche körperliche Eigenschaften an einander zu
reihen, so lassen sich auch Landschaftsbilder entwerfen; namentlich
von einer Person der Erzählung aus, mit deren Augen wir
gleichsam schauen, mit der wir uns orientiren, so daß uns
nach und nach das Bild klar wird; wieder aber darf es nicht
überladen sein.


  Das Nacheinander ist das Orientirende! Hierin steckt
schon ein natürliches Zeichen! Directe Nachahmung des
wandernden, nach und nach um sich greifenden Blicks; ihm
folgt die Schilderung. Das Nacheinander der Sprache ist
eine directe Nachahmung des Nacheinanders der Handlung;
eine Nachahmung der Wirklichkeit: wie man sich orientirt.


  Es kommt noch hinzu: wenn wir in einem Busch ein
nacktes schlafendes Weib entdecken, so können wir eher eine
Beschreibung ihrer Reize ertragen, als wenn uns zugemuthet
wird, im Augenblick, wo zwei Menschen sich erblicken und
auf einander losstürzen, wo nun nothwendig etwas geschehen
muß, uns noch für ihre Kleider und ihre Physiognomien zu
interessiren. Nur wenn man nun fragte: was läßt sich aus
ihren Zügen schließen ─ das würden wir mitmachen.


  Wo im epischen Verlauf Betrachtung eintritt, da machen
wir sie ebenfalls mit. So z. B. Verbindung von Körperlichem
und Ethischem durch Physiognomik. Wieder ein Schlafender!
oder Einem wird ein Frauenbild in die Hand gegeben: er
ist gerührt, betrachtet es, sieht das Einzelne und sucht es physiognomisch |#f0278 : 262|

zu deuten ─ das kann eine gute Einleitung,
Exposition, Vorbereitung für diese Frau sein, ehe sie auftritt.


  Hiernach sind wir wieder auf dem Gebiet der natürlichen
und willkürlichen Zeichen.


  Es wurde schon constatirt: das Nacheinander ist directe
Nachbildung, natürliches Zeichen.


  Auch der Rhythmus kann natürlich bezeichnende Kraft
haben: galoppirender Rhythmus für Galopp, rasche Tempi
der Betrachtung u. s. w. Vollends lebendige vorgetragene
Poesie kann dazu dienen.


  Auch die Declamation: Betonung. Lautes laut, Leises
leise. Tempo...


  Außerdem rechnet Lessing noch dazu Onomatopoiie und
Jnterjectionen.


  Lessing fügt aber gleich etwas ganz Anderes hinzu
(Hempel 6, 308, ausgeführt von Marty S. 140 f.): „Die
Poesie hat ein Mittel, ihre willkürlichen Zeichen zu dem
Werthe der natürlichen zu erheben, nämlich die Metapher.
Da die Kraft der natürlichen Zeichen in ihrer Ähnlichkeit
mit den Dingen besteht, so führet sie statt dieser Ähnlichkeit,
welche sie nicht hat, eine andere Ähnlichkeit ein, welche
das bezeichnete Ding mit einem andern hat, dessen Begriff
leichter und lebhafter erneuert werden kann.“

[Annotation] Textebene Sekundärliteratur, keine Bewertung. Zitat dritter Ordnung. Quellenangabe Person nn. Explikation Metapher als Übertragung.Lessing, Hempel 6, 308, ausgeführt von Marty S. 140 f.

  Dazu gehören auch die Gleichnisse. Denn das Gleichniß
ist im Grunde genommen nichts als eine ausgemalte Metapher,
oder die Metapher nichts als ein zusammengezogenes Gleichniß.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Explikation Metapher als verkürzte Vergleichung.

  Marty nimmt auch noch die metonymischen Beziehungen
hinzu, motivirt aber etwas anders als Lessing. ─

|#f0279 : 263|

  Wir lassen den Faden hier fallen, der sich an Lessings
Erörterungen im „Laokoon“ anknüpft, halten nur fest, was wir
über Lebhaftigkeit u. s. w. gelernt haben, und betreten nun
unsern eigenen Weg.


  Wir durchmustern die Sprache nach ihren Bestandtheilen
und untersuchen diese Bestandtheile nach ihrem Werth
für die Poesie. Vgl. Herder, Über den Ursprung der Sprache;
Geist der ebräischen Poesie.


  Die poetischsten Redetheile sind die Verba: mit ihnen
ist immer die Vorstellung eines Trägers verbunden, eines
Subjects, an welchem sich Handlung oder Zustand vollzieht,
an welchem diese haften. Selbst bei Verbis der Gemüthsbewegung
oder solchen, welche Beharren ausdrücken, haben
wir den Eindruck der Thätigkeit, der Handlung.


  Am wirksamsten nach dem Obigen sind Verba, welche
eine sinnliche Bewegung ausdrücken, an der eine psychische
Vorstellung haftet: zittern, beben, „es schlägt mein Herz“.


  Es kommt hier der Reiz der indirecten Darstellung
hinzu, welche nur die Wirkung direct ausdrückt, die Ursache
errathen läßt. Ferner ist die sinnliche Vorstellung lebhafter,
als die bloß psychische; es wird dadurch die Phantasie stärker
angeregt, das innere Schauen, Hören. Die bloß psychologische
Kategorie hat etwas Prosaisches.


  Wenn die Poesie das Sinnliche bevorzugt, so steht sie
mehr im Einklang mit der ursprünglichen Beschaffenheit der
Sprache, in welcher Geistiges durch Sinnliches ausgedrückt,
Geistiges überhaupt nur gewonnen wird durch Übertragung |#f0280 : 264|

vom Sinnlichen: „sich schämen“ heißt sich bedecken ─ die sinnliche
Gebärde steht für den psychischen Zustand.


  Die Person, von der eine sinnliche Wirkung ausgeht ─
das ist der Mittelpunct der Poesie. Von da aus bestimmt
sich das Übrige in der Sprache.


  Das Verbum activum ist poetischer als das passivum,
das reflexivum ebenso.


  Jnnerhalb der Nominalbildungen des Verbums sind Participia
activi
bei weitem am poetischsten, Participia passivi
haben etwas Todtes. Jnfinitive haben etwas Abstract=unbestimmtes
wie die Impersonalia, wobei die Person wegfällt;
aber da die Wirkung fortbesteht, bleibt oft gerade etwas
geheimnißvoll Unauflösliches, das der Poesie sehr gemäß ist.
Jm ganzen aber ist poetischer: „Zeus regnet“, als „es regnet“.


  Jndividualisirung des Jnfinitivs: „ein Weben“, „ein
Wehen“, „ein Brausen“ ─ darin liegt eine Annäherung an
Personification; wovon sogleich mehr.


  Gehen wir den Participien nach, so führen sie ins Gebiet
der Adjectiva. Wo diese nicht mehr participielle Verbalkraft
aufweisen, da besitzen sie doch vielfach sinnliche Kraft, geben
Farbenbezeichnungen, Schallbezeichnungen u. s. w. durch alle
Sinne durch und immer einzelne Eigenschaften der Dinge.


  Auf Adjectiven beruhen weitaus die meisten Substantiva;
aber Nomina agentis entsprechen den Participiis præsentis:
es sind die poetischsten Substantiva. ─ Sonst haben wir
Benennung des Dinges durch Hervorhebung einer Eigenschaft;
aber das Adjectiv geht vielleicht verloren, das Substantiv
bleibt ─ es war anfangs nur sinnlich, später wird |#f0281 : 265|

es abstract. ─ Wort und Gegenstand decken sich unbedingt; das
Wort ist ein „willkürliches Zeichen“ des Gegenstandes: das
Wort hat daher so viel poetische Kraft als der dadurch bezeichnete
Gegenstand. Wie viel aber dieser hat, das müßte
in dem Kapitel „Stoffe“ auseinandergesetzt werden in einer
Scala der poetischen Gegenstände. Wir wissen schon: die
wirkende Person, die äußere und innere Welt vereinigt, ist
der Mittelpunct der Poesie.


  Nun aber stehen der Sprache manche Mittel zu Gebote,
um dem prosaisch gewordenen Substantiv neue Lebenskraft
einzuhauchen, die Vorstellung lebendiger zu machen und sie
der Vorstellung der wirkenden Person anzunähern, sie mit
sinnlichen Elementen zu verknüpfen, ihr neue Frische zu geben
und sie zu der ursprünglichen Sprachkraft zurückzuführen.


  1) Personification, wovon als einem Hauptmittel ursprünglichster,
dichterischer Anschauung schon die Rede war.
Eine Annäherung an Personification liegt schon in jeder
Verbindung mit dem Verbum, wodurch das Ding als Person,
persönlicher Träger der Handlung gedacht wird ─ aber
desto mehr, je mehr die Handlung wirkt. Beseelte Personification
setzt etwas Menschenähnliches voraus. So hat
Hebel nach Goethes Ausdruck die Natur „verbauert“, Wolfram
von Eschenbach „verrittert“ sie (s. Bock, Wolframs Bilder und
Wörter für Freude und Leid, 1879, Quellen und Forschungen
33, 8).


  Abstracta als Personen gedacht ergiebt allegorische
Figuren; vgl. 4) über Periphrasis.


  2) Die einzelne sinnliche Anschauung ist poetischer als |#f0282 : 266|

das sachbezeichnende Substantiv. Dies kann aber aufgefrischt
werden durch ein Epitheton ornans, welches eine Eigenschaft
hervorhebt und dadurch analytisch oder synthetisch individualisirt.
Ebenso wirkt die Apposition. Ähnliches bieten Composita,
besonders wenn sie neu sind; die altgermanische Poefie
hat vielfach solche Composita, welche ganz wie Epitheta
ornantia
wirken. Ähnlichen Eindruck machen auch Relativsätze,
aber sie sind verhältnißmäßig weniger poetisch, schon
wegen des Relativums.


  3) Jn 2) bleibt das Substantiv; es kann aber ersetzt
werden durch ein synonymes umschreibendes Compositum oder
durch einen umschreibenden Relativsatz mit Substantiv.


  4) Wie in 2) eine Einzelheit hervorgehoben wird, so
kann auch Folgendes geschehen: eine Eigenschaft kann als
Substantiv (Abstractum) hingestellt und personificirt werden,
der Träger dieser Eigenschaft im Genitiv dabei: „des Alkinoos
heilige Kraft“, „Ew. Majestät“ u. s. w. ─ Periphrasis.


  5) Dasselbe istes, wenn auf das Substantiv zurückgegriffen
wird in folgendem Satz: „ihre Tugend ließ einen solchen
Schritt nicht zu“. Die Eigenschaft ist wie ein selbständiges
Wesen behandelt. So oft in mittelhochdeutscher Poesie; freilich
zum Theil so gewöhnlich und dadurch abgeschwächt, daß nur noch
geringe poetische Wirkung damit verbunden ist. Jmmerhin wird
dadurch ein starker Verbrauch von Abstractis veranlaßt, der
nicht wünschenswerth ist.


  6) Hierher gehören alle Erscheinungen der Metonymie
und Synekdoche, so weit sie poetisch wirken; denn unsere landläufigen
Lehren, Brosamen vom Tische der Alten, sind darin |#f0283 : 267|

oft wunderlich, und für die Poetik mindestens nicht zu gebrauchen.
Eine eingehende Kritik der verbreiteten Lehren
würde mich aber hier viel zu weit führen.


