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POETIK
RHETORIK UND STILISTIK

ACADEMISCHE VORLESUNGEN
VON
WILHELM WACKERNAGEL

HERAUSGEGEBEN
VON
LUDWIG SIEBER ──────


HALLE
VERLAG DER BUCHHANDLUNG DES WAISENHAUSES
1873

|#f0001 : EAI:a|
|#f0002 : RI|

POETIK
RHETORIK UND STILISTIK

ACADEMISCHE VORLESUNGEN
VON
WILHELM WACKERNAGEL

HERAUSGEGEBEN
VON
LUDWIG SIEBER ──────


HALLE
VERLAG DER BUCHHANDLUNG DES WAISENHAUSES
1873

|#f0003 : RII|
|#f0004 : RIII|

VORWORT.


Wackernagels Vorlesungen über Poetik, Rhetorik und Stilistik,
mit deren Herausgabe die Familie des Verstorbenen mich
beauftragt hat, sind der Hauptsache nach im Sommer des Jahres
1836 und im darauf folgenden Winter entstanden. Sie fallen
also in den Beginn seiner academischen Lehrthätigkeit in Basel
und in die Zeit der Arbeit an dem noch immer mustergültigen
Deutschen Lesebuche. Mit diesem umfangreichen Werke, dessen
erster Band den Verfasser auch kurz vor seinem Tode wieder
in Anspruch nahm, und nicht minder mit der leider unvollendet
gebliebenen Geschichte der deutschen Litteratur stehn denn auch
diese Vorträge im innigsten Zusammenhang; die in jenen beiden
Werken geübte litterarhistorische Kritik findet hier nicht selten
ihre principielle Begründung und Rechtfertigung.


Aber es war wohl nicht allein diese Erwägung, welche die
Hinterlassenen Wackernagels veranlasste, die vorliegenden Vorlesungen
dem Drucke zu übergeben und weiteren Kreisen zugänglich
zu machen. Auch der freudige und bei keiner von den
häufigen Wiederholungen ausbleibende Beifall, den das gesprochene
Wort bei den zahlreichen Zuhörern fand, und die unermüdliche
Sorgfalt, womit der Verfasser bis in die letzten Lebensjahre seine
Vorträge zu verbessern, zu glätten und zu erweitern bemüht
war, haben sicherlich und mit Recht die Veröffentlichung als
wünschenswerth erscheinen lassen.


Freilich ist nicht zu leugnen, dass das Buch eine wesentlich
andre, eine weit bessere und vollkommenere Gestalt würde erhalten
haben, wenn Wackernagel selbst sich zur Herausgabe hätte
|#f0005 : RIV|

entschliessen können; aber auch so, wie es nun vorliegt, wird
mannigfache Belehrung und Anregung von ihm ausgehn, und von
den vielen Schülern des Verfassers wird es nun gewiss Manchen
freuen, mit reiferer Einsicht und klarerem Verständnisse gedruckt
lesen zu können, was er in jüngeren Jahren mit Begeisterung aus
dem Munde des verehrten Lehrers gehört hatte.


Ueber mein Verfahren bei der Herausgabe habe ich Folgendes
zu bemerken. Die Grundlage bildete das Manuscript des
Verfassers, dessen getreue Wiedergabe ich mir durchweg zur
Pflicht gemacht habe. Die Zusätze und verbessernden Randbemerkungen,
die im Laufe von drei Jahrzehenden zu einer
bedeutenden Zahl anwuchsen, sind nach Wackernagels Andeutungen
mit behutsamer Schonung in den ursprünglichen Text eingereiht,
und auch die häufigen Bleistiftnotizen, deren Entzifferung
nicht immer leicht war, habe ich nach Kräften zu verwerthen
gesucht. An manchen Stellen, wo die Gedanken mehr nur angedeutet
als stilistisch ausgeführt waren, und wo sich statt vollständiger
Sätze nur einzelne bezeichnende Worte fanden, wurde
ergänzt, was der Satzbau und der Zusammenhang durchaus zu
fordern schienen. Ebenso glaubte ich die Eintheilung in Hauptabschnitte
und Capitel consequenter durchführen zu sollen, als es
in der Handschrift des Verfassers der Fall ist. Sonst aber habe
ich mich jeglicher eigenen Zuthaten enthalten.


Am Schlusse des Capitels, das vom Stil des Verstandes handelt
(S. 363─368), fehlt im Manuscript derjenige Abschnitt,
in welchem vom Rhythmus der Perioden die Rede ist. Da die
betreffenden Blätter im Nachlasse des Verfassers nicht aufzufinden
waren (vielleicht sollten dieselben einer Umarbeitung unterworfen
werden), so musste die Lücke so gut als möglich aus
einigen, freilich nicht stenographischen Collegienheften ergänzt
werden.


Seine theoretischen Erörterungen pflegte Wackernagel durch
Mittheilung zahlreicher Proben und Musterstücke zu beleben,
von denen er die meisten dem mit Rücksicht auf diese Vorlesungen
entworfenen Deutschen Lesebuch (LB.) entnahm. Beim
Drucke konnte von einer Einreihung dieser begründenden Belege
|#f0006 : RV|

nur in seltenen Fällen die Rede sein; ich musste mich mit Verweisungen
begnügen, die gern und mit Nutzen nachschlagen wird,
wer dem Buche ein eingehenderes Studium widmet. Vom sechsten
Bogen an ist bei den Citaten aus dem ersten, altdeutschen Theile
des Lesebuchs neben der vierten auch noch die fünfte, nach dem
Tode des Verfassers von Max Rieger besorgte Auflage berücksichtigt.
Auf Wackernagels Litteraturgeschichte habe ich mit
Rücksicht auf das höchst willkommene Register, welches Ernst
Martin der neuen Ausgabe beigegeben hat, nur in besonders
wichtigen Fällen verwiesen.


Die Manchem vielleicht auffallende Weitläuftigkeit, womit
in der Rhetorik die Rede undmbesonders die Predigt behandelt
ist, hat ihren Grund in der grossen Zahl von Studierenden
der Theologie, welche Wackernagels Vorlesungen zu hören
pflegten.


Eine Reihe von Bemerkungen über den Roman und sein
Verhältniss zur Geschichtsschreibung (S. 80 fgg.) wird der Leser
in der Rhetorik (S. 241 fgg.) fast wörtlich wiederfinden; diese
Wiederholung, deren Beseitigung mir nicht erlaubt schien, erklärt
sich durch den Umstand, dass sich Wackernagel zuweilen veranlasst
sah, von den drei Haupttheilen in dem einen Semester
diesen, in dem andern jenen als selbständiges Colleg vorzutragen.



Es erübrigt noch in Erinnerung zu rufen, dass zwei
grössere Abschnitte der Poetik schon vor einer längeren Reihe
von Jahren sind veröffentlicht worden. Die Abhandlung über die
epische Poesie (S. 42─119) findet sich im Schweizerischen
Museum für historische Wissenschaften, herausgegeben von Gerlach,
Hottinger und Wackernagel, 1, 341. 2, 76 und 243; den
Abschnitt, welcher von der dramatischen Poesie handelt (S. 171
bis 230), liess Wackernagel im Jahre 1838 als academische
Gelegenheitsschrift erscheinen; diese hat jedoch damals, wie es
scheint, keine grosse Verbreitung gefunden. Eine Vergleichung
der ursprünglichen Fassung dieser beiden Aufsätze mit dem vorliegenden
Drucke wird zeigen, dass keine Seite ohne erhebliche
Aenderungen geblieben ist.

|#f0007 : RVI|


Zum Schlusse kann ich nicht unterlassen, den verschiedenen
älteren und jüngeren Freunden, welche mir die von ihnen nachgeschriebenen
Collegienhefte zur Benützung mitgetheilt haben, für
den geleisteten Dienst den verbindlichsten Dank zu sagen. Besonders
aber sei hier in dankbarer Gesinnung auch des überaus
freundlichen Beistandes gedacht, womit Herr Prof. Dr. Moritz
Heyne die Herausgabe dieser Vorlesungen seines Vorgängers
gefördert hat.


Basel,den 14. August 1873.
Ludwig Sieber.

|#f0008 : RVII|

ÜBERSICHT DES INHALTES.

EINLEITUNG.
Sittlichkeit, Wissenschaft und Kunst als menschliche Gegenbilder der göttlichen
Allgüte, Allweisheit und Allmacht 1.
Das Schöne; Begriff und Etymologie
des Wortes 2.
Einbildungskraft, Gefühl und Verstand als Mittel zur Aufnahme
des Schönen 3.
Die Kunst als schöne Darstellung des Schönen 5.
Sinnliche und
geistige, fixierende und transitorische Künste 6.
Die Dichtkunst verglichen mit
den bildenden Künsten 7.
Wesen und Begriff der Kunst 9.
Unterschied zwischen
Poesie und Prosa 10.

POETIK.
VORBEMERKUNG.
Wesen und Ziel der Poetik 15.
I. VON DER POESIE IM GANZEN UND ALLGEMEINEN.
1. DAS WESEN DER POESIE.
Die Poesie als schöne Darstellung des Schönen durch das Wort 16.
Bedeutung
der Einbildungskraft für die Conception der poetischen Idee; Antheil des
Gefühls und des Verstandes 17.
Ebenmässiges Zusammenwirken der drei Seelenkräfte
als Grundlage der Einheit, Einfachheit und Objectivität des poetischen Kunstwerkes
18.
Adel und Anmuth 19.
Vorwalten einzelner Kräfte: phantastische, gemüthliche,
sentimentale, reflectierende Poesie 19.
Unvermittelter Widerstreit zwischen
den drei Seelenkräften. Conflict der Einbildung mit dem Verstande: das Lächerliche,
Spott und Ironie 21.
Beseitigung des Verstandes durch die Einbildung: das
Erhabene 22.
Conflict der Einbildung mit Gefühl und Gemüth: Wehmuth, Laune 23;
Humor 24.
Bewältigung des Gefühls durch die Einbildung: das Grausenhafte 25.
Darstellung der poetischen Idee durch die Sprache 28.
Zweck der künstlerischen,
besonders der poetischen Darstellung 28.
Rhythmische Gliederung der poetischen
Rede 33.
2. ALTER UND URSPRUNG DER POESIE.
Die Poesie älter als die Prosa. nicht viel jünger als die Sprache 35.
Sagen
vom Ursprung der Poesie 36.
|#f0009 : RVIII|

3. BENENNUNGEN DER POESIE.
Etymologie der von Griechen, Römern und Deutschen der Dichtkunst und
den Dichtern beigelegten Namen 39.
II. VON DER POESIE IM BESONDERN.
1. DIE EPISCHE POESIE.
Epik die älteste Gattung der Poesie; Belege aus Geschichte und Sage 42.
Innere Gründe 44.
Wesen der epischen Poesie 47.
Erste Stufe: das Epos der nationalen Objectivität.
Gestaltungen der epischen Anschauung:
Sage 48;
Mythus 50;
Märchen 52;
Thiersage 55.
Die Nation als Subject der epischen Poesie 57.
Mündliche Ueberlieferung;
ihr Einfluss auf Anschauung und Darstellung. Gesang mit Saitenspiel 59.
Sänger von Gewerbe 60.
Einfachheit des alten Epos 61.
Anschaulichkeit desselben
62.
Umfang 63.
Epische Wiederholungen 63.
Metrische Form 64.
Ursprung
der Lyrik und des Dramas 66.
Zweite Stufe: das Epos der individuellen Subjectivität 70.
1) Epische Epik 71.
Rhapsoden 72.
Epopöien 73.
Episoden 75.
Ilias,
Odyssee, Nibelungen 76.
Selbständige Epopöien 78.
Erzählungen 79.
Untergang
des Epos; Geschichtsschreibung und Roman 80.
Wesen und Gesetze der reinen
Epik: Einheit des geschichtlichen Verlaufes und der Person 83,
der Zeit und des
Ortes 84.
Breite 85.
Objectivität 85.
Möglichkeit der Reproduction 86.
Einmischung
der Mythologie 87.
Historische Stoffe 88.
Erfundene Stoffe 89.
Komische
Epopöien 90.
Erzählungen 91.
2) Lyrische Epik 92.
Hymnen und Threnen 92.
Nenien 93.
Lyrische Epik
der modernen Völker 94.
Volkslieder 96.
Balladen und Romanzen 98.
3) Didactische Epik 100.
Idyll 102.
Satire 105.
Fabel 109.
Parabel 110.
Geschichte der Fabel 111.
Sprichwort 116.
2. DIE LYRISCHE POESIE.
Vergleichung der Lyrik mit der Epik 119.
Historisches Verhältniss beider
124.
1) Epische Lyrik 126.
Heroides 126.
Mimische Poesie 127.
Elegie 128.
Epigramm der Empfindung 138.
Lyrische Gelegenheitspoesie 141.
Pindar 142.
Leich 147.
Kirchenlied 148.
Weltliche Gelegenheitspoesie 150.
Ode 151.
2) Didactische Lyrik 153.
Reines Lehrgedicht 153.
Spruch, Sentenz, Gnome
154.
Beschreibende Poesie 155.
Satire des Archilochus 158.
Epistel 158.
Epigramm
der Lehre und des Spottes 159.
Sprichwörtliche Sprüche, Priamel, Räthsel 161.
Didactische Gelegenheitspoesie 162.
Lehrgedicht 165.
3) Lyrische Lyrik 167.
Lied 170.
3. DIE DRAMATISCHE POESIE.
Ursprung des Dramas 171.
Wesen und Begriff desselben 173.
Geschichtliche
Entwickelung 175.
Der Chor der Griechen 177.
Der Chor Schillers und
Platens 181.

Gesetze der dramatischen Kunst. Einheit und Verwickelung der Handlung
184.
Eine Hauptperson 185.
Eine Hauptbegebenheit 186.
Ununterbrochener Verlauf
der Handlung 188.
Hauptglieder der Handlung: Exposition und Verwickelung |#f0010 : RIX|

189;
Auflösung 190.
Eintheilung in Acte 191.
Einheit der Zeit und des Ortes 193.

Illusion 195.
Scenerie und Decorationen 197.
Metrische Form des Dramas 197.

Aufführbarkeit 200.

Arten der dramatischen Poesie. Die Namen Tragödie und Comödie 202.
Innerer
Unterschied beider 203.
Wesen und Zweck der Tragödie 206.
Furcht und Mitleid
207.
Charactere 208.
Historische Wirklichkeit der Tragödie 210.
Costüm 214.

Bürgerliches und historisches Trauerspiel 215.
Wesen und Gebiet der Comödie 216.

Ihre Wirklichkeit 218.
Charactere 219.
Freie Erfindung der Handlung 221.
Subjectivität
des komischen Dichters 222.
Der komische Chor 223.
Abarten der dramatischen
Poesie: Schauspiel 224.
Satyrspiel 226.
Rührendes Lustspiel, bürgerliches
Schauspiel 227.
Singspiel 228.
Oper und Operette 229.
Vaudeville, Melodrama,
Monodrama, Cantate, Oratorium 230.

RHETORIK.
VORBEMERKUNG.
Begriff der Rhetorik 235.
I. VON DER PROSA IM ALLGEMEINEN.
Wesen und Namen der Prosa 237.
Alter und Ursprung derselben 238.
Arten 239.
Gebrauch der Schrift 240.
II. VON DER PROSA IM BESONDERN.
1. DIE ERZÄHLENDE PROSA.
Entstehung aus der epischen Poesie 240.
1) Geschichtsschreibung:
Verfahren
des Historikers im Vergleich mit dem des Epikers 242.
Pragmatische Geschichte 243.
Idee und Einheit 244.
Gebiete: Biographie, Specialgeschichte und Universalgeschichte
245.
Historische Darstellung 246.
Anordnung 248.
2) Roman:
Einheit 250.
Erfundene
und historische Stoffe 251.
Characteristik 252.
Dialog und Brief 253.
Komischer,
satirischer, humoristischer, didactischer Roman 254.
Erzählung 255.
Novelle
256.
Novellencyclus 258.
Abarten der erzählenden Prosa:
Gespräch 258;
Beschreibung
259;
Characteristik 262.
2. DIE LEHRENDE PROSA.
Entstehung aus der didactischen Lyrik 264.
1) Abhandelnde Prosa 266:
Abhandlung 267.
Lehrbuch 268.
Dialog und Brief 269.
2) Rednerische Prosa
271:
Arten der Rede, politisch 272,
gerichtlich 273,
geistlich 273.
Lobrede 275.
Schulrede 276.
Bau der Rede: Dreitheiligkeit 277.
1) Exordium 279:
Captatio benevolentiae
280;
Narratio facti 281;
Expositio 282.
Besonderheiten des Exordiums in geistlichen
Reden 284.
Predigt und Homilie 288.
Propositio und Partitio 289.
Gebet 291.
2) Disputatio 294:
Erklärung und Beweisführung 296.
Besonderheiten in geistlichen
Reden 298.
3) Conclusio 299:
Recapitulatio 300;
pathetischer Theil 301;
Beschluss
302.
Schlussgebet 305.
Schematische Tabelle 306.
Die Rede verglichen mit dem
Drama 307.
|#f0011 : RX|

STILISTIK.
VORBEMERKUNG.
Begriff und Zweck der Stilistik 311.
I. VOM STIL IM ALLGEMEINEN.
Das Wort Stil 312.
Definition 313.
Subjective und objective Seite des Stils
314.
Manier 315.
Gattungen und Eigenschaften des Stils 317.
Niederer, mittlerer
und höherer Stil 320.
Uebersicht der Vertheilung von Poesie und Prosa unter die
drei Hauptgattungen des Stils 321.
II. VOM STIL IM BESONDERN.
1. DER STIL DES VERSTANDES.
Benennungen der Prosa 323.
Umfang der ersten Stilgattung 324.
Arten derselben
325.
Deutlichkeit, der allgemeine Character des verständigen Stiles 326.
Deutlichkeit in der Wahl der Worte 327.
Reinheit und Richtigkeit 327.
Verstösse gegen die Reinheit:
1) Archaismus
329;
2) Provincialismus 331;
3) Barbarismus 333;
4) Neologismus und Purismus 338.
Angemessenheit 340.
Verstösse dagegen:
1) Uneigentlichkeit 341;
2) Katachrese
342;
3) Vocabula solemnia 342;
4) Amphibolie 342;
5) Allgemeinheit 343;
6) Verwechslung der Synonyma;
7) Pleonasmus;
8) Tautologie;
9) Anhäufung von
Synonymen 344.
Deutlichkeit in der Anordnung und Verknüpfung der Worte 345.
Periodenbau 345.
Begriff der Periode 345.
Anforderungen an dieselbe:
1) Ueberschaulichkeit, erreicht durch Hervorhebung 346
und durch Ebenmass 350;
2) Wohlklang 362.
2. DER STIL DER EINBILDUNG.
Umfang und Arten der zweiten Stilgattung 368.
Anschaulichkeit, ihr
characteristisches Erforderniss 369,
und erreicht durch Sinnlichkeit und durch
Lebendigkeit.
Sinnlichkeit in der Wahl der Worte 371.
Archaismus und Provincialismus im Stil der Einbildung 372.
Barbarismus
374.
Macaronische Poesie 375.
Niedre und höhere Sinne 376.
Edler und unedler
Ausdruck 377.
Sinnlichkeit für das Gehör; Lautmalerei 379.
Sinnlichkeit für das
Gesicht: Figuren und Tropen im Allgemeinen 380.
Fehler im Gebrauch derselben:
Ueberhäufung 382;
Katachrese 384.
Figuren:
Epitheton ornans 385;
Umschreibung 386;
Vergleichung und Gleichniss
387;
Anspielung (Allusio) 389.
Tropen:
Metonymie 390;
Wortspiel (Annominatio) 391;
Synecdoche 393;
Metapher 394;
Allegorie 396;
Personification 396;
Anrede (Apostrophe) 399;
Praesens
historicum 400;
Infinitivus historicus 400;
Hyperbel 401;
Litotes 402;
Ironie
402;
Oxymoron 404;
Euphemismus 404.
Lebendigkeit in der Anordnung und Verbindung der Worte 406;
a) in Rücksicht auf deren Gehalt. Mittel zur Bewegung des Ruhigen:
Asyndeton
409;
Gradation (Climax) 410;
Ellipse und Aposiopese 412.
Mittel zur Beruhigung |#f0012 : RXI|

des Bewegten;
α) durch Verharren:
Polysyndeton 413;
Cumulation 414;
Tautologie 415;
Parallelismus 416;
Inversion; Hysterologie 417;
β) durch Wiederholung:
Epische Wiederholung 418;
Anacoluthie 420;
Theilung und Zusammenzählung;
Refrain 422;
Anaphora; Epiphora 425;
Epanalepsis (Anadiplosis); Epanodos
426;
Epizeuxis; Symploke 427;
Polyptoton; Annominatio 428;
Echo 429.
b) in Rücksicht auf die Gestalt der Worte:
Wohlklang 430.
Wohllaut: Vermeidung
des Hiatus durch Apocope und Synalöphe 433;
Ausschmückung des Verses
durch wiederkehrenden Gleichlaut 437;
Allitteration und Reim 438;
Reimprosa 441;
Assonanz 442.
3. DER STIL DES GEFÜHLS.
Leidenschaftlichkeit, das characteristische Merkmal der dritten Stilgattung
443.
Arten derselben 444.
Ethos und Pathos 445.
Abstufungen des lyrischen und
des oratorischen Stils 446.
1) Oratorische Prosa 448;
2) Lyrische Poesie 450.
|#f0013 : RXII|

DRUCKFEHLER.

S. 57 Zeile 15 von unten lies Thiersage statt Thierfabel.


„ 298 „ 9 „ „ „ § 38 statt § 8.

|#f0014 : E1|

EINLEITUNG.


Die drei hauptsächlichen Eigenschaften, die der Glaube und die
Glaubenslehre in dem Wesen Gottes unterscheidet, seine Allgüte, Allweisheit,
Allmacht, spiegeln sich auch in seinem ersten und liebsten
Geschöpfe wieder, in dem Menschen, der nach Genes. 1, 27 zum Bilde
Gottes geschaffen ist; aber sie sind verwischt und verdunkelt unter
dem Staube der Sündlichkeit, weshalb schon Paulus sagt: „Wir haben
aber solchen Schatz in irdischen Gefässen, auf dass die überschwängliche
Kraft sei Gottes, und nicht von uns“ 2. Cor. 4, 7. Nicht die
Fülle jener Eigenschaften, ja nicht einmal einen Theil derselben besitzt
er: nur ein sehnsüchtiges Streben danach ist ihm geblieben und die
Pflicht in diesem Streben so rein und eifrig zu sein, als es in den
Schranken des sinnlichen und vergänglichen Leibes möglich ist. Gott
ist allgütig: der Mensch ringt danach oder soll danach ringen, das
Gute zu thun und das Böse zu lassen; er hat die Sittlichkeit. Gott
ist allweise: der Mensch strebt nach Erkenntniss dessen, was in ihm
und um ihn und über ihm ist, nach beständiger Erhöhung und Erweiterung
dieser Erkenntniss; er hat den Wissenstrieb. Gott ist allmächtig:
der Mensch sucht der Allmacht Gottes nachzuschaffen, nach
seinem Vermögen und mit seinen Mitteln vollkommene Schöpfungen
hinzustellen; er hat den Kunsttrieb. Gottes ist die volle Güte: des
Menschen nur der Trieb der Sitte; Gottes die Weisheit: des Menschen
nur die Wissenschaft; Gottes die Macht: des Menschen nur die Kunst.
Oder mit andern Worten, die Fülle und der Glanz des göttlichen
Reichthums scheint aus der verlangenden Seele der Menschheit zurück
als das Streben nach dem Guten, dem Wahren, dem Schönen, und
das zugleich nach all diesen drei Seiten hin gerichtete Streben ist
es, zu welchem der Apostel Paulus die Gläubigen ermahnt, Philipp.
4, 8: „Weiter, lieben Brüder, was wahrhaftig ist, was ehrbar, was
keusch, was lieblich, was wohl lautet, ist etwa eine Tugend, ist etwa
ein Lob, dem denket nach.“ Denn führt man die gehäufte Fülle
dieser Worte auf einen einfacheren Ausdruck zurück, so ergeben sich
die drei Begriffe des Wahren, des Guten, des Schönen. Es soll und |#f0015 : 2|

muss aber das Streben des Menschen zugleich nach all den drei
Seiten hin gerichtet sein; denn wie jene Eigenschaften der Gottheit
von einander unzertrennlich sind, wie die Allmacht nicht kann gedacht
werden ohne die Allgüte und die Allweisheit, so giebt es auch kein
rechtes Streben nach dem Schönen, dem nicht das Streben nach dem
Wahren und dem Guten zur Seite gienge, und es kann keine Kunst
bestehn, die verlassen wäre von Sittlichkeit und von menschlicher
Weisheit. Gleichwie aber in den Wirkungen der Gottheit bald die
eine, bald die andre jener Eigenschaften deutlicher sich offenbart, so
wird auch in dem aufringenden Streben der Menschheit jetzt dieser,
jetzt jener Trieb erkennbarer und mit überwiegender Wirksamkeit
hervortreten, und in solcher Weise ist es dann auch möglich, die
Kunst von der Sitte und der Wissenschaft, das Schöne von dem Guten
und dem Wahren abzusondern.


Wir haben nunmehr, wie es in den Zwecken dieser Vorlesung
liegt, noch des nähern zu betrachten, was denn schön sei, und was
denn unter Kunst müsse verstanden werden.


Vom Begriffe des Schönen giebt es eine Unzahl von Definitionen,
und die abweichendsten und im Ausdrucke einander aufs mannigfachste
widerstreitenden. Aber meistentheils eben auch nur im Ausdrucke:
der wechselt nach der jedesmaligen Ausbildung der wissenschaftlichen
Sprache und je nach der philosophischen Schule, aus welcher die Definition
hervorgegangen. In der Sache selbst, dem wesentlichen Gehalte
nach kommen ziemlich alle in einer Erklärung überein, die so trifft
und erschöpft, als es möglich ist bei dergleichen abstracten Gegenständen,
in der Erklärung, dass die Schönheit in der Vollkommenheit
beruhe, d. h. um es weitläuftiger zu sagen, in der übereinstimmenden
Verbindung aller Theile zum Ganzen. Schönheit ist also da, wo Einheit
ist in Mannigfaltigkeit. Durch diese Definition wird es gerechtfertigt,
dass vorher der Schönheitssinn ist dargestellt worden als das
menschliche Nachbild und Gegenbild der göttlichen Allmacht: denn
wo anders zeigt sich die wahre Vollkommenheit, die wirklich übereinstimmende
Verbindung der Einzelheiten zum Ganzen, die in der
That abgeschlossene Einheit des Mannigfaltigen, wo anders also die
höchste Schönheit als in den Schöpfungen der göttlichen Allmacht?
Und umgekehrt mag dann wieder dieses Verhältniss des menschlichen
Geistes zum göttlichen der gegebenen Definition zur Bewährung und
Bekräftigung dienen. Auch aus den Worten, welche verschiedene
Sprachen für den Begriff des Schönen besitzen, bestätigt sich jene
Erklärung: noch ehe die Philosophen mit ihren chemischen Absonderungs-
und Zergliederungskünsten über ihn gekommen sind, hat mehr |#f0016 : 3|

als ein Volk das Richtige geahnt und getroffen und in dem gewählten
Ausdrucke ausgesprochen. Die althochdeutsche Sprache hatte für
schön das Wort vakar, die altnordische fagr (man denke an Harald
Hârfagr, d. h. Schönhaar, den Stifter des einigen norwegischen Reiches
c. 875), und beide sind etymologisch verwandt mit παχύς dicht,
fest. Nicht so philosophisch bedeutsam ist unser Wort schön. Philosophen
wie Kant und Hegel leiten dasselbe von scheinen her, was
jedoch etymologisch unmöglich ist; es gehört vielmehr zu schauen.
Die althochdeutsche Form skaoni bezeichnet, was man gern schaut,
was angenehm in die Augen fällt: aber bald wird das Wort auch als
der Ausdruck für das Vollständige, Vollkommene aufgefasst: ein schöner
Tag
ist also ein vollständig heller Tag im Gegensatz zur Dämmerung
und zum Zwielicht. Von schön stammt auch schonen, d. h.
ganz und unverkümmert lassen. Wie schön, so geht auch das griechische
καλός auf den Gesichtssinn, es ist verwandt mit dem deutschen
hell und von gleicher Wurzel wie κέλομαι, καλέω, calare. Der
Zusammenhang des Hellen und des Schönen zeigt sich auch in λευκός,
das sowohl das Leuchtende als auch das Schöne bezeichnet. Noch mag
bemerkt werden, weil es die Zusammengehörigkeit des Schönen und
des Guten, die Kalokagathie, auch auf sprachlichem Wege und auch
für das Deutsche bestätigt, dass Ulfilas in der gothischen Bibelübersetzung
den Begriff schön mit gôds d. h. gut, den Begriff gut mit fagrs
d. h. schön ausdrückt: so z. B. Luc. 14, 34. 35, wo gôd dem griechischen
καλόν und fagr dem griechischen εὔθετον entspricht. Im
Mittelhochdeutschen gelten vuoge und gevüege nicht nur von künstlerischer
Geschicklichkeit, sondern auch von sittlicher Schicklichkeit und
Wohlanständigkeit.


Welche Mittel sind es nun, durch die der Geist des Menschen
das Schöne in sich aufnimmt und sich desselben bemächtigt? Drei
Seelenkräfte treten hier in Wirksamkeit. Zuerst und hauptsächlich
die Einbildungskraft, die entweder Erinnerung ist oder Phantasie,
entweder reproduciert oder produciert, entweder als Gedächtniss früher
gewonnene Vorstellungen nur erneuert oder aber nach Analogie
solcher älterer Vorstellungen als Phantasie neue erzeugt und schafft.
Ganz und gar neue nicht, nie ganz unerhörte, noch gar nie dagewesene:
immer noch Analogien von Gedächtnissbildern. Selbst die ausschweifendste
Phantasie schafft immer nur mit Gestalten, welche ihr
die Erinnerung an die Hand giebt. Die Einbildungskraft gewährt die
unzertrennte Anschauung des Schönen, giebt das Ganze mit und in
den Theilen, die Theile in und mit dem Ganzen. Sie ist das eigentliche
Substrat des menschlichen Triebes zum Schaffen und Gestalten, |#f0017 : 4|

auf ihr fusst und beruht der Kunsttrieb; ohne sie kann der Mensch
unmöglich das Schöne sich zu eigen machen. Wie aber vorher bemerkt
worden ist, dass verlassen vom Guten und vom Wahren das
Schöne nicht bestehen könne, so führt denn auch die blosse Einbildungskraft
nicht zum Ziel: mit ihr allein kann der Mensch niemals
das Schöne als solches ganz fassen und begreifen, sie allein wird
seinen Geist ebenso leicht auch mit unschönen und hässlichen Bildern
anfüllen. Es müssen eben noch die beiden anderen Kräfte wirkend
dazu treten, das Gefühl und der Verstand. Das Gefühl, natürlich
hier von seiner höheren geistigen, nicht von der sinnlichen Seite aufgefasst,
oder wie man es nennt, wenn es nicht bloss jezuweilen angeregt
wird, sondern in beständig gleich warmer und vorwaltender
Wirksamkeit bleibt, das Gemüth, entscheidet, je nachdem es angenehm
oder unangenehm berührt wird, über Lust oder Unlust an den Anschauungen
der Einbildungskraft: Gefühl und Gemüth sind der sittliche
Prüfstein der letzteren: denn das Gefühl ist diejenige Seelenkraft,
welche den Menschen zum Guten treibt; es ist das irdische
Schattenbild der göttlichen Güte. Wie also die Einbildung dem Kunsttriebe
und das Gefühl der Sittlichkeit dient, wie jene zum Schönen
führt, dieses das Schöne als gut erkennen lässt, so dient endlich die
dritte Kraft, der Verstand, dem Streben nach dem Wahren, dem
Wissenstriebe; er hat dann auch noch seine Hand anzulegen an die
von der Einbildung geschaffene, von dem Gefühl genehmigte Anschauung;
er hat sie auf Wahrheit oder Unwahrheit hin zu prüfen; er hat besonders,
während die Einbildung auf einmal ein Ganzes giebt, diess
Ganze in seinen Theilen aufzufassen, und zu untersuchen, ob und wie
dem Ganzen nichts zur Einheit und Vollkommenheit gebreche, ob
auch nichts zu viel sei; er nimmt also neben dem Gefühl auch seinen
Antheil, aber mehr nur einen negativen, an der Entscheidung über
Schönheit und Unschönheit der ihm vorgelegten Anschauung. Natürlich
geht die Thätigkeit der drei genannten Kräfte nicht in so langsamer
Reihenfolge vor sich, wie ihr Stufengang so eben ist beschrieben
worden: diese drei Stadien werden ebensowohl in Einem Augenblick
durchlaufen, wie auch der Blitz in einem und demselben Augenblick
sich entzündet und die Luft durchschneidet und trifft.


Grade aber wie es Menschen giebt, bei denen der schöpferische
Kunsttrieb überwiegt, die also vorzugsweise Künstler, andre, die durch
Tugend grösser sind, weil in ihnen der Trieb zum Guten vorherrscht,
andere endlich, die sich in der Wissenschaft auszeichnen, weil in ihnen
das Streben nach dem Wahren das vorwaltende ist: grade so wirken
auch bei der Conception des Schönen die genannten drei Seelenkräfte |#f0018 : 5|

nicht überall, nicht zu allen Zeiten, nicht bei Jedem in der gleichen
Mischung, sondern es giebt Völker und Zeiten, es giebt Künstler und
Kunstgattungen, in denen die Einbildungskraft, andere, in denen das
Gefühl, andere, in denen der Verstand die stärkste und wirksamste
Feder des geistigen Mechanismus ist. Nur wenigen Erwählten ist es
gegeben, gleich eifrig und gleich glücklich das Gute, das Wahre, das
Schöne anzustreben; nur wenigen Künstlern, nur einzelnen Kunstgattungen
und Zeiten und Völkern eben solchen Reichthum an Einbildung
aufzuweisen als Feinheit des Gefühls und Klarheit des Verstandes;
wie unter den Künstlern Michel Angelo und Goethe, unter
den Kunstgattungen der Malerei und dem Drama, unter den Völkern
den alten Griechen und theilweise den Deutschen.


Bis jetzt haben wir nur gesehen, wie der menschliche Geist in
sich das Schöne anschaue: lassen Sie uns nunmehr betrachten, auf
welche Weise er diess Innerliche nun auch äusserlich wahrnehmbar
mache, auf welchen Wegen die bis dahin nur noch geistige Schöpfung
in die äussere Sinnenwelt eintrete. Es giebt der Weisen mehrere,
der hauptsächlichen Wege zwei: die Benennung dieser äusserlichen
Darstellung ist aber stäts dieselbe, nämlich Kunst, τέχνη, ars. Alle
drei Worte erleiden freilich auch eine weitere Anwendung, auch
manche bloss mechanische Fertigkeit, deren Zweck nicht das Schöne,
nur das Nützliche, Zweckmässige, Bequeme ist, wird so genannt; auch
die Beschäftigung, deren Ziel nur die Wahrheit ist, die Wissenschaft
(liberales artes), auch die Grammatik, welche früher Sprachkunst
hiess. Diese weitere Ausdehnung ist besonders im Deutschen etymologisch
vollkommen begründet: Kunst ist von können in derselben
Weise gebildet wie Gunst von gönnen, Brunst von brennen, und
wurde früher von innerer geistiger Fähigkeit gebraucht im Gegensatz
zu mögen, das eine äussere Befähigung ausdrückt. Indessen im engeren
Sinne, in der Sprache der Wissenschaft, bedeutet Kunst s. v. a.
Darstellung des Schönen als solchen und die Fertigkeit zu solcher
Darstellung. Dieser Beschränkung des Sinnes entspricht auch die
Etymologie des griechischen und des lateinischen Namens. Τέχνη ist
nicht von τεύχω (machen) abzuleiten, es gehört vielmehr zu τίκτω
(aor. ἔτεκον) und bezeichnet also eine Schöpfung; ars wie artus (Glied)
gehört zu ἄρω, ἀραρίσκω füge, verbinde: vorher aber ist ausgeführt
worden, wie der Kunsttrieb des Menschen nur ein Nachhall von Gottes
schöpfender Allmacht sei (τέχνη), und wie das Fügen und Verbinden
(ars) zum Wesen des Schönen gehöre. Kunst, ars, τέχνη bezeichnen
also die Darstellung des Schönen als solchen, oder wenn man will
die schöne Darstellung des Schönen. Darstellung des Schönen, diess |#f0019 : 6|

allein genügt nicht: denn das Schöne muss auch als Schönes in die
Sinnenwelt eintreten, muss als solches, muss auf eine der inneren
Conception entsprechende äussere Weise dargestellt werden, wenn
die Darstellung soll eine künstlerische heissen dürfen. Ein schöner
Gedanke in unschöner Rede, in ungeschickter und falscher Zeichnung
dargestellt ist kein Kunstwerk: er hat aufgehört schön zu sein.


Es giebt nun zwei Hauptwege das Schöne als solches darzustellen,
zwei Hauptrichtungen der Kunst, unterschieden nach den Mitteln
der Darstellung: es können diese Mittel mehr geistiger, sie können
mehr sinnlicher Natur sein. Sinnlich sind die Mittel, wenn die Idee,
wenn die schöne Anschauung eigentlich verkörpert, wenn sie dem
Auge, ja sogar dem sinnlichen Gefühl wahrnehmbar gemacht, wenn
das geistig Schöne nur sinnlich schön gestaltet wird. Es ist ein sinnliches
Mittel, wenn der Mensch seinen eigenen Leib schön stellt und
schön bewegt, und der Tanz gehört zu den Künsten sinnlicher Art;
es ist ferner ein sinnliches Mittel, wenn man rohen Stoff, welchen die
Natur darbietet, der inneren Conception gemäss schön gestaltet; die
Architectur, die Bildhauerei, die Malerei sind also sinnliche Künste.
Diese drei, die also fremden, ausserhalb des Menschen liegenden Stoff
gestalten, fasst man deshalb zusammen unter der gemeinsamen Benennung
der bildenden Künste. Ihre Darstellungen haben Bestand ein
für allemal: das Gebäude, die Statue, das Gemälde sind für immer
fertig, sind unveränderlich morgen so wie heute: die schönen Formen
des Tanzes dagegen sind mit dem Tanze selbst vorüber. Die bildenden
Künste haben mit der einmaligen Production das Ihrige gethan:
die Tanzkunst bedarf immer wiederholter Reproduction, sie leistet
nur vorübergehende Kunstübung, sie hat transitorischen Charakter.


Eben dadurch unterscheiden sich die bildenden Künste auch von
derjenigen Kunst, welche sich zu ihren Darstellungen geistiger Mittel
bedient, von der Poesie, der Dichtkunst. Der Dichter braucht weder
Steine noch Holz, weder Fleisch noch Bein: er bildet seine schöne
Anschauung in Gedanken und in vernehmbar, hörbar gewordenen Gedanken,
in Worten, und zwar sind, damit das Schöne auch schön
dargestellt werde, sowie die Gedanken auch die Worte schön; seine
Worte sind, jedes für sich und alle in ihrer Verbindung wohllautend;
sie sind, damit sich auch in ihnen das Gesetz der Schönheit darlege,
welches Einheit des Mannigfaltigen fordert, in rhythmische Reihen
gegliedert: er spricht in Versen. Aber auch das Kunstwerk des Dichters
ist an und für sich von vorübergehender Art und bedarf, um zu
existieren, immer erneuter Reproduction; es hat nicht den durch die
Materie fixierten und gesicherten Bestand wie die Erzeugnisse der |#f0020 : 7|

bildenden Kunst. Denselben transitorischen Character besitzt unter
den sinnlichen Künsten der Tanz; insofern macht dieser den Uebergang
von den sinnlichen Künsten zur Poesie. Ebenso steht auch
neben der Poesie noch eine andre geistige Kunst, welche von dieser
Seite aus den Uebergang zu den sinnlichen Künsten bildet, die Musik;
deren Erzeugnisse sind gleichfalls transitorischer Natur und verlangen
gleich denen der Poesie und der Tanzkunst die Reproduction,
ihre Darstellungsmittel aber sind viel sinnlicher beschaffen als die der
Poesie, sie denkt nicht wie die Poesie in Worten, sondern in Tönen,
sie giebt der schönen Anschauung die äussere Gestaltung in oft nur
unarticulierten Lauten, sie verleiht, wo sie Instrumentalmusik ist, der
Materie, dem Holz, dem Metall, der Saite zwar gleichsam eine Sprache,
aber doch nur gleichsam. Immerhin sehen Sie, wie die Tonkunst
und die Tanzkunst ihrer ganzen Art und Wesenheit nach sich der Kunst
der Poesie annähern, und wie diese drei transitorischen Künste, Dichtkunst,
Tonkunst, Tanzkunst können zusammen gruppiert werden
gegenüber jenen drei fixierenden, Architectur, Sculptur, Malerei. In
der That sind auch auf beiden Seiten die drei ursprünglich mit einander
verbunden. Sculptur und Malerei haben lange im Dienste der
Architectur gestanden, ehe sie sich zu selbständiger Geltung ausbildeten;
Musik und Tanzkunst sind noch heute verbunden, Poesie und
Musik waren es überall, auch in Deutschland viele Jahrhunderte hindurch:
auf der griechischen Bühne sehen wir alle drei mit einander
verschwistert: der Chor tanzt und singt seine Lieder.


Schon aus dem bisher Besprochenen ersehen Sie, wie weit Dichtkunst
und bildende Kunst auseinandergehen, wie sie aus der gleichen
Wurzel die eine linkshin, die andre rechtshin gewachsen sind. Dennoch
ist nichts geläufiger, als beide durch einander zu werfen, und
nichts so gäng und gäbe, als Eigenthümlichkeiten der einen Kunst in
Wort und That auf die andre zu übertragen und z. B. nicht bloss von
malerischen Gedichten zu reden, sondern auch wirklich Gedichte abzufassen,
welche prätendieren Gemälde zu sein; so hat ja Matthisson
eine ganze Anzahl seiner Gedichte Gemälde betitelt.


Lassen Sie uns darum noch auf einen weiteren Unterschied beider
Künste einen schnell vorübergehenden Blick werfen. Die bildenden
Künste können nichts Fortschreitendes darstellen: der Bildhauer z. B.
kann uns den Apoll nicht vorführen, wie er jetzt den Pfeil ergreift,
nun ihn auf den Bogen legt, nun ihn abschiesst, nun dem fliegenden
nachsieht: er kann immer nur einen dieser Momente herausgreifen.
Freilich wird er überall wo möglich einen solchen wählen, aus welchem
der Beschauer leichtlich vorwärts und rückwärts, auf vorhergegangene |#f0021 : 8|

und nachfolgende Momente der Thätigkeit schliessen kann,
welcher also die Phantasie des letzteren am leichtesten dahin bringt,
mit der Phantasie des Künstlers in verwandtschaftlich mitwirkenden
Verkehr zu treten. Er wird also wie z. B. der Meister des belvederischen
Apollo diesen Gott darstellen, wie er so eben geschossen hat
und nun in stolze Ruhe zurückgetreten dem Pfeile nachblickt: denn
nun belebt sich dem Anschauenden Alles, und er sieht in Gedanken
auch den Drachen, welchem der Pfeil zufliegt. Oder er wird, wie die
Maler das wohl verstehen, etwa aus einer blossen Falte des Gewandes
errathen lassen1, aus welcher Stellung, welcher Lage oder Bewegung
die dargestellte Figur in die momentan fixierte übergegangen sei. Und
so kann der bildende Künstler überall einen Fortschritt in der Handlung
wohl andeuten, wohl errathen lassen, aber eigentlich darstellen
kann er einen solchen nie.