  7) Ferner gehören hierher auch die Metaphern, die entweder
Abstractes sinnlich machen oder eine einzelne Eigenschaft hervorheben,
oder wieder auf Personification beruhen und in der Regel
eben dadurch entstehn, nicht durch einen Umweg über das Bild.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Explikation Metapher als NN. Explikation Metapher Personifikation als Unterkategorie. Anmerkung: Abstraktes sinnlich machen, einzelne Eigenschaft hervorheben - kann Katachrese oder Metonymie sein?

  Achill heißt ἕρκος Ἀχαιῶν „Umzäunung, Schutz, Vormauer
der Achäer“ ─ allerdings liegt darin ein Vergleich, aber es
ist eben nur eine Eigenschaft hervorgehoben mit Personification
wie unter 4) und 5).


  „Der Donner grollt in der Ferne“ ─ Personification.


  „Die Flügel des Gedankens“ ─ der Gedanke ist als
Vogel gedacht, personificirt.


  Vielfältigen Stoff bietet und wäre daher von unseren
Gesichtspuncten aus näher zu analysiren: Fr. Brinkmann,
Die Metaphern (Bd. I. Die Thierbilder der Sprache,
Bonn 1878). ─ Die altnordischen Kenningar u. dgl. Vgl.
Goethes Abhandlung zum Westöstlichen Divan.


  8) Bilder und Vergleiche ─ das tertium comparationis
ist es, was dadurch lebhafter hervorgehoben wird. Oft
bietet sich ein Bild leichter als eine directe Bezeichnung. Die
charakteristische Erinnerung stellt sich früher ein, ehe man
sich klar macht, was geschieht. Also eine Art der Reproduction:
beobachtete Züge wirken auf die im Geist aufgehobenen
ähnlichen, und es werden dadurch die mit diesen
zusammenhängenden Vorstellungsreihen reproducirt.


  Allegorie: fortgeführter Vergleich.

|#f0284 : 268|

  Jn unserer Durchmusterung der Redetheile sind wir bis
zu Substantiven gelangt.


  Adverbia verhalten sich zu Verben (und Adjectiven) wie
Adjectiva zu Substantiven; sie können also ebenso zur Auffrischung
benutzt werden. Aber wenn sie schon sehr abgeschwächt
sind, natürlich nicht.


  Solche abgeschwächte Adverbia sind schon die maßangebenden,
steigernden; z. B. ist „sehr“ keineswegs „sehr“ poetisch.


  Vollends aber die Partikeln. Die Präpositionen sind
äußerst unpoetisch. Ein „be“, wie z. B. in „beeinflussen“,
ist das Prosaischste, was es nur geben kann. So weit Präpositionen
sinnlich ein äußeres Verhältniß angeben, sind sie
nicht zu entbehren und nicht unpoetisch, obgleich zuweilen
ein stärkerer, mehr sinnlicher Ausdruck möglich und oft vorzuziehen
ist. „Angesichts eines Dinges“ ist poetischer als
„vor einem Ding“.


  Die Conjunctionen sind größtentheils recht unpoetisch,
die Folgerungen, die Begründungen müssen in Poesie gefühlt
werden, nicht ausgedrückt. Aber Verbindung und Entgegensetzung
sind kaum zu entbehren.


  Der Artikel ist nicht sehr poetisch: Substantiv ohne
Artikel poetischer als mit Artikel.


  Auch das ganze Gebiet der Pronomina ist verhältnißmäßig
unpoetisch: daher schon (s. o.) ein Reflexivum weniger poetisch als
ein Activum, weil es sich eines Pronomens bedienen muß.


  Ebenso unpoetisch wie die Pronomina sind die Hilfsverba:
sprachliche Nothbrücken, für die Maschine gleichsam als
Räder eintretend.

|#f0285 : 269|

  Auffrischung der Pronomina ist ungefähr das, was die
antike Rhetorik Antonomasie nennt: statt des Pronomens
oder Eigennamens wird gesetzt ein substantivisches Adjectivum,
welches Epitheton ornans sein könnte (sin kunde in niht
bescheiden baz der guoten
Nib. Noth 14, 2), oder
Apposition und Umschreibung; z. B. das mittelhochdeutsche
Volksepos, auch Wolfram gebrauchen der helt, der degen
u. dgl. statt des Pronomens. ─


  Anwendung aller der Mittel, welche die Rede lebhaft
machen können, ergiebt eine sehr gehobene Sprache, welche
dann wohl noch mehr gesteigert werden kann durch Anwendung
der Übertreibung (Hyperbel), d. h. einer Übertreibung, von
welcher vorausgesetzt wird, daß sie der Hörer sich gefallen
läßt, daß er sie so zu sagen mitmacht. Eine andere
Übertreibung ist so unpoetisch, daß sie nur in der Komödie
angewandt wird und Lachen erregen soll.


  Der gehobenen Sprache kann zu viel werden, der Schmuck
allzu sehr gehäuft, die Umschreibungen zu künstlich, bis zum
Dunklen und Unverständlichen: Schwulst.


  Durch Überladung des Einzelnen kann das Wesentliche leiden,
das Vorwärtsgehen, die Darstellung der Handlung. Nackte
Handlung ist besser als mit Schmuck überladener Stillstand.


  Nach Zeiten des Schwulstes kommt in der Regel eine
Zeit der natürlichen und ganz einfachen Sprache. Die höfische
Dichtung des 12. und 13. Jahrhunderts, die Poesie des 17. und
18. Jahrhunderts in Frankreich thun vielen Schmuck ab, um
eine rasche Bewegung zu erzielen, und setzen wohl auch Beweglichkeit |#f0286 : 270|

des Verstandes an die Stelle eines phantasieerregenden
Ausdrucks. So bricht die höfische Epik mit der Antonomasie
des volksthümlichen Epos; sie bricht mit manchen drastischen
Bildern und Ausdrücken, welche seine Kraft vermehrten; sie
bricht mit eindrucksvollen Hyperbeln, um vielmehr Emphasis,
Litotes, Jronie anzuwenden: er was ein lützel sanfte
gemuot
─ bescheidener Ausdruck (λιτότης == Schlichtheit),
oder Antiphasis, das verneinte Gegentheil.


  Das giebt ein absichtlich gedämpftes Licht, den Eindruck
bescheidener Stille und Zierlichkeit, wie discrete Conversation.
Es sind das stilistische Eigenschaften, aber nicht eigentlich
poetische, wenn man Poesie im Gegensatz zur Prosa meint:
es sind viel eher Eigenschaften einer zierlichen Prosa. Auch
dies gilt für die französische Poesie des 17. und 18. Jahrhunderts.



  Die Prosa ist das nur Angemessene, dem Bedürfniß
Genügende, ohne Spiel, ohne Schmuck.


  Die Prosa ist das Gewöhnliche, Alltägliche; die Poesie
ist das Neue, Überraschende.


  Metaphern, die alltäglich werden, wirken nicht mehr als
solche. Das Metaphorische in der Poesie muß immer erneuert
werden, da es ins tägliche Brot der Sprache übergeht.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Qualitative Unterscheidung prosaischer und poetischer Metaphern.

  Poesie ist gleichsam Sonntagsstaat gegenüber der Alltagskleidung.



  Das Neue, Überraschende, sagten wir, kennzeichnet die
Poesie; dazu liefert der sprachliche Ausdruck noch mancherlei Stoff:


Die von der prosaischen abweichende Wortstellung;


Antithesis, Wortspiel, Paradoxon, Oxymoron.

|#f0287 : 271|

  Wir sind hiermit auf das Gebiet der sogenannten
Figuren gekommen.


  Manche derselben können unter dem Gesichtspunct der
natürlichen Zeichen angesehen werden und das ist auch offenbar
ihre Entstehung.


  Asyndeton: unverbundene Thatsachen, die sich rasch hinter
einander abspielen; man spart gleichsam die Verbindung, um
damit nicht Zeit zu verlieren. Übrigens erst in späteren
Zeiten charakteristisch und in älterer deutscher Poesie noch
vielfach als geläufige syntaktische Wendung.


  Polysyndeton malt harmonisch=enge Verbindung: das
Allmälige gegenüber dem Plötzlichen.


  Aposiopesis: der vom Zorn Überwältigte stammelt nur;
zu drohender Gebärde braucht man wenig Worte. Oder
im Übermaß des Gefühls will man etwas sagen ─ ein
gegentheiliges Gefühl regt sich, man läßt den begonnenen Satz
fallen und motivirt etwa: „allein ich will so schmerzliche Vorstellungen
hier nicht wachrufen“...


  Ausruf.


  Zweifel.


  Apostrophe: „Drauf antwortetest du, ehrwürdiger Pfarrer
von Grünau.“ Stärkere phantasievolle Erregung, die einen
Abwesenden anwesend denkt.


  Selbstberichtigung: auch zuerst natürliche Form; dem
Leidenschaftlichen begegnet es zu viel zu sagen, sich hinreißen
zu lassen ─ er fühlt das, wenn es geschehen ist, er nimmt
zurück. Später mag es eine mit Bewußtsein angewandte Figur
der Rede sein.

|#f0288 : 272|

  An die natürlichen Zeichen schließt sich, ähnlich wie
die Betonung, die Wiederholung eines Worts mit der Absicht
der Hervorhebung an. Sofortige Wiederholung oder Wiederaufnahme,
sei es im Anfang des Satzes, in der Mitte oder
am Ende: Anaphora, Epanalepsis, Epiphora.


  Jst das am Anfang des Satzes Wiederholte aber z. B.
ein Pronomen, wodurch nur etwa das Subject wieder aufgenommen
wird, so macht das für ein unbefangenes Gefühl
gar nicht den Eindruck besonderer Accentuation, sondern es
erscheint nur als ein bequemes Festhalten des Subjectes,
welches Gedankensubject ist, auch als Satzsubject.


  Ebenso kommt es vor, daß Sätze analog gebaut sind
und zum Theil gleiche Worte haben, wobei der Accent nicht
auf dem Gleichen, sondern auf dem Abweichenden ruht, so
daß dieses dadurch ins Licht gesetzt wird.


  Auch für die Sprache gilt das Princip der Abwechselung.


  Schon in der Wortwahl. Landläufige Regel ist
es, daß man nicht zu oft dasselbe Wort gebrauchen soll.
Zu den ersten Requisiten einer gewandten Herrschaft über
die Sprache gehört, daß man die sämmtlichen Synonyma
kenne und dieselbe mit einander wechseln lasse. Wären es
auch nur zwei, die in regelmäßigem Wechsel aufeinander
folgen, so ist das angenehmer, als wenn immer dasselbe wiederkehrt.
Es giebt aber Fälle, wo die Wiederholung nicht zu
vermeiden ist: wo es kein genaues Synonym giebt, oder wo
die Schärfe des Gedankens leiden würde. Diese geht immer
vor. Dann empfiehlt es sich, das wiederholte Wort an dieselbe |#f0289 : 273|

Satzstelle zu bringen, wo dann vielleicht Pronomina
eintreten können. Manchmal auch fordert der Gedanke, daß
man resolut dasselbe Wort gebraucht, und da soll man sich
nicht allzu viel zieren.