Grade entgegengesetzt verhält es sich mit dem redenden Künstler,
mit dem Dichter. Das Vorwärtsschreiten, das dem bildenden Künstler
benommen ist, ist ihm nicht nur gestattet, sondern sogar geboten und
unvermeidbar. Sein Material, die Gedanken, die Worte, sind in beständig
bewegter Progression. Ein Satz, ein Vers schiebt den andern
auf die Seite und stellt ihn in den Schatten der Vergangenheit und
halber Vergessenheit; jedes Gedicht, mag es auch gar keinen historischen
Stoff behandeln, hat dennoch in sich nothwendiger Weise einen
historischen Verlauf. Diess verwehrt dem Dichter jeden Gegenstand,
welcher Fixierung eines Momentes verlangen würde: er kann wohl
in einer Kreislinie zu dem Punkte zurückkehren, von welchem er ausgegangen,
aber von Anfang bis zu Ende eines Gedichtes auf demselben
Punkte verweilen, das kann er unmöglich, und versucht er es,
so wird er etwas liefern, was keiner Kunst mehr angehört, was kein
Kunstwerk, was nicht schön ist: denn er will fixieren, und doch
schreiten seine Gedanken, Worte, Verse vorwärts; er will ein Werk
der Dichtkunst liefern, und doch gestaltet er seine Anschauung so,
wie sie nur der bildende Künstler in seinen Stein, auf seine Leinwand

1
Raph. Mengs, Gedanken über die Schönheit und den Geschmack in der
Malerei, S. 69: „Alle Falten haben bei Raphael ihre Ursachen, es sei durch ihr
eigen Gewicht, oder durch Ziehung der Glieder. Manchmal sieht man in ihnen,
wie sie vorher gewesen; Raphael hat auch sogar in diesem Bedeutung gesucht.
Man sieht an den Falten, ob ein Bein, oder Arm, vor dieser Regung, vor oder
hinten gestanden, ob das Glied von Krümme zur Ausstreckung gegangen, oder
geht, oder ob es ausgestreckt gewesen und sich krümmte.“ Vgl. ausserdem, was
Lessing im Laokoon (XVIII) gegen diese Worte eingewendet, und was Sturz inseinen
Schriften (1, S. 192) zu ihrer Vertheidigung vorgebracht hat.
|#f0022 : 9|

festbannen kann. Dieser Unterschied zwischen der Poesie und
den bildenden Künsten, dass also jene von Moment zu Moment progressiv
und successiv, diese auf einen Moment fixiert darstellen, diesen
wesentlichen und folgereichen Unterschied zuerst recht hervorgehoben
zu haben, ist eins der vielen Verdienste Lessings; es ist das der
hauptsächliche Zweck seines Buches „Laokoon oder über die Grenzen
der Poesie und Malerei“ (1766) gewesen; Herder hat diesen Gegenstand
sodann in seinen „Kritischen Wäldern oder Betrachtungen die Wissenschaft
und Kunst des Schönen betreffend“ (1769) weiter ausgeführt
und theilweise berichtigt, theilweise aber auch verwirrt. Wir werden
späterhin noch mehr als einmal davon handeln.


Kehren wir zur Kunst im Allgemeinen zurück. Kunst ist nicht,
wie ein älterer deutscher Aesthetiker sie erklärt hat, diejenige mechanische
Handgeschicklichkeit, durch welche vermittelst gewisser Werkzeuge
ein natürlicher Körper zur Waare gemacht wird: sondern es
ist die Kunst die schöne Darstellung des Schönen, oder um es philosophischer,
terminologischer zu geben, die schöne Objectivierung des
subjectiv angeschauten Schönen. Zwar hat der, welchen wir als Gründer
aller Poetik ehren müssen, Aristoteles hat in seinem Buche περὶ
ποιητικῆς1 die Sache ganz anders aufgefasst: er erkennt das Wesen,
den Ursprung und das Ziel aller Kunst lediglich in der μίμησις, in
der Nachahmung: zwei in der Natur aller Menschen beruhende Ursachen
haben nach ihm zur Poesie geführt, der Trieb nachzuahmen
und die Freude, die uns eine Nachahmung gewährt. Man hat diese
Erklärung in neueren Zeiten meistentheils fallen lassen, und billig:
denn wo soll die Kunstlehre bei ihr die Architectur, wo die Musik,
wo die Lyrik, wo sogar auch das Epos hinbringen: keine von diesen
Gattungen und Arten der Kunst ahmt nach. Freilich gäbe es nur
Sculptur und Malerei, und wäre die einzige Art der Poesie das Drama,
so würde jene Erklärung einen grossen Schein von Richtigkeit haben.
Es erweist sich bald, wie Aristoteles zu einer so ungenügenden und
einseitigen Definition hat gelangen können. Einmal weicht er die
ganze Schrift hindurch nirgend von dem rein empirischen Standpunkt,
so dass er sich um das erste und letzte Princip der Kunst, um das
Schöne, kaum mit einer Silbe kümmert, und es lagen seiner Empirie
nur die Werke der griechischen Kunst und Dichtkunst vor; sodann
hat er auch unter den bildenden Künsten die Architectur ganz übersehen,
er zieht sie nicht ein einziges Mal in Betracht; ebenso nennt
er unter den Arten der Poesie die lyrische nur ein Mal, nennt sie,

1
Poet. 1, 1. 26, 2. Rhet. 1, 11, 23. Vgl. auch Plat. Republ. p. 373. 595.
|#f0023 : 10|

und weiter nichts. Jene Definition hat er wirklich auch nur vom Drama
entnommen, da ihm diess aus allerlei Erwägungsgründen als die vollendetste
und vorzüglichste Art erschien und höher gestellt als das Epos.


Wollen wir aber dieses Uebersehen der bedeutendsten Arten
der Kunst, mag es nun bei ihm ein zufälliges oder ein geflissentliches
sein, wollen wir es nicht auch verschulden, so wird mit
jener unsrer Definition am besten geholfen sein, bei welcher die Nachahmung
als Grund und Zweck der Kunst, als Anfang und Ende einer
Kunstbestrebung, freilich ganz ausgeschlossen bleibt. Und in der That
ist bei aller wahren Kunst die Nachahmung immer nur ein äusserliches
Hilfsmittel, nicht Zweck, nur Durchgangspunkt; selbst die Menschengestalt,
die uns der Bildhauer oder der Maler vor Augen bringt,
ist nicht der ausser ihm liegende Gegenstand seiner künstlerischen
Thätigkeit gewesen, es hat seine Thätigkeit, wenn wir von dem gewöhnlichen
blossen Portraitmaler absehen, nicht in blosser Nachahmung
jenes äusserlich Gegebenen bestanden, so wenig als der Musiker, als
der Architect, als der lyrische Dichter irgend nachahmen: sondern
ebenso wie für den Dichter die Sprache bloss die Form ist, in welcher
und durch welche er seine Anschauung objectiviert, ebenso ist
für den Maler und für den Bildhauer die Menschen-, die Thiergestalt
auch nur die helfende Form, die er eben deshalb wählt, weshalb
sich der Dichter einer Sprache bedient, nämlich um seine Anschauung
auch andern Menschen wahrnehmbar und fasslich zu machen. Natürlich
wird er dann um eben dieses Zweckes willen bestrebt sein seinen
steinernen, seinen gemalten Menschen den natürlichen so ähnlich zu
machen als möglich; in so fern und auf dieser Stufe ist dann freilich
auch die Nachahmung seine Aufgabe; aber darum ist sie nicht das
Wesen seiner Kunst, sie ist und bleibt immer nur ein nebengeordnetes
Hilfsmittel; die Aussenwelt liefert ihm nicht die Gegenstände der Anschauung,
sie gewährt ihm nur die Formen derselben. Das bezeugt
z. B. auch Raphael, wenn er in einem Briefe, der uns aufbewahrt ist,
eingesteht, dass ihm immer weniger die Natur, immer weniger die
Antike genüge, dass er jemehr und mehr nur aus seiner Idee male.


Kunst also ist überall, wo eine schöne Anschauung schön objectiviert
wird; sie ist nicht mehr vorhanden, wo entweder das, was man
darstellt, oder die Art, wie man es darstellt, oder wo beides, Gehalt
und Form den Anforderungen des Schönheitsgesetzes nicht entsprechen.
Ein Flachmaler, welcher ein Blech, ein Brett durch den farbigen Ueberstrich
nur haltbarer macht, ist kein Künstler; ein Haus, das nur der
Bequemlichkeit des Bewohners dient und dienen soll und kann, ist
kein Kunstwerk. Hier liegen denn auch die Grenzen zwischen der |#f0024 : 11|

Poesie und der Prosa. Diese Form ist da an der Stelle, wo es keine
schöne Anschauung zu objectivieren giebt. Während die Poesie vor
allem der Einbildungskraft dient, dient die Prosa dem Verstande; während
bei der Poesie die Anschauungen der Einbildungskraft das erste
und ursprüngliche sind und diese dann von dem Gefühl nur genehmigt
und von dem Verstande nur geordnet und geregelt werden, stehn bei der
Prosa die Urtheile und die Erfahrungen des Verstandes obenan, und die
Einbildung mag sie nur etwa mehr beleben, das Gefühl sie erwärmen;
während mithin Poesie der Ausdruck des Schönen ist, ist Prosa der Ausdruck
des Wahren. Das Darstellungsmittel, die Sprache, haben beide
mit einander gemein: aber dort, bei der Poesie, wird von der sprachlichen
Darstellung vor allem Schönheit, hier, bei der Prosa, vor allem Verständlichkeit
verlangt: darum wird auch nur dort die schöne metrische
Gestaltung gefordert, hier ist sie verboten, und der erste Zweck
bei der Gliederung prosaischer Sätze und Perioden ist möglichst grosse
Deutlichkeit.


Poesie und Prosa, das sind nun die Gegenstände, deren ausführliche
Behandlung vor uns liegt: die Gesetze der Poesie erörtert die
Poetik, die der Prosa die Rhetorik; insofern aber beider Ausdrucksmittel
die Sprache ist, haben sie in dieser Beziehung viele Regeln
mit einander gemein: diese sollen in der Stilistik zusammengefasst
werden.

|#f0025 : E12|
|#f0026 : E13|

POETIK. |#f0027 : E14|
|#f0028 : E15|


Es wäre thöricht, Poetik zu lehren und zu lernen, wenn man
dabei einen Unterricht im Dichten, eine Anweisung zur Poesie, nichts
grösseres oder nichts geringeres als dieses beabsichtigte. Wir haben
gesehen, wie zu jeder künstlerischen, also auch zu einer poetischen
Conception eine Dreiheit von Seelenvermögen in Anspruch genommen
wird: diese sind aber keineswegs bei allen Menschen in gleicher Schnellkraft
und Ausbildung vorhanden; ja es giebt Menschen, so viele, dass
ihrer wohl die Mehrzahl ist, denen es an der productiven Seite der
Einbildungskraft, an der Phantasie in solchem Grade gebricht, dass
sie ihnen ganz und gar zu fehlen scheint; bewegliches, leicht erregtes
Gefühl besitzt auch nicht jeder, und das constante Gefühl, das Gemüth,
ist ebenso selten, ja vielleicht noch seltener als die Phantasie.
Solchen Naturen wäre mit allen Regeln und Anweisungen in nichts
geholfen; zwar hat der Verstand, an den man sich wenden würde,
auch seinen Antheil an der künstlerischen Operation, aber nur einen
Antheil, nur einen untergeordneten, und einen Antheil mehr negativer
Art. Ein so organisierter Mensch würde dadurch immer noch kein
Dichter werden. „Wenn der Wahnsinn,“ sagt Plato im Phaedrus
S. 245a, „wenn der Wahnsinn (μανία, er gebraucht diess starke Wort;
Begeisterung wäre eine schwächliche Uebersetzung), der von den
Musen kommt, eine zarte und ungefärbte Seele ergreift und sie zu
Liedern und zu jeglicher Dichtung begeistert, so verschönt er unzählige
Thaten der Alten und belehrt die Zukünftigen. Wer aber ohne
den Wahnsinn der Musen sich den Pforten der Dichtkunst nähert,
wähnend durch blosse Fertigkeit ein Dichter zu werden, der bleibt
unvollkommen, und von der Poesie der Wahnsinnigen wird die des
Verständigen ausgelöscht.“ Als Anleitung und Unterweisung kann die
Poetik daher nur für solche tauglich sein, die schon besitzen, was ein
Dichter braucht: da kann es mitunter gut sein, dem Verstande Zaum
und Geissel in die Hand zu geben.


Das Beste bleibt es demnach, wenn sich die Poetik aller eigentlichen
Unterweisung so viel als möglich enthält, wenn sie mehr betrachtet
als lehrt, mehr sich bestrebt, Gesetze zu finden als Regeln
aufzustellen, wenn sie eher anleiten will, den Vorrath an Poesie, der |#f0029 : 16|

uns überliefert ist, recht zu verstehn und zu geniessen, als Kunstgriffe
angeben, wie man diesen Vorrath selbst noch vermehren könne. Wenn
die Poetik nur Philosophie der Poesie und ihrer Geschichte ist, wenn
sie als Naturgeschichte der Poesie ein mehr historisch entwickelndes
Verfahren beobachtet, gewinnt diess ganze Fach an concretem Gehalt
und somit an Leben und Reiz; die Lehrsätze bleiben darum nicht
aus: nur erscheinen sie dann nicht als eine unerquickliche Reihe von
dürren Abstractionen. Und diese historisch-philosophische, diese
naturgeschichtliche Weise ist es, in der ich beabsichtige zu verfahren.


I. VON DER POESIE IM GANZEN UND ALLGEMEINEN.

1. DAS WESEN DER POESIE.


Hier ist die schon früher gegebene Definition weiter auszuführen
und somit zu begründen, indem wir mehr in das Einzelne gehend von
den verschiedenen Arten handeln, wie die genannten drei Seelenkräfte,
Einbildung, Gefühl, Verstand, bei der poetischen Anschauung und
Schöpfung zusammenwirken, wie sie bald gleichmässig sich mit
einander mischen, bald eine derselben vorwaltet, bald endlich ein
unvermittelter Widerspruch und Widerstreit unter ihnen eintritt. Damit
wird der späteren Trennung der einzelnen Dichtungsarten wesentlich
vorgearbeitet.


Wenn mit Aristoteles das Wesen aller Kunst lediglich in der
Nachahmung zu suchen wäre, so müsste man die Poesie als die
Nachahmung durch das Wort definieren. Diese Erklärung wäre aber
zu weit und zu eng. Zu weit, insofern man allerlei in Worten nachahmen
kann, ohne dass ein Gedicht entsteht. So giebt es z. B. in der
späteren und mittelalterlichen Latinität Stücke in Prosa und in Versen,
worin angegeben und nachgebildet wird, wie die einzelnen Vögel und
andere Thiere schreien1, offenbarste Nachahmung, aber Niemanden
würde es einfallen, dgl. deshalb Poesie zu nennen. Zu eng wäre die
Definition, weil mancherlei Arten der Poesie, denen auch Aristoteles
selbst den Namen der Poesie nicht entzieht, damit ausgeschlossen würden.
Nachahmung kann immer nur in Beziehung stehn zu Gegenständen, die
in der äusserlich umgebenden Sinnenwelt vorliegen. Aber nur wenige

1
) z. B. Juventinus Philomela in Wernsdorfs Poetae latini minores 6, 2,
388 u. a.
|#f0030 : 17|

Arten der Poesie geben Anlass, sie möglicher Weise als dgl. Nachahmung
auffassen zu dürfen; bei vielen ist es rein unmöglich. Was
ahmt z. B. der Dichter eines Kirchenliedes nach? Aristoteles hat auch
selbst sehr wohl das Ungenügende seiner Auffassung eingesehn, und
je weiter er in seinem Buche vorwärts schreitet, je mehr und mehr neue
theils erweiternde, theils beschränkende Bestimmungen treten auch hinzu;
Bestimmungen, die jedoch keinesweges in jener Grundansicht schon mit
enthalten und motiviert sind, die vielmehr auf eine ganz andre Definition
hinleiten, nämlich die oben aufgestellte, wonach die Poesie als die
schöne Darstellung des Schönen durch das Wort zu bezeichnen ist.


Der Anfangspunkt, die Grundlage der dichterischen Thätigkeit
wie überhaupt jeder künstlerischen ist die innere Anschauung des
Schönen, ist die Conception der poetischen Idee. Nun ist aber, wie schon
früher dargestellt, bei jeder künstlerischen Anschauung das am thätigsten
Wirksame, das Unentbehrlichste, ohne welches gar keine solche
Conception vor sich gehn kann, die Einbildungskraft; die Einbildungskraft
aber wirkt entweder reproductiv oder productiv, entweder als
Gedächtniss, d. h. als Erneuerung und Auffrischung früher gewonnener
Vorstellungen, oder als Phantasie, d. h. neue Vorstellungen schaffend
nach Analogie solcher älteren. Aber auch da, wo sie productiv verfährt,
auch als Phantasie erzeugt die Einbildungskraft niemals etwas
bis dahin noch nicht Gewesenes, niemals etwas, das bis dahin noch
unwirklich gewesen war: sondern in beiden Fällen schliesst sie sich
an die Wirklichkeit an, sei das nun geistige oder sinnliche Wirklichkeit;
es sind die Formen der geistigen oder der sinnlichen Wirklichkeit,
vermittelst derer die Einbildungskraft sich des Schönen bemeistert,
in denen sie das Vollkommene, das in der Mannigfaltigkeit
einig Abgeschlossene, das in der Einheit mannigfaltig Gestaltete anschaut.
Hier ist der Punkt, in welchem die Kunst, in welchem auch
die Poesie sich mit der Natur berührt, aber auch zugleich von ihr
sich trennt, sich ihr entgegenstellt. Die Natur als Natur giebt blosse
Form und keinesweges immer schöne: die Kunst, die Poesie dagegen
zeigt das Schöne und gewährt nicht die blosse Form, sondern falls
sie sich an die sinnliche Wirklichkeit anschliesst, Anschauungen des
Schönen in den Formen der sinnlichen Wirklichkeit. Die Poesie ahmt
also nicht nach, sie dient nicht der Natur, sondern die Natur, die
sinnliche Wirklichkeit dient ihr, ist ihr helfend untergeordnet. Aber
die Poesie bedarf der Wirklichkeit; ohne sich an diese anzulehnen,
giebt es gar keine Poesie: denn jede poetische Conception fusst auf
der Einbildungskraft, und die Einbildungskraft entnimmt ihre Vorstellungen
aus der Wirklichkeit.

|#f0031 : 18|


Sodann, um den Process der dichterischen Conception weiter zu
verfolgen, gehören neben die Einbildung noch das Gefühl und der
Verstand, jedes auf seine Art prüfend, billigend oder verwerfend, das
Gefühl prüfend auf Lust oder Unlust, der Verstand auf Wahrheit oder
Unwahrheit. Ohne den thätigen Antheil dieser beiden Kräfte ist die
Conception unfertig: die Anschauung, wie sie von der Einbildungskraft
ist gestaltet worden, muss noch diese beiden Instanzen durchlaufen,
wenn der Process soll gewonnen werden.


Das Zusammenwirken dieser drei Kräfte kann aber in zwiefacher
Art vor sich gehn. Entweder in ganz verhältnissmässiger Mischung,
so dass keine mehr, keine minder Antheil an der Conception hat, als
ihr gebührt und als erforderlich ist. Oder weniger verhältnissmässig,
so dass die eine oder die andere vorwaltet, sich hervordrängt, die
übrigen in ihrem Theil beeinträchtigt werden und zurücktreten müssen.


Im ersteren Fall, wo alle drei Kräfte in dem rechten Ebenmass
einig und einträchtig zusammenwirken, wird auch eine Anschauung
von höherer und reinerer Schönheit gewonnen: die vollkommene Einheit
des Wirkenden, der dichterischen Kräfte, wird Einheit und Vollkommenheit
des Bewirkten, des Gedichtes, zur nothwendigen Folge haben:
sodann, da es keiner Kraft vergönnt ist, sich in breiteren und reicheren
Leistungen thätig zu zeigen, als ihr neben den anderen zukommt, so
wird die Einheit nicht in der Mannigfaltigkeit verschwinden, sondern
zugleich Einfachheit sein, das Gedicht wird, wie Horaz sagt, ein
simplex et unum sein; und da hier endlich der Dichter das Schöne
ganz so anschaut, wie es an und für sich selbst angeschaut sein will,
ohne dass er nach seiner Neigung und seinen Fertigkeiten bei einer
Seite länger verweilte als bei den andern, so wird er auch der Anschauung
nichts von seiner Subjectivität beimischen: er ist zwar das
anschauende Subject, aber die Anschauung ist ihm reines Object ohne
subjectiven Beigeschmack, er gewinnt eine objective Anschauung. Man
gelangt also bei ebenmässigem Zusammenwirken von Einbildung, Gefühl
und Verstand 1) zu vollkommener Einheit, 2) zur Einfachheit und
3) zu reiner objectiver Anschauung. Diess Ebenmass in der Zusammenwirkung
und die darauf zunächst beruhende Einheit ist ein
characteristisches Merkmal der sogenannten classischen, also namentlich
der griechischen Poesie; seltener findet sich diese Einheit in den
Dichtungen der modernen Zeit, unter den Deutschen vorzugsweise und
fast ausschliesslich bei Göthe; ebenso ist auch die Einfachheit, die
Simplicität das hauptsächliche Kennzeichen der antiken, der classischen
Kunst: wir gewahren eben diese wiederum bei Göthe, und insofern
mag man ihn den deutschen Classiker κατ' ἐξοχήν nennen; |#f0032 : 19|

ebenso ist ihm wie den Griechen auch das dritte eigen, was mit der
vollkommenen Einheit und Einfachheit eng und wesentlich verbunden
ist, die Objectivität der Anschauungen.


Noch ist hier von zwei Nüancierungen des Schönen zu sprechen,
welche eintreten je nach der Art, in welcher das Gefühl seine mitwirkende
Thätigkeit äussert. Das Gefühl hat nämlich ausser der
höhern geistigen Seite, auf welcher es der Sittlichkeit dient, und welche
allein in Betracht kommt, sobald man es als Organ des Triebes zum
Guten, als Gegenbild der göttlichen Güte betrachtet, das Gefühl hat
ausser jener höheren geistigen Seite auch noch eine niedere, mehr
sinnliche, noch ein mehr zur Erde gekehrtes Antlitz. Nicht immer
nun, wenn es eine Anschauung der Einbildungskraft auf Lust oder
Unlust prüfen soll, wendet es da beide Angesichte und beide gleichmässig
zu, sondern oft allein oder doch vorzugsweise das geistige,
oft wieder nur das irdische; oft genügt es ihm, wenn es allein oder
vorzugsweise ein sittliches, oft wenn es nur ein mehr sinnliches Wohlgefallen
empfindet. Das Schöne, das den sittlichen Augen des Gefühles
besonders wohlthut, heisst edel, das den sinnlichen, anmuthig; die
Schönheit besteht also bald im Adel, bald in der Anmuth. Es liegt
in der Natur der Sache, dass Adel besonders da am Orte ist, wo
sich die Anschauung an die geistige, Anmuth da, wo sie sich an die
sinnliche Wirklichkeit anlehnt, und so werden wir, um wiederum den
deutschen Classiker als Beispiel anzuführen, die Schönheit der Göthischen
Hymnen eine edle, die seiner meisten Lieder eine anmuthige
nennen dürfen. So viel von der Anschauung, die unter ebenmässigem
Zusammenwirken der drei Kräfte gewonnen wird, von der einheitlichen,
einfachen, objectiven, classischen Schönheit.


Im Gegensatz dazu steht ein solches Zusammenwirken, wo eine
der drei Kräfte sich unebenmässig hervorthut und herausstellt, wo die
Conception vorzugsweise ein Werk der Einbildungskraft oder des Gefühls
oder des Verstandes ist und die beiden andern nicht den Antheil
daran nehmen, wie das für das Gewinnen einer vollkommen einheitlichen
Anschauung erfordert wird. Ein solches Hervortreten und
Uebergreifen einzelner Kräfte ist ein characteristisches Merkmal der
modernen Kunst; die Anschauungen der modernen Dichter pflegen daher
keine so unverkümmerte, so reine und vollkommene Einheit, pflegen
auch nicht die Einfachheit zu besitzen wie die der antiken classischen;
und wie das gleichmässige Zusammenwirken jener drei Kräfte
den Classikern zu rein objectiver Anschauung des Schönen verhilft,
so treten bei den modernen Dichtern die Neigungen und Fähigkeiten
und Unfähigkeiten des anschauenden Subjectes gerne mit in den Vordergrund, |#f0033 : 20|

so dass wie Objectivität mit zum Character der classischen
Poesie gehört, so Subjectivität zum Character der modernen. Je nachdem
nun diese oder jene Kraft vorwaltet, ergeben sich verschiedene
Nüancierungen und Benennungen. Tritt die productive Einbildungskraft,
die Phantasie, hervor, ohne dass der ordnende Verstand in
genügendem Masse zu Rathe gezogen wird, so ergiebt sich die phantastische
Anschauung. Diess Missverhältniss zeigt sich besonders in den
sogenannten romantischen Dichtungen des Mittelalters und ist bezeichnend
für diese Zeit; wir finden es in den Heldengedichten des germanischen
und romanischen Abendlandes wie in den Märchen der
Araber. Wie es aber seit zwei Menschenaltern wiederum Romantiker
giebt, so auch eben diess Verhältniss oder Missverhältniss der Phantasie.
In Deutschland kann als Beispiel Ludwig Tieck gelten, der
auch, seinen dichterischen Character selbst sehr wohl verstehend, die
Hauptsammlung seiner Poesien Phantasus betitelt hat. Tritt dagegen
die schaffende Einbildung zurück und mit ihr auch der Verstand, und
stellt sich besonders die jetzt noch übrige dritte Kraft heraus, so
ergiebt sich daraus die sentimentale und die gemüthliche Poesie, die
sentimentale, wenn das vorwaltende Gefühl doch nur vorübergehend
gereizt und nur leicht erregt wird, die gemüthliche, wenn das Gefühl
zur Beständigkeit des Gemüthes erstarkt ist und dieses nun in tiefere
und wärmere Bewegung geräth. Um auch hier deutsche Dichter als
Beispiele anzuführen, so sind solche sentimentale oder empfindsame
Dichter Hölty, Matthisson, Salis; Dichter von warmer und constanter
Gemüthlichkeit Hebel und Uhland.


Endlich kann auch, und diess ist von allen Missverhältnissen das
einzige eigentlich bedenkliche und gefährliche, der Verstand den obersten
Rang einnehmen; es kann sich die gebührende Rangordnung umkehren,
so dass Einbildung und Gefühl, denen der Verstand nur in
einer mehr negativen Weise helfen und dienen sollte, zu Dienerinnen
des Verstandes werden und ihm nur Formen und Farbe gewähren
für seine Erfahrungen und Urtheile. So entsteht die Reflexionspoesie.
Das hier waltende Verhältniss ist misslich, bedenklich und
gefährlich, insofern diese Rangordnung der drei Seelenkräfte eigentlich
für die prosaische Auffassung, nicht für die poetische erforderlich und
zulässig ist. Ein so organisierter Dichter bedarf des ausserordentlichsten
Talentes, bedarf der grössten Kunst in der Darstellung, wenn
er seine Anschauungen dennoch als poetisch behaupten will; gebricht
es ihm hier, so erscheint er nur um so weniger als Dichter, je verständiger
er ist. Bei Voss vermag alle Kunst der Rede, weil sie
eben auch nicht die rechte Kunst der Rede ist, vermag alle Künstelei |#f0034 : 21|

den beinahe gänzlichen Mangel an den nothwendigsten Eigenschaften
eines Dichters und den hoch oben thronenden nackten Verstand sammt
seiner Gelehrsamkeit und eifrigen Polemik nicht zu verdecken. Anders
bei Schiller. In Schillers Poesie hat allerdings niemals ein einträchtiges
Zusammenwirken jener drei Kräfte statt gefunden, immer
hat eine über Gebühr vorgewaltet: in seinen frühesten Dichtungen die
Phantasie, lange und überall der reflectierende Verstand. Aber doch
ist seine Poesie eine andre als die Vossische, ein ganzer Himmel liegt
dazwischen: waltet bei Schiller auch die Reflexion vor, so gebricht
es ihm wahrlich nicht an Einbildung und an Gefühl, während sie bei
Voss nur spärlich hervortreten und von Gemüth bei ihm nun gar
keine Spur ist; und dann ist auch das Wetterleuchten der Schillerischen
Rede eher im Stande, den Leser zu blenden und zu entzücken,
als der mühsame Flittertand der Vossischen Idyllen und Lieder. Und
so ist es, um noch einen dritten, der Voss mannigfach ähnlich ist,
als Beispiel anzuführen, auch ein Missgriff, aber ein characteristischer
Missgriff, wenn ein vielgepriesener Dichter der neuesten Zeit, der
Graf von Platen, in seinem Romantischen Oedipus als den Genius
der classischen Poesie, wie er sich dieselbe denkt, gleichsam als den
modern classischen Apollo den personificierten Verstand auftreten
lässt; insofern besonders characteristisch, als er mit dieser Person
des genannten Dramas nach seiner eitel einbildischen Weise eigentlich
nur sich selber meint. So viel über das Verhältniss der Beiordnung
und der Unterordnung zwischen den genannten drei Kräften.


Nun ist von denjenigen Fällen zu handeln, wo nicht bloss die
eine Kraft sich über die beiden andren friedsam erhebt, sondern wo
die Anschauungen der Einbildung mit dem Gefühl und dem Verstande
in einen unvermittelten Widerstreit gerathen, wo sogar Gefühl
und Verstand von der Einbildung überwältigt und fortgerissen und
vorübergehend aufgehoben werden.


Wir sprechen zuerst von dem Zwiespalt der Einbildung mit dem
Verstande. Wenn wir in der Wirklichkeit etwas gewahren, dem wir
die Wirklichkeit nicht absprechen können, und das auch die Wirklichkeit
recht eigentlich in Anspruch nimmt, das uns aber gleichwohl
unverständig erscheint, wenn wir eine Rede hören, die unserm Verstande
unpasslich, wenn wir eine Handlung sehen, die ihm unzweckmässig
vorkommt, während doch Rede und Handlung für verständig
und zweckmässig gelten wollen, wenn somit das Urtheil unseres Verstandes
in Widerspruch mit dem in der Wirklichkeit Wahrgenommenen
geräth, so nennen wir eine solche Rede oder Handlung eine
Thorheit, und sie macht auf uns den Eindruck des Lächerlichen; geben |#f0035 : 22|

wir diesem Eindrucke Worte, so entsteht der Spott. Lächerlich ist
es z. B., wenn im Don Quixote der Schildknappe Sancho Pansa eine
lange Nacht hindurch voller Angst über einem ganz flachen Graben
schwebt und sich mühsam in der Schwebe erhält, weil er meint, es
sei da ein tiefer Abgrund; oder wenn derselbe ein andres Mal wiederum
eine ganze Nacht durch auf einem hölzernen Bock sitzt, der
ihm von Räubern anstatt des Esels ist im Schlafe untergeschoben
worden, und fortwährend ernstlich Acht hat, dass der vermeinte Esel
nicht ins Laufen komme. Das alles ist lächerlich: denn wir sehen
mit unserm Verstande ein, wie zwecklos die Angst und Sorge gewesen.
Und darauf kommt überall das Lächerliche hinaus, ein Begriff,
an dem schon vielerlei ist herum erklärt worden. Zuweilen erwächst
der Spott zur Ironie; bei der Ironie wird geflissentlich der entschiedenste
und schärfste Widerspruch herbeigeführt, so dass man die
Anschauungen der Einbildung, oder aber die Urtheile des Verstandes
in das gerade Gegentheil übersetzen müsste, wenn Uebereinstimmung
sollte hergestellt werden; Ironie ist der zur schneidendsten Schärfe
ausgebildete Spott, der Spott der Verachtung gegen den menschlichen
Verstand und gegen die menschlich irdische Wirklichkeit überhaupt.
Wie nun die Einbildungskraft ihre Anschauungen überall in die Formen
der Wirklichkeit einkleidet, so ist ihr denn auch das Lächerliche,
ist ihr die Thorheit als Form unbenommen, und es giebt eine Poesie
des Spottes und der Ironie, eine Poesie, in welcher also die Anschauungen
der Einbildung in Widerspruch stehn mit den Urtheilen
des Verstandes. Solche Poesie, welche das Unverständige, Thörichte,
Lächerliche, Verkehrte zur Form ihrer Anschauung wählt, solche
Poesie des Spottes und der Ironie ist die Satire und ist die Komödie:
indessen ist der Widerspruch hier nur ein scheinbarer; denn hinter
der verkehrten Anschauung steht jedesmal, nur nicht gestaltet und
ausgesprochen, die rechte, die zum Verstande stimmt, und damit ist
das rechte Verhältniss zuletzt doch wieder hergestellt.


Die Einbildungskraft kann aber auch den Verstand vorübergehend
gänzlich überwältigen und seine Mitwirkung aufheben, kann ihm
Anschauungen entgegenhalten, welche er nicht zu fassen vermag, für
welche die ganze Summe seiner Erfahrungen und Urtheile unzureichend
ist. Alsdann steigert sich das Schöne zum Erhabenen. Erhaben
ist z. B. eine weite Meeresfläche, erhaben ist der Sternenhimmel;
der Verstand fasst sie nicht, ihm vergeht alle Kraft, indem er Grenzen
sucht und keine findet: der Einbildung dagegen ist grade wohl
in dieser unbegrenzten endlosen Weite. So lässt denn auch die Poesie
zuweilen den messenden Verstand überwältigt werden von der masslos |#f0036 : 23|

schaffenden Einbildung. Erhaben in diesem Sinne sind viele der
Klopstockischen Oden und Hymnen; ausserdem erinnere ich an eine
bekannte Stelle in Shakspeares König Lear (IV, 6), wo eine Aussicht
von einem Vorgebirge nach der Tiefe des Seeufers hinunter geschildert
wird: die Einbildung steigt immer tiefer und tiefer, dem Verstand
aber schwindelt, und er verzagt ihr zu folgen.


Beim Lächerlichen ist also ein unvermittelter Conflict vorhanden
zwischen Einbildung und Verstand; beim Erhabenen wird der Verstand
von der Einbildungskraft beseitigt: der umgekehrte Fall, wo die Thätigkeit
der Einbildung negiert wird vom Verstande, kann in der Poesie
gar nicht vorkommen, weil es ohne Einbildung keine poetische Conception
geben kann: und solche Anschauungen der Einbildung, die
von dem messenden und vergleichenden Verstande gänzlich verworfen
werden, sind hässlich: die poetische Conception aber wie überhaupt
alle künstlerische Conception ist eine Conception des Schönen.


Nun der Conflict der Einbildung mit dem Gefühl. Wenn das
Gefühl im engern Sinne des Wortes, wenn die Sentimentalität unbefriedigt
ist bei den Anschauungen der Einbildung, ohne sie gleichwohl
gänzlich verwerfen zu können, so kommt dadurch ein leises
Missbehagen in die Anschauung, das aber gleichwohl etwas Erregendes
und Anreizendes hat, grade wie dort der Conflict zwischen Einbildung
und Verstand. Aus dem Widerspruch zwischen Einbildung
und Gefühl erwächst bald die Wehmuth, bald die Laune: die Wehmuth,
wenn das Gefühl den empfundenen Widerspruch mit hingebendem
schmerzlichem Ernst auf sich einwirken lässt; die Laune, wenn
es sich leichtsinnig und scherzend darüber hinweg zu setzen sucht;
Wehmuth ist die weinende, Laune die lachende Sentimentalität. Das
Gebiet der Wehmuth ist die Elegie, man nennt sie darum auch die
elegische Stimmung; die Laune ist wie der Spott zu Hause in der
Satire und in der Komödie, überhaupt in aller komischen Poesie,
überall wo uns die Wirklichkeit von Seite ihrer Verkehrtheiten vorgeführt
wird. Also z. B. auch in der komischen Erzählung, im komischen
Heldengedicht, in der Travestie. Wie es jedoch überverständige
Menschen giebt, für die nichts Lächerliches vorhanden ist, die
sich über den Unwerth nur ärgern können, so auch andre, die aus
zu feinem und delicatem Gefühl unempfänglich sind für die Laune.
Noch häufiger aber sind Dichter, welche über den blossen Conflict
zwischen Einbildung und Gefühl hinausgehen und Anschauungen vorführen,
die das Gefühl von vornherein hätte verwerfen und vernichten
sollen, Dichter, die das Launige mit dem Unziemlichen, Unsittlichen,
ja Lasterhaften verwechseln. Von der Art sind manche komische |#f0037 : 24|

Erzählungen des Mittelalters, namentlich die französischen, die sogenannten
fabliaux; von der Art auch die meisten neuern Dichter, welche
sich an jenen fabliaux gebildet haben: der Franzose Lafontaine
bleibt oft nicht bei der blossen Laune stehen, so auch unter den
Deutschen Langbein; auch Wieland trifft dieser Tadel. Es ist beinahe
überflüssig, weil es sich von selbst versteht, auch noch an unsern
fruchtbarsten Komödiendichter, an Kotzebue zu erinnern. Ihm fehlt
es mehr als irgend einem der genannten an dem feinen Tact, der hier
erfordert wird, um die Grenze zu finden und zu respectieren.


Wir haben soeben die Wehmuth und die Laune in ihrer Absonderung
betrachtet: nicht selten gehen sie Hand in Hand; es giebt Dichter
und Gedichte, wo im schnellsten Wechsel, ja gleichzeitig der Widerspruch
ernst und leichtsinnig, weinend und lachend aufgefasst wird; in der
That giebt es auch Anschauungen genug, die am passlichsten so behandelt
werden, z. B. das Lob der Armuth und andre Schilderungen
des engen beschränkten Lebens, überhaupt vorzüglich idyllische Stoffe.
Geschickt durchgeführt gehört diese Auffassungsart zu den ergreifendsten,
ungeschickt zu den beleidigendsten und widerwärtigsten. Wohlthuend
erscheint sie bei Jean Paul in seinen idyllischen Romanen und
idyllischen Stellen, z. B. im Siebenkäs, im Schulmeisterlein Wuz, im
Fibel, im Quintus Fixlein, in den Flegeljahren u. a.; meistentheils
ungehörig und plump, einen gesunden Sinn verletzend in zahlreichen
Liedern Heinrich Heines (z. B. LB. 2, 1746).


Höher als die Sentimentalität steht die Gemüthlichkeit: denn die
Sentimentalität ist nur etwas Flüchtiges und Momentanes, die Gemüthlichkeit
etwas Andauerndes, Beharrliches; die Sentimentalität kann
allenfalls bloss von der niedrigen und irdischen Seite, kann vielleicht
bloss von Seiten des Anmuthigen her erregt werden; das Gemüth dagegen
blickt mit geistigen Augen, ihm steht das Höhere, das Reinsittliche,
steht das Edle zu. Wie also die Gemüthlichkeit vor der
Sentimentalität den Bestand und die höhere Richtung voraus hat, so
ist auch der Conflict zwischen Einbildungskraft und Gemüth, den man
Humor nennt, höher und edler als die Laune, der Conflict zwischen
Einbildung und Gefühl. So wird der Humor, auch diess ein vielbesprochenes,
mannigfach gedehntes Wort, am besten aufzufassen und
nur in diesem Sinne zu gebrauchen sein. Im gewöhnlichen Leben
wird das Wort nicht selten mit Laune verwechselt. Diess letztere ist
auch der Sinn, den es ursprünglich und im Allgemeinen bei den Engländern
hat, von denen wir es überkommen. Eigentlich ist es ein
medicinischer Ausdruck, humores heissen im Latein des Mittelalters
die verschiedenen Mass- und Mischungsverhältnisse von Feuchtigkeit |#f0038 : 25|

und Wärme im menschlichen Körper und die darauf beruhenden Characterunterschiede
des sanguinischen und des melancholischen und des
cholerischen und des phlegmatischen Temperamentes. In der englischen
Sprache wird es etwas willkürlich beschränkt auf die komische
Stimmung der Laune. Aber die Engländer selbst haben daneben wieder
das Wort in der noch engeren Weise gefasst, in welcher wir es
hier unterschieden von Laune gebrauchen, und dieser Sinn ist es, in
welchem sie z. B. Shakspeare, in welchem sie Swift und Sterne
u. a. Humor zuschreiben. Humor also entspringt, wenn das Gemüth
in Widerspruch geräth mit den Anschauungen, welche die Einbildung
aus der Wirklichkeit entnommen hat. Da nun aber das Gemüth in
der aufwärts gerichteten, in der höheren, edleren Seite des Gefühls
beruht, so wird es mit der Einbildung nur dann in Conflict und Contrast
treten, wenn deren Anschauungen nicht die entsprechende Beziehung
nach oben, nicht die gleiche edle Erhebung in sich tragen. Dann
schwingt sich das Gemüth empor und schaut hinab auf das gebrechliche,
beschränkte Wesen da unten, halb voll Zorns, halb voll Mitleidens,
lächelnd, aber unter Thränen; tragisch, aber es führt zugleich
die Versöhnung mit sich: es schwebt gleichsam wie die Taube über
der Sündflut, Trost und Heil von oben verkündigend, während der
gemüthlose Spott eher dem ungetreu entweichenden Raben gleicht.
Demnach ist dem Humor die Beziehung auf religiöse Dinge durchaus
nicht fremd, ja bei den besten Humoristen trägt er durchweg eine
bald mehr bald minder hervorstechende religiöse Farbe; so bei Claudius,
bei Hippel, bei Hamann, bei Jean Paul, bei Hebel; aus Hebels
Gespräch auf der Strasse nach Basel, die Vergänglichkeit, kann man
beinahe eine ganz erschöpfende und vollkommen umfassende Theorie
des Humors entwickeln, hier lässt sich die Entzweiung des Gemüthes
mit der Wirklichkeit von Stufe zu Stufe fortschreitend verfolgen, bis
zu der letzten und höchsten, wo vom Himmel selbst hinunter die seligen
Geister auf die arme vergangene Erde schauen und auf ihr das
Dörflein suchen, in welchem sie, da sie auch noch Menschen waren,
ihr Leben hindurch gvätterlet haben (LB. 2, 1376, 36).


In der launigen, in der elegischen Poesie stellt das Gefühl den
Anschauungen der Einbildung einen leichteren, minder beharrlichen,
in der humoristischen das Gemüth einen nachhaltigeren, ernsteren
Widerspruch und Widerstand entgegen; eine Kraft versucht sich an
der andern, ohne zu unterliegen. Aber gerade wie es vorkommt, dass
die Einbildung den Antheil des Verstandes vorübergehend negiert,
woraus sich dann das Erhabene ergiebt, so kann vorübergehend auch
das Gefühl von der Einbildung überwältigt und ihm das Recht der |#f0039 : 26|

Prüfung und Billigung benommen werden; die Einbildung kann Anschauungen
hinstellen, die dem Gefühl nur Unlust erwecken: aber es
ist für diessmal zum Schweigen gebracht. So ergiebt sich das Grausenhafte.
Einmischung, blosse Einmischung des Grausenhaften hat
sich das Gefühl von jeher in der tragischen Poesie müssen gefallen
lassen und sie da zugelassen; verwerflich wird das Grausen eigentlich
nur dann, wenn in einem Gedicht von Anfang bis zu Ende das Gefühl
beseitigt, wenn das Gedicht vorn bis hinten nur grausenhaft ist.
Dergleichen Tragödien und Romane sind in Deutschland sehr beliebt
gewesen: ich erinnere namentlich an Müllner und Amad. Hoffmann.
Auch einer unsrer besten erzählenden Dichter, Chamisso, hat sich nur
zu oft und nur zu gern in endloses Grausen verloren.