  Abwechselung ist aber auch im Satzbau nöthig. Jmmer
dieselbe Form wird leicht eintönig. Und andererseits ist
doch wieder zu beachten: Reihen von Sätzen mit demselben
Subject erleichtern die Übersicht, verbinden sich zu compacten
Massen. ─


  Dies alles aber gilt mehr für künstlerisch durchgefeilte
Prosa, als für Poesie.


  Auch Antithesen können dazu beitragen, analog geordnete
Prosamassen herzustellen. ─


  Abwechselung aber endlich auch im bloßen Sprachklang,
in der Verwendung der Laute. Das Klangvollere ist das
Wünschenswerthere. Vocale klingen schöner als Consonanten.
Consonanten werden durch zwischengeschobene Vocale getrennt;
zusammenstoßende Vocale durch Elision verschmolzen. Und
man verwende nicht zu oft hinter einander dieselben Vocalklänge
oder dieselben Consonantenlaute, wenn diese nicht ein
Bindemittel des Verses sein sollen.


  Vgl. C. Marthe, La précision dans l'art. Revue
des deux mondes 1884, 62, 388; ibid
. 935.


V. Metrik.

  Metrik d. h. wesentlich Rhythmik, denn auf den Tact
kommt es an; weniger auf die Regeln, nach denen der Tact |#f0290 : 274|

sich richtet, auf den Gesichtspunct, nach dem sich die Hebungen
und Senkungen vertheilen.


  Auf Hebungen und Senkungen, guten und schlechten
Tacttheilen beruht der Rhythmus.


  Der Rhythmus ist entsprungen aus dem Tanz. Das
Wohlgefallen am Rhythmus beruht auf der Erinnerung an
das Vergnügen des Tanzes; durch Vererbung wird diese Erinnerung,
dies Wohlgefallen so gesteigert, daß es späteren
Generationen vielleicht geradezu angeboren ist. Aber es
wird auch wohl bei allen Menschen durch den Tanz selbst
oder durchs Gehen erneuert. Wirkung des Rhythmus ist es,
daß wir den Tact mit dem Fuß treten. ─ Das arische Urverhältniß
ist dies: die lange Silbe ist die betonte, folglich
fallen Wortbetonung und Versbetonung zusammen bei quantitirender
Metrik; aber nachher gehen sie auseinander. Silbenzählung
ist vielleicht durchweg Entartung, wenn reine Zählung;
sonst bedeutet es das allmälige Festwerden des Rhythmus
durch die Reihe des Verses hin.


  Die allgemeinen Grundsätze der Poetik finden auch hier
Anwendung. Die metrische Reihe darf nicht zu lang sein,
und nicht zu kurz. Abwechselung des Rhythmus ist erwünscht,
aber nicht zu viel, weil sonst das Analoge sich nicht einprägt.
Bei oftmaliger Wiederholung derselben rhythmischen
Folge, wie beim Hexameter, sind die Möglichkeiten der Variation
günstig. Eine sehr glückliche Abwechselung gewähren
auch Distichen.


  Eine auf anderen Principien beruhende, aber im Grunde
analoge Abwechselung gewährt der ursprüngliche deutsche |#f0291 : 275|

Vers in der wechselnden Zahl der Silben. Eigentlich ist es
dasselbe. Denken wir uns die Schemata. Die Regel des
Hexameters ist so:


─́⏑⏑ ─́⏑⏑ ─́⏑⏑ ─́⏑⏑ ─́⏑⏑ ─́⏑ (oder gar ─́⏑⏑)


  Tritt nun hiefür ein:


─́ ─ ─́ ─ ─́ ─ ─́ ─ ─́ ⏓⏓ ─́ ─


so ist das doch etwas ganz Analoges, wie wenn deutsch


⏑─́ ⏑─́ ⏑─́ ⏑─́


  in ─́ ─́ ─́ ─́ übergehen kann. ─


  Es wären nun alle Metra aller Nationen durchzugehen,
um zu erforschen, welche Gesichtspuncte bei der Bildung obwalten
konnten, welche Regeln des Gefallens befolgt, welcherlei
Lust erzeugt werden sollte. Zugleich wäre zu untersuchen,
ob sichtlich ist, daß für gewisse Stoffe und Dichtungsarten
gewisse Metra üblich waren und weshalb. Ob strophisch oder
unstrophisch. Vgl., was Strophen anlangt, oben „Publicum“:
„Altes und Neues“. Für das Musikalische wünscht man
Wiederholung, für den Text Abwechselung, Neues. Eine
Ausnahme macht nur der Refrain: der Chor fällt ein.


  Ferner ist die Frage, wie das Metrum auf die Sprache
wirkt, welche Forderungen an die Sprache von daher gestellt
werden und wie weit umgekehrt die Art des Rhythmus unter
dem Einfluß der Sprache steht. Z. B. Spondeen sind im
Deutschen schwer herzustellen; unser originaldeutscher Rhythmus
fragt gar nicht danach. Wollen wir aber antike
Rhythmen nachahmen, so wird durch die Forderung des
Spondeus die Wortwahl beeinflußt.


  So auch Trochäen: sie führen im Deutschen zu allerlei |#f0292 : 276|

sprachlichen Abweichungen, als Weglassung des Artikels, des
Pronomens u. s. w. bei Goethe. Zu untersuchen wäre, wie
die spanischen Trochäen den spanischen Volkscharakter malen.
Jst vielleicht ein bestimmtes sittliches Bild mit diesem Rhythmus
verbunden? Oder beruht dies auf der thatsächlichen
Association?


  Hexameter im Lateinischen haben auf die Sprache gewirkt:
formelhafte Schlüsse.


  Poetische Formeln sind überhaupt durch das Metrum stark
bedingt, sowohl in allitterirender wie in gereimter Poesie.
An gewissen Allitterationen, an gewissen Reimen hängen
gewisse Gedanken. Von bequemen Reimen ist viel gesprochen,
und wählerische Dichter vermeiden sie, indem sie sich vor
dem Princip der Neuheit beugen.


  Es erfolgen so gewisse Erschöpfungen der poetischen
Technik von Zeit zu Zeit. Die Reimtechnik schien erschöpft
zu Klopstocks Zeit, und dieser verschmähte daher den Reim.
Heute hat es wieder den Anschein, als wenn mit dem Reim
der Ausdruck der Trivialität fast unlöslich verbunden wäre.
Wenn „Goethe“ als Reimwort kommt, dann folgt sicher
„Morgenröthe“. So sind längst verspottet „Liebe“: „Triebe“,
„Herzen“: „Schmerzen“. Es giebt aber ganze Reihen ähnlicher
Reimpoesie. Und der Versuch, sich zu emancipiren und
neue Reimwörter zu finden, hat auch nur zum Gesuchten,
Überladenen, äußerlich Prächtigen geführt, was für die intimeren
Wirkungen der Lyrik nicht günstig ist. ─

|#f0293 : E277|

Anhang. ──────

  Ich gebe im Folgenden Bericht über die von Scherer dem
Heft der „Poetik“ beigelegten Papiere. Da eine bestimmte
Ordnung in denselben nicht ersichtlich war, ordne ich sie denjenigen
Theilen des Textes bei, zu welchen sie in der nächsten
Beziehung stehen. Im Übrigen habe ich über mein Verfahren
bei der Verwerthung dieser Blätter in meiner Vorbemerkung
Rechenschaft abgelegt
.


Jnhalt.


  Den gesammten Inhalt des Collegs umfassen vier ältere
Entwürfe Scherers
:


  Erster Entwurf. Datirt 1875. 11 numerirte Octavblätter
sammt 6 unnumerirten Blättern, die einzelne Notizen enthalten
:


  Der Dichter.


  I. a) Natur der dichterischen Phantasie.


b) Nöthigung zum Produciren, Motive. Gunst der Stunde.


  II. Stand.


a) Wodurch bedingt;


b) Wie wirkend: 1. wirkend auf Ansehen des Dichters, auf Werth
des Berufs.


2. wirkend auf Art und Beschaffenheit der Poesie.
Rückschlüsse auf unbekannte Zeiten und Orte.

|#f0294 : 278|

  III. Lebensführung und Charakter.


a) Auswahl der Typen: welche Typen nicht vorkommen;


b) Wie wirkend.


  Psychologische Verfassung des Dichters ist zu behandeln: hier
überhaupt inductiv zu verfahren, und darauf erst die Gattungen zu
bilden.


  Das Publicum.


  Vgl. allgemeine Productionslehre. Überall Unterschied der Zeiten
und Orte mit Rückschlüssen auf unbekannte. Überall fragen: wodurch
bedingt? wie wirkend?


  Gegenstände und Gehalt der Poesie.


  Figuren und Gattungen der Poesie.


  Mittel der Poesie: Sprache;


Verskunst;
                    Tropen und Figuren (z. B. Gehalt der Alle=
                        gorie; vgl. Goethe, Maximen und Re=
                        flexionen, Werke 1, 758).


  Verhältniß zu den übrigen Lebensgebieten:


  Durchweg a) inneres Verhältniß; b) Causalverhältniß


zu den andern Künsten,


zur Wissenschaft,


zur Gesellschaftsgliederung,


zur Politik (Poesie dienend),


zum Recht,


zur Verwaltung,


zur Religion,


zur Volkswirthschaft,


zur Sittlichkeit.


  Am Schluß des Ganzen ist derselbe Stoff noch einmal nach Orten
und Zeiten als Hauptfaden zu ordnen. Also mündend in eine Geschichte
der Poesie;
oder besser: Ursprung und Geschichte.
Hierbei Blüthe und Verfall.


  Bei dem Verhältniß zu den übrigen Künsten und zur Wissenschaft
ist nicht bloß Causalität zu berücksichtigen, sondern auch Gemeinsamkeit
und Abgrenzung der Gebiete.

|#f0295 : 279|

  Das Gedankenmäßige ist allen gemein. Jnsbesondere bei dem
Kapitel „Gegenstände der Poesie“ ist dies zu behandeln.


  Poesie ist ein Thun. Mithin ein Wollen, das auf einen Zweck
gerichtet. Werth desselben; nationalökonomische Begriffe, die darauf
anwendbar (aus der allgemeinen Productionslehre); z. B. die Honorare
zu behandeln. Da ist nun sehr viel was mit dem litterarischen
Product überhaupt getheilt wird, aber grade zu fragen: wie ist das
Verhältniß? Z. B. für Lyrik wird jetzt in der Regel gar nichts mehr
bezahlt.


  Aus der allgemeinen Kunstlehre herbeizuziehen: Einheit und
Mannigfaltigkeit
(Abwechselung): varietá e parilitá delle cose
L. B. Alberti
, Burckhardt S. 42. Wie diese erreicht werden. Wobei ich
nicht gewiß bin, wo das abzuhandeln ist.


  Regeln für Production ergeben sich aus Generalisation der besten
Erzeugnisse aller Blütheepochen; daraus zugleich die nationale Bedingtheit.
Die Macht der Kunstwerke, Burckhardt S. 89.