Das umgekehrte Verhältniss der Einbildung zum Gefühl, nämlich
gänzliche Verwerfung des von der Einbildung Angeschauten durch
das Gefühl, hebt die poetische Conception von vornherein auf: wir
haben schon öfter bemerkt, dass dieselbe nicht möglich ist, wenn
nicht die Einbildung den Grund gelegt. Es ist also von der Poesie
ausgeschlossen das Ekelhafte und das Lasterhafte: ekelhaft nennen
wir, was die niedere sinnliche, lasterhaft, was die höhere sittliche
Seite des Gefühls verwerfen muss. Beispiele des Ekelhaften liefern
Voss in dem Gedichte an Göckingk (LB. 2, 902) und Jean Paul in
Dr. Katzenbergers Badereise. Was nun noch das Lasterhafte insbesondere
betrifft, so giebt es freilich auch eine satirische Poesie, welche
nicht gegen die Thorheit, sondern gegen das Laster gerichtet ist,
nicht spottet, sondern straft: aber sie straft eben, d. h. sie stellt
neben die angeschaute Lasterhaftigkeit ausdrücklich oder stillschweigend
das tugendhafte Gegenbild, sie bleibt nicht bei dem Laster stehn,
sondern sie lässt zugleich der Einbildung ihr Recht widerfahren.
Gleichwohl hat diese scharfe strafende Satire immer etwas Bedenkliches
gehabt, und die bloss gegen Thorheiten gerichtete spottende
hat ihr immer noch den Rang abgelaufen; Horazens Satiren haben
einen bleibenden poetischen Werth, Juvenal und Persius sind eher
nur in den Händen der Grammatiker und Historiker. Seltener sind
Dichter andrer Art, z. B. Dramatiker in den Fall gekommen, nach
Anschauungen des Lasterhaften zu greifen. Nur zwei will ich als
Beispiel anführen, Shakspeare und Göthe, von Shakspeare Richard III.,
von Göthe die Mitschuldigen. Zwischen beiden Dramen besteht der
grösste Unterschied: dort bei Shakspeare ist die Einführung des
Lasters hoch poetisch, hier bei Göthe durchaus unpoetisch. Richard III.
häuft Schandthat auf Schandthat, dennoch kann man es ertragen,
denn man sieht, wie jede neue That an sich selbst schon die Strafe |#f0040 : 27|

der vorangehenden ist, und zuletzt ereilt den Bösewicht die höchste:
sein auf Leichen erbauter Thron stürzt mit ihm zusammen, und unser
sittliches Gefühl findet doch am Ende noch die volle Befriedigung.
Es ist das also ein Drama ungefähr in der Art jener strafenden Satiren.
Anders die Mitschuldigen von Göthe: hier wird zwar nicht
gemordet, wie dort im Richard; es wird sonst gesündigt z. B. durch
Diebstahl. Aber von Strafe, von Genugthuung der beleidigten Sittlichkeit
nicht die leiseste Spur: während im Richard endlich doch
noch Gottes Rache den Verbrecher ereilt, löst sich hier alles in gegenseitiger
Nachsicht der Mitschuldigen auf, und es ist dem Zuschauer
vergönnt, sich eine lange Fernsicht von weiteren stillschweigend geduldeten
Diebstählen u. dgl. hinten dran zu malen. Aber man vergesse
nicht, dass diess eine Jugendarbeit Göthes ist, die er noch in Leipzig
als Student in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts verfasst
hat. Er selbst hat das Fehlerhafte wohl erkannt; in seinem Leben1
spricht er sich darüber deutlich aus: „Das heitere und burleske Wesen
erscheint auf dem düsteren Familiengrunde als von etwas Bänglichem
begleitet, so dass es bei der Vorstellung im Ganzen ängstiget, wenn
es im Einzelnen ergetzt. Die hart ausgesprochenen widergesetzlichen
Handlungen verletzen das ästhetische und moralische Gefühl, und deswegen
konnte das Stück auf dem deutschen Theater keinen Eingang
gewinnen, obgleich die Nachahmungen desselben, welche sich fern
von jenen Klippen gehalten, mit Beifall aufgenommen worden.“


So haben wir nun nach zwei Seiten hin die Conflicte betrachtet,
in welche die Einbildungskraft hier mit dem Gefühl, dort mit dem
Verstande gerathen kann, und die vorübergehenden Negierungen und
Beseitigungen des einen oder des andern, die der Erfolg solches Conflictes
sein können. Gewöhnlich ist der Conflict, ist die Negierung
nur eine solche einseitige, wie es bisher dargestellt worden; nicht
selten aber geht der Widerspruch, geht die Stillstellung auch zugleich
nach beiden Seiten hin, so dass sich mit dem Spott und der Ironie
noch die Laune und die Wehmuth und der Humor verbinden, also
beide, der Verstand wie das Gefühl, gegen die Einbildung anstreiten;
oft genug vereinigt sich auch das Erhabene mit dem Grausenhaften,
indem die Einbildung hier den Verstand, dort das Gefühl gefangen
nimmt; und nicht minder häufig wird das Hässliche zugleich ekelhaft
oder lasterhaft sein, weil ausser dem Verstande auch das sinnliche
und sittliche Gefühl die Anschauungen der Einbildung unleidlich findet.

1
Sämmtliche Werke, Ausgabe letzter Hand 25, 113.
|#f0041 : 28|


Ist nun auf diese Weise das Schöne entweder unter friedfertigem
Zusammenwirken oder unter einem Conflict der dabei thätigen Seelenkräfte
angeschaut, so bedarf es, um das Werk zu vollenden, nur noch
des Schrittes von innen nach aussen, von der Anschauung zur Darstellung,
zu der letzten Objectivierung in hörbar gestalteten Gedanken,
in Worten.


Die Darstellung, die sinnlich wahrnehmbare Gestaltung des innerlich
geistig Angeschauten, gehört, wie das schon früher ist ausgeführt
worden, zum Wesen jeder Kunst. Nur haben die verschiedenen
Künste verschiedene Mittel der Darstellung. Die bildenden Künste,
Architectur, Sculptur, Malerei, fixieren ihre Anschauung für das Auge
in unbelebten Stoffen; die Tanzkunst führt sie dem Auge vor in beweglicher
Gestaltung des lebenden Leibes, die Musik dem Ohr in
gleichfalls bewegten Tönen; die Poesie bedient sich des geistigsten
Mittels, des unmittelbarsten Abdrucks und Ausdrucks innerer Anschauungen,
des eigensten Eigenthums der Menschheit, der Sprache.
Denn Formen wie die bildenden Künste, wie die Tanzkunst sie darstellen,
Töne, wie sich die Musik ihrer bedient, finden sich auch ohne
Zuthun des Menschen schon in der niederen Natur vor: nicht aber
die Sprache, sie besteht nur durch den Menschen und mit ihm.


Aber wie die Gebärden des Tanzes, wie die Töne der Musik,
so ist auch diese hörbare Gestaltung der Gedanken durchaus beweglicher
Natur. Die Gedanken sind in beständiger Succession und Progression,
einer fliesst aus dem andern, Welle auf Welle drängen sich,
Grund und Folgerung, Behauptung und Beweis, Satz und Gegensatz.
Ebenso ihr hörbares Bild, die Worte: so wie das eine vernommen
ist, erklingt schon das andre, und dessen Eindruck wird wiederum
durch ein drittes verwischt. Diese Beschaffenheit des Darstellungsmittels
hat aber die wichtigste und folgenreichste Bedeutung nicht
nur für die Darstellung, sondern natürlicher und nothwendiger Weise
schon für die Anschauung, welche darzustellen ist; es ergeben sich
daraus, wie für das Verfahren bei der Darstellung, so schon für die
Beschaffenheit der poetischen Anschauung selbst wesentliche und unausweichliche
Bedingungen. Was in so bewegter Gestalt erscheinen
soll, muss in sich selber schon die Beweglichkeit tragen. Den Bildhauer,
den Maler nöthigt die starre Unbeweglichkeit seines Stoffes
auch zu ruhiger fixierter Anschauung: die Anschauungen des Dichters
dagegen müssen bewegt, strömend, fortschreitend sein, müssen einen
historischen causalen Verlauf haben wie sein Darstellungsmittel, wie
die menschliche Rede. Der Maler, der Bildhauer stellt uns z. B. den
gewappneten Helden auf einmal überschaubar hin, mit Einem Blick |#f0042 : 29|

sehen wir Helm und Harnisch zugleich, und so hat er vorher auch
in sich die Form auf einmal gefasst. Anders der Dichter. Er kann
die einzelnen Theile der Rüstung nicht als ruhig coexistierend vorführen:
denn seine Gedanken, seine Worte haben selber keine ruhige
Coexistenz. Versuchte er es auch, er würde doch nur eine Reihe,
ein dürres registerartiges Nebeneinander von Einzelheiten geben, eine
Mannigfaltigkeit ohne Totalität, ohne Einheit. Deshalb wird der Dichter
schon bei der Anschauung anders verfahren müssen als der bildende
Künstler, sie wird in ihm von progressiver Natur sein: ihm
gestaltet sich der Held nicht, wie er gewappnet ist, sondern wie er
gewappnet wird, oder er sieht die Waffen nicht fertig daliegen, sondern
erst bereiten. So Homer: er beschreibt die Pallas nicht, wie sie
den Helm am Haupte, die Aegide vor der Brust getragen u. s. w.,
sondern er erzählt, er führt es historisch bewegt vor, wie sie die
Aegis ergriffen habe und den Helm aufgesetzt1 Er entwirft kein
Gemälde vom Schild des Achilles, denn er ist eben kein Maler, sondern
ein Dichter: er erzählt vielmehr, Schritt für Schritt, in causaler
Succession, wie Hephaest den Schild geschmiedet, wie er nun dieses,
dann jenes Bildwerk daran hervorgebracht.2 Und auf ähnliche Weise
wird in dgl. Fällen jeder gute Dichter verfahren, wenn er auch kein
Epiker ist: auch die Anschauungen des Lyrikers werden in sich immer
beweglich vorwärtsschreiten, nicht mit beschnittenen Flügeln
auf Einem Fleck liegen bleiben; er wird nicht in der ersten Strophe
fühlen: Ich liebe, und in der zweiten wieder: Ich liebe, und in der
dritten noch einmal: Ich liebe, sondern etwa: Ich liebe, Ich liebe
Dich, Ich liebe Dich sehr.


So ist also die Art und Weise aller poetischen Anschauung und
Darstellung durch das gegebene Mittel der Darstellung bedingt; zugleich
ist sie aber auch bedingt durch den Zweck, der mit der Darstellung
beabsichtigt wird. Eh wir jedoch auch hierüber sprechen,
ist vorher noch in aller Kürze die Frage zu berühren, was denn der
Zweck der poetischen und überhaupt jeder künstlerischen Darstellung
sei.


Es ist ein beliebtes Schlagwort, zu sagen, die Kunst habe gar
keinen Zweck. Ein überraschendes Wort, das einmal passlich mag
geschienen haben, eben ein witziges Wort, weiter nichts. Die Kunst
kann so wenig ganz zwecklos sein, als ihr himmlisches Vorbild, die
göttliche Allmacht, bei ihren Schöpfungen jemals zwecklos verfährt.

1
Il. 5, 733 fgg.
2
Il. 18 am Ende.
|#f0043 : 30|

Ein Strauch auf dem Felde mag weder in die Schreinerwerkstatt, noch
in den Ofen taugen: aber darum, weil er hiezu nicht nützt, weil er überhaupt
uns nicht nützt, ist er noch nicht zwecklos. Er hat vielleicht
Zwecke, die wir nur nicht gewahren oder nicht hoch genug anschlagen,
z. B. den, dass etwa ein Vogel sein Nest darin baue, sicherlich aber
den, dass wir ihn ansehen, dass wir uns an seiner grünen Farbe und
seinen Blüten freuen und sein Bildniss in uns aufnehmen. So verhält
es sich auch mit der Kunst. Jede Kunst hat bei der sinnlichen Darstellung
ihrer Anschauungen einen Zweck, nämlich diesen, und diesen
allein, dass eine Seele, welche der des Künstlers ähnlich organisiert
ist, die sinnliche Darstellung in sich aufnehme, dass diese sinnliche
Darstellung, wie sie aus einer geistigen Anschauung des Künstlers
entsprungen ist, dem Hörer, dem Beschauer wiederum zur geistigen
Anschauung werde, dass der Hörer, der Beschauer den gleichen Weg
reproducierend zurückwandle, auf welchem der Künstler ihm producierend
entgegengewandelt ist, dass in seiner Phantasie die Phantasiebilder
des Künstlers wiederscheinen, sein Gefühl mit dem des Künstlers
im Accord zusammenklinge. Diesen Zweck geistiger Mittheilung
durch das sinnlich Wahrnehmbare hat jeder Künstler. Einen Maler,
der seine Bilder wieder zerstörte, würden wir mit Recht zum mindesten
einen Sonderling nennen, und die Kunstbestrebungen der Aegypter
würden uns noch zehnmal unbegreiflicher und wunderlicher erscheinen,
wenn wir annehmen dürften, sie hätten die colossalen Steinbilder
und Bauwerke auch schon in die Wüste hinaus gestellt, damit sie
Niemand sehen sollte. Freilich bildet mancher Künstler nur für sich:
aber doch für sich, also doch für Jemanden, nicht für Niemanden,
er ist dann selbst der Andre, den er zum Reproducieren auffordert.
Haben nun schon die für immer fixierenden Künste solchen Zweck
und solche Beziehung, wie vielmehr die transitorischen, wie viel mehr
namentlich die Dichtkunst, die Kunst des Wortes. Die Sprache gehört
zu der socialen Natur des Menschen, er bedarf ihrer, um sich
mitzutheilen: also wird sie auch dem Dichter nur zur Mittheilung seiner
Anschauungen dienen sollen. Und das Werk des Dichters hat bei
seiner transitorischen Beschaffenheit nur Bestand durch die Mittheilung
an Andre und durch Wiederholung in andrer Leute Munde. Das
Gemälde, die Bildsäule ist doch da, wenn sie auch Niemand sieht:
ein Gedicht existiert nicht und geht mit dem Dichter unter, wenn es
nicht ein Andrer von ihm empfängt, ein Andrer nachspricht, sei meinethalb
dieser Andre auch nur wieder er selbst. Mithin hat jede Kunst,
hat insbesondere die Dichtkunst den Zweck der Mittheilung zum
Behufe der Reproduction; der Dichter macht seine Anschauung zur |#f0044 : 31|

Darstellung, damit sein Hörer die Darstellung wieder zur Anschauung
verwandle.


Dies also der Zweck der poetischen Darstellung. Das Mittel der
Darstellung ist aber der bewegte Fluss der menschlichen Rede. Um
nun mit diesem Mittel diesen Zweck zu erlangen, ist es die Aufgabe
des Dichters, dass er den Fluss der Rede weder zu grosse, noch zu
kleine Wellen schlagen lasse, dass die Kette seiner Gedanken weder
aus zu vielen und zu kleinen, noch aus zu wenigen und zu grossen
Gliedern bestehe: sonst verliert der Hörer ein Glied nach dem andern
aus der Hand, oder er kann keines recht fassen. Es soll vielmehr
der Dichter Mass halten, damit der Hörer, ohne kopfüber zu stürzen,
ihm nachfahren, damit er von Glied zu Glied die Anschauung verfolgen
könne. Es soll also der Dichter, um es unbildlich auszudrücken,
weder bloss das Allerwesentlichste, noch auch zu viel minder Wesentliches
sagen. Giebt er in der Darstellung bloss die Hauptmomente
seiner Anschauung wieder, so wird der Hörer nur zu leicht den causalen
Zusammenhang verlieren, wird den Uebergang von Einem zum
Andern nur mit Mühe oder gar nicht finden, wird gleichsam nur eine
Reihe von Berggipfeln sehen, während die Thäler, die vom einen
zum andern führen, ihm durch Wolken verdeckt sind. Giebt er auf
der andern Seite zu viel minder Wesentliches, so kann dem Hörer
wiederum leicht entgehn, worauf es denn eigentlich und hauptsächlich
ankomme, er wird Causalverbindungen zu sehen meinen, die gar
nicht vorhanden sind, er wird Einzelnes so wirken lassen, wie es
gar nicht wirken soll, er wird sich in den Thälern verlaufen, bis er
zuletzt den Weg auf die Berge gar nicht mehr finden kann. Giebt
der Dichter zu wenig, so verlangt er damit zu viel von der reproducierenden
Thätigkeit des Hörers und überstürzt und überspannt sie;
giebt er zu viel, so macht er wiederum zu wenig Ansprüche, verlangt
von ihm eine zu geringe Thätigkeit, schläfert ihn ein. Es muss also
der Dichter vorwärts und voran wandeln, damit der Hörer ihm nachwandle
und die gleiche, ebenso bewegte Anschauung empfange; er
darf allenfalls auch laufen, aber springen ist gefährlich, ebenso gefährlich
schleichen, und gar mit langem Verweilen und Stillestehn ist
alles verdorben, denn da steht es auch im Hörer still, und seine
Seele legt die Hände in den Schoss. Sie sehen, an dem Gesetze
der Darstellung ist nur soviel positiv, dass sie vorwärts schreiten
müsse; das Mass aber im Vorwärtsschreiten lässt sich nur negativ
bestimmen als ein weder zu viel noch zu wenig, es ist das auch
jedesmal bedingt durch die Beschaffenheit der bezweckten Anschauung
und ebenso durch den Standpunkt, auf welchem sich Bildung und |#f0045 : 32|

Sprache zur Zeit des Dichters befinden. Es muss also in jedem Fall
der Tact des Dichters entscheiden; und wenn die Darstellung eines
Dichters zu beurtheilen ist, muss man auf Zeit und Umstände Rücksicht
nehmen. Wenn wir diese Rücksicht nicht aus dem Auge verlieren,
werden wir z. B. die langsame Weitläuftigkeit in den Dichtern
der beiden sogenannten schlesischen Schulen des 17. Jahrhunderts
ebenso natürlich und wohl zu entschuldigen finden als die abgebrochenen
Gedankensprünge in den Volksliedern aller Zeiten: denn jenes
Jahrhundert wollte überhaupt alles bis auf das kleinste Titelchen hinaus
wohl motiviert und verclausuliert wissen; was aber die Volkspoesie
betrifft, der gemeine Mann kümmert sich nicht im Denken,
viel weniger in der poetischen Darstellung um logische Mittelglieder,
er springt getrost von einem Felsblock auf den andern. Eher dagegen
könnte man Aeschylus tadeln, dass er bei seiner Art und Weise
darzustellen dem Hörer zu viel, Euripides, dass er ihm zu wenig
zutraue und zumuthe: man kann sie tadeln, denn dass es dort und
damals wohl möglich gewesen, das rechte classische Mass zu halten,
sieht man an Sophocles. Eine ähnliche Trias von Dichtern haben
wir im Mittelalter an Hartmann von Aue, Wolfram von Eschenbach,
Gottfried von Strassburg: Wolfram springt, Gottfried schleicht, Hartmann
wandelt. Um auch noch von den zwei bedeutendsten Dichtern
der neuesten Zeit zu reden, Rückert und Uhland, so trifft Rückert
namentlich in seinen frühern Gedichten nicht selten der Tadel, dass
die Ausführlichkeit der Darstellung in keinem Verhältniss stehe zu
dem Gehalt der Anschauung, dass er zwar vorwärts gehe, aber mit
zu vielen und zu kleinen Schritten, so dass an jenen Gedichten schon
mancher ermüdet ist und die Geduld verloren hat. Eine Folge freilich
von Unbehilflichkeit ist diese seine überausführliche Darstellung
nicht, sondern im Gegentheil wird er dazu durch seine bewundernswürdige
Gewandtheit verleitet, der nichts zu schwer ist; es macht ihm
nichts, ganze Füllhörner auszuschütten, da er weiss, dass es eben
unerschöpfliche Füllhörner sind. Sodann Uhland: Uhland war von
jeher ein rechter Meister gemessener und angemessener Darstellung,
und diess war es, worin er sich, wie kein andrer deutscher Dichter
getrost neben Göthe stellen durfte. Uhland ist, wie wenige, Meister
einer Darstellung, die sowohl die treueste Objectivierung des innerlich
Angeschauten ist, als sie auch wieder für den Hörer die erfreulichste
Nöthigung in sich trägt, dasselbe und in der gleichen Weise
zu reproducieren, was der Dichter produciert hat. Denn wie an
Uhlands Production das Gemüth einen überwiegenden Antheil hat, wie
er eben unser gemüthlicher Dichter ist, so weiss er auch für die |#f0046 : 33|

Reproduction Gefühl und Gemüth besonders in Anspruch zu nehmen:
deshalb auch fehlt seinen Gedichten oft der scharf abschneidende
Schluss, sie endigen oft so zu sagen mit einem Gedankenstrich, nicht
mit einem Punkt; er will dem Gefühl des Hörers Raum geben, noch
über den Schluss des Gedichtes hinaus zu sinnen und sich immer
tiefer in Lust oder Wehmuth zu versenken; er schlägt den letzten
Ton eben nur an, damit er im Hörer noch geraume Zeit nachhalle
und wiederklinge, und so in diesem und durch diesen selbst das Ganze
seinen vollen Abschluss erhalte.


Wir haben nun noch die letzte Bestimmung in der früher aufgestellten
Definition der Poesie zu erörtern, die Bestimmung nämlich,
dass sie auch eine schöne Darstellung sei, nicht bloss Darstellung des
Schönen, sondern auch eine schöne Darstellung desselben.


Schönheit der Darstellung wird erreicht, wenn auch deren Mittel,
die Sprache, die Worte dem Gesetz der Schönheit unterworfen sind,
wenn auch in ihnen Einheit des Mannigfaltigen waltet. Diess Gesetz
wird am deutlichsten ausgeprägt und beherrscht die Rede am sichersten
durch rhythmische Gliederung derselben. Die Worte müssen
erstens nach einem gewissen Rhythmus geordnet sein, d. h. da Rhythmus
überall vorhanden, wo ein Wechsel von Gegensätzen regelmässig
wiederkehrt, so muss auch hier ein solcher sich wiederholender Wechsel
und zwar hier von hörbaren Gegensätzen stattfinden, ein Wechsel
je nach der Sprache von langen und kurzen, oder von betonten und
unbetonten Silben. Damit ist der Anforderung der Mannigfaltigkeit
schon Genüge geleistet, zum Theil auch, da der Gegensatz gleichmässig
wiederkehrt, der Einheit. Vollkommene Einheit aber wird
erst dadurch erzielt, dass man die rhythmisch geordnete Rede auch
gliedert, dass man sie in abgeschlossene überschauliche Reihen zerlegt,
die ein bestimmtes Mass von Wiederholungen jener Gegensätze
in sich befassen, dass man sie in Verse vertheilt und etwa die Verse
wieder zu Strophen verbindet. Man giebt der Rede metrische Gestalt.
Die metrische Gestalt ist es, die von jeher die Verbindung vermittelt
und erhalten hat zwischen der Poesie und der Musik und dem Tanze,
diesen dreien ihre Darstellungen nach und nach vorführenden Künsten.
So lange diese Verbindung bestand, hat auch immer die metrische
Form der poetischen Darstellung unbezweifelt und unverkümmert gegolten;
erst wenn Poesie und Musik sich getrennt haben oder zu trennen
beginnen und damit diese äussere Nöthigung zur metrischen Form
weggefallen ist, ist deren Beachtung minder allgültig geworden, und
so haben sich denn Undinge bilden können, wie die prosaische Poesie
und die poetische Prosa. Es sind dann z. B. bei Griechen wie bei |#f0047 : 34|

Deutschen an die Stelle der gesungenen und darum in Versen abgefassten
Heldengedichte die bloss zum Lesen bestimmten prosaischen
Romane getreten, und so giebt es auch prosaische Dramen. Sieht
man jedoch von solchen einzelnen, freilich sanctionierten Begriffswidrigkeiten
ab, so ist der Poesie nach wie vor das Bedürfniss der
metrischen Form geblieben, und man findet die rhythmische Ordnung
und Gliederung der Rede auch da erforderlich, wo dieselbe nicht
mehr zur Verknüpfung mit andern Künsten dienen kann, wie in der
gesanglosen Lyrik: denn sie beruht auch nicht grade bloss auf solchen
äussern Zweckbeziehungen, sondern vielmehr auf dem Princip,
das jede künstlerische Production von innen heraus beleben und gestalten
soll, dem Princip der Schönheit.


Noch ist auf die eigenthümliche Stellung aufmerksam zu machen,
welche die metrische Form gegenüber der poetischen Anschauung und
dem sprachlichen Material der Darstellung einnimmt. Die Anschauung
ist eine bewegte, vorwärts schreitende, ebenso die Rede, aber nicht
ebenso die metrische Form: diese beharrt in demselben Wechsel derselben
Gegensätze, sie verweilt in dem gleichen Rhythmus, es kehrt
die gleiche Versart, das gleiche Strophengebäude immer und immer
wieder. Dieser Widerstand, welchen somit die metrische Form dem
Strom der Rede entgegenstellt, ist nicht ohne Bedeutung: auch so
wird auf einem neuen Wege dem Princip der Kunst genügt: das
fixierte Metrum gegenüber der wandelbaren Rede ist wiederum die
Einheit über der Mannigfaltigkeit. Welche Gesetze über die Wahl
der jedesmaligen metrischen Form sich aus diesem Verhältniss derselben
zu der anderweitigen Darstellung ergeben, davon besser späterhin,
wo von den einzelnen Gattungen der Poesie die Rede sein wird.


Hier soll endlich nur noch diess Eine beachtet und betrachtet
werden, wie der früher bezeichnete Unterschied antiker und moderner
Kunst sich bis auf die metrische Form der Darstellung erstrecke. In
der antiken Kunst beherrscht, wie wir gesehen, die Einheit die Mannigfaltigkeit;
in der modernen Kunst dagegen wird die Einheit von
der Mannigfaltigkeit verdeckt. Die antike Simplicität zeigt sich auch
in der antiken Verskunst, während die modernen metrischen Formen
der Simplicität ermangeln. Den Griechen genügt der Rhythmus, genügt
der Wechsel von Längen und Kürzen; die ganze moderne Poesie
verlangt ausser dem einfachen Rhythmus der poetischen Rede noch
eine bunte Ausschmückung derselben, die Allitteration, die Assonanz,
den Reim. Den Reim, welchen die Deutschen und die übrigen Völker
von den spätern Römern entlehnten, hatten schon die früheren
Römer, wenn schon er vor den erborgten griechischen Formen ihrer |#f0048 : 35|

Poesie nie recht aufkommen konnte; sie treten auch in diesem Stück
wie in so vielen mitten hinein zwischen Griechen und Deutsche, zwischen
die alte und die neue Welt. Dieser moderne Schmuck ist von
wesentlichen Folgen für die ganze Art und Weise der poetischen Darstellung.
Bei den Alten steht jeder Vers für sich, und es kann allenfalls
ein Gedicht, z. B. ein Epigramm mit einer Zeile abgethan werden:
bei den Neuern verlangt jeder Vers wenigstens noch einen zweiten,
der die Allitteration, den Reim, die Assonanz vollende; das
kürzeste Gedicht ist wenigstens zweizeilig. Auf Anlass dieses zweigliedrigen
Gleichklanges ist der Parallelismus der Gedanken in der
neuern Poesie weit mehr zu Hause als in der antiken, namentlich
der griechischen, wenn er ihr auch nicht in solchem Masse eigen ist
als der hebräischen. Diese freilich hat, wie es scheint, gar keine
rhythmische Gliederung der poetischen Rede gekannt und keine viel
weitergehende Ausschmückung derselben als eben diesen auf Tautologien
und Antithesen beruhenden Parallelismus der Gedanken; den
Reim hat sie mehr nur als Wortspiel geübt.


Und somit wäre denn die gegebene Definition der Poesie weitläuftig
genug ausgeführt. Wir können nun übergehen zu den zwei
andern Abschnitten dieses Theiles.


2. ALTER UND URSPRUNG DER POESIE.


So viel steht fest, dass die Poesie überall älter ist als die Prosa.
Wohin wir blicken mögen, in welche Zeit, in welches Land wir auch
wollen, ein Volk, das seine Litteratur besitzt, hat den Anfang dazu
immer mit Poesie gemacht, und die Prosa hat sich immer erst dann
zu entwickeln begonnen, wenn die Poesie schon mehr oder minder,
theilweis oder gänzlich in Verfall gerathen war. Die Kunst der Homeriden
musste erloschen sein, eh Griechenland in Herodot einen
Vater der geschichtlichen Prosa finden konnte; ebenso in Deutschland:
die rechte Ausbildung der erzählenden Prosa beginnt eigentlich erst
mit dem Roman, der Roman aber erwächst und wuchert auf den
Trümmern des Epos. Ja wir finden im Alterthum, im deutschen wie
im griechischen und anderswo, die poetische Behandlung auf Dinge
angewendet, die uns jetzt derselben eben nicht gar fähig erscheinen:
so die historischen Gedichte des 12. 13. 14. Jahrhunderts. Beim Unterricht
der gallischen Druiden, der sich auch auf Gestirnkunde und
andre Theile der Naturwissenschaft erstreckte, wurde, wie es scheint,
alles in Versen vorgetragen, damit es die Schüler auswendig lernen
könnten, vgl. Cäsars Bell. gall. 6, 14. Von den Gesetzen der Kretenser |#f0049 : 36|

und andrer griechischen Volksstämme (Aelian. Var. histor. 2, 39), auch
von denen der Keltiberer (Strabo 3 p. 139) wird gemeldet, sie seien
in Versen abgefasst gewesen. Dasselbe gilt auch von den Verordnungen
(ῥῆτραι) Lycurgs, welche später von Terpander in Musik gesetzt wurden
(Otfr. Müller, Dorier 1, 134. 2, 377); und jetzt noch liegen uns von
den Angelsachsen und andern deutschen Völkern dergleichen Gesetze
vor. Noch aus dem 12. Jahrhundert besitzen wir in hochdeutscher
Sprache eine kleine Rechtsschrift, die halb Prosa ist, halb Poesie
(mit Reim und Allitteration): LB. 14, 187. Natürlich war die ganze
Auffassung des Rechtes damals bei den Alten und bei den Deutschen
auch eine andre, die metrische Form war damals ebenso angemessen,
als sie es heut zu Tage wahrscheinlich nicht wäre. Wie poetisch
kann noch die Rede bei all den Rechtsverhandlungen sein, die in den
ersten Büchern des Livius vorkommen! Die Poesie geht also überall
der Prosa voran, und so leben noch jetzt ganze Völker, bei denen
es noch gar nicht bis zur Prosa gekommen, bei denen die Poesie
noch unverfallen und in frischer Blüte und darum ganz allein da steht:
so sind die Littauer, so die Serben reich an den schönsten Liedern,
aber ohne Prosa. Kurz überall ist diejenige Art der Anschauung
und Darstellung die ältre und die ursprüngliche, die vorzugsweise aus
schaffender Thätigkeit der Einbildung erwächst, die uns den Menschen
in seinem Streben zeigt, es dem Schöpfer aller Dinge nachzuthun,
diejenige Art, bei der er uns mehr activ entgegentritt: jünger
die mehr passivische Thätigkeit des Verstandes und deren sprachlicher
Ausdruck, die Prosa.


Die Poesie ist aber nicht bloss älter als die Prosa, sie ist überhaupt
uralt und wahrscheinlich nicht viel jünger als die Sprache, mithin
als die Menschheit selbst. Zu einer solchen Annahme sind wir
durch vieles berechtigt. Der Kunsttrieb wohnt einmal dem Menschen
inne: welche Aeusserung desselben ist aber einfacher und näher gelegen
und unmittelbarer als die durch die Sprache, deren er ohnediess
fortwährend zur Mittheilung bedarf? Sodann ist jede Sprache, je älter
sie ist, auch desto sinnlich anschaulicher in all ihren Ausdrücken und
desto wohllautender; je mehr sie noch bei jugendlichen Kräften, je
weniger sie in Begriffen und Formen abgeschliffen, je weniger noch
die Fülle ihrer Laute getrübt und geschwächt ist, desto mehr ist jede
Sprache schon für sich eine schöne Darstellung: da ist es nur ein
kleiner Schritt vorwärts, zum Object dieser schönen Darstellung auch
das Schöne zu machen, aus der Sprache die Poesie zu entwickeln.
Endlich kommt noch eine Thatsache in Anschlag, dass nämlich in
ihrer Jugendzeit jede Sprache mehr Gesang als eigentlich Sprache |#f0050 : 37|

ist. Nun wissen wir aber auch, dass Dichten und Singen ursprünglich
eins und unzertrennt sind. Da wird die Dichtkunst nur aus jener
Zeit herrühren, wo auch Sprechen und Singen eins war, aus der
allerältesten Zeit der Sprache, aus dem Jugendalter des Volkes, der
Menschheit. Als Gott den Menschen schuf und ihm den Kunsttrieb
und die Sprache auf die Welt mitgab, gab er ihm auch den Keim
der Poesie mit auf die Welt, der unausbleiblich bald aufgehen musste.


Dass mithin das Alter der Poesie an das Alter der Welt hinaufreiche,
das haben auch die Griechen, die Orientalen und andre wohl
erkannt und mannigfach gesucht in mythischer Form auszudrücken.
Die Griechen leiten sie unmittelbar von den Göttern her. Hermes
war kaum geboren, so übte er schon, er der Erste, Poesie und
Musik: er bezog die Schale einer Schildkröte mit Saiten und sang,
indem er sie mit dem Plectrum schlug, die Liebe des Zeus und
der Maja, seine eigene Geburt, die Nymphen der mütterlichen
Grotte nebst dem Hausrath, wie das anmuthig dargestellt ist in dem
homerischen Hymnus auf Hermes. Ebenso bei den Finnen: die Erfindung
der Harfe und mit ihr des Gesanges und der Dichtkunst
schreiben sie Wäinämöinen, dem lichten Gotte des Guten, zu: vgl.
Schröter, Finnische Runen 69─73. Eben solche Herleitung von den
höchsten Göttern, ja ein Zusammenwirken aller Arten göttlicher und
halbgöttlicher Wesen begegnet uns im scandinavischen Norden. Die
jüngere Edda enthält eine weitläuftige, geschmacklos abenteuerliche
Darstellung, die wohl erst durch diese sehr späte Quelle so geschmacklos
geworden ist, wie sie uns erscheinen muss. Die beiden Göttergeschlechter,
die Asen und die Wanen schliessen nach langem Kriege
einen Frieden, der dadurch zu Stande kommt, dass sie von beiden
Seiten ihren Speichel in ein Gefäss werfen. Aus diesem Speichelgemisch
schaffen die Asen den Kwasir, das weiseste aller Wesen.
Dieser zieht durch die Welt und lehrt die Menschen die Weisheit.
Auf seiner Fahrt kommt er zu zwei Zwergen; diese erschlagen ihn,
mengen sein Blut mit Honig, woraus ein kostbarer Meth entsteht, der
jedem, welcher davon kostet, die Gabe der Weisheit und der Dichtkunst
verschafft. Die Zwerge müssen diesen Meth einem Riesen als
Sühne für einen Mord herausgeben. Die Asen aber wissen es und
wollen sich selbst in den Besitz des heiligen Blutmethes bringen.
Da macht sich Ođin auf zu dem Riesen. Durch List gelangt er dazu,
dass er all den Meth austrinkt. Darauf flieht er in Adlersgestalt, der
Riese ebenso ihm nach. Als er sich Asgard, dem Wohnsitze der Götter,
nähert, fühlt er sich von dem verfolgenden Riesen so hart
bedrängt, dass er den Meth von sich geben will. Die Asen stellen |#f0051 : 38|

Gefässe hin, Ođin speit den Meth hinein, und von da an gehört
dieser Meth den Asen und den Menschen, welche dichten können:
vergl. Grimms Mythol. 855─857. Wie hier die ganze Poesie, so
werden anderswo auch einzelne hauptsächliche Formen derselben,
werden Versformen, die bestimmte Dichtungsarten bezeichnen und
vertreten, auf Götter zurückgeführt oder doch ihr Ursprung in jene
entlegenen Zeiten versetzt, da die Götter noch auf Erden wandelten.
So soll der Hexameter von den Musen selbst erfunden sein: als
Apollo den pythischen Drachen erlegte, da, erzählt ein später Scholiast,
riefen ihm die Musen ermuthigende Worte, dann ihren Beifall
zu: von selbst ordnete und gliederte sich ihr Ruf in rhythmischer
Weise, und so sprachen und sangen sie die ersten Hexameter. In
ähnlicher Weise hat auch der Trimeter, die Versform der Komödie
und des Dramas überhaupt, einen mythischen Ursprung: denn er hat
seinen Namen von der Jambe, einer Magd im königlichen Palast zu
Eleusis, welche die Demeter, da diese in Betrübniss um ihre Tochter
umherirrte, durch ihre lustigen Einfälle endlich wenigstens zum Lächeln
brachte: vgl. Ruhnken zum homerischen Hymnus auf Demeter 195.


Tiefsinniger sind einige morgenländische Sagen, welche gleichfalls
das hohe Alter und den göttlichen Ursprung der Poesie behaupten,
aber nicht, indem sie dieselbe von einer Gottheit oder mit Zuthun
der Götter, sondern von dem Menschen, aber unter Umständen erfinden
lassen, wo er sich seiner überirdischen göttlichen Natur musste
am tiefsten und innigsten bewusst werden. Nach den Arabern ist der
erste Dichter Adam selbst gewesen (vgl. Latifi's Nachrichten von türkischen
Dichtern, von Th. Chabert S. 6): er sang aber das erste Lied,
als ihn der erste Schmerz der Sterblichkeit ergriff, als er Abel erschlagen
sah: denn in diesem tiefsten Leide musste er erkennen, wie über
dem armen sterblichen Leben noch ein höheres sei, es musste in
ihm das Bewusstsein der göttlichen Natur von neuem erwachen und
mit ihm die Poesie, der Ausfluss der göttlichen Natur. Ferner verdient
hier Erwähnung eine Art von Trauergesang, der schon zu den
ältesten Formen der griechischen Poesie gehört, den aber die Griechen
nicht für sich allein, sondern gemein mit den Aegyptern und
den Völkern Vorderasiens und wahrscheinlich von daher empfangen
haben; er heisst Linos, und diess ist zugleich der Name eines sagenhaft
ältesten Dichters, des Sohns Apollos und einer Muse, der zuerst
solche Trauerlieder gesungen und damit überhaupt den dichterischen
Gesang und den dichterischen Rhythmus soll erfunden haben. An
vielen Orten wurde Linos gefeiert: vgl. Ambrosch de Lino (Berlin 1829).
Auch die Inder stellen den ersten epischen Vers, der gesprochen |#f0052 : 39|

worden, also überhaupt die älteste Poesie dar als die unwillkürliche
Aeusserung eines schmerzlichen Mitleidens. Ein heiliger Einsiedler,
Walmiki, sieht, wie aus einem Paare von Reihern der eine getödtet
wird; da bricht er in Klagen und Verwünschungen aus; ohne dass
er es merkt, ordnen seine Worte sich rhythmisch. Erst da sie gesprochen
sind, fällt es ihm auf; gleich kommt auch Brahma und
befiehlt ihm in dieser Form ein Epos zu verfassen, das erste, älteste
aller Gedichte, Ramáyana: vgl. Fr. Schlegel, Sprache und Weisheit
der Inder S. 263─271. Phil. Wackernagels Auswahl deutscher Gedichte,
5. Aufl. S. 207. Freundlich, aber minder tief ist die persische
Sage vom Ursprunge des Reimverses: Behram, der Sassanide, hat
eine geliebte Sclavin Dilaram, die aus liebender Uebereinstimmung
jede Rede ihres Herrn mit gleichgemessenen und gleichschliessenden
Worten erwidert: hier ist es also die Liebe, welche den Versbau
mit Reim hervorbringt: vgl. Rückert, Oestliche Rosen 150; LB.
2, 1563.


3. BENENNUNGEN DER POESIE.


Die Benennungen, welche zu verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen
Völkern der Dichtkunst und den Dichtern sind beigelegt
worden, beziehen sich, soweit man sie etymologisch ausdeuten kann,
fast alle entweder auf den innigen Zusammenhang der Poesie mit der
Sprache, oder auf ihre altgewohnte Verbindung mit der Musik, oder
auf den Parallelismus der schöpferischen Einbildung des Menschen
mit der schaffenden Allmacht Gottes. Insofern können sie alle in
dieser oder in jener Weise zur letzten Bestätigung dessen dienen,
was bisher im ersten Abschnitt über das Wesen und im zweiten über
den Ursprung der Poesie ist bemerkt worden; deshalb ist ihnen auch
eine schnell vorübergehende Betrachtung zu widmen.


Bei Homer erscheinen Dichtkunst und Musik auf das engste verbunden:
jeder Dichter ist zugleich Sänger. Daher hat er für Dichten
und Gedicht und Dichter das gleiche Wort als für Singen und Gesang
und Sänger: ἀείδειν, ἀοιδή, ἀοιδός. Späterhin, wo Dichtung und Musik
schon auseinandergegangen, werden diese Ausdrücke bloss vom Singen
gebraucht; nur ᾠδή bezeichnet Gesang und eine besondre Gattung
von Gedichten, nämlich lyrische: denn bei diesen erhielt sich die
alte Verbindung länger. Sonst kommt nun für Dichten ein besonderer
Ausdruck auf, der es als ein Schaffen darstellt: ποιέω, ποιητής, ποίημα,
ποίησις, Ausdrücke, die wir zuerst bei Herodot finden. Zu dieser
Zeit, wo zuerst neben der Poesie auch Prosa, und zwar die historische,
die der bloss verständig reproducierenden Erinnerung, in Aufnahme |#f0053 : 40|

kam, musste man sich durch diesen Gegensatz besonders klar
bewusst werden, wie die Poesie eine schaffende Kunst, der Dichter
ein Schöpfer auf dem Standpunkte der Menschheit sei.


Diese letzteren griechischen Ausdrücke haben sich die Römer
schon frühzeitig angeeignet; die daneben bestehenden lateinischen sind
canere, carmen, vates. Bei canere ist es noch zweifelhaft, ob es da,
wo es im Sinne von Dichten gebraucht wird, nicht etwa bloss eine
Uebersetzung des homerischen ἀείδειν sei. Carmen ist schwer auszudeuten;
jedesfalls kann es nicht von canere hergeleitet werden, vielleicht
beruht es auf einer alten und neueren Sprachen nicht ungeläufigen
Vergleichung der Dichtkunst mit einer mechanischen Handfertigkeit,
mit dem Bereiten des Gewandes. Bei den Griechen hiess einer,
der die einzelnen alten Heldenlieder zu grösseren Ganzen verband
und so verbunden vortrug, Gesangnäher ῥαψῳδός, von ῥάπτειν ἀοιδήν:
Hesiod. fragm. 34, 2. Die Lateiner gebrauchen in diesem Sinne texere
weben, z. B. contexere carmen bei Cicero, ähnlich im Mittelalter. So
kann auch carmen von carere kommen, welches die Bereitung der
Wolle vor dem Weben des Tuches und wie carminare auch das Weben
bezeichnet. Mit carmen hängt auch der lateinische Name der Göttin
der Dichtkunst zusammen, Camena: von den Grammatikern wird nämlich
mehrfach bezeugt, dass die ältere Form Casmena lautete; das
wäre dann wieder der gewöhnliche Wechsel von s und r. Vâtes endlich
bezeichnet den Römern einen Weissager und einen Dichter, entweder
weil die Weissager in Versen sprachen, oder weil man sich
den Dichter prophetisch begeistert dachte. Im Lateinischen ist das
Wort ohne Wurzel: zwar hat man es mit dem griechischen φάτης
zusammengestellt, allein diese Erklärung ist eine etymologische Unmöglichkeit,
indem diese Wurzel auch in fari, fateor vorkommt, φ
und f aber nie in v übergehen. Dazu kommt, dass φάτης ein kurzes,
vates dagegen ein langes a hat. Wahrscheinlich ist das Wort gar
kein lateinisches, sondern neben so vielen andern von den Galliern
entlehnt. Strabo 4 p. 197 nennt neben den Barden und den Druiden
als eine Klasse der priesterlichen Gelehrten bei den Galliern die
οὐάτεις und bezeichnet dieselben als ἱεροποιοὺς καὶ φυσιολόγους (Priester
und Naturgelehrte)1. Doch bleibt das Wort auch im Celtischen
dunkel.

1
Παρὰ πᾶσι δ' ὡς ἐπίπαν τρία φῦλα τῶν τιμωμένων διαφερόντως ἐστί,
βάρδοι τε καὶ οὐάτεις καὶ δρυίδαι; βάρδοι μὲν ὑμνηταὶ καὶ ποιηταί, οὐάτεις δὲ
ἱεροποιοὶ καὶ φυσιόλογοι, δρυίδαι δὲ πρὸς τῇ φυσιολογίᾳ καὶ τὴν ἠθικὴν φιλοσοφίαν
ἀσκοῦσι.
|#f0054 : 41|


Nun noch die deutschen Ausdrücke. Alt- und echtdeutsch wird
für Dichten singen oder sagen, oder in tautologischer Verbindung
singen und sagen gebraucht. Jenes zielt auf den musikalischen Vortrag,
dieses auf die künstlerische Gestaltung der Sprache; singen und
sagen
vereinigt althochdeutsch und altsächsisch beide Beziehungen.
Diese Verbindung ist so fest sprichwörtlich, und so wenig hatte man
Kenntniss von einer andern Art des Vortrages, dass die altsächsische
Evangelienharmonie (Heliand) sogar von den Evangelisten erzählt, sie
hätten gesagt und gesungen1, und Otfried von eben denselben unmittelbar
neben einander zuerst sagen und dann singen gebraucht2. Späterhin,
wo Poesie und Musik sich trennen, trennen sich auch diese
Ausdrücke, und während sagen von Gedichten gilt, die nur zum
Lesen bestimmt sind, wird singen von solchen gebraucht, die musikalische
Begleitung haben. Demgemäss wird ein gesungenes Gedicht
sanc oder liet (d. h. Strophe), ein bloss gelesenes buoch genannt.
Der älteste nationale Ausdruck für Dichter ist nicht Barde: denn
Barden hat es nach dem einstimmigen Zeugniss der Alten, der Griechen
sowie der Römer, nur bei den Galliern gegęben. Und wenn
Tacitus in der Germania cp. 3 den germanischen Schlachtgesang barditus3
nennt, so ist damit nicht sowohl das Lied selbst, als vielmehr
die Art des Vortrages, der relatus gemeint: barditus ist ein Schildgesang,
von barđi Schild, so genannt, weil die alten Deutschen den
Schild vor den Mund hielten, damit der Ton rauher anschwelle. Der
älteste Name des Dichters ist scof4, von der Wurzel schaffen, wie
ποιητής von ποιέω. Im Altnordischen heisst er skâld, von schelten,
mit Bezug auf die satirische Richtung der Poesie. Die jetzt üblichen
Worte dichten, Dichter, Gedicht, altdeutsch tihten (daher noch jetzt
tichten und trachten), tihtaere, getihte kommen vom lateinischen dictare,
dem Frequentativum und Intensivum von dicere; dictare aber bedeutet
im mittelalterlichen Latein s. v. a. schreiben, schriftlich abfassen, und
wird nur von geschriebenen Erzeugnissen gebraucht.