  Ut pictura poesis: Zeichnung, Farbe, Hintergrund. ─


  Analyse und Synthese eines einzelnen Werks, z. B. „Wilhelm Meister“:


1. Äußere Entstehungsgeschichte;


2. Stoff;


3. Form;


4. Jnnere Entstehungsgeschichte; Causalität: warum das Werk
so werden mußte, wie es wurde;


5. Wirkung desselben a) auf die Genießenden,


b) auf die Hervorbringenden.


  2. Stoff des näheren (Jnteressen des Dichters, die er bekundet).


I. Natur; Motive.


II. Menschen.


A. 1. Die menschlichen Gemeinsamkeiten (allgemeine Jnteressen:
Staat, Politik, Volkswirthschaft, sociale Verhältnisse,
Religion, Erziehung, Poesie, Litteratur,
Wissenschaft);


2. Jndividuen (Gestalten, Charaktere) geordnet
                        a) nach Stand, |#f0296 : 280|

                        b) nach Alter,
                        c) nach Charakteren: gut, böse, gemischt,
                        d) nach Schicksal: glücklich, unglücklich, Phi=
                            lister, und Lebensanschauung: optimistisch,
                            pessimistisch,
                        e)?


B) Motive ─ s. u.


C) wie Motive und der unbewegliche Stoff sich zusammenfinden.



  3. Form.


  Eintheilung und Reichthum (worin die Mannigfaltigkeit, die
Abwechselung mit eingeschlossen).


  Anordnung: Hauptmotive und Nebenmotive.


  Ausführung: Dichtungsgattung; Stilform; Stimmung, welche
das Ganze durchdringt und in den Theilen sich nuancirt.


  Ob deductive oder inductive Methode, idealistisch oder realistisch.


  Zum Theil ergiebt sich das schon aus dem Stoff ....


  Natürlich fort dann bis ins Kleinste: Satzbau, Sprachschatz,
Rhythmus, Hiatus u. s. w.


  4. Erlebtes und Erlerntes. Nöthigung zur Production wodurch?
Wodurch Wahl der Dichtungsgattung bestimmt?


Allgemeine Motivenlehre.


  Ausführlicher als im Colleg, sonst aber damit im Wesentlichen
übereinstimmend. Als letzter Abschnitt
:


  IX. Das Wunderbare: übernatürliche Mächte ─ wie sie herumspielen
─ hauptsächlich historisch, wie weit man ihnen Raum läßt.
Die Ursachen, warum so weit und nicht weiter.


  Beistehen der Götter, Entgegenwirken der Götter.


  Formen der Liebe und des Hasses, vgl. Goethes „Achilleis“, da
sind sie beinahe erschöpft.


  Göttliche Frauen, welche irdische Männer in ihre Macht ziehen,
welche ins Jrdische streben (Melusine, Stauffenberg).


  Walküren.


  Andererseits Juppiter u. A. Ovids „Metamorphosen“.


  Motiv der Metamorphose.

|#f0297 : 281|

  Motiv plötzlichen Erscheinens und Verschwindens, des Unerkanntseinwollens
u. s. w.


Die Figuren der Verwicklung.


  Auch diese Ausführungen stimmen mit dem Colleg im Wesentlichen
überein. Zu den Figuren der Täuschung, der örtlichen
Trennung kommen noch


  Figuren der gereizten (d. h. unbefriedigt gereizten) Thatkraft.


  Arten des Reizes, ob von innen heraus, ob von außen, z. B.
Verführung.


  Ziel der Thatkraft verschiedenster Natur ....


  Es heisst dann aber am Schluss:


  Das Ganze befriedigt mich aber nicht. Dies ist doch was ganz
Anderes als die beiden vorhergehenden Figuren? Jenes sind gegebene
Situationen....


  Auch eine Figur der widerstreitenden Jnteressen liess Scherer
fallen
.


  Weiter heisst es:


  Motive, welche komisch wirken, sind so kaum zusammen zu
halten ...


  Die angeführten Motive der epischen Dichtung und der Dramatik
gemein.


Ganz anders verhält sich Lyrik, Didaktik.


Jene Motive ergeben Geschichten, welche episch oder dramatisch erzählt werden können, es ist nur ein Unterschied der Form, im 16. Jahrhundert z. B. noch gar nicht technisch der Unterschied heraus- gearbeitet.


Lyrik und Didaktik, Empfindung oder Betrachtung kann sich an jedem einzelnen Punct jeder jedesmaligen Motivreihe ergeben. Aber sie steht immer auf dem einen Punct; immer die Natur des alten Gelegenheitsgedichts.


Dichtarten. Ein ausführlicher Versuch dieselben zu disponieren.


Es folgen noch einzelne Notizen. Zum Schluss:

|#f0298 : 282|

  Man muß alles, was an bildender Kunst poetisch ist ─ d. h.
alles, was die Natur nachahmt, in geistiger Hinsicht mithineinnehmen.


  Menschliches sofern psychologisch muß genommen werden; Landschaft
sofern Stimmung und Staffage psychologische Wirkung hineinbringen
und aus psychologischen Reizen entstanden.


  Auch Musik sofern sie Geistiges wiedergiebt.


  Also: die Poesie (in Dichtung Kunst Musik) in Wort, Bild
und Ton.


  Z. B. Oper muß ja vorkommen, Musik überhaupt als Begleiterin
der Poesie, da in ältester Zeit unauflöslicher Verband zwischen den
meisten Dichtungsgattungen und der Musik.


  Zweiter Entwurf. Datirt 30. Januar 1885.


  Gang etwa so:


I. Abgrenzung, Ziel und Methode;


II. Production und Consumtion;


III. Stoff;


IV. Mittel der Formung: Sprache und Metrik vgl. Zur Gesch. d.
deutschen Sprache 2. Aufl. 627 f.


V. Methode (mögliche Methoden) in der Anwendung der Mittel;


VI. Die kleinen Gattungen;


VII. Die großen Gattungen (Epos und Drama, Lehrgedicht),


Das Gemeinsame,
                    Das Besondere.


  Dritter Entwurf. Undatirt.


Entwurf einer Poetik.


  Eine Einleitung, die der im Colleg gegebenen sich nähert.


I. Die Aufgabe;


II. Gebundene und ungebundene Rede;


III. Dichtkunst und Wissenschaft;


IV. Allgemeine Motivenlehre;


V. Dichter und Publicum;


VI. Die Poesie in der Sprache;


VII. Die Formen der Rede;

|#f0299 : 283|

VIII. Der gegenwärtige Monolog und Vortrag?


IX. Der Dialog;


X. Epik;


XI. Dramatik;


XII. Lyrik.


  Vierter Entwurf. Mai 1885?


  Erstes Buch: Die Gattungen der Rede.


Kap. I. Singen und Sagen.


Kap. II. Einer, zwei und mehrere (besserer Titel!). Monolog,
Dialog, Chor, Vortrag. Brief. Gewisse Gattungen.


Kap. III. Zeitformen (Tempora). Erzählend, zeitlos, befehlend
prophezeihend ...


Kap. IV. Verkleidung? Rolle, Maske und eigene Person.


  Zweites Buch: Poesie und Prosa.


  Drittes Buch: Dichter und Publicum.


  Viertes Buch: Natur (d. h. als Gegenstand der Poesie).


  Diesen Gesammtentwürfen schliesst sich eine Reihe von
Versuchen, die einzelnen Kapitel zu gliedern und auszufüllen
an, zum Theil schon in der neuen Anordnung
: Kap. III. Stoffe.
Kap. IV. Jnnere Form. Kap. V. Äußere Form.


  Ausserdem liegt zwischen dem ältesten Entwurf und den
späteren Ausarbeitungen für das Colleg noch die Recension der
zweiten Ausgabe von Minnesangs Frühling (Anzeiger für deutsches
Alterthum 1, 199 f.) 1876, und die Recension von Bobertags
Geschichte des Romans (Quellen und Forschungen 21, S. 48 f.)
1877. Die letztere wird im Colleg selbst angezogen (S. 217);
auf die erste verweist die Scherers Papieren beigelegte „Zeitschrift
für vergleichende Litteratur“, Klausenburg 31. Jan. 1877. Eine
directe Ankündigung des Collegs enthält die Recension von
Wilmanns' zweiter Waltherausgabe (Anz. f. d. Alterth. 10, 305 f.)
1884; ähnlich von Carrieres Aesthetik (Deutsche Litteraturzeitung
1885 Nr. 36). Das Collegheft selbst trägt im Anfang das
Datum
1. Mai 1885, und die Vorlesung begann am 4. Mai 1885. ─

|#f0300 : 284|

  Endlich schliesst sich den Vorarbeiten noch ein Blatt an,
welches wichtige Puncte im Voraus fixirt, von denen Scherer
später einige fallen liess
:


Beiträge zur Poetik.


1. Unterricht und Wissenschaft.


2. Lehre von den Dichtungsgattungen.


3. Zur Theorie der Lyrik (Anknüpfung an das kürzlich erschienene
Buch).


4. Epische Technik ─ Spielhagen, Heinzel.


a) Was und wie beschreibt der Dichter?


b) Hält er die chronologische Continuität fest?


c) Epitheton und persönliches Urtheil.


d) Gleichniß und persönlicher Antheil.


e) Wie charakterisirt er?


f) Wie weit berücksichtigt er den Ort ─ Ortswechsel u. dgl.


g) Wie weit und auf welche Art läßt er uns ins Jnnere blicken?


5. Goethesche lyrische Gedichte, in denen Ortsveränderung vorausgesetzt
wird.


6. Handlung und Bewegung in der Lyrik überhaupt.


7. Wie weit gelten noch Schillers Eintheilungen in der Abhandlung
über naive und sentimentalische Dichtung?


8. Allgemeine Motivenlehre.


9. Physiologie des poètes. Das biographische Element. (vgl.
Koberstein?)


10. Vernachlässigte Lehren der Metrik.


a) Hiatus. Heine! Klopstock.


b) Kürze der Senkung in Jamben und Trochäen (vgl. z. B. für
Härte Jmmermanns „Tulifäntchen“).


c) Kürzungen: Unterschiede bei neueren deutschen Dichtern. Härten
bei Eichendorff. Einwirkung des Volksliedes.


11. Metrik und Stil, z. B. „Asan Aga“.


12. Metrik: Geschichte der deutschen Metrik ─ mein alter Entwurf.


13. Entwurf einer Technik der humoristischen Poesie (ohne Rücksicht
auf Composition).


14. Lessings Laokoon-Fortsetzung (2. und 3. Band).

|#f0301 : 285|

Kapitel I. S. 1.


Das Ziel.


  Ein älterer Entwurf führt unter den ursprünglichen Gattungen
der Poesie neben Chorlied, Sprichwort, Märchen auch das später
zurückgeschobene Liebeslied auf. Ein anderer skizzirt unter

1. Welches sind die traditionellen Ziele der Kritik Geschichte und
Kritik der bisherigen Aesthetik
(Kritik der Einweihung in die
Aesthetik: Vortheil ─ Nachtheil); unter 2. Weg ─ Methode betont
er die Nothwendigkeit universaler Sammlung und vergleichender
Methode
.


  Älteste Gattungen S. 9 f. Ein älterer Entwurf vorhanden.