1
Hel. V. 32 f.: That scoldun seâ fiorî thuo fingron scrîƀan, settian endi
singan endi seggean forth u. s. w.
2
Otfr. 1, 1; LB. 14, 84, 25. 29: Thaʒ Kristes uuort uns sagetun ... Uuanta
sie iʒ gisungun.
3
Litt. Gesch. S. 9.
4
Litt. Gesch. S. 11. 41.
|#f0055 : 42|

II. VON DER POESIE IM BESONDERN.

1. DIE EPISCHE POESIE.


Es ist eine weit verbreitete Behauptung, dass man als die älteste
Gattung der Poesie die Lyrik zu erkennen habe: denn dem Menschen
liege nichts näher als sein Ich, und nichts könne ihn eher und leichter
zu poetischer Production reizen als seine Empfindungen: mithin sei
die lyrische Poesie als die Poesie des Ichs und des Gefühls auch
die älteste.


Diese Behauptung hat viel verleitenden Schein: dennoch ist sie
ein lediglich aus der Luft gegriffenes Theorem, und von aller Kenntniss
der Litteraturgeschichte, von aller Einsicht in das eigentliche Wesen
der Poesie verlassen. So wie man sich nach historischer Begründung
umthut, und so wie man nur einigermassen bedenkt, was denn
Poesie überhaupt solle und wolle, so ergiebt sich vielmehr und bleibt
nur die Lehre bestehn, dass die epische Poesie die älteste, und dass
alle Poesie zuerst nur episch gewesen sei.


Befestigen wir diesen Satz zuerst auf dem geschichtlichen Wege.


Wie das Aelteste, was wir von deutscher Litteratur kennen, poetische
Werke sind (denn prosaische Uebersetzung ausländischer Prosa
darf hier nicht in Anschlag kommen), so ist auch das Aelteste, was
wir von deutscher Poesie kennen und wissen, epische Poesie. Episch
sind all die ersten Denkmäler derselben, die sich erhalten haben: so
aus dem achten Jahrhundert das Lied von Hildebrand und Hadebrand
(LB. 14, 55); so aus dem neunten das vom Jüngsten Tage (LB. 14, 75):
denn auch dieses erzählt, zwar nicht Vergangenes, sondern Zukünftiges,
nicht in historischer, sondern in prophetischer Weise. Indess
damit wäre noch nicht viel bewiesen: denn die deutsche Nation ist
älter als aus dem achten und dem neunten Jahrhundert. Aber es
reichen Zeugnisse von da an aufwärts bis in die frühesten Zeiten zurück,
bis in denjenigen Zustand, den wir für die europäische Existenz
der Deutschen als ihren Urzustand betrachten dürfen und müssen: Zeugnisse
über epische und nur über epische Lieder bei den Langobarden,
bei den Gothen, bei den Germanen, wie Tacitus sie schildert1.


Nicht anders bei anderen Völkern. Die Litteratur der Hebräer
hat einen epischen Beginn; als Walmiki den ersten indischen Vers

1
Paulus Diaconus 1, 27. Iornandes 4. 5. Germ. 2. 3. Annal. 2, 88.
|#f0056 : 43|

erfunden hatte, liess ihn der Gott die neue Kunst an einem Epos Ramáyana
üben; Heldenlieder waren es, welche die Barden der Gallier
zum Saitenspiele sangen1; die ersten Spuren der römischen Poesie
sind wiederum Heldenlieder2; und schon vor Homer, in den Zeiten
der griechischen Litteraturgeschichte, die wir nur aus halb fabelhaften
Nachrichten kennen, hatte diess Volk seine epischen Gesänge, und
nur solche. Homer wenigstens fand keine andern vor: die ἀοιδοί,
die bei ihm auftreten, Phemios auf Ithaka, Demodokos bei den
Phäaken, singen nur epische Stoffe. Daher erklärt sich denn auch
die griechische Benennung erzählender Gedichte, ἔπος, oder besser
pluralisch ἔπη oder ἐποποιΐα, Wort, Rede, Wortschöpfung: denn es
gab ursprünglich nur diese künstlerische Gestaltung des Wortes. Die
andern und jüngeren Gattungen der Poesie tragen specieller bezeichnende
Namen.


Dass die Dichtkunst in ihren Anfängen episch gewesen sei, darauf
zielt auch die griechische Mythologie überall, wo sie die Kunst und
jene ihre Anfänge berührt. Der homerische Hymnus, der Hermes als
den ersten Sänger und Dichter darstellt, stellt ihn zugleich als Epiker
dar: er sang die Liebe des Zeus und der Maja, seiner Eltern, und
seine eigne Geburt, sang die Entstehung der Erde und der Götter,
den Rang und die Würde derselben, vor allen aber die Mnemosyne,
welche ihm die Gabe des Singens verliehn.


Die Mnemosyne: diess führt uns auf ein andres, noch triftigeres
Zeugniss. Von ihr also rührt noch über den Hermes hinaus die Kunst
des Gesanges her: das heisst, sie rührt her vom Gedächtniss, von
der Erinnerung: solchen Ursprung kann man aber der Poesie nur beilegen,
insofern sie lediglich als epische verstanden wird. Diese Auffassung
liegt aber dem ganzen Mythus von den Musen zum Grunde.
Der Name selber scheint, etymologisch betrachtet, nichts andres zu
bedeuten als die Gedenkenden; und was die Musen bewalten, sind
ursprünglich nicht die schönen Künste überhaupt, oder gar auch die
Wissenschaften: so hat sie erst eine spätere Zeit betrachtet; sondern
einzig die Poesie und was dazu gehört, Musik und Tanz. So erscheinen
sie bei Homer und Hesiodus3. Sie singen aber sowohl selbst den
Ursprung und die Thaten der Götter, als auch die Kunst des ἀοιδός
eine von ihnen verliehene Gabe ist4. Epischen Gesang also hegen

1
Amm. Marc. 15, 9.
2
Niebuhr, Röm. Gesch. 14, 268. 4, 28 (1844). Vorträge 1, 12. 86 fgg.
3
Theogon. 1 fgg.
4
Demodokos Od. 8, 44 f.: τῷ γάρ ῥα θεὸς πέρι δῶκεν ἀοιδήν, τέρπειν, ὅππῃ
θυμὸς ἐποτρύνῃσιν ἀείδειν.
|#f0057 : 44|

und pflegen sie. Ihre Zahl steht bei Homer noch nicht gleichmässig fest:
er redet von ihnen ebenso oft im Singular als im Plural, und nur an
einer Stelle von neunen1. Erst Hesiodus giebt zu der Neunzahl auch die
bekannten Namen; als die vorzüglichste von allen nennt er Kalliope2,
also die Muse des Epos; als Vater den Zeus, als Mutter Mnemosyne,
eben jene Mnemosyne, die dort den Hermes mit der Sangeskunst begabt3:
beidemal das gleiche, für unsre Betrachtung bedeutsame Verhältniss der
Erinnerung zur Poesie, nur verschiedentlich dargestellt. Zwischen der
Einzahl bei Homer und der Neunzahl des Hesiodus liegt die Dreizahl,
nach Pausanias 9, 29, 2 älter als die Neunzahl; die Namen dieser
dreier sind Melete Mneme Aoide, Sorgfalt Erinnerung Gesang: Melete
und Aoide beziehn sich auf die äussere Form, auf Darstellung und
Vortrag; auf den Gehalt der dichterischen Production nur Mneme:
also wiederum die Erinnerung. Es giebt noch andere Zahlen und
andere Namen, fünfe nach den fünf Sinnen, sieben nach den sieben
Saiten und den sieben Planeten u. s. f.: willkürliche Erfindungen späterer
Philosophen und Mythographen, die uns hier nichts angehn.
Hier kam es nur darauf an, nachzuweisen, wie sich auch im Volksglauben
der Griechen das historische Bewusstsein von der Erstgeburt
des Epos und von dem epischen Grunde aller Poesie ausspreche: für
dergleichen Dinge ist aber die mythische Tradition eben so gut
ein geschichtliches Zeugniss und ebenso vollgültig als irgend ein
anderes.


Es könnte an diesen aus Geschichte und Mythologie entnommenen
Gründen genügen: aber es sind auch noch innere vorhanden, und wir
dürfen dieselben um so weniger übergehn, als sie uns schon im voraus
einige Blicke in das Wesen der epischen Poesie eröffnen, und
uns den Grund und Boden zeigen, aus welchem sie erwachsen ist
und als die erste aller Gattungen hat erwachsen müssen.


Als die wesentlichste und wirksamste unter den drei Seelenkräften,
die bei Conception einer poetischen Anschauung thätig sind, haben
wir die Einbildungskraft kennen gelernt; wir haben gesehen, wie sie
zumal das Organ des menschlichen Kunsttriebes sei, sie die eigentlich
schaffende, der Gefühl und Verstand nur prüfend und helfend beigeordnet
sind. Wir haben sodann auch bemerkt, dass die Einbildungskraft

1
Odyss. 24, 60 f. Μοῦσαι δ' ἐννέα πᾶσαι, ἀμειβόμεναι ὀπὶ καλῇ, θρήνεον.
2
Theogon. 76 fg. Καλλιόπη θ' ἡ δὲ προφερεστάτη ἐστὶν ἁπασέων.
3
Ebenso Apollodor. 1, 3, 1: Ζεὺς-γεννᾷ-ἐκ δὲ ΜνημοσύνηςΜούσας, πρώτην
μὲν Καλλιόπην, εἰτα Κλειὼ Μελπομένην Εὐτέρπην Ἐρατὼ Τερψιχόρην Οὐρανίαν
Θάλειαν Πολυμνίαν.
|#f0058 : 45|

das Schöne anschaue in den Formen der Wirklichkeit, bald nur
wieder erzeugend, bald selber zeugend, bald als Gedächtniss, bald
als Phantasie. Ist nun diess ihre Stellung und ihr Wirken, so musste
der Mensch, als es ihn zuerst zum Dichten trieb, nothwendiger Weise
auch zuerst auf die epische Poesie geführt werden: denn hier vor
allen und hier am leichtesten und unmittelbarsten wird das Schöne
angeschaut in den Formen der Wirklichkeit; hier haben Gedächtniss
und Phantasie vollen, weiten, freien Spielraum, ihre Kraft zu entfalten;
hier gilt es wie sonst nirgend die Erinnerung des Geschehenen
zu erneuern und zu fingieren, dass etwas geschehen sei. In den
übrigen Gattungen steht die Einbildung weit weniger voran, und
namentlich das Gedächtniss feiert da oft gänzlich. Grundes genug,
dieselben nur als secundäre, als minder unmittelbare, minder natürliche
Gestaltungen der Poesie zu betrachten, als solche, die erst bei
vorgerückter künstlerischer Bildung, nach längerer Uebung möglich
wurden.


Sodann ist auch erörtert worden, wie die bewegliche Natur der
Gedanken und der Sprache eine entsprechende Bewegtheit sowohl der
Anschauung als der Darstellung verlange, wie die Darstellung selbst
und die dargestellte Anschauung, beide jenes Mittels wegen, das ihnen
dient, historisch vorwärts schreiten und sich in einem causalen Zusammenhange
fortschreitend entwickeln müssen. Verhält sich diess
aber so, so konnten wiederum die ersten Dichter nur Epiker sein:
denn es bedarf nicht viel Zuthuns von Seiten des Dichters, um einen
in der Wirklichkeit historisch verlaufenen Stoff auch in seinem historischen
Verlaufe aufzufassen, und eine bewegte Reihe von Begebenheiten
der Wirklichkeit auch als eine bewegte Reihe in Gedanken
und Worten vorzuführen: schon von selbst wird sich ihm alles in der
rechten Entwickelung gestalten, wenn er es nur mit einigermassen
gesundem Auge ansieht. Dem Lyriker, dem Dramatiker fällt das
weit weniger von freien Stücken zu; hier haben wir nicht mehr die
Stufe, welche der Poesie gleich bei ihrem ersten Schritte vor den
Füssen lag: sie musste sich schon im Epos daran gewöhnt haben, die
Bewegtheit, die äusserlich dargeboten ist, aufzufassen, ehe sie in
der Lyrik derjenigen genügen konnte, die mehr durch innere Gründe
gefordert wird.


Ferner wissen wir, und können es noch immer wahrnehmen, dass
in Völkern, die ihr Jugendalter und den natürlicheren Zustand noch
nicht überschritten haben, der Einzelne sich kaum als selbständiges
Individuum fühlt, sondern ruhig, ohne Absicht, ohne rechtes Wissen
und Wollen als Glied des grösseren Ganzen wirksam ist, und nur |#f0059 : 46|

durch dasselbe und in und mit ihm lebt. Erst nach und nach, wie
die Sittigung anwächst, die zu einem künstlicheren Staatswesen in
Wechselbeziehung steht, erwacht auch das ausschliessende Selbstbewusstsein
der Einzelnen, und beginnen sie ihre Persönlichkeit geltend
zu machen. In Zeiten wie diesen kann sich kein Epos zuerst
entwickeln: denn das Epos verlangt, wie das weiterhin ausführlicher
soll dargestellt werden, dass die Individualitat des Dichters aufgehe
in die Gesammtheit des Volkes. Auf der andern Seite kann jener
frühere Zustand ebensowenig die Grundlage abgeben für die Lyrik:
die Lyrik hat es mit den Innerlichkeiten des Individuums zu thun:
in jenen Zeiten weiss sich aber noch Keiner recht als solches. Auch
pflegt der einfache Mensch unempfindlich zu sein gegen feinere Eindrücke
auf sein Gefühl, und bei stärkeren so leidenschaftlich, dass
er eher schreit als singt. Vielmehr, was sich mit jenem früheren
natürlicheren Volksleben einzig verträgt, die unmittelbare und nothwendige
Frucht desselben, ist die epische; was nur bei einem künstlicheren
Staatsleben noch möglich ist und sich als dessen Ausdruck
ergiebt, die lyrische Poesie.


Endlich kommt hier noch ein vierter Punct in Anschlag. Seiner
selbst ist sich also in jenem Urzustande der Einzelne wenig bewusst:
wessen er sich aber und mit ihm alle Stammverwandten sich bewusst
sind, und nicht bloss im Verstande, sondern von ganzer Seele bewusst
sind, das ist die Abhängigkeit von Gott: in Allen wohnt das Gefühl
und die Erfahrung, dass das ganze Volk, dass alle Menschheit, alle
Welt aus Gott komme und nur durch ihn Bestand habe; was auch
geschieht, sie erkennen, dass es durch Gott geschehe. Dieses Bewusstsein
zugleich des göttlichen Ursprunges und der Abhängigkeit
von Gott spricht sich überall selbst in den Mythen des Heidenthums
aus, indem es z. B. Götter sind, welche die einzelnen Völker zu ihren
Stammvätern und zu Ahnherrn ihrer Könige machen. Je weiter aber
die Geschichte vorwärts rückt, desto mehr entfremdet sich auch die
Menschheit ihrem höheren Ursprunge, desto mehr wendet sie das
Auge von Gott zurück auf sich selbst; desto mehr verdunkelt sich in
den Einzelnen das unbefangene Gefühl des unmittelbaren Zusammenhanges
mit ihm, desto mehr glaubt Jeder für sich zu stehn und das
Heil in sich selber zu finden. Auch in dieser Beziehung ist dort nur
das Epos, und ist hier nur die Lyrik begründet: dort diejenige Gattung
der Poesie, die Gott in der Geschichte anschaut; hier diejenige,
die ihn ausserhalb der Geschichte, die ihn im Ich zu erkennen
sucht, die sich oft genug sogar mit einem gottverlassenen Ich
begnügen mag.

|#f0060 : 47|


Dieser letzte Erwägungsgrund des historischen Verhältnisses zwischen
Epos und Lyrik bildet für uns den besten Uebergang zur
Erörterung des eigentlichen Wesens jener Gattung, ihrer Anschauungen
und ihrer Darstellungsart.


Alle Poesie schaut das Schöne unter Formen der Wirklichkeit an:
auch die epische Poesie. Sie ist aber auf das höchste Schöne gerichtet,
auf die Einheit, die über und in aller Welt ruht, auf den göttlichen
Geist. Wie sie jedoch eine menschliche Kunst ist, so wird
sich ihre Anschauung niemals der ganzen Gottheit bemächtigen, sondern
aus der Fülle der Göttlichkeit immer nur ein Einzelnes, eine
vereinzelte Idee von religiösem oder sittlichem Gehalt herausgreifen
und sich aneignen können. Diese Idee nun wird angeschaut unter
Formen derjenigen Wirklichkeit, die der Einbildung am nächsten vorliegt,
und in der sich auch die Gottheit am deutlichsten offenbart, unter
Formen der Geschichte. Epische Anschauung ist demnach Anschauung
einer göttlichen, einer religiösen oder sittlichen Idee in Form einer
durch Causalität verbundenen Reihenfolge von äusseren Thatsachen.


Diess die allgemeine Definition, welche für die epischen Gedichte
aller Zeiten, aller Völker, aller Arten passt, und es sind damit sowohl
die Anforderungen ausgesprochen, die man an die allerneueste Ballade
machen darf, als auch die ältesten Heldenlieder der Griechen u. s. f.
damit charakterisiert sind. Aber innerhalb dieser so weit ausgedehnten
Grenzen ist nun noch von den Besonderheiten dieser Heldenlieder
und jener Balladen zu sprechen und zu erörtern, wodurch sich die
epische Poesie der Jahrhunderte, wo es nichts anderes als Poesie und
keine andre Poesie gab als epische, unterscheide und unterscheiden
müsse von der epischen Poesie späterer Zeiten, wo neben derselben
schon eine ausgebildete Lyrik und Dramatik und schon eine prosaische
Geschichtsschreibung hergeht.


Wir folgen dem Faden der historischen Entwickelung und schildern
zuerst das Epos, wie es anfänglich gewesen, das ältere und
ursprünglichere, das zugleich den Ursprung aller Poesie in sich
trägt.


Indem die Einbildungskraft das Schöne, die göttliche Idee, unter
Formen der geschichtlichen Wirklichkeit anschaut, kann dabei das
Gedächtniss, es kann auch die Phantasie eine vorwaltende Thätigkeit
ausüben. Waltet das Gedächtniss vor, so wird zur Form der Anschauung
die Sage gewonnen; überwiegt die Phantasie, oder wirkt sie gar ausschliesslich,
so ergeben sich der Mythus, das Märchen und die Thiersage.
Diese vier verschiedenen Gestaltungen der epischen Anschauung
haben wir vorerst jede für sich näher zu betrachten.

|#f0061 : 48|


Sage heisst eigentlich und ursprünglich s. v. a. Erzählung überhaupt,
die altnordische Sprache versteht darunter auch eine streng
historische Geschichtserzählung. Hier jedoch nehmen wir das Wort
in dem Sinne, welchen die neuere Zeit ihm gegeben hat. Bei der
Sage in diesem Sinne ist vor allen übrigen Seelenkräften das Gedächtniss
thätig; aber auch die Phantasie tritt wirkend hinzu, und nicht
minder leisten Gemüth und Verstand angemessene Hilfe. Die geschichtliche
Wirklichkeit, aus der sie schöpft, ist jedesmal die Geschichte
desjenigen Volkes, bei welchem sie sich bildet; sie geht auf seine
Thaten und Erlebnisse, seine Helden und Weisen. Aus der Masse
aber dieses historischen Stoffes erscheint in der Sage immer nur soviel
herausgehoben und beibehalten, als erforderlich oder hinlänglich ist,
um die angeschaute göttliche Idee in sich aufzunehmen: was aber von
geringerer Bedeutung ist, was die Anschauung stören und verdunkeln
kann, lässt sie getrost fallen; ja es wird nicht bloss verschwiegen,
es werden sogar historische Thatsachen umgestaltet; noch mehr, es
werden von der Phantasie unhistorische Züge unter die historischen
gemischt: alles das nur, um die Idee noch besser zu ergreifen, noch
angemessener einzukleiden. So liebt die Sage namentlich das Wunderbare,
das Wunderbare als das unleugbarste Merkmal der waltenden
Hand Gottes. Sage ist also auch Geschichte, aber erhoben zur Höhe
der Idee, Geschichte, berichtigt vom religiös-sittlichen Standpunkte
aus, Geschichte von einer mehr als bloss gemeinen Wahrheit. Sie ist
gleichsam die vox populi vox dei über die Geschichte, oder, wie
Görres treffend sagt, „der feurige Wein, in den die Geschichte, durchwärmt
vom Lebensgeiste des Volkes, aufgegohren“ (Heldenbuch von
Iran 2, 356). Aber wohl zu beachten, Bewusstsein und Absicht haben
an all dem nicht den geringsten Antheil: nicht wissentlich und geflissentlich
wird diess verschwiegen und jenes hinzugedichtet; und Wunder
werden erzählt, nicht damit man Gott darin erkenne, sondern
weil man ihn darin erkennt. Jede Sage ist eigentlich als Geschichte,
als historisch wahr gemeint: aber da man die gegebenen Thatsachen
von dem Kern und Mittelpunkt der göttlichen Idee heraus betrachtet,
so kann es bei der menschlichen Gebrechlichkeit und Fehlbarkeit nicht
ausbleiben, dass man sich in den Aussendingen vielfach irrt, dass
man verwechselt und verstellt, dass man auch sieht, was gar nicht
vorhanden ist. Diese sagenhafte Art ist es, in der alle Völker ihre
Geschichte auffassen, so lange sie noch ein natürlicheres, durch Civilisation
und Gelehrsamkeit ungetrübtes oder minder getrübtes Leben
führen: darum beginnt alle Geschichte zuerst mit Sage, nicht bloss
die griechische und die römische; darum treffen auch die Sagen der |#f0062 : 49|

verschiedensten Völker, wenn schon sie jede an ihrem Orte daheim
und überall eben Nationalsagen sind, dennoch so oft in ihrem eigensten
Wesen wie auch in der Art der Gestaltung überein, und der
Schuss des Tellen findet sich schon Jahrhunderte früher als nordische
Sage vor: denn alle sprechen die überall einigen göttlichen Ideen aus,
die in der Geschichte wahrgenommen werden, und überall ist es die
menschliche Phantasie, die dem Gedächtniss bei der Gestaltung der
Anschauung wesentliche Dienste leistet.


Wie demnach die Sage älter ist als die Geschichte, so spiegelt
sich auch im Epos, das älter ist als die Geschichtsschreibung und
älter als alle andre Poesie, die Geschichte immer nur als Sage wieder.
Immer und ohne Ausnahme. Sogar wo die alte Ependichtung auf
gleichzeitige, frisch erlebte Ereignisse gerichtet ist, kann sie es nicht
unterlassen ihnen eine sagenhafte Färbung zu geben: eine Auffassung
von gemeiner Wahrheit und Treue wäre dem dichtenden Geiste drückend
erschienen: sie hätte ihn mit unbequemen Einzelheiten belästigt, denen
es schwer war eine poetische Bedeutung abzugewinnen; die eigentlich
schöpferische Thätigkeit hätte sie ganz darnieder gehalten, indem bei
ihr die Phantasie gänzlich ausgeschlossen und lediglich das Gedächtniss
wäre angesprochen worden. Ein recht schlagendes Beispiel von
solcher sagenhafter Behandlung eben erlebter geschichtlicher Wirklichkeit
giebt der Ludwigsleich1 vom J. 881. Er ist gleich nach dem
Ereignisse, das er erzählt, der Normannenschlacht bei Saucourt, abgefasst
worden: denn er spricht von Ludwig III. noch als einem lebenden;
Ludwig starb aber schon im J. 882. Dennoch ist er in einem
Zuge bereits ganz sagenartig: es kommt darin ein Wunder vor, ein
Zwiegespräch Gottes mit dem Könige. Aber durch eben diesen Zug
stellt sich auch die göttliche Idee, welche hier in einem Verlaufe von
Thatsachen angeschaut wird, um vieles deutlicher heraus: indem Gott
unmittelbar eingreifend erscheint, erkennt man auch besser den Gott,
der die Seinigen züchtigt, um ihnen, wenn sie die schwere Prüfung
bestanden haben und geläutert sind, rettend beizuspringen und sich
nach dem Zorne wieder als den Gott der hilfreichen Liebe zu
bewähren.


Bei der Anschauung des Schönen in Form einer Sage hat also
das Gedächtniss ein Uebergewicht über die Phantasie: denn die Sage
fusst auf der wirklichen Geschichte, und es bleibt der schöpferischen
Phantasie nur das Recht zu ändern und einzuschalten. Anders verhält

1
LB. 14, 103; Litt. Gesch. S. 67.
|#f0063 : 50|

es sich, wo die Anschauung gestaltet wird als Mythus, als Märchen,
als Thiersage. Hier ist das Vorrecht auf Seiten der Phantasie.


Zuerst der Mythus. Wir wissen wohl, dass dieses Wort (es
kommt von μύω, sich zusammenfügen) bei Homer dem Character jener
Zeit gemäss, welche die Geschichte bloss mit dichterischen, nicht mit
kritischen Augen betrachtete, nur noch s. v. a. Erzählung überhaupt
bedeutet, seit Herodot aber dem Historiker und seit dem Lyriker
Pindar dichterische und erdichtete Erzählung im Gegensatze zur historischen
und historisch wahren: gleichwohl erlauben wir uns nicht ohne
den Vorgang Anderer den Begriff des Mythus auf diejenige dichterische
Erzählung einzuschränken, welche Thaten und Erlebnisse der Gottheit
selber vorführt. Ein deutsches und besser bezeichnendes Wort ist uns
nicht bekannt: Göttersage passt nur auf die Mythen polytheistischer
Völker: es giebt aber auch monotheistische Mythen, bei den Christen
wie bei den Juden und den Mohammedanern; z. B. die Legenden
des Mittelalters sind christliche Mythen, Göttersagen kann man sie
nicht nennen.


Bei der Sage sucht der Mensch die Gottheit in der Geschichte
seines Volkes zu erkennen; er bleibt, wenn auch auf höherem Standpunkt,
inmitten der ihn umgebenden Wirklichkeit: im Mythus geht er
über diese Wirklichkeit hinaus, und seine Einbildung wagt einen
Schritt in die Geschichte der Gottheit selbst. In der Sage hebt er
den endlichen Stoff zu der unendlichen Idee hinauf: im Mythus legt
er an das Unendliche den Massstab der Endlichkeit und zieht so die
unendliche Idee herab in den endlichen Stoff. Die Sage fusst auf dem
Gedächtnisse: der Mythus ist, indem er Geschichten der Gottheit selber
erzählen will, vornehmlich auf die Phantasie angewiesen: denn hier
gilt es nicht, in der Vorstellung aufzufrischen, was man selbst oder
was die Vorfahren erlebt haben, sondern nur nach Analogie solcher
Bilder des Gedächtnisses ähnliche nun mit der Phantasie zu schöpfen,
um so die Menschengeschichte auf die Gottheit zu übertragen. Ein
schönes Streben: denn es wurzelt tief und fest in der aufwärts gerichteten
Sehnsucht und in dem Bewusstsein des Zusammenhanges zwischen
Gott und Menschen; aber zugleich ein höchst gefährliches: denn nur
zu bald muss eine so masslos ausgedehnte Vermenschlichung Gottes
zur Vielgötterei führen; die tausend Mythen der Inder, der Griechen,
der Germanen, kurz aller Völker sind nicht sowohl die Frucht und
Folge ihres Polytheismus als vielmehr der keimende Grund und Boden,
woraus der Polytheismus hervorgegangen ist. Die christliche Mythologie
des Mittelalters stand auch schon nahe genug am Rande der
Vielgötterei, und es bedurfte der Reformation, die alle Legenden über |#f0064 : 51|

den Haufen warf, um das Verderben eben noch zur rechten Zeit abzuwenden.
Die Juden waren arm an Mythen, so reich sie an Sagen
waren; ja sie ermangelten der Mythen beinahe gänzlich: auch dadurch
ward ihr Monotheismus bewahrt und in seiner Reinheit erhalten.


Uebrigens grenzen Mythus und Sage nah an einander und berühren
und durchkreuzen sich wechselseitig auf das mannigfachste. Denn
wie die Phantasie überall ihre Bilder den Bildern des Gedächtnisses
nachschafft, so gestaltet sie auch die Sagen von Gott nach Analogie
der Nationalsage, und da erfolgt denn leichtlich, dass Bild und Nachbild
eins in das andre hinein greifen. Wer möchte bei Homer die
Göttersage rein und scharf von der Heldensage absondern? Auch
kann es nicht ausbleiben, und diess dient gleichfalls nur, um die
Grenzen zu verwischen, dass im Verlaufe der Zeit bei immer fortschreitender
Anthropomorphose Götter zu Helden herabsinken, Helden
sich zum Range von Göttern erheben; dass also, was bisher Form der
mythischen Anschauung gewesen, jetzo zur blossen Sage wird, und
umgekehrt Gestalten der Sage in den Mythus hinüber treten. So hat
z. B. der Siegfried der deutschen Heldensage in seiner Verbindung
mit sagenhaften und ursprünglich historischen Personen, mit den burgundischen
Königen am Rhein, und weiter hinaus mit Theodorich dem
Grossen und mit Attila, selber ein ganz sagenhaftes d. h. ein halb
historisches Ansehen gewonnen: im Grunde aber gehört er, wie das
Lachmann überzeugend dargethan hat, dem Mythus an, er ist der
Gott, welchen die nordische Mythologie Balder nennt, und was nun
die Nationalsage von ihm erzählt, sind nur immer weiter vorgeschrittene
Vergröberungen und Vermenschlichungen einer uralten Göttersage.
Besonders dann aber werden diese beide Formen der epischen
Anschauung an und in einander geschoben, wenn es gilt eine Zeit,
die über alles Gedenken, auch über das Gedenken der Sage hinaus
liegt, eine solche unvordenkliche Zeit dennoch mit Ereignissen auszufüllen,
wie etwa die Zeit vor der Existenz des Volkes oder der
aller Menschen. Da entspringen dann Kosmogonien und Theogonien
und Anthropogonien, Erzählungen vom Ursprung der Welt, der Götter,
der Menschen: alles das rein mythischer Art; daran aber knüpft sich
alsbald und unmittelbar die Nationalsage, die poetische Geschichte des
Volkes. So finden wir es z. B. bei den Juden; so auch in recht deutlicher
Stufenfolge bei den Germanen. Tacitus in einer Stelle, die
zugleich mit dürren Worten das schon früher angegebene Verhältniss
der Sagendichtung zur Geschichte ausspricht, dass nämlich jene das
Aeltere und ursprünglich allein Vorhandene sei, berichtet Germania cp. 2:
„Celebrant carminibus antiquis, quod unum apud illos memoriae et |#f0065 : 52|

annalium genus est, Tuisconem deum terra editum et filium Mannum,
originem gentis conditoresque. Manno tris filios assignant“ u. s. f.
Tuisco ein Gott aus der Erde geboren, Mannus der erste Mensch,
seine drei Söhne die Stammväter des Volkes.


Den ersten Anfang der Geschichte eines Volkes macht also der
Mythus, dann folgt die Sage, und endlich, wenn auch diese erschöpft
ist, die eigentliche Geschichte: zuerst waltet die Phantasie, dann die
Erinnerung, aber noch wie die Phantasie im Dienste des Schönen,
und endlich wiederum Erinnerung, aber nun im Dienste des wahrheitsuchenden
Verstandes. Das ist der Stufengang, der überall, in der
Geschichte aller Völker wiederkehrt; Görres hat ihn in seiner Einleitung
zum Heldenbuch von Iran 1, S. III─V in lebendiger Anschaulichkeit
dargestellt und mit feinem Sinn noch weiter ausgeführt.


Der Niederschlag und Nachlass der entschwindenden und entschwundenen
Mythologie ist das Märchen; es giebt keine Märchen, so
lange die Mythen noch in wahrhaft lebendiger Geltung sind. Indessen,
da beide eben in solcher Art eng zusammenhangen, und der Gegensatz
des Märchens ein neues Licht über die Natur des Mythus und
der Sage verbreitet, so möge schon hier auch diese Form der epischen
Anschauung besprochen werden; zudem fällt mindestens bei den deutschen
Völkern ihr Ursprung noch in den früherhin characterisierten
altepischen Zeitraum.


Märchen ist das Deminutivum von mære, worunter die altdeutsche
Sprache eine Erzählung, besonders eine dichterische Erzählung oder
eine erzählende Dichtung versteht; die Verkleinerungsform hat verächtlichen
Sinn und bedeutet eine erdichtete, unglaubliche, kindische
Erzählung.


Die Mythen der einzelnen Völker gewinnen, obschon sie Geschichte
der Gottheit und nicht der Völker sein wollen, dennoch durch die eben
erwähnten vielfachen Berührungen mit den nationalen Sagen selber ein
nationales Gepräge. Wenn nun aber das System dieser Mythen anfängt
zu wanken und zu brechen, wenn der Glaube, der auf ihm ruhte,
sich selbst überlebt hat, und vielleicht auch von anderswoher ein
neuer an seine Stelle rückt, so können die Mythen, falls sie überhaupt
noch fort bestehn, es nur noch in veränderter Gestalt, in neuer
Art und Weise. Entweder lassen sie sich von jener Anknüpfung an
die Nationalsage ganz und gar in die letztere hinüberziehen, und die
Göttersage wird zur Heldensage, zur Riesensage u. dergl.; oder aber,
und dieser Weg ist der gewöhnlichere, sie streifen alles Nationale,
alles, was sie zu Mythen eben dieses Volkes machte, von sich ab
und behalten nur, was allgemein menschliche Anschauung und allgemein |#f0066 : 53|

menschliche Form der Anschauung ist: sie werden zu Märchen.
In solcher Umwandlung kann die alte Mythologie am besten ihren
ferneren Bestand sichern: da sie noch mit dem nationalen Glauben
verbunden war, musste sie mit diesem vor einem neu aus der Fremde
eindringenden erliegen: nun da sie unnational und allgemein menschlich
geworden ist, hat sie weniger zu befahren: denn der neue Glaube
ist auch ein menschlicher, und es werden sich Mittel und Wege genug
ergeben, um sich mit diesem, wenn auch nicht zu befreunden, doch
zu verständigen und zu vertragen und Duldung von ihm zu erlangen.
Diess ist der Ursprung aller Märchen: als die Griechen, als die Römer
bloss noch ihre mit der Nationalsage verbundenen griechischen und
römischen Mythen hatten und glaubten, hatten sie schwerlich auch
schon Märchen: als aber zuerst allerlei ausländisches Heidenthum,
dann der christliche Glaube zu ihnen kam, da gestalteten jene Mythen
sich zu Märchen um; und ebenso haben die germanischen Völker erst
seit der Zeit Märchen, wo sie Christen wurden (für den Norden
bezeichnet die jüngere Edda diesen Wendepunkt in Glauben und
Poesie): die alten Götternamen zwar verschwanden, und überhaupt
alles, was in der Mythologie ausschliesslich germanisch gewesen war:
was jedoch darin den allgemein menschlichen Character trug, was
den Glauben und Aberglauben aller Welt aussprach, das verblieb
auch und lebt heute noch neben dem Christenthume fort als deutsches
Volks- und Kindermärchen.


So steht denn das Märchen im entschiedensten Gegensatz zur
Sage. Die Sage ist national und beruht auf der wirklichen Geschichte,
und auch da, wo die Namen, welche sie nennt, eigentlich unhistorisch,
wo die Fixierung in Zeit und Raum, welche sie ausspricht, geradezu
falsch sein sollte, nennt sie doch immer Namen und bestimmt die Zeit
und den Raum, und beide sollen historisch wahr und richtig sein;
sogar den Ueberresten der Mythologie, welche sie in sich aufnimmt,
giebt sie durch dergleichen Anlehnungen ein historisches Aussehn.
So hat sie, wie bereits erwähnt worden, einen früheren Gott nun
unter dem Namen Siegfried in eine historisch begrenzte Zeit und in
benannte Localitäten versetzt; und ebenso sind es wirkliche Personen,
wirkliche Ereignisse, wirklich vorhandene Berge und Höhlen und
Flüsse, an die sie nun unter historischer Färbung als Sage von Riesen
und Zwergen und Nixen anheftet, was früherhin als Mythus von
den Göttern der Berge und Wälder und Gewässer erzählt wurde.
Anders das Märchen. Das Märchen ermangelt nicht nur aller nationalhistorischen
Grundlage: es ermangelt auch jeder, selbst der fernsten
Beziehung zur Nationalgeschichte: es verschmäht den geschichtlichen |#f0067 : 54|

Anschein. Was das Märchen erzählt, ist nicht einmal willkürlich in
eine bestimmte Zeit oder Localität gerückt: in der Regel tragen die
Personen, die darin handeln, die Orte, an denen sie sich bewegen,
gar keinen Namen, oder wo es geschieht, wird damit doch keine
historische Glaubwürdigkeit angesprochen: es sind dann etwa Namen,
die viele tausend allerwärts tragen und getragen haben, z. B. Hans,
oder solche, die sich gleich selber als nirgend in der Welt vorhanden
und als blosse Spiele der Phantasie kund geben, z. B. der Berg
Semsi1. Was das Märchen von Riesen und Zwergen erzählt, hat
nirgend weder im Raume noch in der Zeit einen Anhalt; es giebt
auch deutsche Märchen, die aus den Mythen von eben jenem Gotte
erwachsen sind, welchen die spätere Sage Siegfried nennt2: aber vergleicht
man sie mit diesen Sagen, so sieht man recht, wie die Sage
den Mythus vergröbert, das Märchen ihn verflüchtigt. Wenn die Sagen
bei verschiedenen Völkern übereinstimmen, so stimmen sie überein
trotz ihrem nationalen Gepräge: stimmen Märchen überein, so hat
das eher seine Nothwendigkeit: denn sie, der allgemein menschliche
Rückstand des Mythus nach Abzug der beschränkenden Nationalität,
wollen nirgend mehr eine ausschliessliche Heimat besitzen. Darum
sind die Uebereinstimmungen auch viel häufiger. Die Sage gebärdet
sich auch da, wo die Phantasie den allergrössten Antheil an ihr hat,
immer noch als Werk des Gedächtnisses: denn sie soll für wahrhafte
Geschichte gelten; das Märchen verleugnet niemals, dass es seinen
Ursprung bloss aus der Phantasie genommen; man glaubt es nicht,
wie man die Sage glaubt, nicht durch einen Schein von äusserer
Wahrheit betrogen, sondern gefangen durch die innere Wahrheit,
durch den höheren Glanz der göttlichen Idee, der noch vom Mythus
her an ihm haftet. Darum verfährt hier die Phantasie auch viel ungebundener,
kecker, leichtsinniger; darum wird sie auch bei märchenhaften
Anschauungen öfter mit Verstand und Gefühl in Conflict gerathen,
als das bei sagenhaften der Fall ist: Spott und Laune und Wehmuth
und Humor sind demnach im Märchen recht eigentlich zu Hause,
wie sie auch dem Mythus nicht fremde sind: denn auch der Mythus
bildet sich unter vorwaltender Thätigkeit der Phantasie. Die Sage
dagegen weiss von all dem so gut als nichts: hier lässt sich die Einbildungskraft,
weil sie nicht mit so spielender Willkür schaltet, keinen
unvermittelten Widerspruch gefallen; und tritt ein Widerspruch ein, so

1
) Br. Grimm, K. u. HM. Nr. 142.
2
) Ebenda Nr. 50. 92. Vgl. auch die Anmerkungen Bd. 3, 85. 168. Beispiel für
den Gegensatz zwischen Sage und Märchen: Deutsche Sagen No. 486 (Kaiser Heinrich
III.) vgl. mit K. und HM. No. 29.
|#f0068 : 55|

führt sie ihn durch bis zur Negation des Widersprechenden, so überwältigt
sie Verstand und Gefühl gänzlich, und ihre Anschauungen werden
erhaben und grausenhaft.


Das angegebene Verhältniss zwischen dem Mythus und dem
Märchen, dass also im Märchen die Ueberreste des erloschenen Götterglaubens
und der alten Göttersage fortbestehen, wollen wir uns
dadurch noch deutlicher zu machen suchen, dass wir einige deutsche
Märchen mit einander lesen und den mythologischen Grund derselben
kurz andeuten. Ich würde mich solcher Mittheilung überhoben glauben,
wenn jetzt und hier die nöthige Bekanntschaft vorauszusetzen
wäre. Und doch sind die Märchen reine schöne Erzeugnisse der
wahrsten, kindlich unschuldigsten Poesie: und der Freude an solchen
Dingen soll man auch in gereifterem Alter nicht entwachsen sein.


Es glaubten auch die Deutschen gleich den Griechen und Römern
an drei Schicksalsgöttinnen, an drei Schwestern, die das Schicksal
der Menschen spinnen: der scandinavische Norden nennt sie Nornen.
In welcher Weise im deutschen Märchen diese altgermanischen Parcen
verwendet werden, zeigt das Märchen von den drei Spinnerinnen:
Br. Grimm Nr. 14.


Die Edda erzählt, dass Ođin die Schlachtengöttin Brunhild mit
einem schlafanzaubernden Dorn gestochen und darauf die entschlafene
mit einem Flammenwall umgeben habe, den niemand durchdringen
konnte als Sigurd (Siegfried), der sie denn auch erweckte und erlöste.
Ein Nachklang dieses Mythus ist unser Märchen von Dornröschen,
das Uhland im Märchen von der deutschen Poesie nachgebildet hat:
Br. Grimm Nr. 50. LB. 2, 1429.


Und nun endlich noch ein Märchen, das sich gleichfalls an die
alten Mythen und Sagen von Siegfried anlehnt, indem es von einem
bösen Schmied, von einem Golddrachen, einem Drachenberg und
Drachenkampf und der Befreiung einer Jungfrau erzählt, und das
zugleich besonders als Beispiel dienen kann, wie das Märchen Spott
und Laune und Wehmuth liebt: die zwei Brüder, Br. Grimm Nr. 60.


Wenn wir nun endlich noch von der Thiersage sprechen, so meinen
wir dieselbe nicht als didactische Dichtung, als Thierfabel (so
gewendet, wird sie uns erst im weiteren Verlaufe unsrer Betrachtung
entgegen treten), sondern nächst der Sage, dem Mythus, dem Märchen
als vierte Form der rein epischen Anschauung.


Das Alterthum betrachtete in seiner einfachen Natürlichkeit die
Thierwelt mehr mit religiösem und poetischem Auge, als wir das zu
thun gewohnt sind. Nicht dass der uncivilisierte Mensch dem Thiere
näher gestanden und sich aus eigener Thierheit ihm verwandt gefühlt |#f0069 : 56|

hätte: eine so tiefe Stufe hat das Haupt der Schöpfung wohl schwerlich
jemals eingenommen; aber Mythen und Sagen erzählten zu viel
von freiwilligen und unfreiwilligen Verzauberungen sowohl der Götter
als der Menschen in Thiergestalt, und jene rohe Auffassung der
Unsterblichkeitslehre, nach welcher die Seelen Verstorbener zu einem
Stufengange durch Thierleiber können verdammt werden, die Lehre
von der Seelenwanderung, war im Alterthume zu weit ausgebreitet,
als dass die Menschen vor der Thierwelt nicht eine gewisse religiöse
Scheu hätten empfinden sollen. Gegenüber den gezähmten Hausthieren
musste diese Scheu freilich bald verschwinden: da musste man bald
gewahren, dass sie eben nur Thiere seien. Aber nun waren noch die
starken und schlauen Thiere des Waldes, die unstäten, überall heimischen
Vögel. Das unheimliche, auf Furcht und Gewalt und List
beruhende Verhältniss, in welchem man gegen diese stand, verbunden
mit jener aus religiösen Meinungen entsprungenen Scheu, liess hinter
ihnen etwas höheres als die blosse dumpfe Thierheit suchen, und man
schwankte nur, ob man die Thierwelt für eine durch göttlichen Fluch
noch tiefer in den Staub gesunkene Menschenwelt halten, oder ob
man annehmen sollte, die Thiere hätten auch ihre Vernunft so gut
als die Menschen, und es gebreche nur an der Möglichkeit gegenseitiger
Verständigung, weil die Sprache der Thiere dem Menschen
fremde sei, oder weil die Thiere ihre Fähigkeit zu sprechen absichtlich
verhehlten, um mit dem gefürchteten und gehassten Menschen
nicht verkehren zu müssen. So glaubten die Griechen wie die Deutschen
an eine Vogelsprache, die zuweilen ein Glückskind unter den
Menschen wohl verstehen lerne; das meinen auch die Dichter des
Mittelalters, wenn sie den Vogelgesang das Latein, d. h. die unverständliche
Sprache der Vögel nennen. Und die äsopischen Fabeln,
dieser didactische Ausfluss der älteren epischen Thiersage, fangen oft
genug mit den Worten an „zu jener Zeit, als noch die Thiere
sprachen.“ Kurz, man vermenschlichte die Thierwelt, man widmete ihr
eine Betrachtungsweise, durch welche sie gehoben und veredelt wurde.