  Chorlied S. 24. Chorische Poesie. Das Ballwerfen wie im
Mittelalter und bei den Griechen (Od. 6, 100 f. 8, 372) ein mit Gesang
und Tanz verbundenes Spiel: daher in den romanischen Sprachen
ballare (ballieren MSH 1, 141 b) so viel wie tanzen, ballata Tanz und
Tanzlied. Wackernagel, Altfranzösische Lieder und Leiche S. 236.


  Zu ballata vgl. die färöischen Heldenlieder als zum Tanz gesungen.



  Gemischte Form S. 14. Die angeführte Abhandlung Oldenbergs
ist im Original beigelegt
.


  Komisches Epos S. 27. Homer, Frosch- und Mäusekrieg
Stolberg, Werke Bd. 16).


  A. W. Schlegels Vorlesungen S. 34. Aus Scherers höchst
interessanten Anmerkungen hebe ich die folgenden hervor
:


Bd. 1.


  32. Schlegel läßt eine historische Untersuchung vermissen, woher
„Geschmack“ kommt im Sinn des Kunstgeschmacks.


  34. Wie wenig tief geht die Analyse der Begriffe Mode und
Herkommen. Wie wenig Sinn hat Schlegel für den Vortheil des
Herkommens, d. h. des conservativen Geschmacks. Die Mode wird
als etwas willkürlich Festgesetztes angesehen, während das Maß von
etwaiger Willkür zu erforschen war. Es überwiegt aber jedenfalls
das Gesetz, d. h. die Abhängigkeit der Masse von Beispielen, welche auch |#f0302 : 286|

für die Sprache so wichtig ist. ─ Hinweis auf das Gebiet, worin
die Mode herrscht 34, 10 f. So auch in Poesie: Bedürfniß und das
was darüber hinausgeht.


  78, 30 f. Antike Götterideale ─ Kategorien der Physiognomik.
Ob er das von Goethe hat?


  86, 25. Wie ganz auf Schillers Schultern steht da Schlegel!


  129. Wie lächerlich abhängig ist diese Deduction von dem
bischen Jnduction!


  Wie unfruchtbar die ganze Erörterung über Sculptur! Wenn
man damit z. B. Brunns neueste Arbeiten vergleicht. Nicht einmal
der Gesichtspunct der selbständigen und der untergeordneten Sculptur
kommt vor! Welche Mühe macht es, das Relief „abzuleiten“. Überhaupt
dies „Ableiten“! Das Wirkliche vernünftig! Und dabei die
durchgängige Abhängigkeit von dem bischen, was er wirklich gesehen
hat! Nicht einmal der Versuch, sich über den geringen Kreis persönlicher
Erfahrung zu erheben durch eine systematische Erwägung aller
Möglichkeiten.


  Nicht uneben ist das Achten auf die Größe der Dinge vom
Colossalischen bis zu den Gemmen.


  Malerei ─ nicht so unbedeutend wie die Sculptur (Kritik von
Schlegels Worten über das Stilleben 1, 201 u. a
.).


  206. Nichts über das „Malerische“ in der Landschaft. Wobei
sich denn ergeben würde, warum eine Ruine malerischer als ein
Palast.


  246, 28 f. Feine Bemerkung des Hemsterhuys über Entstehung
des Rhythmus. Auch Schlegels eigene Bemerkungen 244, 30 f. recht
fein. Aber das Auffälligste, den Tanz, scheint er zu übersehen ─
hier. Während er sich ganz wohl bewußt, daß Verbindung von Tanz
und Gesang die älteste Kunst.


  Poesie.


  Hier redet fast überall ein Meister!


  Versuche, lautliche Eigenthümlichkeiten der Sprache auf Charakterzüge
zurückzuführen, so fürs Französische 307, 15 f., Englische 309, 14 f.,
Deutsche 310, 14 f.

|#f0303 : 287|

  Sehr gut 312, 313 mit Ausnahme der ständigen Ungerechtigkeit
gegen Wieland.


  Lehrgedicht:


  Zu großartig speculativen Gedichten Ansätze bei Goethe; und ich
könnte mir gleich ein Gedicht über das Verhältniß von Mann und
Frau denken, das sich zu meiner Theorie historischer Epochen verhalten
sollte wie Goethes poetische Metamorphose der Pflanzen zu
dem wissenschaftlichen Versuch.


  Die Alexandriner werden wohl unterschätzt.


  Theoretisch fehlt doch einiges ganz Wesentliche. Der Unterschied
zwischen kurzem und langem Lehrgedicht. Das letztere verlangt immer
möglichste Mischung, also vielfach Versetzung mit epischem Stoff.


  Analyse des Eindrucks des Lehrgedichts fast gar nicht.


Bd. 2.


  Unglaubliche Sachen neben höchst geistreichen. Z. B. 42 wie geistreich
über die Architektur! 43 wie gänzlich roh unwissend über die
Musik! So sehr fielen damals die Dinge auseinander, daß ein
Schlegel nichts von Haydn, Beethoven, Mozart wußte!


  47 f. Wunderschön poetisch.


  70. Hübsch über Launen der Sprache.


  72, 3 f. Gegen die empirische Psychologie.


  Ganz ausgezeichnet die Schilderung der homerischen Poesie. Da
ist Schlegels höchste Kunst.


  Wie er Lachmann vorbereitet 122 f., 126 f. Doch aber 123 gleich
unhistorisch übers Epos.


  Jn Bezug auf 123: die allgemeine poetische Pflicht und Aufgabe
der Exposition! ... Jede Exposition Compromiß zwischen dem, was
der Dichter meint sagen zu müssen und dem, was er glaubt
als bekannt voraussetzen zu dürfen. Unbestimmtheit des Orts und
der Zeit! Märchen.


  375. Lessings Faust-Phantom offenbar nach der euripideischen
Helena. ─ Aber auch die Goethesche Helena?


Bd. 3.


  Welche Rolle bei Schlegel die Betrachtung des Technischen, der
Versbau spielt. Sehr anerkennenswerth. Aber Rückschritt gegen |#f0304 : 288|

Herder. Herder hat die universale Liebe, das Verständniß des echten
Historikers. Schlegel ist immer auf theoretischem Boden am stärksten,
meist aus den Griechen abstrahirte Jdeale, oder auch nur aus einigen
Griechen. Durchgängiger Gegensatz gegen Aristoteles, gegen Lessing.


  Dieselbe Befangenheit, mit welcher Adelung nichts gelten lassen
wollte, was über den Kreis der Bremer Beiträge herausging ─ dieselbe
Befangenheit hat Schlegel für seine Jdeale. Wie arm wird
dadurch die Welt an echter Poesie! Welche Verkennung der eigenen
Zeit war die Folge!


  143. Schon ganz richtiger Blick über orientalischen Ursprung der
Fabliaux, Novellen u. s. w.


  Schlegel ist die Weissagung auf Lachmann. Wie er Homerkritik
verlangt (s. o.); wie er den Lucretius schätzt und die Elegiker; die
Zahlenverhältnisse (beim Dante); das Dringen auf feste Form, der
Werth des Jtalienischen u. s. w.


  Petrarca. Philosophie des Sonetts. Wesentliche Gesichtspuncte
fehlen. Wiederholung des Quartetts musikalisch für Sonatenform
(ist Zusammenhang zwischen Sonett und Sonate?). Dann Begriff
des unstrophischen Gedichts und dessen frühe Anwendung, z. B. bei
Walther von der Vogelweide.


  Antike Rhetorik S. 44.


  Es sind zwei Blätter mit Skizzen der historischen Entwicklung
der antiken Rhetorik vorhanden, das eine bezeichnet
:
Mittheilungen von Hübner 10. Mai 1885. Ferner ein zwei Blätter
füllender Auszug, aus dem im Text citirten Werke von Blass, Die
griechische Beredtsamkeit in dem Zeitraum von Alexander bis
auf Augustus
.


  Tropen und Figuren der Rhetorik S. 50. Hierher ist am
besten ein einzelnes
Wilmanns bezeichnetes Blatt zu stellen,
das sich also auf Scherers Recension von Wilmanns' „Walther“
Anz. f. d. Alt. 10, 305 f. bezieht und bei S. 308 des dort gedruckten
Textes einsetzt
.


  Hier heisst es: Es liegt auf den Lehren der Rhetorik ein dicker
Staub der Jahrhunderte, und ich will nur gestehen, daß ich mich von |#f0305 : 289|

früh auf angegähnt fühlte, wenn ich in der Schule die vermoderten
Kunstausdrücke anwenden sollte; später brachte mir zwar Heinzel die
Überzeugung bei, daß von diesen alten Beobachtungen der Rhetoren
immer noch ein fruchtbarer wissenschaftlicher Gebrauch möglich sei; aber
welcher, darüber war ich mir keineswegs klar, wenn ich auch vorläufig
zu neuer Anwendung ermunterte und den Nutzen für eine vergleichende
Untersuchung des Stiles verschiedener Dichter betonte. Jch glaube
jetzt einiger Grundbegriffe der Poetik mächtig geworden zu sein, durch
welche die ganze Lehre vereinfacht und, wie ich hoffe, aufgefrischt
wird; und ich werde mich bemühen, einen Entwurf der Poetik so
rasch als möglich zuerst in Vorlesungen und dann auch öffentlich
aufzustellen. Jnnerhalb dieses Systems haben die Figuren und
Tropen, die unsere Compendien als Stilistik zusammenfassen, ihre
Stelle ─ großentheils in dem Kapitel von dem Unterschiede der
Poesie und Prosa. Ob die Tropen in ungebundener Rede vorkommen,
ist dabei ganz gleichgiltig; die ungebundene Rede kann sich sehr wohl
poetischer Mittel bedienen. Prosaisch ist der nackte Gedanke in möglichster
Reinheit und Schärfe, in möglichster Anordnung einer methodischen
Folge dargelegt.


  Der Anatom Henke S. 60. Henke, Laokoon (1862). Es wäre auszuführen,
daß für die Poesie alles darauf ankommt, den Moment der
Krisis richtig herbeizuführen und davon weiterzuführen, ─ kurz auf
das Vorangehende und Nachfolgende, daß es also nicht darauf ankommt,
ihn selbst vorzuführen und daß es wirklich gleichgiltig ist, ob
er hinter der Scene liegt oder auf der Scene gezeigt wird. Kurz,
daß die Praxis der bedeutenden Dichter hierin nicht etwa einer Verbesserung
bedarf.


  Poesie der Naturvölker S. 67. Sieben Blätter mit Notizen.
Ich hebe aus
:


  Poésies populaires de la Kabylie du Jurjura, texte kabyle et traduction,
par M. Hanoteau. 8
⁰. 480 f. Paris, Imprimerie impériale
. 1867.