Das machte sie denn auch für das Epos geschickt; man konnte
bei dieser Betrachtungsweise weiter kein Bedenken haben, auch Thiere
zu Trägern epischer Anschauungen zu machen. Wie man also die
Sage einen Reflex nach oben werfen liess, um der Gottheit eine
Geschichte nach Art der menschlichen anzudichten, so nun auch
nach unten, nach den Thieren hin, so dass nunmehr die ganze Welt,
die überirdische und die irdische, die menschliche wie die übermenschliche
und die untermenschliche, episch belebt und bevölkert war; man
erzählte von Kriegs- und Liebesabenteuern hier der Götter, dort der |#f0070 : 57|

Thiere, wie sie mitten inne die Sage von den Menschen erzählte; und
wie man im Mythus den Göttern Namen aus der Nationalsprache lieh,
so erhielten in der Thiersage auch die Thiere statt der Gattungsnamen
besondre characteristische Eigennamen: die alte deutsche Thiersage
weiss eigentlich von keinem Wolf, keinem Fuchs, keinem Bären mit
diesen appellativen Benennungen, sondern sie giebt den Thieren
Eigennamen nach Art der Menschen, z. B. Isengrim, Reinhard,
Braun. Natürlich war der erfinderischen Phantasie in der Thiersage
der freieste Spielraum gegeben: denn beim Mythus wiederholten
sich immer und immer bald losere, bald festere Verknüpfungen
mit der Sage, mit der poetischen Geschichte, also mit Anschauungen,
die vorzüglich Product des Gedächtnisses sind: bei der
Thiersage war dergleichen nicht wohl möglich; in sich selber trug sie
auch keinen historischen Grund: die Naturbeobachtung gab wohl eine
bestimmte Characterzeichnung an die Hand, aber sie führte nicht zu
historischen Ereignissen, worauf man hätte bauen können. Daher
grenzt die Thiersage in ihrem ganzen Wesen zunächst an das Märchen:
gleich diesem hat sie, jene nationalen Namen abgerechnet,
wenig nationales, so dass z. B. die Esthen, obwohl den Deutschen
unverwandt, dennoch von denselben Thieren dasselbe erzählen können
als die Deutschen; gleich diesem zeigt auch sie im Gefolge der phantastischen
Willkür die Widersprüche des Verstandes und des Gefühls,
Spott, Laune, Humor, Ironie. Das hat es denn auch späterhin nahe gelegt
und leicht gemacht, die epische Thiersage zur didactischen Thierfabel
umzugestalten: ursprünglich aber ist ihr die lehrhafte Richtung durchaus
fremd. Denn, wie schon früher ist bemerkt worden, keine von
diesen vier Gattungen epischer Anschauung, die Thierfabel so wenig
als der Mythus, das Märchen so wenig als die Sage, ist irgendwo
und irgendwann das Erzeugniss bewusster Absichtlichkeit; so willkürlich
auch die Phantasie hier und dort verfahren mag, es ist nirgend
eine gewusste Willkür; das Was und das Wie der Anschauung, beide
sind das Product des unbefangen arbeitenden Kunsttriebes; es wird alles,
aber nichts wird gemacht. Das gilt freilich von aller echten Poesie.


Wir haben bisher geflissentlich jede nähere Bezeichnung des Subjectes
dieser mannigfaltigen Anschauungen vermieden, um davon mehr
insbesondre reden zu können.


Da das Zeitalter der Nation, in welches die Entwickelung des
Epos fällt, eben ein Zeitalter der Nation, nicht der Individuen ist;
da zu dieser Zeit die Individuen noch nicht vereinzelt für sich bestehn,
sondern im Volke und durch das Volk als unabtrennbare Glieder desselben
leben und wirken: so können auch die altepischen Anschauungen |#f0071 : 58|

nicht das Werk eines in vereinzelter Thätigkeit dastehenden Dichtergeistes
sein: sie sind Anschauungen des gesammten Volkes; nicht
Einer, sondern die ganze Nation ist der Dichter gewesen. Natürlich
kann jede Schöpfung zuerst nur auf Einem Puncte entsprungen sein;
Einen ersten Dichter muss jede Sage, jedes Märchen besessen haben:
aber dieser Eine schuf aus der Seele des Volkes, nicht als Einer,
sondern nur als Organ und als zufälliges Organ der Gesammtheit;
und damit war das Werk noch nicht einmal beendigt: denn nach ihm
haben wiederum viele Einzelne, aber auch diese nur als Organe des
Ganzen, daran fortgeschaffen, haben die Anschauung weiter gebildet
und umgebildet, bis zuletzt von persönlicher Besonderheit nicht das
leichteste Stäubchen mehr an ihr haftete, bis sie nur noch den allgemein
nationalen oder, wie beim Märchen, den allgemein menschlichen
Character an sich trug. Daher die vollendete Objectivität aller älteren
epischen Poesie. Denn natürlich muss, wo die Idee unter Formen
der geschichtlichen Wirklichkeit angeschaut wird, die Anschauung in
demselben Grade immer mehr zum wahren Objecte werden, als von
Seite des dichtenden Subjectes die störenden Eingriffe der Individualität
fortfallen.


Aber die blosse Anschauung giebt noch kein Gedicht: die Objectivierung
muss vollendet, die Anschauung muss dargestellt werden. Und
hier, beim Uebergange vom geistigen Gehalt zur sinnlichen Gestalt,
aus dem Innern des dichtenden Geistes in die Aeusserlichkeit der
sprachlichen Form, hier, sollte man meinen, sei denn auch die Grenze
zwischen der Nation und dem Individuum; hier könne doch offenbar
nur Einer thätig sein: möge auch die Sage selbst Eigenthum der ganzen
Nation bleiben, die geordnete und schön gegliederte Rede, in
welcher sie nun vorgetragen wird, könne doch immer nur von Einem
herrühren. Allerdings: aber dennoch ist es nicht seine, nur seine
Rede. Denn es wiederholen sich bei der Darstellung die gleichen
Verhältnisse und Bedingungen, denen die Anschauung unterliegt: es
macht dieser Eine, der ἀοιδός, scof, die Verse im Namen Aller, und
Alle üben bei der weitern Ueberlieferung auch hier das unbeschränkte
Recht des Mitdichtens, d. h. das Recht so lange zu ändern, auszulassen
und zuzusetzen, bis auch diese äusserliche Objectivierung Allen
gerecht, bis sie keine individuelle mehr ist, sondern gleich der
Anschauung allgemeine Gültigkeit erlangt hat. Darum beginnt die
Geschichte der Poesie überall mit Dichtungen ohne Dichternamen; bei
den Deutschen ist Otfried lange Jahrhunderte hindurch der einzige,
den man nennen kann: und auch dieser eine Name fällt für uns fort,
da seine Evangelienharmonie kein nationales Epos ist.

|#f0072 : 59|


Ein Verfahren bei der Darstellung, wie das so eben geschilderte,
ist nicht bloss in dem nationalen Zusammenleben Aller bedingt und
begründet: es findet noch einen unausweichlichen Anlass in der alten
Art und Weise der weiteren Mittheilung und Ueberlieferung poetischer
Productionen. Jenes Zeitalter kennt nämlich entweder noch gar keine
Schrift, oder man empfindet wenigstens noch kein Bedürfniss, sie mit
Häufigkeit und Geläufigkeit anzuwenden und für den täglich wiederkehrenden
Gebrauch schreiben und lesen zu lernen. So bei den Griechen
Homers, bei den Galliern Cäsars, bei den Germanen des Tacitus,
so auch bei den Serben. Da bleibt also für Gedichte nur die mündliche
Mittheilung übrig: bei der aber muss sich, wenn sie irgend
durchgreifend ist, alles das von selbst beseitigen, was nicht in Geist
und Mund aller Stammes- und Sprachgenossen gleichsam freiwillig
wiederklingt.


Es bleibt nun mit einigen näher gehenden Zügen ein Bild dieser
mündlichen Ueberlieferung zu entwerfen und dabei zu betrachten,
welchen Einfluss dieselbe auf Anschauung und Darstellung habe ausüben
müssen.


Die Mittheilung geschah durch Gesang, und den Gesang begleitete
Saitenspiel: also verschwistert mit der Musik, von ihr gehalten
und getragen, gieng das Epos von Ort zu Ort, von Geschlecht zu
Geschlecht; ja es kam wohl noch ein Drittes hinzu, noch eine dritte
transitorische und rhythmische Kunst, die Kunst des Tanzes. So
brauchten die alten Ditmarsen ihre epischen Lieder zugleich als Tanzlieder:
Einer sang vor, die Andern nach und tanzten dabei; und
ebenso wird das Lied, das Demodokos bei den Phäaken singt, von
einer Schaar von Jünglingen mit Tanze begleitet. In dieser Weise
waren auch auf einem der ältesten und berühmtesten griechischen
Kunstwerke, dem Kasten des Kypselus, die Musen dargestellt: in
der Mitte Apollo als Vorsänger, um ihn die Musen als Chor, als
tanzende Schaar: Pausan. 5, 18. Daraus erklärt und ergänzt sich
eine Stelle der Ilias 1, 603 f., wo der Olymp und die Tafel der
Götter beschrieben wird: Apollo hielt die Phorminx, die Cither, die
Musen ἄειδον ἀμειβόμεναι ὀπὶ καλῇ, sangen wechselnd, antwortend,
nicht unter einander, sondern mit Apollo: er sang vor, sie nach, und
da sie ja zugleich Göttinnen des Tanzes waren, hat man sich die
Neune auch hier nicht stillstehend zu denken, sondern zugleich tanzend,
wie dort auf dem Kasten des Kypselus.


Indessen nicht Jeder kann singen und spielen; auf Manchem ruht
vorzugsweise die Lust und die Gabe des Gesanges; und so bildet sich
aus dem ganzen dichtenden und singenden Volke heraus ein eigner |#f0073 : 60|

Sängerstand, eine Klasse von Leuten, die aus dem kunstmässigeren
Vortrage epischer Lieder gradezu ein Gewerbe machen: diese nun
ziehen unter dem Volke umher und weilen in den Häusern der
Könige und singen hier und dort, was zwar jeder Zuhörer bereits
kennt, weil es alt überliefert ist; sie werden aber doch lieber vernommen
als Andre, weil sie mehr und schöner zu singen wissen; sie
dichten wohl selber auch neue Lieder, indem sie die Sagen ihres
Volkes in Anschauung und Darstellung umgestalten, sind aber dabei
doch wieder nur als Organe des Volkes, als Mund und Wortführer
desselben zu betrachten. Solche Sänger von Gewerbe und Beruf (die
Gallier nannten sie Barden) haben noch heut zu Tage die Serben, in
Dingen der Poesie unter allen slawischen Völkern das am höchsten
gestellte: sie singen aber nur, was die Leute auch sonst schon kennen.
Eben solche begegnen uns bei den Griechen: Homer nennt sie ἀοιδοί,
Hesiodus (Theogon. 95) mit besonderer Rücksicht auf das Saitenspiel
κιθαρισταί; eben solche auch bei den Deutschen des Mittelalters:
gewöhnlich waren es Blinde1, wie jetzt bei den Serben, und wie auch
jener phäakische Demodokos blind ist (Od. 8, 64. Ovid. Ibis 274).


Was aber auf solche Weise mitgetheilt wird, muss auch auf
solche Weise mittheilbar sein: es darf das epische Gedicht in keiner
Beziehung weder die physischen Kräfte des Sängers noch die geistigen
der Zuhörer übersteigen; der Sänger muss es auf einmal und
ohne Stockung vortragen, die Zuhörer müssen es dem Inhalte wie
der Form nach so fassen können, dass sie allenfalls in den Stand
gesetzt werden, es nun auch selber zu singen.


Es ist also erstens die epische Anschauung nicht bloss, wie es
schon das allgemeine Princip der Schönheit fordert, durchaus einig,
sondern auch so einfach als möglich: der Sänger entfaltet vor seinen
Zuhörern kein langes, in die Weite und Breite ausgreifendes Gewebe
von Sagen oder Mythen, sondern er führt nur einen einzigen Mythus,
eine einzige Sage vor; die äussern Thatsachen bilden, wie sie nur
für Eine Idee die Form der Anschauung sind, auch nur Eine durch
Causalität eng in sich zusammenhangende und abgeschlossene Reihenfolge,
zielen nur auf Ein Hauptereigniss hin. Erzählte der Sänger mehr
als Ein Hauptereigniss, knüpfte er einen Kreis von Thatsachen an
den andern: er würde vielleicht, so lange sein Gesang dauerte, die
Zuhörer unterhalten; aber wenn er vorüber wäre, würden sie leer
und verwirrt von dannen gehn. Es sind auch nur Anschauungen von
jener engen Einheit und Einfachheit, die den Homerischen Sängern in
den Mund gelegt werden: dem Phemios die Sage von der Heimkehr

1
Vgl. Litt. Gesch. S. 41, 15. 141, 4. 142, 8. Hom. Hymn. 1, 172.
|#f0074 : 61|

der Achäer1, dem Demodokos der Mythus von Ares und Aphrodite
und die Sage vom trojanischen Pferde2. Jedesmal also ein Verlauf von
Thatsachen: jedesmal aber auch ein Hauptereigniss, das als Kern und
Mitte dieses Verlaufes dasteht, und von dem aus in causaler Folge
Anfang und Ende leicht zu ermessen und bald zu erreichen sind.
Zwar liegen vor dem Anfang in weiterer Ferne immer noch frühere
Motive: vor der Sage vom trojanischen Pferde lange Jahre vergeblicher
Belagerung, vor der von der unheilvollen Heimkehr der ganze
trojanische Krieg und was ihm zunächst vorangegangen: aber diese
früheren Motive darf der Sänger ja als allbekannt voraussetzen; der
ganze grosse epische Vorrath ist seinen Zuhörern allen lebendig gegenwärtig,
und er greift nur bald hier, bald dort hinein, um jetzt für
dieses, jetzt für jenes Ereigniss ihre Aufmerksamkeit in Anspruch zu
nehmen: was aber vorher geschehen, und was hernach daraus erfolgt
sei, das braucht er kaum leise andeutend zu berühren. Noch ein
recht schlagendes Beispiel von solcher eng begrenzten Thatsächlichkeit
liefert das althochdeutsche Lied von Hildebrand und Hadebrand
LB. 1 4, 55. Uns, denen der sagenhafte Zusammenhang fremd geworden
ist, erscheint es fragmentarisch abgerissen, wenn der Dichter
gleich damit beginnt, zu sagen: „Hildebrand und Hadebrand forderten
sich zwischen zwei Heeren zum Zweikampf heraus“; wir fragen: „wer
sind die beiden? und was für Heere? und wie kommen sie zum Zweikampf?“
Die Zeitgenossen des Dichters dagegen kannten die beiden
Personen sehr wohl schon anderswoher und wussten die vorangegangenen
Ereignisse und die begleitenden Umstände: sie konnte der
Dichter gleich in medias res versetzen, um ihnen nur diese eine Sage
vom Kampf des Vaters mit dem eigenen Sohne vorzuführen. Deshalb
sagt er zu Anfang des Gedichtes nicht bloss von sich, sondern
auch von seinen Zuhörern: „Ich habe das sagen hören, dass sich
forderten zu einem Kampfe Hildebrand und Hadebrand.“ In solcher
Weise ist schon die Anschauung selbst bedingt durch die alterthümliche
Art und Weise der Mittheilung durch den lebendigen Gesang.


Andre Anforderungen, die auch in der mündlichen Mittheilbarkeit
begründet sind, beziehen sich auf die Darstellung.


Der Zweck der Darstellung ist, wie wir früher gesehen haben,
dass sie zur Reproduction der Anschauung reize und helfe; sie soll,
was der Dichter angeschaut hat, nun auch für Andre anschaulich
machen. Es wird mithin von der epischen Darstellung Anschaulichkeit

1
Od. 1, 326.
2
Od. 8, 266─365. Od. 8, 500─520.
|#f0075 : 62|

des geschichtlichen Verlaufes gefordert. Durch weitläuftige Ausführung
ist die aber nicht zu erlangen, unter solchen Umständen, wie
sie in jenen Anfangszeiten der Poesie walten. Da wird der Gesang
des Dichters nur gehört, und hört man ihn auch nicht zum ersten
Male, ist er auch längst bekannt, so bringt man ihm doch aus Freude
an der epischen Poesie ein so frisches und ungestümes Interesse entgegen,
als ob man ihn zum ersten Male hörte, grade wie unsre Kinder,
wie noch jetzt Leute von geringerer Bildung sich gerne die
gleiche Geschichte unzählige Male erzählen lassen. Da ist dann nur
eine schnell vorwärts schreitende Entwickelung an der Stelle, eine
Entwickelung, die durch energisches Hervorheben und Aneinanderreihen
der eigentlich causalen Züge der Thätigkeit des Zuhörers in
die Hände arbeitet. Die Causalität liegt aber bei weitem weniger in
äusseren Thatsachen: denn äussere Thatsachen üben nicht immer
gerade nur die und die Wirkung; sie liegt weniger in den Ereignissen
als in den Persönlichkeiten: sie liegt in den Characteren. Es
muss also der Epiker die Charactere der thätigen Personen anschaulich
darstellen, muss dieselben wirklich darstellen; er darf keine Characteristik
geben, die eine blosse Beschreibung, eine subjective Betrachtung
in seinem Munde wäre: sie darf nicht ausserhalb des
geschichtlichen Verlaufes dastehen: sie muss in und mit den äussern
Thatsachen, deren tiefere Causalität sie enthält, objectiviert sein, in
und mit diesen bewegt und lebendig vorwärts schreiten. Wie genügen
dem nun die alten Epiker? Einfach dadurch, dass sie den Fortschritt
der Ereignisse mit fortschreitender Rede der Personen begleiten;
dass sie neben den Thatsachen und mit denselben verwoben einen
Dialog hergehen lassen. So war es in den alten epischen Liedern
der Griechen, wie wir noch aus Homer ersehen können: nur durch
dieses Mittel wird z. B. in den Schlachtschilderungen der Iliade dem
thatsächlichen Verlaufe Leben und Anschaulichkeit verliehen: ohne die
eingeflochtenen Reden würden all die Lanzenstiche und Steinwürfe
schwerlich ein Bild in der Seele des Hörers zurücklassen; Hunderte
von Erschlagenen zeigen den gewaltigen Ajax nicht, wie es ein Wort
aus seinem Munde und seiner Seele vermag. So auch in der altepischen
Poesie anderer Völker, auch der Deutschen. Man vergleiche
der Nibelunge Noth, die noch von ihrer altepischen Grundlage her
diese Art der Fassung trägt, und wiederum auch in dieser Beziehung
das Lied von Hildebrand und Hadebrand: hier finden wir die anschaulichste
Darstellung, den lebhaftesten Fortschritt, aber nicht bloss
beruhend auf einer Reihe äusserer Thatsachen, sondern auf vorwärts
eilender Wechselrede. Namentlich aber im Norden hat sich diese |#f0076 : 63|

dialogische Haltung epischer Lieder zur festesten Sitte und bis zu
fehlerhafter Einseitigkeit ausgebildet: die alte Edda enthält deren
genug, die fast oder gänzlich blosse Wechselrede sind, und in denen
die äusseren Thatsachen nur im Vorbeieilen erzählt, oft sogar auch
durch die Wechselrede der thätigen Personen kaum angedeutet werden.
Als Probe der altnordischen Epik kann das Lied von Fafnir
gelten (Fafnismâl), das einen Theil des mythisch sagenhaften Grundes
zu dem früher besprochenen Märchen vom Dornröschen enthält; erst
die spätere Zeit, die der Aufzeichnung, hat hier und da Prosa eingemischt,
um die Ereignisse, welche der Dialog nur obenhin berührt,
zu ergänzen und bestimmter darzustellen (Simrocks Edda S. 195).


Eine weitre Anforderung, welche das epische Zeitalter an die
Darstellung macht und zugleich erfüllt, ist die des geringen Umfanges.
Sie wird gemacht um des äussern Zweckes der Mittheilbarkeit willen;
sie folgt auch innerlich aus dem, was vorher über die Einfachheit der
Anschauung und soeben über den nirgend säumenden Fortschritt in
der Darstellung ist bemerkt worden. Das epische Lied darf keinen
zu grossen Umfang besitzen: sonst ermattet der Sänger, eh er zu Ende
gesungen, der Hörer, eh er zu Ende gehört hat; oder es ist gar nicht
auf einmal zu Ende zu bringen. Aber diese äussre Beschränkung
wird sich eben auch von selber finden, wenn der Inhalt kein weitläuftiger,
wenn es eine einige einfache Anschauung, und diese in der
rechten Energie der causalen Entwickelung dargestellt ist. Die epischen
Lieder der Littauer, der Serben, der Neugriechen und andrer
neueren Völker, deren Poesie noch mit beiden oder wenigstens noch
mit einem Fusse auf der epischen Stufe steht, haben alle einen so
geringen Umfang, dass sie ganz wohl auf einmal zu singen, auf einmal
zu hören und aufzufassen sind. Und so ists immer gewesen: die
einzelnen Lieder, aus denen die Nibelungen hervorgegangen sind, hatten
keine grössere Ausdehnung; das in der Odyssee dem Demodokos
in den Mund gelegte Lied von Ares und Aphrodite befasst nicht mehr
als hundert Verse.


Eine andre Eigenthümlichkeit des altepischen Gesanges scheint
nur deshalb da zu sein, dass die mündliche Mittheilung äusserlich
erleichtert und für den Sänger wie für den Zuhörer bequemer gemacht
werde. Es sind das die Wiederholungen und die stehenden Redensarten.
Kehrt z. B. im Laufe der Erzählung die gleiche Situation
wieder, die schon einmal dagewesen, so wird sie auch in ihrer ganzen
Ausdehnung wieder mit denselben Worten dargestellt, in denen
sie jenes erste Mal ist dargestellt worden; hat Jemand eine Botschaft
auszurichten, so wiederholt er genau all die Worte, mit denen man |#f0077 : 64|

sie schon vorher hat auftragen hören; und kommt der Name eines
Helden zwanzigmal vor, so wird auch sein Beiname zwanzigmal vor-
kommen. Dergleichen hat zu allen Zeiten und bei allen Völkern zur
Eigenthümlichkeit der epischen Darstellung gehört: aber nirgends finden
wir es zu so fester und unwandelbarer Manier ausgeprägt als in den
Homerischen Dichtungen und noch mehr in denen der Serben. Der
Anlass ist aber zum grossen Theile nur oder doch hauptsächlich ein
äusserer: denn eigentlich läuft dieses Verfahren dem Wesen aller epischen
Poesie zuwider, das einen schnell bewegten Fortschritt verlangt:
dergleichen Wiederholungen dienen aber im Gegentheil nur, den Strom
der Erzählung zu hemmen, ja zurückzutreiben. Indessen, da der
Hörer eben bloss hört, so will man der Vergesslichkeit vorbeugen
und sagt lieber zum zweiten Male, was schon einmal gesagt worden:
wer weiss, ob eine kurze Zurückdeutung genügen würde? Und auch
dem Sänger kommt es ganz gelegen, wenn er von Zeit zu Zeit in
der Wiederholung des Alten Raum findet, von Frischem Kraft zu schöpfen
und sich auf das zu besinnen, was noch vor ihm liegt. Ganz an inneren
Gründen gebricht es dafür aber doch nicht: sie werden uns
späterhin in der Stilistik entgegentreten. Als Beispiel diene das Lied
von der Erbauung Scadars: Talvj, Volkslieder der Serben 1, 117.


Endlich ist auch die metrische Form des epischen Liedes überall
mit bedingt durch die mündliche Mittheilbarkeit. In jeglicher Art
von Dichtung steht, wie wir bereits gesehen haben, das Metrum zum
poetischen Stoff in dem Verhältniss der Einheit zur Mannigfaltigkeit;
immer ist es das äusserliche Gegenbild der inneren geistigen Einheit:
wie mitten in den Formen der Anschauung die angeschaute Idee als
der Eine Lichtkern dieser mannigfaltigen Ausstralungen ruht, so soll
auch über der bewegten Wandelbarkeit der Darstellung die metrische
Form als unverändert ruhende Einheit schweben. Aber zu dieser allgemeinen,
für alle Poesie geltenden Anforderung kommt nun für die
epische noch eine besondre, in der Art ihrer Mittheilung begründete.
Hier wird ein Metrum verlangt, das in Betreff der Künstlichkeit ein
Mittelmass halte; es darf einmal nicht gar zu kunstlos und unscheinbar
sein: denn sonst würde es für den idealischen Gehalt der
Anschauung ein schlechtes Gegenbild abgeben und würde die ganze
Schöpfung zu nah an die alltägliche unpoetische Wirklichkeit rücken;
aber es darf auch wieder nicht zu künstlich und anspruchsvoll sein:
denn damit würden die physischen und die geistigen Kräfte sowohl
des Sängers als des Hörers zu sehr für diese äusserlichste Aeusserlichkeit
in Beschlag genommen und von dem eigentlichen Wesen und
Gehalt der Dichtung abgelenkt. Beiden Anforderungen, jener allgemeinen, |#f0078 : 65|

für alle Poesie geltenden, und dieser besondern für das epische
Lied, entsprechen überall mehr oder minder vollkommen die
verschiedenen metrischen Formen, welche sich bei den einzelnen Völkern
für das epische Lied entwickelt haben. Der Vers, dessen sich
die altindische Epik bedient, ist das Waktra; es besteht aus 16 Silben
und ist in der Mitte durch einen festen Einschnitt getheilt. Jede
Vershälfte enthält zwei viersilbige Füsse. Im ersten und im dritten
Fusse können die vier Silben beliebig lang oder kurz sein: der zweite
Fuss dagegen ist in der Regel ein Antispast, und der vierte immer
ein Diiambus. Die Vereinigung zweier Verse dieser Art heisst Sloka.
Für das Waktra ergiebt sich also folgendes Schema:


⏒ ⏒ ⏒ ⏒, ‿ ─́ ─́ ‿ | ⏒ ⏒ ⏒ ⏒, ‿ ─́ ‿ ─́


Als Beispiel mögen hier die Verse jenes Einsiedlers Walmiki dienen,
die, wie wir früher (S. 39) gesehen, den Anlass zu dem ältesten Epos
der Inder, dem Ramáyana, gegeben haben:


O Waidmann! wohl nicht lang lebst du, noch erreichst hohe Jahre du,

Weil aus dem Reiherpaar Einen, in Liebe trunknen, du erschlugst.


Wie bei den Indern das Waktra, so bei den Griechen der Hexameter:
der eine wie der andre Vers gross genug, um eine Fülle des Gedankens
und der Worte in sich zu schliessen, einfach genug, um leicht
vorgetragen und ebenso leicht gefasst zu werden, bewegt genug, um
das unaufhaltsam fortschreitende Wesen des Epos auszudrücken, und
veränderlich genug, um bei der beständigen Wiederholung, so wie
es jeweilen passlich ist, eine andre und wieder eine andre Färbung
anzunehmen. Das Nationalmetrum der Römer, der saturnische Vers,
hat mit dem der Griechen nur das Lob der Einfachheit gemein: in
den übrigen Stücken steht es unter ihm. Die Römer entschlugen sich
seiner und vertauschten es gegen den Hexameter, als sie ihre nationale
Poesie gegen die gräcisierende vertauschten. Auch der saturnische
Vers wird durch einen Einschnitt in zwei Hälften getheilt, die
erste derselben enthält 3½ Jamben, die zweite 3 Trochäen, z. B.


Dabúnt malúm Metélli Naévió poétae.


Ursprünglich aber wurde der Vers freier, wohl nur nach dem Accente
gebaut, und in jeder Vershälfte waren bloss die drei Hebungen gefordert.


Besser genügen den gestellten Anforderungen die epischen Masse
der germanischen und der romanischen Völker. Die allitterierenden Verspaare
der Deutschen, die vierzeilige Reimstrophe, die darauf gefolgt
ist, und endlich die Strophe des Nibelungenliedes: alle drei Formen
verbinden mit dem Vorzuge der gehörigen Ausdehnung den der einfachen
Gleichmässigkeit des Grundrhythmus und der characteristischen
Veränderlichkeit, insofern die Zahl der Senkungen frei gegeben ist. |#f0079 : 66|

Die altepischen Verse der romanischen Völker sind der Decasyllabus
und der Alexandriner. Der Decasyllabus, den die Franzosen mit den
Provenzalen gemein haben, enthält in der ersten Hälfte vier oder fünf,
in der zweiten dagegen sechs oder sieben Silben, und der Accent
ruht jeweilen auf der vierten und auf der Reimsilbe, z. B.:


Que dulce France par nus ne seit hunie! (Chans. de Roland 1927)


Der Alexandriner dagegen, der ein Sohn des saturnischen und der
Vater des Nibelungenverses sein mag, hat in seinen beiden Hälften
je 6 oder 7, im Ganzen also 12─14 Silben; bei ihm ruht der Accent
auf der sechsten und auf der Reimsilbe, z. B.:


Ce fu à Pentecoste, une feste joiant (Haimonskinder S. 46, 25 Michelant).


Beide Verse stimmen darin überein, dass sie nicht paarweis gereimt
werden: lange Reihen von dreissig und mehr Versen (Tiraden) pflegen
auf Einen Reim auszulaufen, und so gross auch die durch solche
Tiraden noch gesteigerte Einfachheit sein mag, so sind sie doch frei
von Eintönigkeit, da in Bezug auf die Cäsur und auf den Wechsel
von Hebungen und Senkungen grosse Freiheit gegeben ist. Das nationale
Mass der Slawen endlich, wie wir es namentlich wieder bei den
Serben zu gesetzmässiger Geltung ausgeprägt finden, fünf Trochäen
mit einem festen Einschnitt hinter dem zweiten, möchte das mindeste
Lob verdienen: es ist ungeschmückt bis zur Kunstlosigkeit und so
einfach, dass es in der beständigen, unveränderten Wiederholung eintönig
wird. Auch von diesem epischen Verse mag hier ein Beispiel stehn:


Dass die Blinden in der Welt umherziehn,

Mit Gesange Markos Thaten feiernd.

(Talvj, Volksl. d. Serben 1, 244, 110 f.).


Damit wäre die Schilderung des altepischen Gesanges vollendet:
wir haben ihn kennen gelernt als eine aus dem ganzen Volke entspringende
und dem ganzen Volke angehörige, durch den lebendigen
Gesang mittheilbare Darstellung einzelner Sagen, Mythen, Märchen
und Thiersagen. Es war eben so nöthig als anziehend, längere Zeit
dabei zu verweilen, da diess die erste Stufe nicht allein zur weiteren
Ausbildung der epischen, sondern überhaupt zur Ausbildung aller und
jeder Poesie ist; da in diesem Boden Grundlage und Grundriss für
alle ferneren Gestaltungen der Dichtkunst ruhen, und über ihm daher
die Geschichte und die Theorie derselben ihr Baugerüst aufzuschlagen
haben.


Wohin wir in der Geschichte der Menschheit blicken, und von
welcher Seite wir sie in ihrer geschichtlichen Entwickelung betrachten
mögen, von der staatlichen, der sprachlichen oder der künstlerischen,
überall sehen wir sie aus der Einheit und Einigkeit und Einfachheit |#f0080 : 67|

übergehn in immer grössere Entzweiuung, in eine theilende und wieder
theilende Zersplitterung, in ein immer mehr sich verwickelndes
Gewirre gesonderter Einzelheiten. Das Menschengeschlecht zerfällt in
Stämme, die Stämme in Völker, die Völker wieder in untergeordnete
Abzweigungen: wie gross ist jetzt die Zahl der germanischen Völkerschaften!
Zu Tacitus Zeiten kannte das Nationalbewusstsein noch die
Unterscheidung nur dreier Hauptstämme. Wie den Völkern, so ergehts
ihrer Sprache: jetzt können wir die Mannigfaltigkeit der deutschen
Mundarten kaum mehr zählen: vor anderthalb Jahrtausenden finden
sich nur erst leise Andeutungen von dialectischen Unterschieden. Noch
deutlicher über diess Verhältniss der spätern Zeiten zu den früheren
belehrt uns die Geschichte des Griechischen: all die vielen Mundarten,
die sich immer schärfer, immer weiter gesondert haben, in den Homerischen
Dichtungen, dieser nächsten Umgestaltung des altepischen Gesanges,
gewahren wir sie, man kann nicht sagen vereinigt, sondern
noch ungetrennt neben und in einander. Und wie in der Sprache, so auch
in der Kunst. Ursprünglich waren, wie wir gesehen haben (S. 7 u. 37),
Poesie und Musik zur engsten Einigung verbunden: es gab kein Lied
ohne Gesang und wohl auch kein Spiel der Instrumente ausser als
Begleitung der singenden Stimme. Nach und nach jedoch löst der
Gesang sich von der Dichtkunst ab, und die Instrumentalmusik vom
Gesange, so dass zuletzt als gesonderte Dreiheit besteht, was einstmals
eine zwar in sich dreifache, aber doch ungesonderte Einheit
gewesen. Dann die bildenden Künste. Es ist historisch gewiss, dass
dieselben mit der Baukunst, der idealsten von allen, den Anfang
genommen haben; der idealsten unter den bildenden Künsten, insofern
hier Anschauung und Darstellung ihre Formen nicht aus der Wirklichkeit
entlehnen, also auch keine Spur von Nachahmung vorhanden
ist, sondern die architectonischen Formen ihre Vorbilder und Bedingungen
nur in sich selber tragen. Mit der Baukunst, die demnach
so zu sagen den abstractesten Abdruck der Schönheit giebt, beginnt
die bildende Kunst; die Plastik ist ihr lange Zeit nur dienend untergeordnet.
Allgemach beginnt aber auch hier die Entzweiung: die
Sculptur macht Ansprüche für sich; das Bildwerk löst sich von der
Mauerfläche ab und stellt sich in seiner sinnlichen Körperlichkeit
vereinzelt hin. Und endlich kommt als Drittes noch die Malerei hinzu,
das Ergebniss einer rückschreitenden Vereinigung der Sculptur mit
ihrer Mutter, der Baukunst: denn die Malerei zeigt sinnliche Gestalten
wie die Sculptur, aber in der symmetrisch und perspectivisch geordneten
und mehr idealischen Schönheit der Baukunst. Innerhalb der
Malerei greift nun die Zersplitterung immer noch weiter. Zuerst giebt |#f0081 : 68|

es nur historische Gemälde; die Figuren sind vielleicht von allerlei
Beiwerk umgeben, und den Hintergrund bildet eine Landschaft. Bald
jedoch will dieses Beiwerk und will auch der Hintergrund etwas für
sich bedeuten, und so entstehn als neue, eigne Kunstgattungen die
Landschaftsmalerei, die Genremalerei, das Stillleben u. s. w. Kurz,
wohin man auch schaue, in ihrem ganzen Sein, mit all ihrem Thun
und Treiben geräth die Menschheit immer tiefer in die Vereinzelung,
in die „Theilung der Arbeit“ hinein; und vor Lust an all der Mannigfaltigkeit
der Bestrebungen, an der Menge von kleinen und immer
kleineren Abgrenzungen merkt sie es nicht, wie damit die grossen
und wesentlichen Grenzen und Unterschiede ganz verwischt werden,
wie diese bunte Vielseitigkeit der grade Weg zu einer alles verzehrenden
uniformen Verflachung ist. Die Nationalität Deutschlands
gegenüber anderen Staaten ist durch seine vielhäuptige Zertrümmerung
schon nahe daran gewesen, ganz aufgerieben zu werden; die Verwirrung
unzähliger Mundarten hat Einer Mundart den Weg zur Allherrschaft
gebahnt bei uns wie bei den Griechen und den Italiänern und
anderswo; bald auch wird vor dem mannigfaltigen litterarischen Reichthum,
den alle Völker anhäufen, nirgend mehr eine Nationallitteratur
bestehn, sondern eine Weltlitteratur an deren Stelle treten. Das ist
dann freilich auch eine Einheit: ob aber dieselbe, von der die Menschheit
ausgegangen?


Diese immer zunehmende Zersplitterung aller Dinge ist aber nur
die Folge von der zunehmenden Selbständigkeit und Selbstthätigkeit
der einzelnen Individuen, von dem Heraustreten einer immer grösseren
Anzahl bedeutender Persönlichkeiten aus der nationalen Gesammtheit.
Auf den gleichen Ursachen beruht denn auch die Zertheilung
der ursprünglich bloss epischen Poesie. Denn die epische Poesie mit
ihrer objectiven Anschauung und Darstellung der äusseren Wirklichkeit
konnte sich nur so lange allein behaupten, als das Selbstbewusstsein
des Individuums in die Bestrebungen und Erinnerungen der ganzen
Nation aufgieng: so wie aber das Individuum mehr zu sich selber
kam, so wie es das Walten Gottes nicht bloss um sich, sondern auch
in sich zu suchen begann, so wie es sein Auge nicht mehr bloss
objectiv auf äussere Thatsachen, sondern auch reflectierend auf die
Zustände des eigenen Innern richtete, da erlitt auch die Poesie eine
Umgestaltung; jetzt war nicht allein das Object der Anschauung, jetzt
war auch das anschauende Subject von Bedeutung: das Epos dauerte
zwar noch fort, aber wesentlich verändert, und daneben stellte sich
als eigentliches Zeichen der neuen Zeit eine neue Gattung, die Lyrik,
die Poesie der inneren Zustände. Es lässt sich diese Theilung der |#f0082 : 69|

Poesie mit den früher besprochenen anderweitigen Theilungen nicht
bloss vergleichen: sie hängt auch historisch damit zusammen. Wir
sehen z. B. noch an Homer, wie sich das alte Epos der Griechen
in einer einigen, unzersplitterten Sprache bewegt habe: mit der Lyrik
machen sich alsbald die mundartlichen Gegensätze geltend, und es
giebt eine ionische, eine dorische, eine äolische Lyrik. Neben der
altepischen Poesie des Mittelalters liegt, von allen bildenden Künsten
allein mit Erfolg gepflegt, die Baukunst in der s. g. byzantinischen
oder vorgothischen Weise, neben der sinnlichsten Art der Dichtkunst
in polarischem Gegensatze die unsinnlichste unter den bildenden
Künsten: so wie aber die Lyrik auf den Platz getreten ist, wird die
Baukunst eine andre: es kommt nun erst die recht romantisch-mittelalterliche,
die gothische oder deutsche, und es fängt auch mit einer
Umkehr jenes polarischen Gegensatzes neben der unsinnlichen Kunst
der Lyrik die sinnliche der Bildhauerei an, selbständige Bedeutung
zu gewinnen.


Eben wie nun aber, um bei dieser letzten Vergleichung zu bleiben,
auf die Trennung der Sculptur von der Architectur die Malerei
folgt als ein Drittes, das den Abschluss der Entwickelung bezeichnet,
indem es die getrennten wieder vereinigt und ihren Gegensatz vermittelt:
grade so folgt als Drittes und Letztes auf Epos und Lyrik das
Drama: hier ist der Unterschied wiederum aufgehoben; die Lyrik ist
in ihren Ursprung, das Epos, zurückgekehrt; und während das Epos
äussere Thatsachen, die Lyrik innere Zustände darstellt, stellt das
Drama innere Zustände in äusseren Thatsachen dar. Ueber diese
dritte Stufe hinaus giebt es keine mehr, und kann es keine mehr
geben; ist sie erreicht, so bleibt die Poesie stehn und zehrt von den
gesammelten Schätzen, oder sie verfällt und geht unter: nunmehr sind
beide, die innere Welt wie die äussere, in den Bereich der Poesie
gezogen, im Epos und in der Lyrik als getrennte Gegensätze, im
Drama verquickt und verschmolzen. So ist auch über die Malerei
hinaus, in der das Ideale der Baukunst und das Sinnliche der Sculptur
sich durchdringen, keine bildende Kunst mehr gedenkbar. Der
Parallelismus aber der Dichtkunst mit den bildenden Künsten zeigt
sich auch auf dieser letzten Stufe zugleich als ein Synchronismus: die
höhere Entwickelung des eigentlich deutschen Dramas, des auf deutschem
Grund und Boden organisch gewordenen, fiel mit der Blüte
der deutschen Malerei in das gleiche Jahrhundert.


Also Epik, Lyrik, Drama. Natürlich ist es niemals von dem
Einen zum Andern im Sprunge gegangen: wie bei allem organischen
Wachsthum fehlt es auch hier nicht an Mittelgliedern, die verbinden |#f0083 : 70|

die den Uebergang bilden und bezeichnen. Wie der architectonische
Schmuck erst zum Relief werden musste, eh die Bildhauerei mit ganz
runden Figuren auftreten konnte, so musste sich das Epos erst nur
lyrisch färben und immer mehr und mehr lyrisch färben, bis sich
zuletzt eine vollkommene Lyrik ergab; man musste sodann die Vermittlung
der Lyrik und des Epos erst versuchen, bald vom lyrischen,
bald vom epischen Standpunkte aus, bis man die rechte Mischung
und mit ihr das eigentliche Drama fand. Dergleichen Uebergangsformen
liegen besonders vor der Lyrik; weniger vor dem Drama: das
fand sich leichter, sobald erst jene beiden vorhanden waren.


Wir wollen jene episch-lyrischen Zwischenarten, je nachdem
noch das Epische oder schon das Lyrische in ihnen vorwaltet, theils
mit in den jetzt noch vorliegenden Abschnitt ziehen, welcher der
weitern Betrachtung der Epik gewidmet ist, theils in den nachfolgenden,
der von der lyrischen Poesie handeln soll.


Jetzt also begleiten wir noch den Entwicklungsgang der epischen
Poesie auf die zweite Stufe, die Stufe der individuellen Subjectivität:
die erste, die der nationalen Objectivität, haben wir hinter uns.


Man nehme jedoch das Wort Subjectivität nicht in eben demselben
vollen, verschärften Sinne, in welchem z. B. die romantische Poesie
gegenüber der classischen, oder die Schillerische gegenüber der Göthischen
subjectiv zu nennen ist: denn es soll auch auf classische und
auf Göthische Gedichte seine Anwendung finden; es soll nicht überall
ein ungebührliches Vorwalten, sondern jedes, auch das leiseste Eingreifen
der Fähigkeiten und Neigungen des dichtenden Subjectes
bezeichnen, wie das unvermeidlich wird, sobald einmal das Individuum
dichtet: es soll überhaupt nur die Abweichung bezeichnen von jener
vollkommenen, unverkürzten Objectivität der altepischen Zeiten.


Es kann nun aber das dichtende Individuum durch seine subjectiven
Neigungen und Fähigkeiten darauf hingewiesen werden, beim
Erfassen der epischen Anschauung besonders thätig zu sein entweder
von Seiten der Einbildung oder des Gefühls oder des Verstandes,
und es giebt somit Epik der Einbildungskraft, des Gefühls und des
Verstandes. In der Epik der Einbildungskraft erhalten wir dann die
unmittelbare Fortsetzung der früheren nationalen Epik, in der des
Gefühles die vermittelnde Anbahnung der späteren Lyrik; in der Epik
des Verstandes aber sehen wir die Anschauung auf eine geistige
Kraft bezogen, der weder hier noch sonst irgendwo in der Poesie
eine solche positive Einwirkung gebührte; wir sehen da eine bald
leichtere, bald schwerere Entartung der Kunst, wie sie anderweitig
auch auf dem Gebiete der Lyrik nicht ausgeblieben ist. Wir können, |#f0084 : 71|

wenn wir kurz sein wollen, die erste Art der Epik rein epische Epik,
die zweite lyrische Epik, die dritte didactische Epik nennen.


Nun zunächst zu der Epik der Einbildung, zu derjenigen Art
epischer Poesie, die man wieder im engeren Sinne des Wortes Epos
oder Epopöie zu nennen pflegt, zu den erzählenden Gedichten, die
einen grösseren Umfang haben und eine Reihe einzelner Sagen und
Mythen an und in einander weben.


Die alte Freude an epischen Anschauungen behielt das Volk
immer noch, auch als es nicht mehr auf jener Stufe geistiger und
sittlicher Bildung stand, welche die einfachen epischen Gesänge getragen
hatte; es behielt immer noch die Freude an epischer Anschauung
und Darstellung, wie denn überhaupt, sobald ein Volk nur irgend
poetischen Sinn besitzt, sich der natürlicher Weise zumeist auf diese
Seite werfen wird: aber man empfand nicht mehr das reine Wohlgefallen
bloss an der schönen Behandlung allbekannter Stoffe: man
gewann ein überwiegendes Interesse für die Stoffe an sich selbst.
Denn die rechte Vertrautheit mit denselben verschwand, und das
wachsende Selbstbewusstsein der Individuen beschränkte die Sagen
und Mythen immer mehr in ihrer Ausbreitung über die nationale
Gesammtheit. So wollte man denn jetzo mehr hören; die epischen
Dichtungen sollten mehr enthalten als ehedem.


Diesem neuen Bedürfniss kamen bei den Griechen zunächst die
Rhapsoden entgegen. Die Aöden hatten ihre epischen Lieder noch
gesungen und den Gesang mit Saitenspiel begleitet: sie konnten es
bei der Kürze derselben, ohne dass sie selbst oder ihre Zuhörer
darüber ermüdet wären; die Rhapsoden legten das Saitenspiel aus
der Hand und recitierten statt zu singen: denn für den Gesang wären
ihre stoffhaltigen Dichtungen zu lang gewesen. Es waren jedoch
diese Dichtungen wohl in den wenigsten Fällen wesentlich und ganz
neue: sondern die Rhapsoden wucherten mit dem Pfunde der Aöden,
sie fügten und flochten nur an und in einander, was sie bereits poetisch
gestaltet vorfanden, hier Lieder über verschiedene Sagen, die
sich in Zusammenhang bringen liessen, dort verschiedene Lieder über
die gleiche Sage: ein Geschäft, das natürlich nicht wohl von Statten
gieng, ohne dass sie selber zuweilen die dichtende Hand mit anlegten,
um bald zu kürzen, bald und noch öfter einzuschalten, bald
sonst irgendwie zu ändern. Von dieser Art poetischer Thätigkeit
rührt auch der Name der Rhapsoden her: es ist eine blosse Grille,
sich gegen die einfache Ableitung desselben von ῥάπτειν ἀοιδήν zu
sträuben und dieser authentischen Etymologie die unmögliche von
ῥάβδος gegenüber zu stellen, welche die Rhapsoden zu Stabsängern |#f0085 : 72|

macht. Schon Hesiod (fragm. 34) braucht von sich und Homer den
Ausdruck ῥάψαντες ἀοιδήν, und bei Pindar (Nem. 2, 2) ist ῥαπτῶν
ἐπέων ἀοιδοί eine Umschreibung für ῥαψῳδοί. Waren aber bereits
die alten Aöden gewissermassen ein eigener Stand gewesen, so waren
es die Rhapsoden natürlich noch vielmehr: jene verblieben in ihrem
ganzen Wesen und Wirken mitten unter den Volksgenossen; diese stellten
sich ihnen gegenüber. Eine solche Rhapsodenzunft war auf Chios
das Geschlecht der Homeriden, nach welchen man bald auch die
Rhapsoden andrer Inseln und andrer Länder, dann selbst die spätern
epischen Dichter Homeriden nannte. Auch in Deutschland scheint es
um das Jahr 1200 Leute nach Art der griechischen Rhapsoden gegeben
zu haben, obschon sie da minder deutlich und gewiss nachzuweisen
sind.


Die Wirksamkeit der Rhapsoden ist aber nur eine vermittelnde,
sie bereitet nur den weiteren Fortgang zu dem eigentlichen Ziele hin.
Das stoffartige Interesse wächst nämlich je mehr und mehr; auch
das schnellere Recitieren der Rhapsoden geht dem Volke wieder zu
langsam und bietet ihm zu wenig auf einmal; daneben regt sich in
einzelnen poetisch begabten Individuen das Verlangen nach freierer
Selbstthätigkeit. Und noch ein folgenreicher Umstand kommt hinzu.
Je länger die Mythen und Sagen über ein Volk hin und durch die
Zeiten und Geschlechter gewandert sind, desto mehr treten sie unter
sich in einen kreisartig abgeschlossenen Zusammenhang; gewisse Personen,
gewisse Ereignisse erlangen ein Uebergewicht, meist darum,
weil sich der Character und das historische Selbstbewusstsein des
Volkes am deutlichsten in ihnen ausgesprochen und somit auch von
ihnen vorzüglich angesprochen fühlt: was sich auf diese Hauptpunkte
nicht beziehen lässt, fängt man an, weniger zu beachten; man sucht
aber, womöglich alles auf sie zu beziehn. So erzählen die Lieder
der Serben mit besonderer Vorliebe von dem in Tapferkeit und Frömmigkeit
gleich rohen Königssohne Marco, der gegen das Jahr 1400 bei
dem letzten kräftigen Ankämpfen der Serben gegen die türkische Herrschaft
voranstand; so ist der Fuchs, der sich mit seiner Klugheit über
die andre Thierwelt erhebt, als der Mensch unter den Thieren bald
die Hauptperson der Thiersage geworden; so Artus, mit dem die
britannische Geschichte endigt, und Karl, mit dem die französische
beginnt, die tragenden Grundlagen jener des wälschen, dieser des
französischen Sagenvorrathes; so der Cid, durch seine Kämpfe mit
den Mauren berühmt, das Sinnbild der Treue und des Trotzes des
spanischen Vasallenthums; so vor allen Siegfried in seinem Heldenmuthe,
in seiner arglosen Gemüthlichkeit der Liebling der Deutschen; |#f0086 : 73|

so lehnt sich die deutsche Heldensage an die Völkerwanderung an,
weil mit ihr die ganze Geschichte des Volkes einen neuen Anstoss
und Umschwung erhielt; so endlich und aus dem gleichen Grunde
ward der trojanische Krieg ein Kern und Mittelpunkt der griechischen
Sage: Achilleus aber und Odysseus giengen allen Heroen dieses Krieges
voran, weil der Grieche in dem einen seine freudige Tapferkeit,
in dem andern seine geistige Gewandtheit personificiert wiederfand.
Hatte sich nun auf solche Weise der epische Vorrath immer mehr
in bestimmte Gruppen und geschlossene, aber umfangreiche Kreise
zusammengezogen, bei denen man gern verweilte, in denen man es
vorzüglich liebte umher zu wandeln, so mussten auch die ausgedehnteren
Dichtungen, wie die Rhapsoden sie bereits vortrugen, dennoch
bald zu wenig ausgedehnt erscheinen: es musste das Bedürfniss
erwachen nach Dichtungen, die sich über den ganzen weiten Raum
jener Kreise hin ausbreiteten, in denen sich Gelegenheit fände, recht
vieles, wo nicht gar alles zu erzählen, was zur Anschauung jener
wichtigsten Personen und Ereignisse dienen konnte.


Diese verschiedenartigen Neigungen und Richtungen Aller und
Einzelner fanden, wo sie zusammentrafen, ihr gemeinsames Ziel in
der Vereinigung der bisher getrennten, aber zu dem gleichen Sagenkreise
gehörigen Lieder oder Rhapsodien, in der Vereinigung derselben
zu grösseren, allumfassenden Epopöien.


Die Lieder der Aöden hatten immer nur je eine Sage erzählt,
aus der Reihe von Erlebnissen eines Volkes oder Helden oder Gottes
nur je Eines herausgegriffen; die recitierenden Rhapsoden waren schon,
aber nicht zu weit, über diese Schranken hinausgegangen und hatten
die frühere Einfachheit gegen eine jedoch gemässigte Mannigfaltigkeit
vertauscht; sie hatten sich dabei immer noch so nah als möglich an
die Ueberlieferungen der Aöden gehalten, so dass es auch ihnen
noch nicht beifiel, mehr als einzelne enger verbundene Gruppen aus
all den Abenteuern des trojanischen Krieges zu bearbeiten. Nun aber
ward nach Massgabe jener Sagenkreise alles zusammengetragen, was
von Dichtungen da hinein gehörte, es sollte hinter einander alles zu
lesen und vorzulesen sein (denn man hatte sich inzwischen auch mit
dem Gebrauche und der Kenntniss der Schrift besser befreundet),
was von diesem und jenem Lieblingshelden Bedeutendes und auch
minder Bedeutendes konnte erzählt werden: all die vorher selbständigen
Einheiten der Lieder und Rhapsodien giengen nun in der grossen
und allgemeinen Einheit einer geschriebenen Epopöie unter. So entstanden
in Griechenland die Ilias und die Odyssee, in Frankreich |#f0087 : 74|

das Gedicht von der Roncevalschlacht und der Roman de Renart,
in Deutschland das Nibelungenlied u. s. f.


Bei Arbeiten dieser Art galt es schon einen höhern Grad von
selbstbewusster Kunst; wer sich dem Geschäft einer so ausgedehnten
Umdichtung unterziehen wollte, der musste umfassenden Ueberblick,
geübten Geschmack und eigene poetische Geschicklichkeit mit zum
Werke bringen. Denn es kam darauf an, ein Gebäude aufzuführen
aus Bauzeug, das gar nicht dafür war berechnet und bereitet worden,
aus zwanzig Liedern, deren jedes für sich scharf abgegrenzt war, ein
einundzwanzigstes zu bilden, das all jene in sich begriffe; es kam
darauf an, alles zu benutzen, was jemals von diesem Helden war
gesungen und gesagt worden, und dennoch ein Gedicht und Ein
Gedicht herzustellen, ein in Idee und Darstellung einiges und abgeschlossenes
poetisches Ganzes. Ein überaus roher Versuch, auf solchen
Wegen ein Epos zu gestalten, der aber grade durch diese seine Rohheit
für uns höchst belehrend ist, ist das erwähnte altfranzösische
Gedicht von der Schlacht im Thale Roncevaux, welches zuerst Francisque
Michel 1837 unter dem Titel La Chanson de Roland ou de Roncevaux
herausgegeben hat. Hier liegt das verschiedenartige Bauzeug noch
ganz unvermittelt und unverbunden neben einander: über dasselbe
Ereigniss erst ein Lied, dann ein andres, dann vielleicht noch ein
drittes, selbst wo es leicht genug gewesen wäre, diese drei zu einem
einzigen vierten zusammenzufügen. Aehnlich der Roman de Renart
(herausgegeben von Méon 1826), wo die Wiederholungen und unvereinbaren
Widersprüche zwischen den immer noch getrennten einzelnen
Branchen auf verschiedene Verfasser zurückzuführen sind. Besser
haben ihre Aufgabe die Umdichter verstanden, denen wir die andern
genannten Epopöien verdanken; und hier war es schwieriger, und
war es ein Triumph der neueren philologischen Kritik, dennoch diese
Art der Entstehung und die verschiedenen Hände der einzelnen Dichter
zu erkennen. Das Alterthum selber hielt, als Ilias und Odyssee
erst vollendet vor ihm dastanden, beide zusammen für das Originalwerk
eines einzigen Dichters, den man Homeros nannte, indem man
auf diesen Namen vielleicht nur zurückschloss aus dem Namen des
berühmten Rhapsodengeschlechtes in Chios, der Homeriden: denn man
dachte sich jene Epopöien früher entstanden als die Rhapsodien,
d. h. man stellte einen Epiker mit zweimal vier und zwanzig geschriebenen
Büchern mitten hinein zwischen die singenden Aöden und die
sagenden Rhapsoden. Hinsichtlich der beiden Homerischen Gedichte
den Sachverhalt zuerst ans Licht gestellt zu haben, ist das Verdienst
Fr. Aug. Wolfs, dessen „Prolegomena de operum homericorum prisca et |#f0088 : 75|

genuina forma“ vor seiner Ausgabe der Ilias vom Jahre 1795 erschienen
sind. Die Entstehung des Nibelungenliedes hat Karl Lachmann in
seiner Abhandlung „Ueber die ursprüngliche Gestalt des Gedichtes
von der Nibelungen Noth“ 1816 und in seinen „Anmerkungen zu den
Nibelungen“ 1836 nachgewiesen.


Die Umdichter, von denen Ilias, Odyssee und Nibelungenlied
herrühren, sind alle drei darauf bedacht gewesen, an den kleineren
Einheiten, von denen sie ausgiengen, die gar zu augenfälligen Spuren
der ursprünglichen Zusammenhangslosigkeit zu tilgen: sie haben überall
ausgeglichen, Manches fortgelassen, noch mehr eingeschaltet; so dass
nun recht im Gegensatze zu der energisch vorwärts schreitenden Entwickelung
der altepischen Lieder dem neuen Epos eine in behaglicher
Ausführlichkeit verweilende Breite eigen wurde. Indessen hat diese
Breite ausserdem auch noch ihre innern Gründe und Zwecke: hätte
man die energische Darstellung der alten Lieder beibehalten, so wäre
bei der neuen Fülle des Stoffes und dem schnelleren Fortschritte des
Vortrages oder der Lectüre der Leser mit Thatsachen wahrhaft überstürzt
und überschüttet worden; so sehr das stoffartige Interesse jetzt
die Oberhand hatte, so lag doch, eben weil es in solchem Masse vorherrschte,
den neuen Epikern die Aufgabe ob, Jedem Zeit zu lassen
zur Beschauung und Auffassung der ungewohnten Mannigfaltigkeit.
Und so konnten sie denn auch die einzige Saumseligkeit der alten Lieder
mit in ihre Umdichtung hinübernehmen, jene früher (S. 63) besprochenen
Wiederholungen und stehenden Redensarten nämlich, obgleich
dieselben durch die jetzige Weise der Mittheilung in nichts mehr bedingt
waren: ehedem waren sie unentbehrlich gewesen, um bei der Langsamkeit
des Gesanges dem Vergessen vorzubeugen: jetzt, wo man
schrieb und las, waren sie nicht so wohl an der Stelle. Wie in diesem
Stücke, so schimmert auch sonst der alte aödische und rhapsodische
Grund noch oft und noch deutlich genug hindurch, so dass er
der schärfer blickenden Kritik unserer Tage nicht entgehen konnte.


Sodann gieng das Bestreben der neuen Epiker dahin, den überkommenen
Sagenschatz, wo möglich ganz zu erschöpfen und auszubeuten
und nichts unberührt zu lassen, was innerhalb des Kreises
lag. Konnte nun aber irgend ein Mythus oder eine Sage nicht füglich
mit in den gradeaus fortschreitenden Verlauf eingereiht werden,
so hielt man allenfalls inne und schweifte seitwärts zu ihr ab, um
nachher wieder einzulenken und die alte Bahn fortzusetzen: mit Einem
Worte, man erlaubte sich Episoden.


Oft jedoch und sehr oft haben die Episoden nicht grade diesen
Anlass, sondern sind vielmehr wieder nur eine Nachwirkung der alten |#f0089 : 76|

Lieder, denen man folgte, und die man umdichtete. In diesen fand
man die grösste Einfachheit der Anschauung, die knappeste Beengung
des Stoffes. Obschon man nun im neuen Epos die Grenzen nach
allen Seiten hin in die reichste Mannigfaltigkeit ausdehnte, so wollte
man doch wenigstens den Anschein der Einfachheit und der Beschränkung
bewahren, und so vernehmen wir denn z. B. in der Odyssee
den einen Theil von Odysseus Irrfahrten aus dem Munde des Dichters,
den andern und grösseren Theil aber episodisch durch vier
Bücher hindurch aus dem Munde des Odysseus selbst, und im Nibelungenliede
werden erst gelegentlich, erst Str. 88 fgg. durch Hagen
Siegfrieds Kämpfe mit dem Lindwurm und mit den alten Herren des
Hortes erzählt und die Leser in die Jugendgeschichte zurückgeführt,
nachdem Siegfried schon als Mann aufgetreten: indem so, was eigentlich
der Anfang der dargestellten Sagenreihe ist, in die Mitte eingefügt
wird, gewinnt das Ganze den Anschein grösserer Gedrungenheit
und Abrundung, sieht concentrierter, einfacher, einheitlicher aus.


Durch solche Mittel und auf solchen Wegen erwuchsen die genannten
Epopöien alle aus dem überlieferten Vorrath epischer Stoffe und
epischer Dichtungen: sonst aber bestehn unter ihnen die merklichsten
Unterschiede, und der Sammler und Umdichter der einen hat nicht
das gleiche Mass künstlerischen Bewusstseins und freithätiger Geschicklichkeit
besessen als die der andern.


Den untersten Rang möchte die Iliade einnehmen. Ihr gebricht
am meisten die rechte Einheit der Idee und des Inhaltes: all die
hohen Schönheiten, womit sie Jeden gefangen nimmt, sind doch nur
Schönheiten einzelner Glieder, nicht aber des ganzen Körpers, der
aus diesen Gliedern zusammengesetzt worden. Der Beginn kündigt
Achilleus als den Helden der Dichtung an: alsbald jedoch tritt er
und sein Zorn in den Hintergrund, um erst gegen das Ende hin wieder
von Bedeutung zu werden; mitten inne aber ist, nur mit vorübergehenden
Rückblicken auf ihn, überhaupt von dem thatenreichen Kampfe
die Rede, den Ilios und Griechenland nach den von Zeus gewogenen
Loosen gegen einander bestehn. Daher auch der altherkömmliche
Name Ilias, nicht Achilleis.


Auf die Autorität der Iliade hin hat Fr. Schlegel behauptet, ein
rechtes Epos müsse überall anfangen und überall schliessen; und wiederum
nach ihr hat A. W. von Schlegel das Wesen der epischen
Dichtung darin gesucht, dass sie einem Relief gleiche, dessen Figurenreihe
ohne alle Gruppierung hinter einander fortlaufe, und mehr
nach Zufall oder Willkür beginne und ende als nach innerer Nothwendigkeit.
Zugegeben, dass ein gutes Relief so planlos gearbeitet |#f0090 : 77|

sein dürfe, und zugegeben, dass diese Vergleichung etwa auch auf
die Ilias passe, so ist doch in der Odyssee keine dergleichen Spur
von Willkür und Zufall: sie steht in dichterischer Beziehung um vieles
höher als die Ilias; von dem Anfange an, der wirklich auch ein
Anfang ist, arbeitet Alles der Erfüllung entgegen; die Leiden der
verlassenen Gattin, der Auszug des Sohnes, um Kunde vom Vater
zu erlangen, die Abenteuer, die dem Vater seinen Weg zur ersehnten
Heimath immer länger und schwerer machen, Alles sucht und findet
das gleiche Ziel, den Lohn des Duldens und die Rache der Unbill,
und es ist nicht abzusehen, was nun irgend noch könnte gethan und
erzählt werden. Wäre die Ilias nicht, die ihren Ursprung aus einzelnen
Liedern deutlich an der Stirne trägt, bei der Odyssee allein
wäre die Kritik schwerlich darauf verfallen, die Existenz eines einigen
Dichters zu läugnen: mit so gereifter Kunst sind hier die Spalten
zwischen den einzelnen Theilen überkleidet, mit solchem Geschick sind
die kleineren Einheiten unter eine neue grosse zusammengebracht, ja
hier darf man an dem Ursprung aus einzelnen Dichtungen eher zweifeln.
Jedesfalls aber steht der Umdichter oder Dichter der Odyssee
schon sichtlich auf den Schultern dessen, der die Ilias gesammelt
hat; in der Ilias zögerte das Individuum noch, sich geltend zu machen:
in der Odyssee schaut es um sich mit dem heitersten Selbstbewusstsein;
die schalkhafte Laune, die mitunter sogar in den Ton harmloser
Parodie der Ilias hinüberstreift, ist nicht zu verkennen.


Das Gedicht von der Nibelungen Noth übertrifft durch weitaus greifende
Kühnheit des Plans beide griechische Epen. Die Thaten der
Ilias erfüllen wenige Wochen, die Leiden des Odysseus eine kleine
Reihe von Jahren: die Nibelungen erstrecken sich über den Raum
zweier Menschenalter voller Thaten und Leiden. Ueber all die Kreise
hin, welche sich an den Grundkern der deutschen Heldensage lagern,
spannt sich sein reiches, vielfaltiges, vielfarbiges Gewebe; Alles ist
hineingezogen, der alte Mythos von Siegfried, die Sagen von den
burgundischen Königen, von Attila, von Theodorich dem Grossen.
Und dennoch mangelt es nirgend an Einheit. Von Anfang bis zu
Ende bewährt sich die mehrfach ausgesprochene welthistorische Idee,
dass alle Freude dieser Welt zuletzt mit dem tiefsten Schmerze endige;
die eigentliche Trägerin aber dieser Idee, die Person, in deren Handeln
und Leiden dieselbe bis zur äussersten Vollendung durchgeführt
wird, ist Kriemhild, die Schwester Günthers, dann die Gemahlin
Siegfrieds, dann die Gattin Etzels: durch sie erhalten jene einzelnen
Gruppen der Sage, wie sie geschichtlich und sagenhaft auf gemeinsamen
Grund gestellt sind, von Seiten der poetischen Idee verbindende |#f0091 : 78|

Einheit. Das jedoch hat der Umdichter der Nibelungen vielleicht
noch weniger verstanden als der der Iliade, seinen Zusätzen einen
gewissen Einklang mit den alten Liedern und Rhapsodien zu geben und
die Ungleichheiten dieser Lieder und Rhapsodien selbst durch überarbeitende
Darstellung zu vermitteln und zu verwischen. Ich sage der
alten Lieder und Rhapsodien: er schloss sich nämlich zum Theil noch
unmittelbar an den lebendigen Volksgesang an, und nur hin und wieder,
namentlich gegen das Ende hin, scheint zwischen seinem Buche
und den alten Liedern des Volkes eine Mittelstufe zu liegen, wie die
der griechischen Rhapsodien.


So war nunmehr dem stoffartigen Interesse genug gethan: man
besass nun grosse inhaltschwere Heldengedichte und konnte sie
lesen statt zu singen und zu sagen. Aber die Individualität hatte
ihre Bedeutung in der Poesie einmal kennen gelernt: von dem an
versäumte sie es nicht, sich immer mehr und mehr geltend zu machen.
Kaum standen bei den Griechen Ilias und Odyssee, bei den Franzosen
die Roncevalschlacht fertig da, so wuchs ihnen eine Menge immer
neuer Epopöien nach, die sich freilich auch an altüberlieferten Stoff
anschlossen und alte Mythen und Sagen und Märchen erzählten; die
sich auch die Art und Weise jener in Anschauung und Darstellung
zum Muster nahmen und selbst die alte Diction und Versform treu
bewahrten, wie die Griechen die Sprache Homers und den Hexameter:
in einem Stück jedoch erwies sich die neue Selbständigkeit:
man folgte zwar alten Sagen, aber nicht alten Liedern; man überarbeitete
nicht bloss, man dichtete nicht mehr um: sondern was man
gab, war in dieser seiner Gestalt durchaus neu und eigen. So die
nachhomerischen Epiker der Griechen, die man auch Cycliker, κυκλικοί,
nannte, weil ihre Gedichte zusammen den ganzen Inbegriff und
Umfang der Sage wiedergaben. An sie und an Homer lehnte sich
dann die epische Kunstdichtung der Römer, Ennius, Virgil u. s. w.
Solcher poetischen Schöpfungen hatten die Franzosen schon im zwölften
Jahrhundert genug; durch sie wurden die Deutschen, die bis
dahin nur Lieder nach altepischer Art besessen hatten, nun auch mit
der umfassenden und unsangbaren Epopöie bekannt. Alsbald versuchten
diese auch selber die neue Kunst; die metrische Form dieser
deutschen Gedichte war eine höchst einfache, zuerst bloss gereimte
Prosa, die sich jedoch allgemach mehr künstlerisch gliederte, zu Versen
von vier Hebungen, welche paarweis reimten: aber wie die neue
Kunst aus jener Fremde zu ihnen gekommen war, versuchten die
Deutschen sie zunächst auch nur an Stoffen jener Fremde, an französischen,
provenzalischen und britannischen Sagen: für die einheimische |#f0092 : 79|

Heldensage bestand (wenn wir von einer oder zwei nicht einmal
recht sicheren Ausnahmen absehn dürfen) noch einige Zeit hindurch
die alte Liederform, bis auch sie in dem Sammler der Nibelungen
ihren Homer fand und nach ihm ihre in freier Individualität
selbständigen und selbstthätigen cyclischen Epiker. Diess historische
Verhältniss ist von Wichtigkeit: denn es lehrt, dass die Nibelungen
mit den s. g. Homerischen Dichtungen nicht genau auf einer und derselben
Stufe stehn. Nicht die deutsche Epopöie überhaupt, sondern
nur die Epopöie der deutschen Heldensage beginnt mit den Nibelungen,
während Ilias und Odyssee den Anfang aller und jeder griechischen
Epopöie bilden. Der Sammler der Nibelungen fand schon
genug epische Dichtungen andrer Art vor, um an ihnen jene hohe
Kunst der Composition zu lernen: der Sammler der Ilias aber musste
ganz aus eigener Kraft den ersten Wurf thun.


Durch die neuen Epiker ward man so daran gewöhnt, epische
Dichtungen bloss für die Schrift, für das Lesen und Lesenhören zu
verfassen, dass man nun selbst da, wo die Einfachheit des Stoffes
und der geringe Umfang gar wohl die sangbare Form zugelassen
hätten, selbst da nur noch die unsangbare in Anwendung brachte.
So besitzt die deutsche Litteratur aus dem zwölften Jahrhundert und
den folgenden eine Menge von Legenden und Sagen und Märchen,
erzählt in der Form der kurzen Reimpaare: vor jenem Zeitraum hätte
man dieselben Stoffe nur in Liederform, nur durch den Gesang mitzutheilen
gewusst.


In solchen Erzählungen (wie man all dergleichen kleinere epische
Gedichte der Unterscheidung wegen benennen mag) lernte das Individuum
noch um einen Schritt weiter über seine alte Unterordnung
hinausgehn.


Die grösseren Epopöien folgten lediglich dem von alten Zeiten
her Ueberlieferten; es fiel da dem Dichter nicht ein, sich um Stoff an
die Tagesgeschichte oder gar an die eigene Phantasie zu wenden: nur
dem, was durch die nationale Tradition geheiligt war, nur dem was im
Lauf der wechselnden Zeiten und Geschlechter seinen Bestand behauptet
und sich bewährt, was sich wie aus sich selbst heraus zu einem
reich und schön gegliederten Organismus entwickelt hatte, nur solchen
längst belebten und beseelten Anschauungen traute man, und das mit
Recht, die Kraft zu, den Leser zu gewinnen und zu fesseln und ihn
zu reproducierender Thätigkeit zu nöthigen, nicht aber dem, was
heute erst um den Dichter herum geschehen oder gar erst heute von
ihm erfunden wäre. Anders bei den kleineren, weniger enthaltenden,
minder ausgedehnten Erzählungen. Hier sah man es mehr nur auf |#f0093 : 80|

vorübergehende Unterhaltung ab, hier bedurfte der Dichter solch eines
altbewährten Stoffes nicht: er selbst und seine Zeit konnten sich frisch
in den Vordergrund stellen, er konnte Ereignisse des Tages erzählen,
ja sogar alles selber erst erfinden, und dennoch durfte er der Wirkung
gewiss sein. In der Epopöie zeigt sodann das dichtende Individuum
seine zurückhaltende Bescheidenheit auch darin, dass es sich
nur selten und nur in leiser Andeutung einen Widerspruch gegen die
angeschaute Wirklichkeit gestattet; die Epopöie duldet also Spott und
Laune höchstens nur hin und wieder: in der Erzählung sind sie zu
Hause, und die Dichter lieben es hier, ihre freiere Thätigkeit auch
dadurch kund zu thun, dass sie den Verlauf der Thatsachen vom
Anfang an bis zum Ende mit dem Lachen des Verstandes oder des
Gefühles, mit Laune oder Spott begleiten. Es gab mithin neben der
Epopöie wohl komische Erzählungen, wie bei den Griechen der verlorene
und Homer zugeschriebene Margites, und im Mittelalter bei
Deutschen und Franzosen so viele, dass ich keine einzelne zu nennen
wüsste: aber komische Epen gab es nicht.


Bisher haben wir zuerst von den Anfängen, dann von den weiter
entwickelnden Fortschritten der Epik gesprochen: jetzt ist noch von
ihrem Untergang zu sprechen.


All die Neuerungen auf dem Gebiete der epischen Poesie, das
Anschliessen an einzelne abgerissene Begebenheiten, das Ablenken
von der alten Sagenwelt, das in Spott und Laune beurtheilende Eingreifen
des Subjectes, das schon früher berührte bloss stoffartige, auf
Idee und Form wenig mehr achtende Interesse, endlich das taubstumme
Schreiben und Lesen, wodurch allgemach die gesammte epische
Poesie dem lebendigen Verkehr war entfremdet worden: alles
das musste ihr bald den Untergang bereiten: wie sie mit Gesang
begonnen hatte, so schlug sie zuletzt in Prosa um; neben das entschwindende
Epos und an die Stelle des entschwundenen rückte die
Geschichtsschreibung.


Ueberall jedoch, in der Geschichte der Menschheit wie in der
Natur, wird der Gegensatz vermittelt durch Zwischenglieder und einleitende
Uebergangsstufen. So auch der Gegensatz der epischen Poesie
und der historischen Prosa. Die moderne Geschichtsschreibung beginnt
schon innerhalb des Epos, und das moderne Epos reicht noch hinüber
bis in die Geschichtsschreibung. Denn der Verfall der epischen Poesie
des Mittelalters wird dadurch bezeichnet, dass ziemlich zahlreiche Werke
entstehn, die mit derselben zwar noch die Form des Verses und des
Reimes, sonst aber wenig gemein haben, deren Inhalt baare, unpoetische
Geschichte bildet, Chroniken und Biographien. Auf der andern |#f0094 : 81|

Seite beginnt die historische Prosa mit Schriften, die wieder mehr
durch die Form als durch ihren Inhalt der Prosa zugehören: die
Geschichtsschreibung in ihren Anfängen kennt so wenig als vorher die
epische Poesie einen Unterschied zwischen Geschichte und Sage, und
es haben an ihren Productionen Phantasie und Gemüth noch beinahe
eben so viel Antheil als der Verstand. Gleichzeitig entwickelt sich
neben der eigentlichen Geschichtsschreibung noch eine andre Art von
historischer Prosa, in der gradezu und absichtlich Phantasie und Gemüth
denselben Rang einnehmen als im Epos, so dass man hier die unkünstlerische
Form der Rede wohl eine Ungehörigkeit nennen darf: die
Prosa des Romans. Der Roman ist im Grunde nichts als ein prosaisches
Epos, wie denn auch die ersten Bücher dieser Art sowohl bei
den Deutschen als bei andern Völkern des Mittelalters entstanden sind
durch prosaische Auflösung älterer Heldengedichte. Insofern bezeichnet
er noch viel mehr den Untergang des Epos als den Beginn der historischen
Prosa, und nur dieselbe Bequemlichkeit, die zu dergleichen Auflösungen
veranlasste, hat ihm über jene Vermittlungszeit hinaus bis
auf die unsrige seinen Bestand sichern können. Bei den Griechen
lässt sich eben ein solches Vorahnen der Geschichtsschreibung innerhalb
der Poesie und ein solches nachhaltiges Uebergreifen des Epos
in die historische Prosa minder deutlich nachweisen. So viel indessen
weiss man doch, dass Herodots Vorgänger in ihrer leichtgläubigen
Freude an Mythen und Sagen noch nicht sonderlich weit hinaus waren
über das metrische Epos. Die Anfänge aber des griechischen Romans
fallen in viel spätere Zeiten. Wir enthalten uns einer ausführlicheren
Parallele zwischen Sage und Geschichte, zwischen Epos und Historiographie,
zu der hier wohl der Anlass gegeben wäre, und beschränken
uns auf Einen Punkt, den wesentlichsten von allen, die verschiedene
Stellung beider gegenüber der Idee.


Jede Sagendichtung drückt irgend eine in der Geschichte offenbarte
Idee aus: aber sie rückt dieselbe in das Gebiet der Einbildungskraft
und lässt die gemeine Wahrheit der Thatsachen aufgehn in die
Schönheit: da muss denn fortfallen, was zu viel ist und die einheitliche
Anschauung der Idee behindert; auf der andern Seite fügt die
Phantasie wieder hinzu, um der lebendigen Mannigfaltigkeit willen;
und was geschehen muss, damit es möglich werde wegzulassen und
zuzusetzen, selbst die verbliebenen und nicht erfundenen Thatsachen
werden oft mit kühnster Freiheit umgebildet. Anders die Geschichtsschreibung.
Allerdings wird sich auch der rechte Historiker niemals
der idealen Richtung entschlagen: auch er wird in dem geschichtlichen
Verlaufe, der ihm vorliegt, die leitende und belebende göttliche Idee |#f0095 : 82|

zu erkennen suchen; sie wird auch ihm Anfang und Ende sowohl
seiner eignen Production sein als der Reproduction, die er auf Seiten
des Lesers bezweckt: aber, und darin beruht nun der grosse Unterschied,
er sucht und sieht ihre Offenbarung nicht im Schönen, sondern
im Wahren; er betrachtet die historischen Thatsachen, über
denen sie schwebt, vom Gebiete des Verstandes her, nicht von dem
der Einbildung; er verschmäht alles Zuthun der Phantasie und duldet
nur die Dienste der Erinnerung, die so vereinzelt der verständigen
Erkenntniss unschädlich ist; er verwirft keine Thatsache, selbst wenn
sie die Idee verdunkeln sollte, deshalb, weil sie diess thut; er erfindet
keine, damit sie die Idee in ein helleres Licht setze: da braucht er
auch nichts umzugestalten, sondern er gestaltet und bildet nur nach,
was er vorfindet, und eh er es nachbildet, prüft er, ob er auch das
Wahre vorgefunden habe. Aber wie gesagt, bei all dieser resignierenden
Treue, all diesem rein verständigen Forschen wird er niemals die
Idee aus dem Auge verlieren: er wird sich fort und fort wenigstens
bemühen, sie mit der unverkürzten Wahrheit zu vereinbaren, sie als
den Keim jeder Thatsache, jede Thatsache als ihre Frucht zu erkennen
und so die Reihe der Ereignisse, die er vorführt, zu einem
Organismus zu verketten, der durch die Einheit einer inneren Nothwendigkeit
zusammengehalten und beseelt sei und erst mit Vollendung
der Idee selber ende. Ein solches Verfahren ist es allein, das den
vielfach missbrauchten Namen pragmatischer Geschichtsschreibung in
Anspruch nehmen darf, insofern πρᾶγμα nicht jedwedes bezeichnet,
das geschieht, sondern etwas, das geschieht, weil es geschehen muss,
und das wirksam ist, weil es geschieht, die volle Wirksamkeit aber
und die wahre Nothwendigkeit sich immer nur vom Standpuncte der
Idee aus ergeben können. Der Historiker bemüht sich also, die wirkende
Idee durch unverkürzte Wahrhaftigkeit der berichteten Thatsachen
zur Erscheinung zu bringen: aber nur zu oft ist diese Bemühung
eine fruchtlose; nur zu oft erweist sich ihm, sobald er mit den Erfahrungen
und Urtheilen des Verstandes sich begnügen will, statt jenes
organischen, bloss ein mechanischer Zusammenhang; nur zu oft nicht
einmal dieser. Und dennoch darf er, wenn er gewissenhaft ist, die
Grenzen nicht überschreiten, innerhalb welcher ihm die Dinge so abgerissen,
so ohne Leben und Bedeutung erscheinen. Da zeigt sich denn
am herbsten und schärfsten der Contrast zwischen Geschichte und Sage,
das Unkünstlerische, das verglichen mit den Anschauungen der erzählenden
Dichtkunst denen der historisch erzählenden Prosa beiwohnt:
denn die Sage würde mit der Kühnheit der schöpferischen Phantasie
jene der Idee widerstreitenden Einzelheiten entweder ganz beseitigen |#f0096 : 83|

oder unter ihnen den Zusammenhang herzustellen wissen, den der
Verstand nicht zu erkennen vermag.


Nachdem wir die Epopöie in dem Stufengange ihrer Bildung
historisch entwickelt haben, wird es zweckdienlich sein, einen Blick
auf das Wesen und die eigenthümlichen Gesetze derselben zu werfen,
und was sich in Beziehung darauf aus dem bisher Dargestellten ergiebt,
dogmatisch zusammenzufassen. Wir unterscheiden hier, wie schon
früherhin zwischen Epopöie im engern Sinne des Wortes und der
s. g. Erzählung.


Die Epopöie fasst gleich dem epischen Liede die Geschichte
nicht historiographisch, sondern mythisch oder sagenhaft, weil es ihr
auf die göttliche Idee, und nicht auf Wahrheit, sondern zunächst
auf Schönheit ankommt. Während jedoch das Lied auf Eine Begebenheit
gerichtet ist, Einen Mythus, Eine Sage darstellt, umfasst
die Epopöie eine Reihe von Begebenheiten, breitet sich über einen
ganzen Sagenkreis aus. Dabei darf jedoch die Einheit nicht verloren
gehn, das Grundgesetz aller künstlerischen Production. Es muss also
vor allen Dingen Einheit des geschichtlichen Verlaufes stattfinden: die
einzelnen Begebenheiten müssen nicht nur in einem fortlaufenden causalen
Zusammenhange, sondern sie müssen auch alle in wirksamer
Beziehung auf die belebende centrale Idee stehn; das Gedicht muss
mit Thatsachen beginnen, die schon auf die Vollendung der Idee hinarbeiten,
muss schliessen, wenn dieselbe vollendet ist, und muss innerhalb
nichts enthalten, was nicht als Glied an diesem idealen Organismus
thätig sein könnte. Nur so sind Episoden erlaubt: sie mögen
die gradaus gestreckte Linie der Begebenheiten unterbrechen: aber sie
müssen innerhalb des Kreises liegen, den die Idee beherrscht; es ist
sogar ihr Hauptzweck, indem sie jene grade Linie verkürzen, die
Ueberschaulichkeit des Verlaufes zu erleichtern und die Einheit der
Handlung durch scheinbare Einfachheit noch mehr herauszustellen, wie
diess z. B. in der Odyssee (Buch 9 f.) geschieht.


Verbunden mit der Einheit des geschichtlichen Verlaufes und das
beste, wenn auch nicht das einzig mögliche Mittel, sie zu behaupten,
ist die Einheit der Person, d. h. dass von Anfang bis zu Ende Eine
Person als die hauptsächliche da stehe, als diejenige, auf deren
Geschick in Freude oder Leid alle Begebenheiten sich beziehen. So
findet die ganze reiche Mannigfaltigkeit der Thatsachen gegenüber der
innern idealen Einheit auch eine äussere, und eine wird durch die
andre um so besser gesichert sein. Die Odyssee und das Nibelungenlied
können auch hier als Beispiel gelten. Nothwendig ist diese Einheit
aber nicht: es liesse sich eine Epopöie über den trojanischen |#f0097 : 84|

Krieg denken ohne Einheit der Person und doch mit vollkommner
Einheit der Idee und des geschichtlichen Verlaufes, wie ja auch eine
solche in der Iliade ist versucht worden, wenn man abrechnet, was
daneben eigentlich den Namen einer Achilleis verdient.


Noch weniger unumgänglich werden Einheit der Zeit und Einheit
des Ortes erfordert. Was zuerst jene betrifft: so gut als die Sage
solche Thatsachen fallen lässt, die keine wesentliche Bedeutung haben,
eben so gut kann und muss es auch die Sagendichtung, die epische
Poesie; darf sie aber Thatsachen überspringen, so steht ihr dasselbe
auch bei den Zeiträumen frei, die nur von solchen Unwesentlichkeiten
ausgefüllt sind. Die hauptsächlicheren Einheiten, der Idee und des
geschichtlichen Verlaufes, werden darunter in keiner Art leiden. Immerhin
jedoch ist es gut, wenn zu deren Verstärkung auch noch diese
dritte hinzu kommt, und der Verlauf der Begebenheiten auf einem
ununterbrochenen Zeitverlaufe ruht; besonders sobald dieser Zeitverlauf
noch zu überschaulicher Kürze abgegrenzt wird, geschehe das auch
nur scheinbar. In der Iliade freilich dient es der Einheit des geschichtlichen
Verlaufes weiter nicht, dass es nur ein Zeitraum von etwa fünfzig
Tagen sein soll, innerhalb dessen alles das geschieht: denn jene Einheit
ist sonst zu wenig begründet. Wohl aber stimmt es schön zu der
sonstigen Abrundung der Odyssee, dass der Verlauf scheinbar nur
einen Monat währt: scheinbar, denn eigentlich währt sie zehn Jahr;
aber dieser Ueberschuss von Zeit wird mit allem, was darin sich
ereignet, episodisch abgemacht. Die Einheit des Ortes sodann ist
immer nur eine zufällige, keine wesentliche und nothwendige Consequenz
von den Einheiten des Verlaufes und der Zeit; sie mag dienlich
sein, wo sie sich ergiebt: zu fordern ist sie nirgend. Wen stört
es in der Odyssee, dass die Handlung über die ganze Welt hinschweift?
Und wozu hilft es in der Ilias, dass sie auf einen engen Raum festgebannt
ist?


Es hat demnach die Epopöie das mit aller übrigen Poesie gemein,
dass sie das Schöne in Formen der Wirklichkeit als Schönes, d. h. einheitlich
anschaut und darstellt; die besonderen Modificationen dieses
allgemeinen Gesetzes ergeben sich nur daraus, dass die Wirklichkeit
der Epopöie die Geschichte ist. So theilt sie denn auch mit aller
Poesie, überhaupt aber mit aller Kunst den Zweck ihrer Darstellung:
auch sie geht darauf aus, dass die Anschauungen des Dichters in der
Seele des Hörers oder Lesers reproduciert werden. Daraus ergeben
sich wieder neue Gesetze und Anforderungen. Einmal für die Darstellung
ein nicht zu schnelles Vorwärtsschreiten: je mannigfaltiger die
Fülle von Begebenheiten ist, welche das Gedicht begreift, um so nothwendiger |#f0098 : 85|

ist es, bei jeder zu verweilen und dem Leser Zeit zu gönnen,
dass er dieselbe klar und fest in seinem Innern nachbilde: geht
die Darstellung zu schnell über die Einzelheiten hin, so bringt er es
zu keiner zusammenhangenden einheitlichen Reproduction des Ganzen.
Es wird also Ausführlichkeit, es wird eine freilich gemessene Breite
verlangt; es kann die eigentliche Erzählung um der Anschaulichkeit
willen sogar in die Schilderung hinüberstreifen: nur dass auch die
Schilderung den Anschein der Erzählung trage, dass sie historisch
eingekleidet werde, dass sie keine ruhig fixierende sei: denn im Stillstand
liegt die anschaulich machende Breite nicht, nur im zögernden,
langsameren Fortschritt.


Sodann hat der epische Dichter zum Behuf eben dieser Reproduction
seines reichen Stoffes nach möglichst grosser Objectivität zu
trachten: er soll ja keine Schilderung seiner innern Zustände geben,
er soll Thatsachen der Aussenwelt erzählen: diese verlieren aber an
objectiver Anschaulichkeit in demselben Grade, als er mit seinen
subjectiven Gefühlen und Urtheilen sich störend einmischt: wer steht
ihm auch dafür, dass seine Gefühle und Urtheile ebenfalls die des
Lesers sein werden? Ganz zu vermeiden ist die Subjectivität freilich
nicht, wo das Individuum dichtet und nicht mehr die ganze Nation:
aber sie soll nur in so weit vorkommen, als sie nicht zu vermeiden
ist. Deshalb ist es auch in der Epopöie nirgend recht an der Stelle,
dass die Einbildungskraft, dieses Organ der objectiven Anschauung,
in Widerspruch gerathe mit Gefühl und Verstand, dass der Dichter,
was er erzählt, mit Laune und Spott erzähle, dass er lächerliche
Begebenheiten vorführe, ausgenommen wenn dieser Widerspruch durch
den weiteren Zusammenhang aufgehoben und ausgeglichen wird; und
auch dann darf das Lächerliche immer nur leise, nur behutsam und
bescheiden angedeutet sein: sonst stört es gleichwohl die Reproduction.
Ein schönes Beispiel von schonender und enthaltsamer Einmischung
des Lächerlichen ist in den Nibelungen jene Stelle (Str. 588), wo
Gunther von Brunhilden an den Nagel gehängt wird: das Ereigniss
gehört nothwendig dahin, um die Persönlichkeit Brunhildens und Gunthers
und Siegfrieds zur Anschauung zu bringen; innerhalb des weitern
Verlaufes hat es auch nichts Lächerliches mehr: aber der Dichter
gestattet sichs nicht einmal vorübergehend, seinem Leser ein spöttisches
und schadenfrohes Gelächter aufzudringen. Viel bedenklicher ist
eine Persönlichkeit im zweiten Buch der Ilias, Thersites; der Streit
der Kunstrichter für und wider seine poetische Zulässlichkeit ist auch
immer noch unentschieden: allerdings kommt hier zu der Lächerlichkeit
noch die Hässlichkeit, ja sogar das Ekelhafte, und es ist |#f0099 : 86|

schwer, ein solches Gemisch von Widerwärtigkeiten ästhetisch zu
rechtfertigen.