  Renan im Journ. Asiatique Ser. VI Tom. XII N. 44 (1868):
Les Kabyles n'ont pas de textes écrits en dehors des ouvrages arabes;
mais ils ont une poésie populaire, oeuvre d'hommes illettrés, chantée par
des rhapsodes héréditaires, parasites et parties nécessaires des noces et
|#f0306 : 290|

des fêtes, souvent aussi oeuvre de femmes (couplets dont elles accompagnent
leurs danses, longues complaintes qu'elles mêlent à leurs travaux). La
mêmoire extraordinaire des chanteurs kabyles explique les miracles que
durent accomplir les aèdes grecs qui gardèrent les poèmes homériques, les
tribus arabes qui eurent de longs divans, les jongleurs du moyen âge
. ─ Bei
Hanoteau die merkwürdigsten Details über die Rhapsoden nach unmittelbarer
Beobachtung sans nulle préoccupation litteraire antèrieure....
Il est bien remarquable que dans ces chants il n'y ait pas un mot d'histoire,
pas un souvenir du passé
.


  Prabodhatschandrodaja oder der Erkenntnißmondaufgang. Philosophisches
Drama von Krischnamitra.


  Meghaduta der Wolkenbote. Lyrisches Gedicht von Kalidasa.


  Beides metrisch übersetzt von Dr. B. Hirzel, Zürich 1846.


  Urvasi oder Preis der Tapferkeit von Kalidasa. Übersetzt von
Dr. K. G. A. Höfer. Berlin 1837.


  Proben chinesischer Weisheit nach dem chinesischen des Ming=sinpas=kien.
Von Dr. J. H. Plath. München 1863, Franz in Commission.


  Zurückführung auf die einfachsten Probleme S. 67 vgl.
Scherers Vorträge und Aufsätze S. 395.


Kapitel II. (S. 72.)
Dichter und Publicum.


  Zwei Blätter mit Notizen. Auf dem zweiten ist Folgendes
doppelt angestrichen
:


  Niedere Culturstufe: Vermischung des Bildes mit der Sache (beim
Zaubern): die letzte Galerie wüthend auf den schlechten Kerl des
Stückes. Auf höherer Stufe ist gerade die Unterscheidung zwischen
Wirklichkeit und Darstellung ein Reiz der Darstellung. Das Unglück,
das man sieht, wird gemäßigt durch das Bewußtsein, daß das alles
nicht wirklich ist, sondern nur gespielt (Empfindung der Schauspieler
dabei).

|#f0307 : 291|

  Am besten hierher stellt man auch einen andern von Scherer
beigelegten Entwurf in sechs numerirten Blättern. Hier wird
der Werth absoluter Vollständigkeit bei Betrachtung einer
bestimmten Litteraturepoche im Anschluss an ein Citat aus
A. v. Humboldt (Kl. Schr. 1, 400) und an eigene Ausführungen
Scherers (Zeitschr. f. öst. Gymn. 1867 S. 68 vgl. Deutsche Studien
1, 353) betont
.


  Die Geschichte soll sich als die „Statistik in Bewegung“ zeigen.
Sie soll uns lehren, wie die Kräfte beschaffen waren, welche den
mehreren Millionen süddeutscher Katholiken in der Zeit von Luther
bis Goethe den Schimmer von Poesie brachten, auf welchen das Volk
nie verzichtet; und die Persönlichkeiten sollen uns vorgeführt werden,
in denen ihr geistiges Leben sich concentrirt.


  Das unbedeutendste litterarische Product ... muß in die geschichtliche
Darstellung aufgenommen werden, es muß in dem Ganzen der
Nationallitteratur vorkommen ─ allerdings nicht nothwendig mit
seinem Namen, sondern nur insofern es Masse macht, insofern es
Stoff liefert für die inductive Erforschung des Gesammtcharakters
seiner Gruppe.


  Epochen, die mit Tiefländern und andere, die mit Hochländern
zu vergleichen sind
. Für die Vergleichung und Abschätzung
der Litteraturen untereinander scheint mir dieser Gesichtspunct sehr
wichtig. Die neuere französische Litteratur hat keinen Dichter wie
Goethe, die ältere französische Litteratur keinen Dichter wie Wolfram.
Aber ich glaube, daß die mittlere Oberfläche der deutschen Poesie ziemlich
weit unter der mittleren Oberfläche der französischen bleiben würde.


  Nach einer andern Seite hin würde es orientiren, die Honorare
kennen zu lernen, welche jährlich in verschiedenen Ländern gezahlt
werden und deren verschiedene Höhe für verschiedene Litteraturzweige.


  Wie bestimmte Zeitereignisse auf die Mitlebenden wirken, läßt
sich aus der Zahl ihnen gewidmeter Schriften sehr anschaulich machen:
ich verweise zur Jllustration auf einen höchst interessanten Artikel der
Preußischen Jahrbücher Bd. 22 (1868) S. 100 über die Litteratur des
Krieges vom Jahre 1866.


  Ebenso könnte man für gewisse Perioden z. B. die Zahl der |#f0308 : 292|

Fabeln oder Novellen ermitteln und mit der Zahl der Dramen und
anderer Dichtungsgattungen vergleichen. Daraus Schlüsse auf die
litterarische Bedeutung dieser Epochen zu ziehen
.


  Aber auch Zahl und Art der Lesenden muss festgestellt
werden
.


  Es giebt also eine annähernde Schätzung geistiger Kräfte auf
dem Wege, der sich mit Recht vorzugsweise den exacten nennt. Und
ich meine, wir sollten die Zahl auf unserm Wege so weit mitführen
und beibehalten, als es irgend möglich ist.


  Ursprung der Poesie S. 73.


  Ein Blatt, fast ganz mit dem im Colleg gegebenen übereinstimmend.
Ich hebe nur aus
: Stufen des Glücks, welches die Poesie
hervorbringen kann: befriedigtes oder annähernd befriedigtes Begehren,
Jllusion der Befriedigung. ─ Kraft des Wortes s. den Rigvedahymnus
über Vâk. ─ Weinen ─ Lachen, Rührung ─ Lächeln.


  Weshalb das Unangenehme in der Poesie angenehm?
S. 94.


  Kein einzelner Punkt des Collegs scheint Scherer so viel
Mühe gemacht zu haben wie dieser. Ein erster Entwurf führt
als Gegenstände der Poesie auf
: Erstens Angenehmes, zweitens
Lächerliches, drittens Unangenehmes. Für das Letztere schon
einige der späteren Gründe angeführt. Anmerkung
: Ebbinghaus,
Glück des Melancholischen in seinem Schmerz. Vielleicht körperlich
angenehme Wirkung des Schmerzes. Ein zweiter Entwurf betont
den Contrast (s. „Lehre vom Publicum“): Spannung und Lösung.
Dann ─ wie im Colleg ─ die ursprünglich aufgeworfene Frage
anders formulirt; Versuche sie zu beantworten
.


  Ferner sind drei Seiten des ausgearbeiteten Collegs ausgestrichen.
Inhaltlich stimmen sie mit der späteren Fassung grossentheils
überein, die aber in viel klarerer Ordnung fortschreitet
.


  Ein Princip des Contrastes S. 100: wie erwähnt im
zweiten Entwurf als hauptsächlicher Erklärungsgrund gefasst
.


  Die Freude an Glücksspielen S. 101. Hegner 2, 134:

|#f0309 : 293|

  „Jn der Gesahr ist bloße Wahrscheinlichkeit, in der Wahrscheinlichkeit
noch Hoffnung, Hoffnung aber giebt Muth, und dieser ist
Gefühl der Kraft, ein Reiz, der uns dem ungewissen Übel entgegengehen
heißt. Jst hingegen die Gefahr in wirkliches Unheil übergegangen,
wie hier, so tritt ein ganz anderer Zustand ein, aus dem
man sich dann ziehen muß, so gut man kann.“


  So lang also der Held in Gefahr schwebt, ist das Vergnügen
der Spannung u. s. w. noch vorhanden. Kommt er in der Gefahr
um, so ist im Gesammteindruck, wenn man zurückblickt, das Unangenehme
der Katastrophe vielleicht überwogen durch das Angenehme
der Spannung vor der Katastrophe.


  Ursprung des Mythus S. 116: vgl. Vortr. u. Auff. S. 385.


  Aristokratische und demokratische Verfassung auf litterarischem
Gebiet
S. 129. Ausführlich handelt über diesen Gegensatz
ein merkwürdiges Blatt, dessen Inhalt ich zum grössten
Theile hersetze
:


  Das Geschichtenerzählen bei Tieck u. A., die verwilderten objectiven
Gespräche ─ die Episode im Epos. Das alte epische Lied kennt sie nicht,
erst eine Zeit die bewundernd zurückblickt auf das Ganze, die das
unmittelbare moralische Jnteresse an den Stoffen eingebüßt hat und
für ein mittelbares künstlerisches (ästhetisches) gestimmt ist ─ eine
„Zeit, die dazu Zeit hat“, ohne Aufregungen des praktischen Lebens,
unmittelbar drängende Aufgaben der Öffentlichkeit.


  Von demokratischer Poesie als neuer Energie wissen wir noch
nichts, sie bereitet sich erst vor. ─ Elemente dazu vorhanden. ─ Aber
Blüthenepoche hat sie noch nicht erlebt. Die große neuere Poesie ist
die des Absolutismus, der Tyrannis. Die letzte deutsche classische
Epoche ist ein Nachklang der italienischen des 16. Jahrhunderts ─ die
directen Einwirkungen wären zu studiren. Nachwirkungen der Stoffe
und Formen, vgl. z. B. „Emilia Galotti“, Goethes „Tasso“, Meißner
„Bianca Capello“, Tiecks „Vittoria Accorombona“ ─ Sonett u. dgl.
Die beiden Ströme, der altdeutsche und der romanische in Deutschland,
wären sehr wohl zu unterscheiden und zu verfolgen ─ das 18. und
19. Jahrhundert in Deutschland erkennt sich selbst wieder in den gesellschaftlichen |#f0310 : 294|

Verhältnissen und dem Culturzustand jener italienischen
Renaissanceepoche.


  Solche Zeiten sind conservativ in allem was in seinen Consequenzen
den äußern Zusammenprall mächtiger Kräfte (Volksmassen) herbeiführen
würde ─ schen vor allen Revolutionen, kirchlichen und politischen.
Sie brauchen auf beiden Gebieten starke beherrschende Mächte, die sie
gleichsam vor Luftzug schützen ─ und ebenso nothwendig die Befreiung
von materiellen Sorgen um Lebensunterhalt. Daher ihrem Grundzug
nach aristokratische Epochen, gleichviel ob oligarchisch oder tyrannisch,
mit Hofadel, gleichviel aus welchen Elementen sich diese herrschende
Gesellschaft zusammensetzt ─ ihr Kennzeichen ist die materielle Ausbeutung
der Vielen durch Wenige. Daher die Verwandtschaft mit
den antiken Sklavenstaaten.


  Das innere Band aber, welches diesen ökonomischen und den
entsprechenden socialen und politischen Zustand mit der geschilderten
Poesie verbindet ─ welches ist es?


  Die Epoche der aristokratischen Poesie beginnt mit dem Epos, ─
der aristokratische Zug des germanischen ─ also mit der dichterischen
Erschaffung des Heroenthums, d. h. mit der Beachtung und poetischen
Bewahrung individueller Leistungen und deren Erhöhung und Construction
nach Maßgabe der vorausgehenden polytheistischen Mythologie.
Das Heroenthum ist aber nichts als dichterische Anerkennung
der Aristokratie (Grund dazu schon gelegt durch Glauben an Abstammung
der Heroen von Göttern: Keim deutscher Heldensage ist
schon die Genealogie Tuisto-Mannus u. dgl.) ─ also die Jdealität
ist ein Ergebniß jener aristokratischen Lebensepoche.