Endlich muss, da der Epiker die Formen seiner Anschauungen
aus der geschichtlichen Wirklichkeit entnimmt, diese Wirklichkeit auch
für den Leser eine solche sein, damit die Reproduction möglich werde:
was er erzählen hört, muss er fassen und muss er glauben können.
Eine ihm ganz nahe und alltäglich vor Augen liegende Wirklichkeit
wird es darum nicht zu sein brauchen, und da das Epos immer aus
der altüberlieferten Sage schöpft, auch nicht sein können: aber noch
weniger darf sie ihm so fern liegen, dass er sich fremd fühlt unter
diesen Personen, unter diesen ihren Thaten und Gesinnungen. Freilich
gehörte der ganze Zustand der Civilisation, auf welchem die Ilias
und die Odyssee beruhen, für die Griechen in eine weit entlegene
Vorzeit: sie fühlten sich aber darum diesen ihren Voreltern noch nicht
entfremdet: auch sie waren, wenn schon nicht solche Helden, immer
noch heldenmüthig und hatten ungefähr noch die gleiche Art der
Kriegsführung und der öffentlichen Volksbelustigungen, wie die Achäer
der Iliade und die Phäaken der Odyssee. Sie glaubten auch eben so
willig, was von Ares und der Pallas erzählt wurde, als was erzählt ward
von Agamemnon und Menelaus; wunderbar und unglaublich war für
sie noch nicht eins: ihr ganzes, immer noch lebendes Heidenthum
beruhte ja auf jenen Mythen. Nicht anders im Mittelalter. Man war
sich keines Unterschiedes bewusst zwischen Geschichte und Sage: kaum
die Gelehrten ahnten ihn; Ueberreste der Mythologie mischten sich in
das Epos so viel ein, als man noch glaubte; die Helden der Rittergedichte
waren Ideale, aber Ideale, die man nicht brauchte für unerreichbar
zu halten. Und so fand überall, wo das Epos noch auf sich
selbst bestand, der Epiker bei seinen Lesern alle Fähigkeit und
Bereitwilligkeit vor, die ihnen dargestellten Anschauungen zu reproducieren.



Die wahrgenommenen Gesetze sind zu verschiedenen Zeiten und
bei verschiedenen Völkern von Dichtern beobachtet worden, die sich
gleichwohl all dieser Gesetze nicht bewusst waren: es machte sich
von selber so ohne Absicht, ohne willkürliches Zuthun der Dichter.
Diess giebt uns das volle Recht, sie als organische Gesetze zu betrachten,
als solche, die wesentlich und unabänderlich zur Natur des Epos
gehören, als Gesetze, nicht als blosse Regeln; giebt uns also auch
das Recht, die Epopöien der neueren Zeit mit ihnen zu messen:
denn diese liegen ausserhalb solcher historischen Entwicklung, auf
deren Grunde sich Gesetze bilden können; und was noch mehr ist,
all die einzelnen neueren Epiker haben jene älteren bewusster Massen |#f0100 : 87|

als Norm und Vorbild vor Augen gehabt. So bleibt in Bezug auf sie
eigentlich nur die Frage, ob sie jene Gesetze richtig verstanden und
richtig angewendet und die Muster richtig nachgebildet haben.


Die alten Epiker, die sich überall an die Sage anlehnen, mischen
bei der engen Verkettung von Sage und Mythus überall auch die
Mythologie in ihre Dichtungen ein: bei Homer, wie nach ihm bei
Virgil nehmen die Götter ihren Antheil an der Handlung, und auch
in den Epen des Mittelalters fehlt es nicht an der Einwirkung solcher
märchenhaften Wesen, des Ueberrests der altgallischen und der altgermanischen
Mythologie. So finden wir z. B. im Nibelungenlied
Zwerge, Riesen und Nixen. Nach diesem Beispiel haben es denn
auch die neuern Epiker für ihre Pflicht gehalten, den Raum über und
unter dem Boden, auf welchem ihre Darstellung sich bewegt, mit
übermenschlichen und göttlichen Wesen zu bevölkern: entweder sind
es solche, die sie aus dem alten Heidenthum und Aberglauben herübernahmen,
wie die Epiker des siebzehnten Jahrhunderts griechische
Götter und Göttinnen, und neuere, wie Wieland, Feen und Elfen; oder
solche, die sie selber erst erfanden, wie Milton im verlorenen Paradies
und nach ihm Klopstock im Messias Engel und Teufel, die ohne alle
biblische und kirchliche Autorität nach Rang und Stand geordnet und
jeder eigens benannt sind, oder wie Voltaire in der Henriade und
Andre personificierte Tugenden und Laster. Sie meinten, dergleichen
gehöre zum Epos, sie meinten es darin ihren Vorbildern gleich zu
thun: aber wie ungehörig war das vielmehr Alles, und wie sehr musste
es ihren Schöpfungen schaden! Wenn die Dichter des Mittelalters von
Feen, Griechen und Römer von Göttern erzählten, so fanden sie den
Glauben daran bei ihren Lesern vor; so waren das Gestalten, die für
diese von vorn herein lebendige Wirklichkeit besassen, und die deshalb
eben so leicht in die Reproduction übergiengen als die Menschen,
auf deren Geschick jene göttlichen Wesen hilfreich oder feindselig einwirkten.
Ganz anders aber steht es bei uns: wir glauben nicht mehr
an Feen und Elfen; an Jupiter und Juno haben wir niemals geglaubt;
die Personificationen der Henriade sind weder für uns, noch für sonst
wen irgend einmal eine Wirklichkeit gewesen; an einer uns aufgedrungenen
Hierarchie von Engeln und einer Monarchie von Teufeln
nehmen wir billigerweise Anstoss. Und dennoch sollen wir dem
Dichter reproducierend entgegen kommen; wir sollen Anschauungen,
die für uns keine Wirklichkeit besitzen und auch keine besitzen können
und dürfen, wir sollen Fictionen, an die er selber kaum oder gar
nie geglaubt hat, dennoch in uns eine Wirklichkeit geben. So haben
jene Dichter in der besten Absicht von vorn herein Ziel und Zweck |#f0101 : 88|

aller Kunst, die Reproduction, selbst vernichtet, haben in ihre Dichtungen
nur ein halbes Leben und selbst den Keim des Todes gelegt.
Die einzige Mythologie, deren Gebrauch jetzt noch dem Epiker verstattet
ist, weil er bei ihr allein noch auf Reproduction rechnen darf,
ist die christliche Mythologie, wie die Legende sie gewährt. Zwar
findet auch diese nicht bei allen Confessionen den gleichen Glauben:
aber doch liegt dem Protestanten ein Mythus der Katholiken nicht so
fern, als dem Christen ein Mythus der Heiden liegt; hat für ihn die
Legende auch keine Wirklichkeit, so hat sie doch, da ja die Katholiken
nicht minder Christen sind, die Möglichkeit derselben; und so
wird er sich gern zur Reproduction verstehn. Es ist in Herders Cid
schwerlich für irgend Jemand störend, dass, wie im spanischen Original,
so nun auch in dieser deutschen Nachbildung, die Apostel Petrus
und Jacobus auf wunderbare Weise in die Handlung eingreifen: ein
etwas älterer Dichter würde vielleicht die Genien des Ruhms und der
Tapferkeit, ein noch älterer diese und jene griechische oder römische
Gottheit an ihre Stelle gesetzt und damit alle Poesie über den Haufen
geworfen haben.


Es ist aber nicht bloss der Gebrauch der Mythologie, worin unser
Epos so beschränkt ist. Was noch mehr bedeutet, auch das Gebiet
der Sage ist ihm benommen. Denn wir haben keinen Sagenkreis
mehr, über den hin sich das Epos breit und ruhig lagern könnte: wir
haben nur noch vereinzelte Sagen, die vielleicht eine Ballade, niemals
aber ein Epos füllen. Was ist da nun zu thun? Ein Zurückwandern
aus allen Bedingungen der Gegenwart auf den in Zeit und Raum und
Nationalität entlegenen Boden, der die Epopöien des Alterthums und
des Mittelalters trägt, ist freilich schon öfters versucht worden, z. B.
von Rückert in Nal und Damajanti, in Rostem und Suhrab, von Simrock
in Wieland dem Schmied, hat aber auch jedesmal in die Irre
geführt: denn je epischer, also je objectiver nun der Dichter seinen
Stoff anschaut und darstellt, desto fremdartiger wird er für uns; desto
mehr fühlen wir, wie aller Zusammenhang zwischen jener Zeit und
der unsrigen, zwischen jenem Volk und dem unsrigen abgeschnitten
sei; desto mehr gewahren wir, wie wir den Weg in jene Welt nur
noch an der Hand der Gelehrsamkeit, nicht aber an der Hand der
Poesie mehr finden können; desto weniger sind wir im Stande, die
Productionen des Dichters zu reproducieren. Da wir also selbst keinen
Sagenkreis mehr besitzen, die alten und fremden Sagen aber für
uns unwirklich sind, so bleibt uns nur noch die Geschichte und die
Erfindung, d. h. unsre Epopöie ist aus dem alten Erblande exiliert
und in Länder verwiesen, welche die alte Epopöie niemals betreten |#f0102 : 89|

hat. Das wäre kein Schade, wenn der Tausch nur ein minder ungünstiger
wäre. Aber abgesehen von dem einzigen historischen Stoffe,
der schon an sich selbst und ohne Zuthun des Dichters mit der höchsten
göttlichen Idee auch die grösste Fülle der Poesie in sich trägt,
dem Stoffe von Klopstocks Messias, liegt einmal alle Geschichte ausserhalb
des Bereichs der Dichtung: sie ist Sache der Prosa und wird
erst dann für die Poesie tauglich, wenn der Kern der göttlichen Idee
in ihr erkannt und sie zur Sage ist umgestaltet worden. Zugegeben
nun, aber nicht zugestanden, dass auch ein einzelner Dichter unserer
Zeit diess vermöge, dass es in der Kraft und in der Macht eines
Individuums unsrer Tage liege, die Geschichte sagenhaft-idealisch
umzubilden: so giebt es auch dann wieder einen doppelten Anstoss
und Widerstand. Gehört die Geschichte in entlegnere Zeit und Nationalität,
so wiederholt sich, was vorher gegen die Erneuung alter Sagen
ist eingewendet worden: die Anschauungen werden uns fremd sein,
und es wird der Gelehrsamkeit bedürfen, um die Reproduction vorzubereiten:
um eine so vorbereitete Reproduction ist es aber übel
bestellt. Oder die Geschichte liegt uns nah, und wir sind wohl
befreundet und fühlen uns verwandt mit solchen Characteren und Sitten
und Ereignissen. Dann aber wird mehr als Einer, wie wir einmal
für die Sage nicht mehr eingerichtet sind, sich an dieser unhistorischen
Auffassung stossen und sich wieder deshalb nicht zur Reproduction
verstehen wollen. Indessen ist dieser Uebelstand allerdings
der kleinere, und ein Dichter braucht kaum darauf zu achten. Von
diesem Felde her dürfen wir noch am ersten wieder Epopöien erwarten.
Fände sich nur erst ein Dichter, wie Napoleon ein Held war,
so hätte er an diesem auch ein Object so grossartig, wie das der
Ilias und das der Nibelungen.


Ausser den historischen Stoffen sind dann unsern Epikern noch
erfundene vergönnt. Es mangelt an dergleichen Epopöien nicht: aber
diese sind am öftesten verfehlt: es ist auch kein Verfahren so bedenklich
als dieses. Denn es erfordert die grösste poetische Kraft, um
dem Leser ein Interesse abzugewinnen für Ereignisse, die ihm und
Jedem neu, für Personen, die ihm bis dahin unbekannt gewesen sind:
eine Kraft, welche berufen wäre, sich auf die höchsten Ideen zu
richten. Aber es haben sich bisher auch meist nur mittelmässige
Dichter auf solche Epen eingelassen: so Ernst Schulze in der Caecilie
und in der bezauberten Rose. Göthens Hermann und Dorothea kann
hier nicht wohl eingewendet werden. Einmal schon das im Vordergrunde
sich bewegende Hauptereigniss dieses Epos ist keine Erfindung
des Dichters, die Motive dazu sind aus einem ältern Buche entnommen, |#f0103 : 90|

das die Geschichte der im Jahre 1732 vom Erzbischof in Salzburg
vertriebenen Protestanten erzählt: indess davon müssen wir absehen;
denn diess ältere Buch kennt so gut wie Niemand, so dass für uns
das alles die Bedeutung des neu Erfundenen besitzt. Aber es kommt
hier auch noch der Hintergrund in Betracht, der jene Darstellung
hält und trägt und ihr die Localfarbe giebt, die historischen Ereignisse,
aus denen jene poetischen sich als einzelne Gruppe herauslösen.
Und diesen historischen Hintergrund, welcher der ganzen Dichtung
so wesentlich ist, hat der Dichter nicht erfunden, sondern der lebendigen
Wirklichkeit seiner Zeit, der französischen Revolution, nachgestaltet.



Jetzt bleibt uns noch von den komischen Epopöien zu sprechen.
Schon oben (S. 80) ist erwähnt worden, wie die alte Poesie sich die
Einmischung des Komischen in umfassende Epen wo nicht versage,
doch aus guten Gründen nur höchst selten gestatte und dabei jedesmal
mit behutsamer Schonung verfahre; wie aber eine eigentliche
Durchführung desselben bloss in solchen Dichtungen vorkomme, die
bei ihrem geringeren Umfange die Reproductionslust des Lesers nur
für kurze Zeit in Anspruch nehmen, also nicht in Epopöien, sondern
bloss in Erzählungen. Anders ists in der neuern Epik, aber darum
nicht besser. Nicht bloss, dass es Dichter giebt, welche ihrem Stoff
die ernste Behandlung, die ihm eigentlich gebührte, immer und immer
wieder entziehen, wie Pulci im Morgante und Wieland im Oberon,
wo der Leser einmal übers andremal denselben Helden belachen soll,
für den doch sonst die ernsteste und innigste Theilnahme angesprochen
wird: nicht bloss also, dass es epische Dichter giebt, welche sich
die unstatthafteste Einmischung des Lächerlichen dennoch gestatten,
giebt es sogar noch solche, die überhaupt nur auf das Lächerliche
ausgehen, deren Helden nicht bloss vorübergehend thöricht erscheinen,
wie Wielands Hüon, sondern von Anfang bis zu Ende die ganze
Epopöie hindurch nichts anrichten als Thorheiten und Narrheiten.
Deutschland besitzt dergleichen Gedichte seit Friedrich Wilhelm Zachariä,
der 1742 ein komisches Epos, der Renommist betitelt, dichtete
(LB. 2, 649). Das grosse Verdienst jedoch, diese neue Richtung überhaupt
aufgebracht zu haben, muss man andern Nationen lassen, zuerst
wohl den Italiänern: unter diesen ist besonders Francesco Berni hervorzuheben,
der im sechzehnten Jahrhundert Bojardos Orlando innamorato
travestierte. Den nächsten Anstoss erhielt Deutschland durch
den Lockenraub (1711) des Engländers Alexander Pope. Gewöhnlich
steht die komische Epik zu der ernsthaften näher oder entfernter noch
in dem Verhältniss der Parodie: sie sucht deren Art und Weise in |#f0104 : 91|

Anschauung und Darstellung lächerlich zu machen, indem sie dieselbe
als Mittel zu den nichtsnutzigsten Zwecken gebraucht: um eines Zopfbandes
willen wird der ganze Olymp aufgeboten, und in eben derselben
pomphaften Breite, womit Homer die Kämpfe Hectors erzählt,
wird nun eine Studentenschlägerei berichtet. Manche gehn in der
Parodie noch weiter und schliessen sich damit enge an ein einzelnes
älteres Epos an, aus all dessen grossen Ereignissen sie nun nichts
als lächerliche Lumpereien machen: so Aloys Blumauer in seiner
Travestie der Aeneide. Ein komisches Epos der deutschen Litteratur,
dem diese parodische Beziehung durchaus fehlt, und das insofern den
Vorzug vor Allen verdienen möchte, weil es nun eine Dissonanz weniger
hat, ist die 1784 erschienene Jobsiade von Karl Arnold Kortüm.
Aber es hat doch nur eine Dissonanz weniger: denn eine andre
unaufgelöste bleibt, und diese theilen alle komischen Epopöien mit
einander, dass man nämlich Tausende von Versen, dass man eine
ganze Reihe von Gesängen hindurch zu Reproductionen genöthigt wird
oder soll genöthigt werden, bei denen Verstand und Gefühl mit der
angeschauten Wirklichkeit sich in Widerspruch befinden. Der letzte
Erfolg einer solchen Dichtung ist der, aus der Seele des Lesers eine
dumpfe Leere gemacht zu haben: denn in dem langen Conflicte reibt
sich endlich eine Kraft an der andern auf. Zum Glück gelingt es
aber unsern komischen Epikern nur selten, uns so zur Reproduction
hinzureissen.


Von der Epopöie haben wir die Erzählung unterschieden. Da
bei dem einfacheren Inhalt und dem kleinern Umfange einer solchen
die reproducierende Thätigkeit des Lesers nicht für so lange Zeit und
auf so mannigfaltige Weise beschäftigt wird, als bei der reicheren,
weiter hin sich ausdehnenden Fülle von Ereignissen, die der Epopöie
eigen ist, so steht hier auch dem Dichter Manches frei, was ihm in
einer Epopöie entweder gar nicht oder nur in sehr beschränkter
Weise gestattet wäre. Hier genügt allenfalls auch ein geringerer
Grad von Objectivität: denn der Leser kann die Anschauung doch
bewältigen; er lässt sich willig zu Spott und Laune verleiten: denn
die Dissonanz dauert nicht gar zu lange; er nimmt mit Anschauungen
vorlieb, die der Dichter aus der nächsten Wirklichkeit oder gar aus
seiner Phantasie geschöpft hat, denen es daher an ausgereifter Kraft
der Idee gebricht: um so schneller kann er daran vorübergehn. Alles
das ist dem Dichter einer Erzählung erlaubt: aber es gehört nicht
grade zum Wesen derselben: sie kann eben so wohl ernst und tief
idealisch sein, wie namentlich da, wo sie ihre Anschauungen aus der
christlichen Mythologie entlehnt, wo sie Legende ist, oder sich Legende |#f0105 : 92|

und Sage mit einander mischen, wie z. B. im armen Heinrich Hartmanns
von Aue. Bei jener Freiheit erklärt es sich, warum die grosse
Fülle solcher Gedichte, die wir seit Hans Sachs und Friedrich von
Hagedorn besitzen, sich getrost neben die des Mittelalters stellen darf,
während das neuere Epos gegenüber dem älteren so vielen einschränkenden
Bedingungen unterliegt, dass es ihnen eigentlich schon unterlegen ist.


Bisher haben wir die Weiterbildung des alten epischen Gesanges
auf dem epischen Gebiete verharren sehn. Nun werden wir gewahren,
wie derselbe theilweise auf das Gebiet der Lyrik hinübergeleitet
und damit die Ausbildung der letztern als einer eignen Gattung angebahnt
und vermittelt wird. Diese vermittelnde Anbahnung der Lyrik
ist die Epik des Gefühles und Gemüthes.


Bei den Griechen ward der Grund zu einer solchen Mittelstufe
schon in sehr früher Zeit gelegt. Schon vor Homer bestand neben
den epischen Liedern, die täglich und überall konnten gesungen
werden, eine Art epischer Gelegenheitspoesie: es gab Dichtungen,
die nur auf bestimmten Anlass hin zuerst verfasst, und nur, wenn
dieser Anlass etwa wiederkehrte, durch wiederholte Anwendung
erneuert wurden. Es waren diess die Hymnen und die Threnen
(θρῆνοι), religiöse Preisgesänge und Klagelieder: jene zu Ehren
einem Gott, diese einem Verstorbenen; jene an religiösen Festen,
diese bei Begräbnissen, oder wo sonst eine Gelegenheit sich darbot,
eines Gottes mit preisendem Jubel, eines abgeschiedenen Menschen
mit Lob und Trauer zu gedenken. So die klagenden Gesänge, welche
Andromache, Hecabe und Helena an der Leiche Hectors anstimmen:
Il. 24, 716 fgg. Die Beziehung auf die einzelne Feierlichkeit, auf das
vorliegende Ereigniss brachte es ganz natürlich mit sich, dass neben
den Wundern des Gottes, neben den Thaten des Menschen, die man
erzählte, man auch den Gefühlen, welche die Feierlichkeit anregte,
Worte gab; dass man dort die religiöse Empfindung, hier die Betrübniss
aussprach; dass man also dem objectiv angeschauten Stoff eine
reflectierende Richtung auf das Subject verlieh, dass man die Thatsachen
der äussern Wirklichkeit in Verbindung setzte mit den innern
Zuständen, kurz, dass man dem epischen Gehalt noch ein lyrisches
Element beimischte. Anfänglich zwar war diess letztere sehr gering
und nahm eine durchaus untergeordnete Stelle ein. Das zeigen am
deutlichsten die s. g. Homerischen Hymnen, die anerkannter Massen
jünger sind als die letzte Abfassung der Ilias und der Odyssee, und
in denen gleichwohl das Lyrische sich immer noch einschränkt auf
einige das Lob der Gottheit allgemein aussprechende Zeilen zu Anfange
und ein kurzes Gebet zum Schluss, während alles Uebrige rein episch |#f0106 : 93|

erzählend ist. Sie haben auch noch die gewohnte epische Form, den
Hexameter, sowie die epische Sprache der Ilias und der Odyssee,
und diess reichte früher hin, um Homer als den Verfasser zu bezeichnen.
Späterhin jedoch, je mehr sich die Poesie ihrem epischen Grunde
entfremdete, je mehr sie Sache des Individuums ward, desto mehr
breitete sich auch der lyrische Zusatz aus; und zwei Arten solcher
Gelegenheitsdichtung, der Päan und der Dithyrambus, die ursprünglich
nur von den beiden Göttern preisend erzählt hatten, deren Namen
sie tragen, von Apollo und Bacchus, entäusserten sich endlich dieser
mythisch-epischen Beziehung gänzlich und traten als Gesänge des
Jubels und der Begeisterung überhaupt vollkommen in den Bereich
der Lyrik über.


Den Threnen der Griechen entsprechen in der römischen Litteratur
die Nenien (Neniae, Naeniae), nur sind es nicht gerade Klagelieder
wie die θρῆνοι, sondern vielmehr Lieder zum Lobe der Hingeschiedenen;
sie wurden bei Leichenbegängnissen und Gastmälern zur Flöte gesungen.
Vgl. Niebuhr, Röm. Geschichte (1853) S. 146. Auch in der
Litteratur der Hebräer finden wir schon in sehr frühen Zeiten solche
lyrisch-epische Dichtungen, wie die Hymnen oder die Threnen oder die
Nenien. Es sind Lobgesänge Gottes, Klage- und Preislieder auf Verstorbene
u. dgl. Der Hauptsache, dem Grund und Kern nach sind
sie episch, die Lyrik tritt nur hinzu als Ausdruck des durch die
Facta angeregten momentanen Seelenzustandes. So die Lobgesänge
Moses, der erste nach Durchziehung des rothen Meeres (Exod. 15),
der zweite am Ende des vierzigjährigen Wüstenzuges (Deuteron. 32);
so ferner das Lied der Richterin Debora nach dem Siege über Sisera
(Judic. 5). So auch noch mehr als einer der Davidischen Psalmen,
z. B. Ps. 18 = 2 Sam. 22, „ein Lied, das David redete vor dem
Herrn, als ihn der Herr errettet hatte von der Hand aller seiner
Feinde und von der Hand Sauls“; sodann 1 Chron. 17 ein Lied, das
David bei der Einholung der Bundeslade singen lässt und einen Rückblick
auf Israels frühere Geschichte enthält. So endlich auch viele
nachdavidische Psalmen aus der Zeit des Exils und nach dem Exil.
Diesen Lobgesängen steht als θρῆνος gegenüber das Klagelied Davids
auf Saul und Jonathan: 2 Sam. 1 (vgl. 1 Kön. 13, 30). Der Vortrag
solcher lyrisch-epischen Dichtungen geschah auch bei den Israeliten
ganz nach der constanten, schon geschilderten Weise der altepischen
Zeit: der Gesang war mit Instrumentalmusik und Tanz verbunden.
So werden die Siegesloblieder auf Saul und David von tanzenden und
musicierenden Weibern gesungen: 1 Sam. 18, 6. 7, und bei jener Einholung
der Bundeslade nach Jerusalem tanzte David selbst mitten |#f0107 : 94|

unter dem Volke vor dem Heiligthum her: 2 Sam. 6, 14 = 1 Chron.
16, 29. Auch Judith 15. 16 kann hier als Beleg angeführt werden.


Wir stellen neben die Poesie des Alterthums die der modernen
Völker. Da sehen wir noch deutlicher als dort, wie eng und unmittelbar
sich die lyrische Epik an den alten epischen Gesang anschliesse,
und wie damit ein nur halber Schritt vorwärts gethan sei nach der
eigentlichen Lyrik hin. Es giebt noch jetzo Völker, die immer noch
nicht über diesen halben Schritt hinaus gekommen sind, die immer
noch keine eigentliche Lyrik besitzen, sondern nur epische und
lyrisch-epische Lieder: epische, welche sich bloss auf äussere
Thatsachen richten; lyrisch-epische, welche die äusseren Thatsachen
mehr nur als Motiv und Fundament für die Darlegung innerer Zustände
gebrauchen, in welchen der epische Stoff wohl sogar erst
erfunden wird, um einen Anknüpfungspunkt für die lyrische Empfindung
zu gewähren. Solche Völker sind namentlich die Littauer und
die Serben. Und zwar haben die Serben schon mehr dergleichen
lyrisch-epische Dichtungen als die Littauer, weil sie in der Civilisation
schon etwas weiter vorgeschritten sind, während die Littauer
durch ihren geringeren Grad von Bildung mehr auf der alten bloss
epischen Stufe zurückgehalten werden. Aber des epischen Grundes
können auch die Serben noch immer nicht entbehren: z. B. rein lyrische
Liebeslieder findet man da nirgend, sondern es wird etwa von
zwei Liebenden erzählt; die Erzählung mag sich auf eine einzige
epische Situation einschränken ohne weiter ausgedehnten Verlauf: aber
wenigstens eine epische Situation muss vorhanden sein, und daran
erst entfaltet sich die Anschauung und Darlegung innerer Zustände;
jedoch nicht in lyrischer, sondern selbst diese immer noch in einer
gewissen epischen Haltung, z. B. in Gesprächsform. So sehen die
lyrisch-epischen Lieder der Serben oft nur aus wie Trümmer und
Bruchstücke grösserer, mehr ausgeführter epischer Gesänge, nur dass
in ihnen die innern Zustände auf eine Weise berücksichtigt und hervorgehoben
sind, von der das reine Epos nichts weiss1.


Bei uns Deutschen ist die lyrisch-epische Dichtung durch zweimalige
Wiederholung ähnlicher Umstände auch in zwei verschiedenen
Epochen aus dem Epos hervorgegangen. Zuerst im zwölften Jahrhundert,
als der altepische Gesang entschwand, und die Epopöie an
seine Stelle rückte: da begann sich neben dieser Epik der Einbildung

1
Beispiele bieten die Dainos oder littauischen Volkslieder, gesammelt,
übersetzt und herausgegeben von L. J. Rhesa (Neue Auflage. Berlin 1843) S. 48.
145 und die Volkslieder der Serben, metrisch übersetzt von Talvj 1, 38. 67;
2, 14. 68.
|#f0108 : 95|

in dem früher besprochenen Stufengange auch die Lyrik zu
entwickeln; aber eben nur noch zu entwickeln: sie stand nicht gleich
fertig da, sie ward erst eingeleitet; und die einleitende, vermittelnde
Zwischengattung war eben die lyrische Epik. Wir finden, eh uns
gegen Ende des zwölften Jahrhunderts die vollständige Lyrik entgegentritt,
vorher um die Mitte desselben Lieder ganz in der Art und
Weise der soeben besprochenen serbischen: äussere epische Situationen,
eine oder mehrere eng zusammenhangende Thatsachen, und
daran geknüpft, darauf sich beziehend innere Zustände, wie sie weiterhin
das ausschliessliche Gebiet der Lyrik sind; jetzt aber nur noch
innere Zustände der Person, welche Object der Erzählung ist, nicht des
Dichters. So z. B. ein Lied Dietmars von Aist (LB. 14, 221. 15, 399):
Zum Eingang eine kurze epische Erzählung: „Eʒ stuont ein frowe
alleine und warte uber heide und warte ir liebes: sô gesach si valken
fliegen“. Darauf mit einer schnellen und leichten Wendung die lyrische
Exposition dieses epischen Motivs: ein Selbstgespräch eben dieser
Frau legt ihre inneren Zustände dar, aber mit Beziehung auf jene
äussere Thatsache und auf Veranlassung derselben, indem sie zunächst
sich mit dem Falken vergleicht: „Sô wol dir, valke, daʒ du bist!
du fliugest, swar dir lieb ist; du erkiusest dir in dem walde einen
boum, der dir gevalle. Alsô hân ouch ich getân: ich erkôs mir selben
einen man; den erwelten mîniu ougen. daʒ nîdent schône frouwen“.
u. s. f. Dergleichen episch gestaltete, lyrisch gefärbte Dichtungen
waren es, aus denen bald darauf die eigentliche Lyrik hervorgieng.
Und damit war dann für einige Zeit die lyrische Epik wieder beseitigt.
Als aber mit dem eigenthümlichen Leben und Glauben des Mittelalters
auch die epische Epik, die aus ihnen ihre Nahrung gezogen
hatte, dahin starb, im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert, da
erstand mit diesem neuen Untergange der epischen Poesie auch von
neuem die lyrische Epik, und es gab wiederum Verknüpfungen epischer
Motive und lyrischer Ausführung, wie dort im zwölften Jahrhundert.
Nur gestaltete sich die Sache jetzt doch anders als damals:
denn sie war auch das Ergebniss ganz andrer Verhältnisse. Die
lyrisch-epische Poesie des zwölften Jahrhunderts war nur ein vorübergehendes
Mittelglied zwischen der alten Epik und der neuen
Lyrik gewesen: sie schaute als solches mit zwei Antlitzen zugleich
vorwärts und rückwärts; sie hatte noch ihr Theil von der alten Epik
und schon ihr Theil von der neuen Lyrik. Die lyrische Epik aber
von 1400 bildete keine dergleichen Uebergangsstufe, bereitete und
verkündigte nichts neues: sie war nur ein Nachlass und Ueberrest,
vor ihr zwei Jahrhunderte schon voll Epopöien und lyrischer Dichtungen. |#f0109 : 96|

In der neueren lyrischen Epik liegen die beiden Elemente
nur selten so sauber gespalten neben einander da, vielmehr verschwindet
gewöhnlich das Lyrische vor dem Epischen oder das Epische vor
dem Lyrischen beinahe ganz. Diese letzte Umgestaltung des epischen
Nationalgesanges besteht noch bis auf den heutigen Tag, aber auch
sie schon längst wieder sterbend und absterbend: es sind die deutschen
Volkslieder. Denn der Gegensatz zwischen gelehrter und volksmässiger
Poesie, der schon im zwölften Jahrhundert begonnen hatte,
vollendete sich zu immer grösserer Schärfe, je mehr die geschmacklose
Gelehrsamkeit und Gelehrtthuerei der Gebildeten und Halbgebildeten
zunahm; und je unheimlicher es der Poesie unter den Doctoren
und Handwerksmeistern ward, desto froher war sie, noch eine Zuflucht
zu finden bei den fahrenden Schüleru und Gesellen, den Hirten, den
Jägern, den Landsknechten. Hier aber empfieng sie die Gestalt,
welche die gegebenen Verhältnisse nothwendig mit sich brachten: diese
Leute befanden sich mitten in der allgemein vorgerückten Civilisation
immer noch in einem Zustande, der näher an den früheren einfachen
Naturzustand, aus welchem das altepische Lied erwachsen war, als
an die neue Bildung grenzte; gleichwohl waren sie, wenn auch nur
fernab, von Civilisation umgeben; ganz unberührt von der Epik und
der Lyrik der Gelehrteren konnten sie nicht geblieben sein: und so
ergab sich denn jene schon vorher bezeichnete neue Mischung beider
Arten. In mehreren Stücken aber treffen diese Lieder unsers gemeinen
Manns genau überein mit den Nationalliedern der grauen Vorzeit.
Einmal, dass auch ihr Inhalt stäts ein ganz einfacher ist, Ein Ereigniss,
Eine Hauptbegebenheit, nicht deren viele zu einer fortlaufenden
Reihe aneinander gekettet, wie in der Epopöie. Sodann dass sie
gleich jenen auch keine Verfasser haben, dass sie vollkommenes Gemeingut
und darum eine gemeinsame Schöpfung des ganzen niederen
Volkes sind. Zuerst freilich sind sie immer von Einem ausgegangen:
aber schon dieser Eine dichtete nicht als Einer, sondern als Glied
eines grösseren Ganzen; und dieses grössere Ganze arbeitete sofort
dem ersten Schöpfungswurfe nach. Wir können manche noch lebende
Volkslieder durch eine Reihe von Textes-Recensionen mehr denn drei
Jahrhunderte weit zurückverfolgen, und da zeigt sich denn, wie im
Verlauf der lebendigen Ueberlieferung und Fortpflanzung durch den
Gesang (denn auch diese gilt hier wie beim ältesten Epos, und der
Druck ist nur ein untergeordnetes Hilfsmittel), wie im Verlauf der
mündlichen Ueberlieferung auch der Text leise und allmählich nach
Zeit und Ort sich umgestaltet hat; wie dasselbe Lied, weil eben das
ganze Volk überall und immerfort daran dichtet, ein andres ist im |#f0110 : 97|

sechzehnten, ein andres im neunzehnten Jahrhundert, ein andres in
der Schweiz, ein andres in Schlesien, und doch allemal im Grunde
dasselbe.1


Eben solche lyrisch-epische Volkspoesie gegenüber der Epik und
Lyrik der Gelehrten und Gebildeten finden wir auch bei allen übrigen
civilisierten Völkern. Es wird zweckdienlich sein in dieser Beziehung
hier die Schweden und Dänen, dort die Engländer und Schotten, dort
endlich die Spanier vorübergehend ins Auge zu fassen.


Bei den Schweden und Dänen zeigt sich in dem grossen Vorrath
von schönen und bedeutsamen Volksliedern, welche sie besitzen, das
lyrische Element meistens auf eigenthümliche Weise von dem epischen
abgesondert. Die grössere Masse des Liedes ist da durchaus episch;
von Strophe zu Strophe schreitet in dem rechten Verlauf der einzelnen
Thatsachen die Handlung vorwärts, oft noch mit derselben energischen
Hast, wie sie dem ältesten Epos eigen war, und gewöhnlich so, dass
sie von Reden und Zwiegesprächen der Handelnden characteristisch
begleitet wird, was gleichfalls schon als besondre Eigenthümlichkeit
der altepischen Poesie grade des Nordens ist bezeichnet worden (S. 63).
Das Lyrische aber liegt mehr ausserhalb des Gedichtes, indem es in den
Refrain verwiesen, also eingeschränkt ist auf eine oder zwei Zeilen,
die hinter allen Strophen, sei das Lied auch noch so lang, regelmässig
und gleichmässig wiederkehren. Erst hier wird, meistens in
abgebrochenen, halb räthselhaften Worten, die Beziehung ausgedrückt,
in welcher die erzählten Thatsachen zu dem Gemüthe des Erzählenden
stehn; hier erst erhält man zu dem Object der äusserlichen Wirklichkeit
auch den inneren Zustand des dichtenden und singenden Subjectes.
So z. B., wenn durch schwedische Lieder, die eine leidvolle
Liebesgeschichte erzählen, sich als Refrain die Worte hindurchziehn:
„Mich dünkt, es ist schwer zu leben“ oder: „Doch ich weiss, der
Kummer ist schwer“ oder: „Doch Keiner kann den Kummer vertreiben“2.



Die Volkslieder der Engländer und der Schotten im Niederlande
pflegen das Lyrische nicht so bloss äusserlich neben das Epische hinzustellen,
sondern es enger und inniger mit demselben zu verschmelzen,
jedoch so, dass bei weitem der stärkere Accent auf dem Epischen
ruht. Die Erzählung geht in raschen und grossen Schritten
bis zum Abschluss vorwärts; immer nur Ein Ereigniss mit seinen
Motiven und in seinem thatsächlichen Verlauf. Das Lyrische aber

1
Ein bemerkenswerthes Beispiel giebt die Vorrede zu LB. 2, S. 8. 9.
2
Vgl. Altschwedische Balladen, Märchen und Schwänke sammt einigen dänischen
Volksliedern. Uebersetzt von Gottl. Mohnike (1836) 74. 93. 151.
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zeigt sich, wo es eingreift, wiederum nicht sowohl darin, dass der
Dichter seine innern Zustände darlegt und die erzählten Thatsachen
in Beziehung bringt auf seine Subjectivität, als vielmehr in kurzer
Andeutung der innern Zustände jener Personen selbst, welche Object
der Anschauung sind, in fliegender Bezeichnung der Gemüthsbewegungen,
die mit den äusseren Thatsachen als Motiv oder Erfolg in
unmittelbarer Verbindung stehn. Damit grenzt das schottische Volkslied
aufs nächste an die Weise des altepischen Gesanges, nur dass
in dem letztern solche innere Motive als Rede und Gespräch erscheinen,
sich also gewissermassen auch zu äusseren Thatsachen objectivieren,
während dort die innern Motive auch nur als solche aufzutreten
pflegen. Vollendet aber und zugleich zum Gipfel und bis zur
Grenze geführt ist die lyrische Auffassung, wenn eine episch objectivierte
Person aus ihrem innern Zustande heraus selber die Thatsachen
als vergangene und geschehene erzählt, welche zu dieser ihrer Gemüthsstimmung
die causale Grundlage bilden. Das schönste Beispiel
dieser Art ist das durch Herders Verdeutschung bekannt gewordene
Lied von Edward dem Vatermörder (LB. 2, 935): die Rede schreitet,
dialogisch belebt, vorwärts als Ausdruck eines innern Zustandes, und
die That liegt dahinter zugleich als Motiv dieses Zustandes und als
Gegenstand dieser Rede. Ganz ähnlich ein deutsches Lied bei Uhland
„Alte hoch- und niederdeutsche Volkslieder“ S. 272. Die englische
Benennung solcher lyrisch-epischen Gedichte ist ballad, eigentlich wie
das provenzalische balada und das italiänische ballata s. v. a. Tanzlied;
was dann auf die alte Vereinigung von Poesie, Musik und Tanz
zurückweist.


Wir stellen den Balladen der Engländer und Schotten die Romanzen
der Spanier gegenüber. Romance (eigentlich die romanische Volkssprache,
und was darin abgefasst ist), so nennen die Spanier jedwedes
erzählende Gedicht von einfachem Inhalt und geringerem Umfange;
und nach diesem Vorgange bezeichnet auch Frankreich seine Lieder mit
demselben Namen. Wir haben aber zwei Arten von Romanzen zu unterscheiden.
Entweder sind es rein epische Lieder, ganz in der ältesten
Weise, etwa auch mit einem die Thatsachen begleitenden oder sie
vertretenden Dialog. Oder lyrisch-epische. Diese bald so, wie die
Gedichte der Serben und die der Deutschen des zwölften Jahrhunderts:
zuerst eine abgerissene epische Situation, darauf innere Zustände
lyrisch entfaltet; aber Zustände nicht des dichtenden Subjectes,
sondern des Objectes der Dichtung; so dass also auch hier die Individualität
des Dichters noch nicht bis zur Schilderung eigener Gemüthsregungen
um sich greift, sondern sich derselbe ─ und das liegt der |#f0112 : 99|

altepischen Weise näher ─ noch in die Seele der angeschauten Individualität
versetzt. Bald auch so, wie jenes schottische Lied: die ganze
Anschauung objectiviert in Form eines Gespräches oder Selbstgespräches,
das sich erzählend vor die causalen Thatsachen hinstellt1. Man sieht,
dass zwischen Romanzen und Balladen kaum ein weiterer Unterschied
besteht als der des Namens; ausserdem noch ein Unterschied der
metrischen Form. Bekanntlich pflegen Romanzen in trochäischen Tetrametern
abgefasst zu sein, die fortlaufend alle zusammen assonieren; die
Balladen in Strophen, meistens vierzeiligen.


Seit mehreren Menschenaltern giebt es nun auch deutsche Romanzen
und Balladen: Romanzen, seitdem zuerst Gleim französische,
Balladen, seitdem Bürger englisch-schottische Dichtungen dieses
Namens theils durch Uebersetzung, theils durch freie Nachbildung auch
nach Deutschland verpflanzt hat; bald darauf ward durch die romantischen
Dichter, die sich unmittelbar an die Spanier wendeten, der
Name der Romanze noch einheimischer gemacht, und zugleich auch
die ursprüngliche Form derselben, die assonierenden trochäischen
Tetrameter, eingeführt. Dichter und Theoretiker befinden sich bei
dieser Doppelbenennung in fortwährender Verlegenheit. Göthe selbst
nennt seine lyrisch-epischen Dichtungen nur Balladen; manche jedoch,
die diesen Namen oder den der Romanze gleichfalls tragen könnte,
steht unter den Liedern. Auch Schiller bedient sich eben jenes Ausdruckes;
bei zwei Gedichten zieht er, ohne dass ein Grund der
Abweichung nur zu ahnen wäre, den Titel Romanze vor, beim Kampf
mit den Drachen und bei der Bürgschaft (LB. 2, 1178. 1186). Genau
besehen, passt freilich keiner von beiden Namen, da all diese Dichtungen
so weitläuftig sind und so ausführlich bis in die geringste thatsächliche
Einzelheit hinein, dass sie der Epopöie näher liegen als
der Ballade oder Romanze; und doch wieder so einfach im eigentlichen
Inhalt und so lyrisch in der Anschauungsweise, dass sie auch
den Epopöien nicht wohl könnten beigezählt werden. Sie bilden eben
eine neue Misch- und Mittelgattung, wie sich dergleichen immer in
Zeiten finden wird, wo die Poesie in keinem recht organischen Zusammenhange
mehr mit dem Volksleben steht. Uhland endlich, dessen
lyrisch-epische Dichtungen das ganze Wechselspiel aller hier nur
möglichen Farben durchlaufen, glaubt am sichersten zu gehn, wenn
er ihnen allen den gemeinschaftlichen Doppeltitel giebt „Balladen und
Romanzen“; vielleicht aber hat er bei dem letzteren Namen nur die

1
Vgl. Grimm, Silva de romances 242. 261. 312. Geibel und Schack, Romanzero
der Spanier und Portugiesen 106. 154. 156.
|#f0113 : 100|

Gedichte gemeint, die mit den Romanzen der Spanier die Form der
Trochäen und der Assonanz theilen. Die Theoretiker aber, wie sie
denn gewöhnlich ihr systematisches Fachwerk in die Luft hinein
bauen, haben sich auch hier um den historischen Ursprung beider
Benennungen gar nicht gekümmert, sondern denselben die willkürlichsten
Unterschiede angedichtet, z. B. die Ballade sei tragisch, die
Romanze lasse auch das Heitere zu; oder die Ballade sei mehr epischer
Art, die Romanze mehr lyrischer, oder die Ballade sei plastisch,
die Romanze pittoresk. Das ist nun alles nicht wahr. Wir haben
gesehen, dass beide Ausdrücke im Grunde das Gleiche bezeichnen,
nur der eine als ein englisches, der andre als ein spanisches Wort;
dass die Ballade sowohl als die Romanze ein lyrisch-episches Gedicht
ist, ein Gedicht, das eine einfache Handlung erzählt, gleich den altepischen
Liedern, das aber nicht wie diese bloss den äusserlichen
thatsächlichen Verlauf objectiviert, sondern zugleich auch die innern
Zustände, welche in der Seele der Handelnden mit den äusseren
Thatsachen verbunden sind. Nur solche lyrisch-epische Gedichte,
die in assonierenden Tetrametern abgefasst sind, wird man nicht füglich
Balladen nennen dürfen, da jene Form durchaus nur spanisch,
dieser Name durchaus unspanisch ist und eine andre Form, die des
Reims und der Strophe, voraussetzt.