  Also ist die demokratische Kunst die nicht=ideale, die man
kaum realistisch nennen mag. Sie geht aus von Beobachtung
des Gewöhnlichen, von der komischen Kunst. Es folgt ein Versuch,
dieselbe aus der städtischen Gemeinfreiheit herzuleiten, welchen
Scherer dann unter Hinweis auf die Verschiedenheit griechischen,
italienischen und deutschen Städtewesens verwirft
. Auf
dem Unterschied italienischen und deutschen Städtewesens beruht der
Unterschied zwischen deutscher und italienischer Cultur des 15. und
16. Jahrhunderts. Genua, Pisa, Venedig sind für sich allein Großmächte, |#f0311 : 295|

Tyrannis &c. Das Verhältniß zum Papstthum läßt sich vielleicht
der Amphiktyonie vergleichen.


  Die harmonische Vollendung, das Sich-Ausleben aristokratischer
Litteraturepochen beruht darauf, ob Einbruch demokratischer Epochen
nahe bevorsteht oder nicht, diese ablöst oder nicht.


  Bei der deutschen des 19. (auch 18.) Jahrhunderts ist dies zu
nahe. Daher z. B. kein fortwirkendes Stilprincip gefunden. Merkwürdig
wie noch bei Tieck Elemente dazu vorhanden; das beruht so
ganz auf der aristokratischen Gesellschaft, macht selten den Eindruck
hervorragender Originalität, aber immer des Geistreichen, Gewandten,
Gesellig-Bedeutenden.


  Man könnte jene Gegensätze aristokratischer und demokratischer
Litteraturepochen auch als diejenige der Litteratur der Staatshilfe
uud Selbsthilfe bezeichnen: Lessing ─ Selbsthilfe; Goethe ─ Staatshilfe.
Der preußische Staat hat den Zug zu der Selbsthilfe in sich,
erzieht dazu trotz überweiser Bureaukratie. Preußische Litteratur ist
daher eine solche, soweit der Staat Verdienst daran hat: Gleim, der
junge Herder, Kant, selbst Hamann und Klopstock in seinem Ausgangspunct
─ und ihr Vater, der Pietismus.


Kapitel III. (S. 205.)
Die Stoffe.


  Diesem Kapitel und namentlich der Motivenlehre ist schon
in den ersten Entwürfen, wie a
ngegeben, stark vorgearbeitet.
Ausserdem ist noch ein einzelnes Blatt vorhanden
:


  Stoffe: Kunstroman, Kunstdrama und Kunstlyrik (Gedichte auf
Gemälde, Epigramme auf Kunstwerke, Künstlermemoiren.) Jn Deutschland:
„Sternbald“. „Jm Paradiese“. „Grüner Heinrich“. Hagen.
„Correggio“ von Oehlenschläger. Litteraturgeschichte als biographisches
Stoffgebiet: „Königslieutenant“; „Karlsschüler“. Theater als
Stoffgebiet: „Wilhelm Meister“; „Charlotte Ackermann“ u. dgl. Musik:
„Schauspieldirektor“. Religionsgeschichte: „Weihe der Kraft“ von
Werner; „Ziska“ von Meißner; „Albigenser“ von Lenau; „Uriel
Acosta.“


  Welche Motive aus der Religionsgeschichte, aus der Wissenschaft |#f0312 : 296|

u. s. w. werden als die fruchtbarsten angesehen, welche am meisten behandelt?



  Merkmal des Komischen S. 222: Über das Komische. Prutz,
Holberg. ─ Gervinus 2, 334 f. Ausgangspunct ist wohl die ästhetische
Seite in der Natur des Menschen: Caricatur.


Kapitel IV. (S. 226.)
Jnnere Form.


  Auf die Überschriften von Kapitel IV und V bezieht sich ein
Brief des Herrn Dr. v. Waldberg in Czernowitz vom 12. Juli
1885, den Scherer beigelegt hat. Es heisst hier
: Sie erinnern
sich ... daß Sie mir seinerzeit [für Waldbergs Schrift „Die galante
Lyrik“] die Überschriften „Jnnere Form“ und „Äußere Form“ anempfohlen
haben. Jhre Ausführungen über diese Terminologie (im
Goethejahrbuch) haben in Folge dessen mein ganz spezielles Jnteresse
erregt, ich bin der Geschichte dieser Bezeichnung nachgegangen und
habe sie als sehr alten juristischen Ausdruck festgestellt: forma interna
und forma externa findet sich schon gegen 1780 in den verschiedenen
Ausgaben von Martinis Vaterrecht, später 1790 bei Westphal in
seinem Buche über Testamente u. s. w. bis zu dem noch heute gelenden
österreichischen bürgerlichen Gesetzbuch. Stets werden aber diese
Bezeichnungen „Jnnere“ und „Äußere Form“ nur bei Testamenten
verwendet.


Kapitel V. (S. 235.)
Äußere Form.


  Ein Blatt Rhythmus, Tact stimmt zu dem späteren Text;
neben
Gang, Laufen, wird auch Laufen der Thiere, Galoppiren
angeführt.


  Die Dichtungsarten S. 245. Auf ihre Gliederung bezieht sich
ein Brief des Herrn Prof. Dr. Burdach in Halle vom 27. Juli 1884,
den Scherer beigelegt hat. Es heisst dort
: Jn dem, was Sie in
der Waltherrecension [Anz. f. d. Alt. 10] S. 308 f. über die Begriffe
Lyrik, Drama, Epos ausführen, glaube ich Sie ganz zu verstehen...
Es folgt eine eingehende Darstellung der verwirrenden Con- |#f0313 : 297|

structionen der bisherigen Aesthetiker, besonders Chr. G. Weisses
und Hegels, deren Einfluss auf Wackernagel u. A. betont wird
.
Der Grundfehler ist glaube ich der, das Epos und das Drama als
die beiden äußersten Gegensätze und die Endpuncte der historischen
Entwicklung zu betrachten. Jn Wahrheit scheinen mir vielmehr Lyrik
und Drama die beiden Urphänomene. Jn der Lyrik redet der Dichter,
im Drama reden fremde Personen. Das Epos steht in der Mitte
und kann theils lyrisch theils dramatisch werden. Hegel rechnet
zum Epos auch die Gnome, das Lehrgedicht, weil beide objectiv sind.
Sie gehören aber ihrem Wesen nach zur Lyrik: der Dichter hat eine
persönliche Überzeugung, die in der ursprünglichen Zeit natürlich
immer anknüpft an eine momentane Erfahrung. Jch unterscheide
1. Lyrik des Gefühls, 2. des Willens, 3. des Verstandes; ferner
neben dieser inhaltlichen Theilung, mit Rücksicht auf das Verhältniß
zum Publicum: 1. Lyrik für Andere, die ursprüngliche, 2. Lyrik für
sich selbst, „einsame Lyrik;“ und mit Rücksicht auf den Vortrag: 1. Chorische
Lyrik, 2. Monodische Lyrik. ─ Liebespoesie monodischen Ursprungs:
Darwin, Abstammung des Menschen 1, 47... Dann wäre
die Liebespoesie überhaupt die älteste Poesie oder der älteste Gesang
oder die älteste Sprache, wie man das nun nennen will.


  Die epischen Dichtungsarten S. 246 f. Hierzu wie zum
Drama ist eine grössere Zahl von Blättern vorhanden, welche
grossentheils Probleme des Epos und der Heldensage behandeln,
die im Colleg selbst nicht berührt sind, hier aber nur in Form
eines Referats gegeben werden können
.


  Voraussetzung des Epos ist die Heldensage, und Voraussetzung
der Heldensage die Mythologie
. Hauptsächlich wichtig,
da Mythologie jedenfalls das Material ist, woraus Heldensage sich
gestaltet ─ die Art der Mythologie zu untersuchen, welche zu Heldensagen
verwendet. ─ Zu untersuchen, ob in Mythologien verschiedener
Völker irgend in mythischer Gestaltung der Naturvorgänge sich Reste
von Naturerscheinungen finden der Urheimath, nicht derjenigen, in
welche sie gewandert sind und in der die eigentliche Ausbildung ihrer
Nationalität stattfand? ─ Der Polytheismus fördert die Helden- |#f0314 : 298|

sage, indem er Analogie bietet zwischen Götter- und adeliger
Menschenwelt
.


  Quelle der Heldensage ist gehobenes Selbstgefühl... Aber dies
nicht individuell (individueller Größenwahn erzeugt poetisch neue Legenden:
Religionsstifter), sondern Standes- oder Nationalgefühl.
Besonders ersterer Zustand scheint geeignet Heldensage hervorzurufen,
d. h. adeliges Selbstgefühl ─ göttergleiche Menschen, die sich denn
auch von Göttern abstammend glauben; dies Begriff des germanischen
Adels. Diese Menschen trauen sich Thaten zu, wie sie der Mythus
von den Göttern berichtet; bei Germanen treten sie an Stelle der
Götter beinahe, während bei Griechen und Jndern die Götter noch
herbeigezogen (dort bei den Germanen so starke Erweiterung des Jch).
Der Begriff Adel im germanischen Epos so erweitert, daß andere
Stände ganz übersehen (Beowulf).


  Dagegen scheint das Nationalgefühl allein kaum auszureichen.
Zwar ist das Epos
Verherrlichung alter Nationalkämpfe:
germanisch, französisch, griechisch, indisch, persisch, russisch? serbisch,
finnisch. Aber unzählige solche Kämpfe müssen in einer Nation
während ihrer Wanderungsperiode vorgefallen sein. Wie kommt es,
daß gerade diese fixirt werden? Ein dauernder Gegensatz ist bei
Persern und Finnen (Turanier, Lappen) zu beachten. Aber unter
gleichen nationalen Verhältnissen kommt das Epos doch nicht
überall zu Stande. Nicht bei den Semiten
: die Eroberung Kanaans
wäre z. B. der rechte Stoff gewesen. Freilich kommen z. B.
bei den Arabern noch technische Schwierigkeiten hinzu
.


  Es scheint also zu dem Nationalgefühl jenes Standesgefühl
noch hinzutreten zu müssen
. Wo sich adeliges Selbstgefühl nicht
entwickelt, kommts nicht zur Heldensage und zum Epos. So in
Rom, wo die alten demokratischen Bauernschaften fortbestehen bis
zum Eintritt der Schriftlitteratur. ─ Für arische Völker kann man
wohl geradezu das adelige Selbstgefühl als Quelle hinstellen. Aber
wie stehts mit Finnen, Esthen, Mongolen, Tartaren? Was ist da
analog?


  Adeliges Selbstgefühl bedingt auch das Achten auf Details der
Erscheinung ─ und daher epische Ausführlichkeit.

|#f0315 : 299|

  Nun fragt sichs aber weiter nach der Entstehung jener speciellen
Art des Selbstgefühls, die man Heldengefühl nennen könnte... Nur
productives Selbstgefühl kann das Heldengefühl erzeugen.


  So viel wir einigermaßen beobachten können, sind alle Völker, die
Culturproducenten sind ─ Araber nur Culturbewahrer, ebenso Juden
─ auch Völker mit Epen. Ägypter? Chinesen?


  Der strebende Mensch ist der epische und zwar der freistrebende:
die älteste Cultur dürfte die befohlene sein. Dann kommt die freie,
und am Anfang freier Culturen stehen aristokratische Gesellschaften.


  Was ist Streben? Erkennen höherer Ziele und Entschluß, sie zu
erreichen. Also Steigerung der Erkenntniß der menschlichen Kräfte.


  Buckles Satz, daß Fortschritt auf dem Wissen beruht, durchaus
bestätigt. Schärfere Erkenntniß des Zwecks und der dazu führenden
Mittel ─ das ist Quelle des Fortschritts. ─ Aber ganz falsch, daß
ein moralischer Fortschritt überhaupt nicht stattfinde; vielmehr auch
Quelle des moralischen Fortschritts ist der Fortschritt der Erkenntniß.


  Rütimeyer über Darwinismus. Das erkannte Gesetz des menschlichen
Fortschritts auf frühere Stufen zurückzuverlegen. Genealogie
der Erkenntnisse: die auf Erhaltung der Gattung gerichtete Erkenntniß
wohl die ursprünglichste.


  Maßstab für Fortschritt ist demnach Logik als Lehre vom Jdeal
der Erkenntniß.


  Auf diesem Fortschritt also und auf dem Bewusstsein dieses
Fortschritts, auf dem Bewusstsein des Strebens beruht das
Heldengefühl der culturproducirenden Nationen. Und indem
dies aus mythologischen und historischen Elementen (Polytheismus
und Nationalkämpfe) die Heldensage entstehen lässt,
ist wieder für das Epos die Voraussetzung gegeben
.


  Zum Epos muß das historische Bewußtsein erwacht sein ─ aber
es muß zugleich ein Mittel exact historischer Überlieferung noch nicht
gegeben sein ─ eine große Menschenklasse muß keine Schriftlitteratur
besitzen, und gerade diejenige, die ein Jnteresse hat an den historischen
Fragen, die zu Grunde liegen...


  So lange gar keine Schriftlitteratur vorhanden .. ist kein Gegensatz
der Bildung im Allgemeinen ─ nur Frauenwissen und Priesterwissen |#f0316 : 300|

(technischer Art): ─ wachsender Gegensatz ─ der Gegensatz
erfährt nun wieder allmälige Ausgleichung durch Mittheilung der
Schriftlitteratur an immer größere Kreise.


  Z. B. Kreuzzüge erwecken noch Sagen, aber es wird kein Epos
daraus, obgleich viele Bedingungen dazu vorhanden ─ drum muß
das Thun des Einzelnen, der daraus Epos gestalten will, sich viel
mehr erlauben. Tasso! Gleichwohl ist es nur ein relativer Gegensatz,
vom Buchbinder an, der Volkslieder zusammenbindet, gleichsam bis
zum thätigsten bürgerlichen Kunstdichter des 16. Jahrhunderts ─ aber
freilich im 18., in Goethe überwuchert das Erfundene ganz die geringe
volksthümliche Grundlage. Noch weniger zur Zeit der Freiheitskriege
ein Epos zu denken als zur Zeit der Kreuzzüge...


  In der Entwicklung des Epos selbst scheinen nun wieder
gewisse Momente typisch
. Z. B. das cyklische Moment fehlt wohl
beim Cid, und vielleicht sonst, bei Jren z. B. Nicht aber bei Russen
und überall nicht, wo etwa Tafelrunde zu Grunde liegt: Wladimir,
Dietrich von Bern ─ den Schluss des cyklisch gewordenen Epos
bildet der Untergang aller Helden; so z. B. auch im persischen
Epos
.


  Das Nationalepos wird abgeschlossen zu einer bestimmten Zeit
und was nach der Zeit liegt, nicht mehr darin aufgenommen; mag es
an sich noch so groß und folgenreich, ja auch für sich ein Stoff der
Sagenbildung und epische Dichtung geworden sein: der epische Cyklus
bleibt exclusiv.... Wenn die Thaten der medischen und persischen
Könige in der altbaktrischen Poesie nicht verherrlicht wurden, obgleich
sich selbständige Sagenkreise um sie bildeten, so erkennen wir die vollkommene
Analogie in jenen longobardischen oder karolingisch=französischen
Dichtungen, von welchen das deutsche Volksepos nichts weiß.
Bewahrer der Tradition sind die Kreise des grundbesitzenden Adels
in Deutschland wie in Jran. Die Grenze für das griechische Epos
wird man, äußerlich bezeichnet, etwa in dem Emporkommen des delphischen
Orakels finden. Ein früher Versuch der Einmischung desselben
im Liede des Demodokos Od. 6, 75.


  Die Aufzeichnung des Khodāi Name, der Quelle des Firdusi,
erinnert durch ihre prosaische Form an das umfassendste Corpus altdeutscher |#f0317 : 301|

Heldensage, die Thidreksaga, durch ihren officiellen Charakter
an die Pisistrateische Sammlung der homerischen Gesänge. Merkwürdig,
daß noch, als Firdusi seine Gesänge dem Sultan Mahmud vorlas,
Musik und Tanz die Recitation begleitete: was für die homerischen
Dichtungen sie selbst, für die altgermanischen verschiedene Spuren und
noch heutige lokale Sitten bezeugen.


  Beobachtungen, wie die eben geäußerten, haben einen untergeordneten
Werth, so lange sie bloße Apperçus bleiben. Erst wenn
die Bedeutung und das Wesen der analogen Erscheinungen womöglich
durch Herbeiziehung aller in Betracht kommenden Glieder der Vergleichung
klar geworden ist, d. h. wenn zunächst die begleitenden Zustände unter
denen, die historischen Bedingungen vermöge deren sie ins Leben treten,
dann die tieferen Gründe dieses Erscheinens in der menschlichen Natur
erforscht sind ─ erst dann hat die Beobachtung eine Gestalt gewonnen,
um die Einreihung zu verdienen in das, was man nennen möchte:
eine Naturlehre des Epos.


  Ferner liegt ein Auszug bei: Wackernagel, Epische Poesie. Jm
Epos dient die Rede zur Charakteristik der Person, die Charaktere
haben die Function, die Handlung zu motiviren. Jsts nicht genan
noch so bei Thukydides? ist nicht seine Art die vollendete Ausprägung
und Erfüllung des Satzes: Epos == Geschichte?


  Der Gegensatz von Allgemeinheit und Jndividualität für ältere
und jüngere Zeit (wo in älterer das Jndividuum sich in der Masse
verlieren soll) ist falsch: es ist nur die fortschreitende Arbeitstheilung
zu beobachten, darauf führt der ganze Gegensatz zurück..... Nun
kommen die Fächer: bei den Germanen, scheint es, früh, doch nicht
Berufsstände, sondern Richtungen der Thätigkeit mannigfaltiger. Dies
ist ein höchst wichtiger Gesichtspunct für die ganze Stellung der
Frauen bei den Germanen (vgl. o. 299─300).


  Zwei weitere Blätter beschäftigen sich mit dem griechischen
Epos; sie sind überschrieben
Historischer Gehalt der Jlias und
Der Mythus des Trojanischen Krieges. Es wird auf Prellers Mythologie
2, 103 f. und auf Ztschr. f. d. Alterth. 12, 353 verwiesen
.


  Zwei andere Blätter überschrieben Schack Firdusi, welche |#f0318 : 302|

die oben entwickelten Anschauungen an dem persischen Epos
prüfen, sind im Vorhergehenden schon benutzt worden
.


  Endlich liegt ein Blatt bei mit der Überschrift Beov. II. Ich
hebe aus
: Welche wundervolle Scene ─ Wiglaf bei seinem Herrn
auf der Klippe, ihn wieder zu beleben versuchend ─ da kommen die
Treulosen aus dem Busch hervor. Zu untersuchen ob bei dem Dichter
auch sonst malerische Phantasie. Wie menschlich ist der Beovulf!
Wie viel Großartiges! Dies Bild der Untreue der Mannen im Allgemeinen
gegenüber der Treue des Einzelnen, während er für sie stirbt.


  Die dramatischen Dichtungsarten S. 250. Skizzen:


  Zur Theorie des Dramas. Methode der Charakteristik zu vergleichen
mit der Charakteristik in epischer Dichtung.


  Bestimmte psychologische Zustände, deren Behandlung beliebt oder
nicht, z. B. Wahnsinn kommt durch Shakespeare empor.


  Charaktere auf dem Grunde der Ethik. Umfang weiblicher und
männlicher Charaktertypen bei verschiedenen Dichtern. Bei manchen
kehren immer dieselben wieder. Oft liegts an der Zeit, daß eine gewisse
Enge .... Charaktere überhaupt nichts specifisch Dramatisches.
Aber wohl darf gefragt werden, welches sind dramatische Charaktere?


  Aus den Notizen zur dramaturgischen Litteratur theile ich
Bemerkungen zu Calderons „Andacht zum Kreuz“ mit
: Ein echt
Calderonisches Stück. Vgl. Ahnfrau. Worin jedoch Calderon übercalderont.
Sehr einfache Bühnenmittel noch: ausdrückliche Wegschickung
um Dialog oder Monolog herzustellen zweimal, Unterbrechung zweimal,
Überraschung und Verstecken wiederholt.... Zufall gehört auch
zum Wunderbaren. Übergänge etwas hart und ausdrücklich, diese
machen aber das Charakteristische dieses Stückes aus... Bauern mit
Absicht komischer Effecte eingewoben. Tendenz im Allgemeinen: Sentenzen
zahlreich und z. Th. trivial, häufige Abstracta, gesuchte unerwartete
Antithesen, Ausdrucksweisen gehäuft (die ebenfalls auf Grillparzer
wirkten z. B. in jenem „Jch bins ─ bins ─ bins“). Abwesenheit
aller individuellen Charakteristik im Grunde. Es sind sämmtliche Personen
Typen... Das Großartigste, und wirklich bloß in diesem spanischen |#f0319 : 303|

Drama möglich, ist die Schilderung der Leidenschaft. So
durchdrungen alles von der Superstition, von der Furcht der Höllenstrafen
(oder vielleicht ... von der unfehlbaren Absolution durch
Beichte??) von dem religiösen Bewußtsein ─ trotzdem, und zwar
bewußt, reißt Leidenschaft alle Schranken nieder, ─ sie können nicht
anders.


  Vergleich von Poesie und Prosa. S. 270. Ein Entwurf
bringt Mehreres was im Text steht. Am Schluss
: Die Poesie stellt
den ursprünglichen sinnlichen Menschen wieder her; sie regt die sinnliche
Anschauung an; sie regt die Selbstthätigkeit und Phantasie auf. Aber
auch der Verstand kann zur Selbstthätigkeit angeregt werden durch
antithetischen Witz u. dgl. Das ist nicht im höchsten Sinn poetisch,
aber doch in der Poesie häufig.

|#f0320 : E304|

──────
Berlin, Druck von W. Büxenstein. ──────

|#f0321 : E305|
|#f0322 : E306|
|#f0323 : E307|
|#f0324 : E308|