Die didactische Epik, bei welcher von den drei Seelenkräften
grade diejenige sich in den Vordergrund drängt, der eigentlich an
der poetischen Conception immer nur ein untergeordneter, ein mehr
negativer als positiver Antheil gebührt, die Epik des Verstandes, hat
sich, allgemein betrachtet, innerhalb der deutschen Litteratur nicht
selbständig und in organischer Consequenz entwickelt (und darauf
können wir uns etwas zugute thun), sondern wir haben sie fast in
all ihren Arten erst aus dem Alterthum und aus der Fremde zu uns
herüber geholt. Zwar ist den Deutschen von jeher eine besondre
Lust und Anlage eigen gewesen, zur Poesie didactische Augen mitzubringen;
und diese Lust zeigt sich auch in der Bereitwilligkeit,
womit sie sich der didactischen Epik andrer Zeiten und andrer Völker
nachahmend hingegeben haben: aber wo sie recht aus sich selbst
und von freien Stücken auf die Einmischung des Lehrhaften verfielen,
das war doch eigentlich nur in der Lyrik. Zur didactischen Epik
gelangten sie erst nach und nach, theilweise erst in ganz späten Zeiten,
in späteren als zur didactischen Lyrik. Von Otfrieds Evangelienharmonie
ist hier wohl gänzlich abzusehen: die metrische Form giebt
diesem Werke noch keinen Anspruch auf den Namen eines Gedichtes:
sonst wäre dasselbe, da Otfried nach Origenes Vorgange, nicht aus |#f0114 : 101|

sich selbst, die evangelische Geschichte mit moralischen und mystischen
Auslegungen der einzelnen Ereignisse durchflicht, ein sehr altes und das
älteste Beispiel einer deutschen lehrhaften Epopöie; aber dann um so
weniger die älteste hochdeutsche Messiade, wie sie der Anempfehlung
wegen ein Herausgeber ebenso prunkhaft als unpasslich betitelt hat.


Zwei Hauptarten lehrhaft erzählender Poesie sind zu unterscheiden:
solche für deren Anschauungen die Formen aus der gegebenen
Wirklichkeit entlehnt sind, und solche, deren Wirklichkeit nur eine
gesetzte und angenommene ist: jene lehrt an der Wirklichkeit, diese
durch dieselbe. Beide haben jedoch das mit einander gemein, dass
die erstere immer ihren Lehren eine Beziehung auf das Gefühl giebt,
die andre gewöhnlich und meistentheils. Und das allein hält diese
Gattung noch innerhalb der Poesie fest: denn wenn die Lehre, die an
sich nur Sache des Verstandes ist, gar nicht über dessen Grenzen
hinausgienge, wenn sie auch bei dem Reproducierenden ausschliesslich
den Verstand anspräche, so könnte sie das immerhin in den schönsten
Versen thun, es wäre doch nur Prosa. Der innere Zusammenhang
aber beider Arten von Gedichten mit der übrigen epischen Poesie
drückt sich schon in der metrischen Form aus, indem mit seltenen
Ausnahmen das didactische Epos überall bei dem sonst gewohnten
epischen Masse verharrt: so im griechischen Alterthum beim Hexameter,
im deutschen und im französischen Mittelalter bei den paarweis
reimenden kurzen Versen und beim Alexandriner.


Jene zwiefache Trennung, je nachdem die Wirklichkeit eine
gegebene oder eine gesetzte ist, und die Ausschliessung der rein verständigen
Lehre, das ist freilich selbst bei den Griechen nicht gleich
von Anfang an so gewesen, sondern hat sich erst nach und nach so
machen müssen. In dem ältesten Denkmal aller griechischen Lehrdichtung,
in des Hesiodus Werken und Tagen, finden wir noch alle
Arten nicht bloss von didactischer Epik, sondern überhaupt von didactischer
Poesie, erlaubte und unerlaubte, poetische und eigentlich prosaische,
ungesondert beisammen. Da lesen wir Vorschriften, wie sie
nur der Verstand dem Verstande ertheilen konnte, über Ackerbau und
über Handel zur See; dann wieder, indem die Lehre, jedoch ohne
eine epische Anschauung zu gebrauchen, sich an das sittliche Gefühl
wendet, Ermahnungen zu einem gerechten, unbescholtenen Wandel;
dann als Grundlage und Mittel der Lehre epische Anschauungen,
gegebene und gesetzte, überlieferte Sagen und erfundene Parabeln;
dann endlich wieder ein Stück bloss beschreibender Poesie, eine
Schilderung des Winters. Und das Alles bunt verwirrt durcheinander
in einer Planlosigkeit, die recht dieses Werk als den ersten Versuch |#f0115 : 102|

und Anlauf bezeichnet. Es war damit nur noch ein roher Stoff zum
Ordnen und Gestalten vorgelegt: erst später, erst nach und nach
sonderten sich die verschiedenen Arten, und was ganz unpoetische
Elemente waren, wurde meist beseitigt.


Jetzt zunächst von derjenigen lehrhaften Epik, welche lehrt an
der gegebenen Wirklichkeit. Das Gefühl, auf dessen Leitung es hier,
wie überhaupt immer, in der Didactik ankommt, ist nach zwei Seiten
hin gerichtet, nach einer niederen und einer höhern, einer irdischen
und einer himmlischen, einer sinnlichen und einer sittlichen. Und so
kann sich auch die lehrhafte Epik bald an diese, bald an jene wenden.
Das sinnliche Gefühl wird angeregt und in Anspruch genommen,
wenn die Lehre sich zur Beschreibung gestaltet: im Idyll. Auf das
sittliche Gefühl wirkt die Lehre am liebsten so, dass sich der Verstand
in Widerspruch setzt mit der Wirklichkeit, welche die Einbildung
anschaut, also durch Vorhalten des Lächerlichen: durch die Satire.


Das Idyll, gewöhnlich die Idylle (εἰδύλλιον): so heisst überhaupt
jedes kleinere, durch Zierlichkeit ansprechende Gedicht; insbesondre
nun ein solches, das zwar auf epischen, aus der gegebenen Wirklichkeit
entnommenen Anschauungen beruht, so jedoch, dass diese epischen
Anschauungen nur als Anlass und Grundlage zur Beschreibung, also
zu einer Art von Belehrung benützt werden. Also Erzählung und
zugleich Beschreibung: das ist ein Widerstreit von Scylla und Charybdis,
durch welchen es nur noch wenigen Dichtern gelungen ist heil
hindurchzuschiffen. Die Erzählung will vorwärts von Thatsache zu
Thatsache: sie eilt durch die Zeit; die Beschreibung will bei jeder
Aeusserlichkeit still halten und verweilen: sie hängt am Raume. Da
ist denn der Fehler nur zu gewöhnlich, dass die Beschreibung den
Fluss der Erzählung gradezu hemmt, indem sie sich unbeweglich an
einen Fleck fest heftet. Damit ist jedoch die epische Anschauung
nicht bloss als solche, sondern als poetische Anschauung überhaupt
aufgehoben und vernichtet: denn in so fern ist alle Poesie episch, als
überall ein causaler Fortschritt verlangt wird. Wie ist nun dieser
Widerstreit zu versöhnen? Man muss von beiden Seiten her dazu
thun, von Seiten der Erzählung und von Seiten der Beschreibung.
Für den erzählenden Theil, die epische Grundlage, wird grösste Einfachheit,
wird leichte Ueberschaulichkeit verlangt; es darf weder eine
grosse Reihe künstlich verflochtener Ereignisse, noch dürfen diese
Ereignisse an sich selbst gross und gewaltig sein: sonst wird bei der
Reproduction die Seele des Lesers zu sehr auf die Thatsachen hingelenkt;
er wird zu begierig gemacht auf den weiteren historischen
Verlauf, als dass er einen weilenden Blick werfen möchte auf die |#f0116 : 103|

Bäume und Blumen, die schmückend am Ufer des Flusses stehn.
Und darin liegt der eine Hauptgrund, weshalb das Idyll seine epischen
Anschauungen erstlich aus der Gegenwart nimmt, in der sich
ja von vorn herein jeder mit der meisten Vertraulichkeit zu Hause
fühlt, in der ihm Alles bekannt und verständlich ist; und zweitens
aus dem niederen Leben, aus der gemächlichen Alltäglichkeit zu Stadt
und Land, aus einer Welt, in der eben nichts Grosses geschehen
kann, deren Geschichte langsam und ohne Geräusch dahin fliesst.
Auf der andern Seite muss die Beschreibung, damit sie auch diesen
langsamen Fluss nicht dennoch hemme, gleichfalls sich zu historischer
Beweglichkeit verstehn, und, wenn es auch nur ein Anschein ist,
gleichfalls einen Anschein von epischem Fortschritte gewinnen; was
ihr natürlich um so leichter wird, da der Fortschritt des epischen
Theiles, welchem sie sich bequemt, selbst kein sonderlich vorwärts
eilender ist. Es will aber die Beschreibung, indem sie auf solche
Weise die Zeit durch den Raum begleitet und die historische Wirklichkeit
mit der handgreiflichen verschmelzt, sie will da nicht bloss
für den Verstand thätig sein, sondern sie hat es auf Anregung des
Gefühles abgesehen. Sie wird diesem also durch ihre verweilende
Ausführlichkeit Wohlgefallen zu erregen suchen, sie wird ihm die
Anschauungen anmuthig erscheinen lassen. Auch deshalb bewegt sich
das Idyll am liebsten in jenen tiefer liegenden Regionen, wo noch
am ehesten ein unverfälschtes, natürlicheres Leben herrscht, wie es
geeignet ist, das Gefühl durch Anmuth zu befriedigen. Aber je näher
man dem Gefühle eben diese Wirklichkeit rückt, und je genauer
schildernd man sie vor ihm ausbreitet, desto eher wird es grade
unbefriedigt sein; desto leichter wird es eines Widerspruches inne werden
zwischen sich und der Wirklichkeit, in den es sich entweder
schmerzlich vertieft, oder über den es leichtsinnig weg hüpft: es
liegen mithin Wehmuth und Laune auch im Bereich des Idylls.


Dass einzelne idyllische Stellen in die eigentlich epische Dichtung
eingemischt werden, das kommt schon frühzeitig vor und kann auch
nicht wohl ausbleiben, sobald erst die Epopöie ihrer selbst mehr
Meister geworden ist, und das dichtende Individuum angefangen hat,
sich in der epischen Breite behaglich zu fühlen. In jenem Homerischen
Hymnus auf Hermes, da es dem göttlichen Knaben wohl wird
in der heimlichen Grotte seiner Mutter, singt er nicht bloss von ihrer
Liebe mit Zeus, sondern auch von ihrem Hausrathe, von ihren Kesseln
und Dreifüssen. Schon in der Odyssee ist nicht Weniges der
Art: die Iliade weiss davon noch nichts, obgleich es auch in ihr an
Anlass zu dergleichen keinesweges gefehlt hätte. Aehnlich verhalten |#f0117 : 104|

sich bei uns die Nibelungen zu Gudrun, die auch sonst in mannigfachen
Beziehungen neben einander stehn wie Ilias und Odyssee:
der strengere Heldenschritt der Nibelungen mag sich bei solchen
Aeusserlichkeiten nicht aufhalten, während in der Gudrun immer und
immer wieder idyllische Züge, oft von der rührendsten Art, wiederkehren.
Und so blieb das Idyll noch lange nur im rein epischen
Epos enthalten als gelegentlicher Schmuck. Grade wie aber in der
Malerei die Nebenfiguren und das zierliche Beiwerk, womit die Maler
schon frühzeitig ihre historischen Hauptfiguren umgaben, sich zuletzt
von diesen losgerissen haben, um als Genrebild und als Stilleben
selber eine Tafel zu füllen, so wurde auch die idyllische Poesie eine
selbständige Dichtart. Als solche nun hält sie von ihrem epischen
Ursprunge nur noch so viel fest, als nothdürftig erforderlich ist, um
die Beschreibung zu tragen; die Beschreibung aber dehnt sich, seit
sie einmal die Hauptsache geworden, nun erst recht aus, zu einer
Ausführlichkeit, wie sie innerhalb des eigentlichen Epos niemals wäre
gestattet gewesen. Das Idyll gehört mit zu den jüngsten Absplitterungen
der Poesie: bei den Griechen fällt seine Entwickelung erst in
die alexandrinische Zeit. Der innere Zusammenhang aber mit dem
Epos giebt sich schon durch die äussere Form kund, indem das Idyll
sich desselben Versmasses bedient wie das Epos, des Hexameters.
Um der Natürlichkeit willen dichteten Theocrit, Bion und Moschus
ihre Idyllen in dem dorischen Dialecte Siciliens, auch zeigt sich bei
ihnen, wie in den altepischen Liedern, eine Vorliebe für den Dialog;
auch Virgil macht davon in seinen Nachahmungen griechischer Idyllen
gerne Gebrauch. In der deutschen Litteratur hat es, um zu dem
Idyll zu gelangen, vieler wiederholter und immer verfehlter Versuche
bedurft; es vergieng einige Zeit, eh man nur darauf verfiel, die
Idyllen in Versen abzufassen. Zuerst finden wir die metrische Form
bei J. H. Voss, der sich in seinen Idyllen am liebsten der niederdeutschen
Mundart bediente (LB. 2, 895); ihm folgten in Oberdeutschland
J. M. Usteri mit Idyllen in Züricher Mundart (LB. 2, 1239) und
J. Pet. Hebel mit solchen in dem alemannischen Dialecte des Wiesenthales.
Frühere Dichter, wie Martin Opitz und Salomon Gessner, begnügten
sich mit der prosaischen Form, sei es, dass sie von der halbprosaischen
Natur dieser Gattung unbewusst dazu genöthigt wurden,
sei es, dass sie damit grössere Natürlichkeit und ein treueres Abbild
des einfachen, ungekünstelten Lebens zu erlangen meinten (LB. 3, 1, 641;
3, 2, 165). Letzteres mag für den Maler Müller, den bedeutendsten
Idylliker, den wir besitzen, der entscheidende Grund gewesen sein
(LB. 3, 2, 771).

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Die Satire ist eine durchaus den Römern eigenthümliche Gattung
didactischer Epik1: hier allein haben sie von den Griechen nur Einzelheiten
lernen können, da den Griechen wohl eine satirische Lyrik, eine
satirische Komödiendichtung, aber keine Satire als Form der Epik
bekannt war. Und wie die Satire den Römern eigenthümlich ist, so
gehört sie auch zu den ältesten Formen der römischen Poesie, deren
Erwähnung geschieht. Beweis hiefür ist jene wichtige Stelle bei
Livius 7, 2, 7, wo zum Jahre 361 v. Chr. einheimischer Schauspieler
gedacht wird, die unter Flötenspiel und Gesang mit entsprechenden
Gebärden allerlei Schwänke, Saturas, aufführten (vernaculis artificibus
nomen histrionibus inditum, qui impletas modis saturas descripto iam
ad tibicinem cantu modoque congruenti peragebant). Der unzweifelhaft
nationale Ursprung der Satire giebt uns auch die rechte Erklärung
des Namens an die Hand. Das Wort ist nämlich nicht satyra
zu schreiben: denn mit den halbgöttlichen und halbthierischen Satyrn
hat die Satire ebensowenig zu schaffen als mit den Satyrspielen, neben
Tragödie und Komödie einer Gattung des griechischen Dramas; die
allein richtige Form ist satira oder alterthümlicher satura, woher wohl
auch der versus saturnius seinen Namen hat. Satura aber stammt
von dem Adjectiv satur und bedeutet zunächst, mit Ergänzung etwa
von lanx, eine Schale, die voll und breit mit allerlei Früchten angefüllt
ist; dann, mit Ergänzung von esca oder dgl. eine Art Wurst,
aus allerlei Stoffen bereitet (satura et cibi genus dicitur ex variis
rebus conditum: Paul. Diac. 315); dann mit bildlicher Uebertragung
auf geistige Dinge, unter Ergänzung von lex, ein Gesetz, welches
eine Menge eigentlich für sich bestehender gesetzlicher Bestimmungen
in sich vereinigt (lex multis aliis conferta legibus: Paul. Diac. l. l.).
So bezeichnet satura nun auch, indem fabula oder dgl. ergänzt wird,
ein Gedicht von bunt gemischtem Inhalt, einen Inbegriff gleichsam mehrerer
kleinerer Gedichte, auch von wechselnder metrischer Form, eine
Mischung vielleicht auch von Poesie und Prosa (genus carminis, ubi
de multis rebus disputatur: Paul. Diac. l. l.). Demgemäss definiert
denn auch der Grammatiker Diomedes (Grammatici latini ed. Keil
1, 485) die Satire in seiner ars grammatica also: Olim carmen, quod
ex variis poematibus constabat, satira vocabatur, und auf diese Vermischung
verschiedener Elemente bezieht sich wohl auch bei Livius
der erwähnte, eigenthümliche Ausdruck impletas modis saturas2. Leider

1
Satira quidem tota nostra est, sagt Quintilian 10, 1, 93.
2
Vgl. übrigens auch das französische Wort farce bei Diez, Etym. Wörterb.
d. roman. Sprachen 13, 173.
|#f0119 : 106|

jedoch kennen wir mit Vollständigkeit von der römischen Satire nur
die Gestalt ihrer höchsten Ausbildung: den langen Weg bis dahin
können wir leider nur höchst unvollständig verfolgen; wir können
nicht mehr sehen, wie sie aus dem Volksgesange heraus nach und
nach endlich dahin gediehen ist: bis auf das sogenannte goldene Zeitalter
giebt es nur vereinzelte Bruchstücke von C. Lucilius und M.
Terentius Varro, und auch diese fallen schon in die gräcisierende
Periode. Wir müssen also die Satire nehmen, wie sie uns vorliegt
bei Horaz, Persius, Juvenalis.


Persius und Juvenal unterscheiden sich von Horaz darin, dass
sie dem sittlichen Gefühle gern Vorstellungen entgegenhalten, von
denen es sich beleidigt abwenden, die es verwerfen muss, während
die Wirklichkeit, aus welcher Horaz seine Anschauungen entlehnt, für
den Verstand, vielleicht auch für das Gefühl nur unbehaglich ist, nur
dagegen anstreitet: Persius und Juvenalis richten ihre Satire strafend
gegen das Laster, Horaz spottend und launig gegen die Thorheit.
Jenes Verfahren der beiden späteren Satiriker ist bis zur Verwerflichkeit
bedenklich: sie wollen das sittliche Gefühl belehren und
stossen es doch schonungslos zurück; dagegen werden durch Horazens
Laune und durch seinen Spott das Gefühl und der Verstand vielmehr
nur gereizt, durch die lächerlichen Verkehrtheiten hindurch nach dem
Rechten hinzuschauen. Zu diesem Unterschiede kommt ein andrer,
der für unsre Betrachtung von noch grösserem Belang ist. Horazens
Satiren sind wesentlich episch: sie haben alle entweder von Anfang
bis zu Ende einen epischen Verlauf lächerlicher Thatsachen, und dieser
epische Verlauf trägt und umschliesst das, worauf es eigentlich
abgesehen ist, die spottende Lehre, grade wie im Idyll der epische
Verlauf die Beschreibung trägt; oder sie enthalten wenigstens als
saturae eingestreute epische Situationen, an deren jede die Lehre sich
anschliesst und so lange darauf fortbaut, bis sie, um neue Seiten zu
zeigen, nach einem neuen epischen Motive greift, das mit dem vorigen
nicht äusserlich, sondern etwa nur durch die gemeinsame Grundidee
des ganzen Gedichtes zusammenhängt. Natürlich ist diese epische
Grundlage auch da, wo sie einen einzigen Verlauf bildet, dennoch
immer höchst einfach, von geringem, leicht überschaulichem Umfange;
und alles, was geschieht, gehört der gleichzeitigen Gegenwart an
und ist an sich unbedeutend, grade wie im Idyll: denn grossartige
Charactere und gewaltige Ereignisse und eine entfernte Vorzeit liegen
nicht im Bereich des Spottes, und einen langen Weg von Thatsachen
unter beständigem Lachen zu durchlaufen, wäre zuletzt nur ermüdend.
Wie aber die Horazische Satire schon in der Versform sich an die |#f0120 : 107|

griechische Epopöie anschliesst, so hat sie mit derselben noch etwas
Andres gemein: den Gebrauch der Episoden. Das Epos liebt es, den
graden Gang der Erzählung zu unterbrechen und seitwärts ausweichend
ein episches Object zu berühren, das zwar nicht nothwendig
an diese Stelle grade dieses Epos, aber doch in den weiteren Sagenkreis
desselben gehört: ebenso nun auch die Horazische Satire. Sie
hält bei einem Punkte plötzlich inne und umkreist diesen so lange
mit Erzählung und Lehre, dass man darüber alles Frühere beinahe
aus dem Sinne verliert, plötzlich aber biegt sie mit einer leichten
Wendung wieder ein und führt den alten Weg zu Ende: allerdings
hat man da zuletzt eine satura im alten Sinne des Wortes, eine Satire
in der andern gelesen; aber wirklich auch in der andern: sie
liegt innerhalb des weiteren Gedankenkreises derselben: und indem
der Dichter auf diesem enger abgegrenzten Raume vorzüglich lange
verweilt, kann der Leser daraus ungefähr selber abnehmen, zu welchen
Betrachtungen die übrigen Theile des ganzen Kreises führen
würden, die entweder nur flüchtig oder gar nicht berührt sind. Gleich
die erste Satire ist ein Beispiel der Art. Der Dichter spricht zuerst
von der Unzufriedenheit, womit Jeder sein eigenes, und dem Neide,
womit er das Loos Andrer zu betrachten pflege; diess führt ihn auf
den Geiz: hier ergeht er sich in der grössten Ausführlichkeit; endlich
kehrt er von diesem Besonderen wieder zu dem Allgemeinen zurück:
„Illuc unde abii redeo“, um alsbald das ganze Gedicht zu schliessen.
Wie sehr gewinnt hier die ganze Anschauung des Dichters an
Anschaulichkeit für den reproducierenden Leser, um wie vieles näher
wird die ganze Lehre dem sittlichen Gefühle des letztern gerückt,
indem der Dichter, was an bewegtem Fortschritte dem Ganzen gebricht,
auf jenen einen Hauptpunkt concentriert, von dem aus nun die Stralen
erleuchtend nach allen Seiten laufen.


Indem wir versucht haben, uns ein Bild von den Eigenthümlichkeiten
der Horazischen Satire zu entwerfen, sind zugleich, da sich
Alles darin als löblich und zweckmässig erwiesen hat, wohl auch die
gesetzlichen Anforderungen ausgesprochen worden, welche die Satire
überall zu erfüllen hat, wenn sie soll eine gelungene heissen können.
Persius und Juvenal erfüllen sie zum grössten Theile nicht. Freilich
Horazens zuletzt besprochenen Kunstgriff hat ihm Juvenal wohl abgesehen
und nachgeahmt, aber dabei auch gleich gefehlt. Seine vierzehnte
Satire handelt von der verkehrten und verderbten Kinderzucht
überhaupt oder geht wenigstens davon aus; indem er nun auch auf
die Erziehung der Kinder in dem Hause eines habgierigen Geizhalses
zu sprechen kommt, bildet diess einen unvermerkten Uebergang zu |#f0121 : 108|

ausführlicher satirischer Schilderung der Habsucht und des Geizes.
Bis so weit wäre Alles ganz Horazisch: aber was nun noch bei Horaz
kommen würde, das fehlt: die einlenkende Rückkehr zu dem allgemeinen
Thema, die allein dem Gedichte eine abgeschlossene Einheit
geben konnte: Juvenal bricht ab, so wie er den Geiz zu Ende geschildert
hat. Und diese Satire ist unter allen noch diejenige, welche am
meisten durch geschickt angebrachte epische Situationen belebt wird.
Anderswo fehlt auch diess: denn das ist ein zweiter wesentlicher
Unterschied, der zwischen Persius, Juvenal und Horaz besteht, dass,
während Horaz aus der Wirklichkeit der Gegenwart heraus erzählt
und an derselben lachend und spottend lehrt, jene beiden die gegenwärtige
Wirklichkeit nur beschreiben, um an dem so Beschriebenen
strafend zu lehren. Während also bei Horaz die Satire noch didactische
Epik ist, wird sie bei ihnen volle Didactik. Und damit tritt
dann die Juvenalische Satire, die schon, indem sie sich gegen das
Laster wendete, nur noch an den Grenzen der Poesie stand, ganz
und gar über diese Grenzen hinaus in das Reich der Prosa.


Als abgeschlossene Dichtungsart findet sich die Satire seit dem
17. Jahrhundert auch bei den Deutschen. Johann Lauremberg dichtete
seine vier Scherzgedichte (1650) in niederdeutscher Sprache, und
von Joachim Rachel besitzen wir acht Teutsche satirische Gedichte
(1664), welche ganz im Geiste Juvenals verfasst sind; insbesondere
ist das Gedicht von der Kinderzucht (LB. 2, 445) eine Nachbildung
der 14. Satire des römischen Dichters. Als der vorzüglichste deutsche
Satiriker aber ist Gottl. Wilh. Rabener (1714─71) zu betrachten, der
seine satirischen Schriften mit richtigem Gefühle in Prosa verfasste und
sich dabei jeder Anlehnung an die Fremde enthielt (LB. 3, 2, 47).


Beim Idyll und bei der Satire ist die Wirklichkeit, auf welche
sich die beschreibende oder die spottende Lehre gründet, immer eine
gegebene, oder sie erscheint doch als eine solche: wenn auch die
epischen Anschauungen gänzlich aus der erfindenden Kraft des Dichters
sollten hervorgegangen sein, so verlangt er doch für sie den
gleichen Glauben und die gleiche Art der Reproduction, wie sie auch
sonst epischen Anschauungen zu Theil wird; und er selbst hat diese
Wirklichkeit ganz objectiv vor sich liegen, nicht als Mittel, sondern
als Gegenstand der Lehre; sie ist nicht um der Lehre willen da, sondern
sie ist eben da als epische Wirklichkeit, und der Dichter tritt
nur hinzu und lässt in Spott oder Beschreibung seine Didaxis an ihr
aus. Anders bei derjenigen didactischen Epik, von welcher wir nun
zu reden haben, bei der Fabel und beim Sprichwort. Hier ist die
Wirklichkeit nur angenommen, nur gesetzt; die epische Anschauung |#f0122 : 109|

liegt weder vor dem Producierenden, noch vor dem Reproducierenden
objectiv da: denn sie ist auch nicht der Gegenstand, an welchem die
Didaxis ausgeübt wird, sie ist nur ein Mittel zum Zwecke; und der
Zweck, das eigentliche Object der Production, ist die Lehre selbst:
es wird hier durch die Wirklichkeit gelehrt. Mithin ist diese Art der
didactischen Epik noch um vieles didactischer, noch um vieles mehr
subjective Verstandessache, d. h. noch viel unpoetischer und prosaischer
als die erste bereits abgehandelte Art: hier ist die epische Anschauung
ganz der Willkür des dichtenden Subjectes anheimgegeben, und hinter
ihr liegt irgend ein Urtheil oder ein Erfahrungssatz, die wiederum
nur dem Verstande desselben Subjectes angehören.


Um nun zuerst von der Fabel sprechen zu können, als von der
einen Art dieser noch didactischeren Epik, müssen wir uns daran
erinnern, wie bereits früherhin (S. 55) neben der Sage, dem Mythus
und dem Märchen auch die Thiersage ist genannt worden als eine Form
rein epischer Poesie, als ein Versuch, die Formen der Menschengeschichte
ebenso auf die untermenschliche Thierwelt zu übertragen,
wie man sie im Mythus auf das Uebermenschliche, auf die Gottheit
übertrug; und wie sich auch erwiesen, dass in der einen Richtung
wie in der andern der Mensch sei genöthigt gewesen, die geschichtlichen
Formen aus seiner Phantasie zu schöpfen, da die historische
Erinnerung ihm hier nichts an die Hand gab. Dergleichen rein epische
Thiersagen haben Deutsche und Franzosen bis ins Mittelalter hinein
besessen; ja es leben manche noch jetzt unter den deutschen Kindermärchen.
Bei andern Nationen, die noch bis auf den heutigen Tag
nicht weit über ihren einfachen Urzustand hinausgelangt sind, haben
sich auch bis auf den heutigen Tag die alten epischen Thiersagen
noch reiner und zahlreicher im gemeinen Munde erhalten: so bei den
Serben, bei den Esthen.


Sonst jedoch hat von den verschiedenen Formen der epischen
Anschauung diese überall am frühesten vor den Fortschritten der
Civilisation zurückweichen und ihre eigentliche Natur ablegen müssen.
Wie hätte sich denn die verständige Menschheit länger mit dieser
zwecklosen idealistischen Erhebung und Veredlung der Thierwelt
befassen können? So wie die Unbefangenheit zu entschwinden begann,
musste man alsbald auch die Thiersage, die ja lediglich ein Product
der Phantasie ist, als leere Phantasterei betrachten und verachten
lernen. Die Form war aber einmal da; sie gänzlich fallen lassen
mochte man nicht: da behielt man sie denn zwar bei, aber in der
That nur als Form, nur als Gefäss für Dinge, wie man sie grade
hineinlegen mochte: die Thiersage, die bis dahin rein objective Gestaltung |#f0123 : 110|

epischer Anschauungen gewesen war, gerieth nun in die Gewalt
und Willkür des Subjectes: sie ward für dasselbe ein Mittel zum
Zweck; sie diente fortan dem Verstande, um irgend eine Lehre, einen
Erfahrungssatz oder eine sittliche Vorschrift, zu umkleiden; während
man früherhin etwa an den Thiersagen und von ihnen gelernt hatte,
wie man auch an und von den Heldensagen und Göttermythen lernen
konnte, ward nun durch sie gelehrt: kurz, die epische Thiersage
gestaltete sich nun zur didactischen Thierfabel, ward von den verschiedenen
Arten didactischer Epik die am meisten didactische. Ja
sie gestaltete sich um zur Fabel überhaupt: denn mit ihrer Verpflanzung
in das Lehrhafte ward auch zugleich das Gebiet der ihr zustehenden
Wirklichkeit erweitert. So lange sie noch rein episch gemeint
und verstanden wurde, beschränkte sie sich eben auf die Thiere als
diejenigen natürlichen Wesen, welche dem Menschen am nächsten
stehn, durch ihre Fähigkeit den Ort willkürlich zu verändern und
durch die Art von Sprache und von Verstand, die auch sie besitzen, so
dass sich am ehesten auch die Formen der menschlichen Geschichte auf
sie übertragen liessen. Sobald aber die Fabel nur noch um des didactischen
Zweckes willen vorhanden war, gab es keinen Grund mehr,
sich so einzuschränken; nun ward der Phantasie gar Alles gestattet,
da man nun wieder einen Zweck und Nutzen ihrer Schöpfungen einsah:
nun bedachte man sich nicht, sogar Bäume, sogar gänzlich leblose
Wesen handeln und mit einander sprechen zu lassen. Es ward
also der didactischen Fabel die gesammte untermenschliche Natur
eingeräumt.


Aber man gieng noch weiter: die Verwendung epischer Anschauungen
zu didactischen Zwecken griff auch rückwärts in die Menschenwelt
über; war einmal das Thierepos didactisch geworden, so zog man
nun auch die menschliche Geschichte, ja die der Götter in das Gebiet
des Lehrhaften; auch Ereignisse aus ihr wurden bloss angenommen
und gesetzt, um durch sie zu lehren: zu der Fabel kam nun auch
die Parabel. Diese verschiedene Wirklichkeit, das ist der hauptsächliche
Unterschied beider: alle übrigen sind von diesem nur die nothwendigen
weiteren Folgen. Da nämlich die Fabel ihr Gebiet über
die gesammte untermenschliche Natur, bis über die unbelebten Wesen
hin ausgedehnt hat, so kann da den Ereignissen, welche sie um der
Lehre willen setzt, keine sonderliche historische Beweglichkeit verbleiben;
sie wird selten einen eigentlichen Verlauf von Thatsachen
vorführen können: sondern sie beschränkt sich der Regel nach und
ist beschränkt auf ganz vereinzelte Situationen, auf abgerissene epische
Züge ohne Motiv und ohne Erfolg; auf eine Handlung, die etwa ein |#f0124 : 111|

Thier an dem andern verübt, ein Wort, das ein Baum an den andern
richtet: kurz, sie setzt und nimmt überall nur so viel an, und kann
auch ihrem ganzen Wesen nach nur so viel setzen, als nothdürftig
erforderlich ist, um den bezweckten Erfahrungssatz einzukleiden; ja
es kommt ihr, da sie vorzugsweise die Lehre im Auge hat, auf die
epische Anschaulichkeit oft so wenig an, dass sie nicht weiter darauf
achtet, ob jene Handlung und jene Worte zu dem Character des Handelnden
und Redenden stimmen oder nicht, dass es ihr nicht selten
durchaus gleichgültig ist, ob das Thier ein Fuchs sei oder ein Wolf,
der Baum ein Oelbaum oder eine Eiche. Anders in der Parabel. Die
Wirklichkeit, welche die Parabel um der Lehre willen setzt, ist die
Wirklichkeit der menschlichen oder der göttlichen Geschichte. Hier
ist die Möglichkeit vorhanden, die Anschauung characteristischer,
künstlerischer, ausführlicher und mehr episch zu gestalten, und mit
der Möglichkeit zugleich der Reiz und die Nöthigung. Und so ward
es das Wesen der Parabel, sich nicht sowohl auf einzelne Situationen
zu beschränken (obwohl auch das hin und wieder vorkommt) als vielmehr
eine Begebenheit in einem ausgedehnteren thatsächlichen Verlaufe
zu erzählen; jedoch immer nur Eine Begebenheit: denn die
Parabel will auch immer nur Eine Lehre vortragen. Durch diess
grössere Mass epischer Anschaulichkeit stellt sich die Parabel in künstlerischer
Hinsicht über die Fabel: bei jener macht die epische Form,
worein die Lehre gekleidet ist, auch für sich gewisse Ansprüche; bei
dieser ist sie durchaus untergeordnet. Daraus ergiebt sich ein weiterer
Unterschied. Man wird immer ein angemessenes Verhältniss zu behaupten
suchen zwischen der Lehre und der einkleidenden Anschauung:
deshalb nun zieht man für sittliche Lehren von höherer Bedeutung
die Form der Parabel vor, weil sie künstlerischer kann behandelt
werden, während die anspruchslosere und minder künstlerische Form
der Fabel auch auf den niederen Stufen des Lehrhaften stehen bleibt.
Diese niedere Stellung aber der Fabel hat sie nicht selten ganz aus
der Poesie hinaus gezogen: häufig ist es bei ihr gar nicht mehr auf
Belehrung des sittlichen Gefühles abgesehn worden, sondern nur auf
Belehrung des Verstandes, indem man sie gebraucht hat, um Klugheitsregeln
und solche Erfahrungssätze auszusprechen, die lediglich
zum Verstande in Beziehung stehn. Solche Fabeln darf man kein
Bedenken tragen gradezu als unpoetisch zu verwerfen.


Aber es ist an der Zeit, durch einige Bemerkungen über die Geschichte
der Fabel die theoretische Erörterung noch fester zu begründen.


Am frühsten hat sich die Fabel und ihre Seitenart die Parabel
bei den Orientalen entwickelt. Die Juden und die mit ihnen verwandten |#f0125 : 112|

Völker haben von jeher vor allen andern eine Neigung zur
Didaxis besessen, eine Neigung, bei ihren poetischen Conceptionen
bald die Phantasie, bald auch das Gemüth dem lehrenden Verstande
unterzuordnen und gefangen zu geben: denn was man gewöhnlich von
der ungebundenen und glühenden Phantasie der Orientalen sagt, lässt
sich leichter sagen als beweisen: sie phantasieren im Gegentheil selten
ohne verständige Berechnung, und die Schwärmereien ihres Gefühls
unterliegen in der Regel den Spitzfindigkeiten des Witzes. Wie demnach
die Juden an Mythen arm sind, weil ihnen schöpferische Phantasie,
welche dazu hätte führen müssen, nur in geringem Masse verliehen
war, so finden sich bei ihnen die ältesten Fabeln und Parabeln,
eine Fabel z. B. im Buch der Richter 9, 8─15 und eine Parabel
2 Sam. 12, 1─4, ja man darf mit Recht zweifeln, ob bei ihnen der
didactischen Fabel jemals eine rein epische Thiersage vorangegangen
sei: zum mindesten fehlen davon alle historischen Spuren. Bei den
Völkern des höheren Asiens ist dieser Vorgang minder zweifelhaft:
die Fabeldidactik der Inder, wie sie im Pantschatantra und in seiner
jüngern Bearbeitung, im Hitopadesa, sowie in der daraus hervorgegangenen
Sammlung des Bidpai vorliegt, ist erwiesener Massen nur
der jüngere Ausfluss älterer Thierepik. Ebenso bei den Griechen.
Hier haben wir noch ein vollständiges kleines Thierepos in der Batrachomyomachie;
einem Gedichte, das man, bloss weil sein Inhalt episch,
und weil es in Hexametern abgefasst ist, auch dem Homer zugeschrieben
hat, das aber jünger ist als Ilias und Odyssee. Obgleich darin
mannigfache parodische Rückblicke auf die Götter- und Heroenkämpfe
der Iliade nicht zu verkennen sind, so geht man doch wieder zu
weit, wenn man es ganz und gar nur als eine Parodie jenes Heldengedichtes
betrachtet: es ist eben ein Thierepos, und der unbekannte
Verfasser hat sich nur von seiner Laune öfter zu dergleichen Scherzen
verleiten lassen, wie ja dasselbe auch dem letzten Bearbeiter der
Odyssee begegnet ist. Die Verwandlung der epischen Sage zur didactischen
Fabel ward nach einigen minder bedeutenden oder vereinzelten
früheren Versuchen, wie z. B. bei Hesiod Op. et D. 201─211,
durch Aesop vollendet, einen vielgenannten Namen, dessen historische
Fixierung jedoch ähnlich demjenigen Homers manches Schwierige
und Bedenkliche hat. Seine Fabeln, untermischt mit vielen andern
von erweislich sehr jungem Ursprunge, sind uns in Poesie und Prosa
überliefert; ungewiss, welches die ältere Form ihrer Abfassung sei.
Jedesfalls ist die prosaische ihnen nicht unangemessen: die handelnden
Wesen sind oft so uncharacteristisch gewählt, dass kaum mehr eine
Spur von epischer Anschaulichkeit bleibt; und die Lehre ist so oft |#f0126 : 113|

nur an den Verstand, nicht an das sittliche Gefühl des Lesers gerichtet,
dass allerdings die poetische Form blosse, rein äusserliche Form ist,
unbedingt und ungefordert durch den Inhalt. Noch eine Eigenthümlichkeit
haben die äsopischen Fabeln, die für die weitere Entwickelung
dieser Dichtungsart von Bedeutung geworden ist. Wie nämlich die
epische Einkleidung oft, ja gewöhnlich uncharacteristisch und aufs
Ungefähr hin erfunden ist, steht sie gewöhnlich auch in keinem rechten
causalen Zusammenhange mit der gemeinten Lehre, und es könnte
dieselbe Anschauung eben so gut irgend eine andre Lehre meinen, und
dieselbe Lehre eben so gut anders umkleidet sein. Daher ist nun jeder
Fabel ihre Nutzanwendung, jedem μῦθος sein ἐπιμύθιον beigefügt,
das die Erfahrung oder die Vorschrift enthält, auf welche gezielt war.
Billiger Weise darf man fragen: „Wenn doch die Lehre zuletzt didactisch
unumwunden soll ausgesprochen werden, wozu vorher die episch umwundene
Darstellung?“ Indessen es war einmal so; und so fehlte denn
auch den Fabeln, welche die Lateiner fort und fort dem Aesop
nachdichteten und nacherfanden, niemals dieser moralische Anhang;
er fehlte auch nicht den Fabeln, welche das Mittelalter wieder den
Lateinern ablernte und gewöhnlich in poetischer Form abfasste.


In Deutschland begegnete der äsopischen Fabel ebenso viel
Widerstand als Bereitwilligkeit, sie aufzunehmen. Sie stiess da auf
ein Volk, das seine grösste Lust an episch belebten Anschauungen
hatte, das auch schon seit langen Zeiten eine reiche Fülle von Thiersagen,
ja einen eignen um den Fuchs Reinhart gesammelten Kreis
von solchen besass: gleichwohl war eben diess Volk auch der Didaxis
nicht feind. So ward die äsopische Fabel zwar aufgenommen: aber
sie musste sich zweierlei gefallen lassen. Einmal, dass neben ihr die
alte Thierepik fortbestand, während unter den Griechen und wo
sonst die Lehrfabel sich von selber bildete, sie nur ins Leben trat durch
den Tod der alten Thierepik; dass also noch im zwölften Jahrhundert
durch Heinrich den Gleissner, einen Fahrenden des Elsasses, das mittelhochdeutsche
Epos von Isengrins Noth (LB. 14, 229. 15, 407) verfasst
wurde, ja noch im vierzehnten das niederländische vom Vos Reinaert.
Sodann musste sich auch die äsopische Fabel selbst, so gut es gieng,
nationalisieren: sie musste sich der nun gewohnten Weise aller epischen
Dichtung bequemen, jener breiten, behaglichen Ausführlichkeit,
die jeden characteristischen und thatsächlichen Zug hervorhebt. War
die Fabel, da sie noch griechisch sprach, oft vielleicht zu laconisch
gewesen, so ward sie nun nicht selten über alle Gebühr redselig.
Man trug den epischen Theil derselben vor, wie man die eignen alten
Thiersagen vortrug und vortragen musste; und doch kam dann eben |#f0127 : 114|

noch als zweiter didactischer Theil eine Moral, wie sie jene nicht
beschloss. Häufig waren es auch wirklich einheimische Thiersagen,
die man so in der neugelernten Weise behandelte und verderbte1.
Diess Nationalisieren der äsopischen Fabel und das Aesopisieren der
nationalen Sage gedieh bald so weit, dass man sogar durchaus unfabelmässige
Stoffe, alte Märchen und neue Schwänke so behandelte, als
wären sie didactische Fabeln oder Parabeln, d. h. dass man solchen
sogar ein moralisches Epimythium nachlaufen liess, hätte mans auch
mit Gewalt herbeiziehn müssen. Für all dergleichen didactisch gemeinte
Fabeln und Erzählungen besass unser Mittelalter die gemeinsame
Benennung bîspel2 (von spel s. v. a. Erzählung), d. i. eine ersonnene
Geschichte, bei der noch etwas zu verstehn ist; wir haben daraus mit
Veränderung der Laute und des Sinnes Beispiel gemacht. Mit Ausgang
endlich des Mittelalters hatte auch in diesem Gebiete der Litteratur
das Ausländische, das aus der Fremde und dem Alterthum Entlehnte,
den Sieg davon getragen über das Einheimische, von den
Vätern Ererbte; wenn schon nur einen halben Sieg. Die epische
Thiersage gieng unter: sie konnte sich gegenüber der didactischen
Thierfabel nicht mehr halten; wenigstens aus der Poesie der Gebildeten
verschwand sie: bei dem Volke, bei den Kindern aus dem
Volke erhielt sie sich noch länger in Liedern, in prosaisch erzählten
Märchen3. Aber es blieb die epische Breite der didactischen Fabel,
die thatsächliche Belebtheit der Anschauung, die kaum mehr nach
dem Epimythium fragen lässt. In dieser zugleich nationalen und fremden,
epischen und didactischen Weise ward denn in der zweiten
Hälfte des 14. Jahrhunderts der Reinaert und darnach gegen Ende
des fünfzehnten Jahrhunderts auch das alte Epos vom Fuchs Reinhart
noch einmal auf dem Grunde jenes niederländischen bearbeitet; in
niederdeutscher Sprache unter dem Titel Reinke de Vos, später von
Göthe ins Hochdeutsche übertragen. Der mittelhochdeutsche Reinhard
war nur eine Epopöie gewesen: auch im Reinaert und im Reinke
zeigt sich noch derselbe abgerundete Verlauf von Ereignissen, aber
jetzo wesentlich nur als Träger der Lehre, und zwar einer satirisch
gewendeten, mit Spott und Ironie gefärbten. Dieser Versuch, eine
ganze Epopöie didactisch auszuführen, wiederholte sich zu Ende
des sechzehnten Jahrhunderts in George Rollenhagens Froschmäuseler

1
Vgl. LB. 14, 639. 831 (15, 819. 1011); Thomasin Welsch. G. 9, 6; J. Grimm,
Reinhart Fuchs S. 392 fg.
2
Z. B. LB. 14, 619. 633. 953 fgg. (15, 799. 813. 1133 fgg.).
3
Vgl. LB. 2, 229; Grimm, K. und H. Märch. No. 60.
|#f0128 : 115|

(LB. 2, 191), einem auf der Batrachomyomachie beruhenden Gedichte,
das schön ist in Einzelheiten und ansprechend durch behagliche epische
Breite, aber im Ganzen verfehlt, da sich die beiden Elemente nicht
gehörig durchdringen und überhaupt die Composition wenig in sich
selber abgeschlossen ist1. Sonst aber begnügte man sich von jetzt
an mit einfachen, auf Ein Ereigniss, Eine Situation eingeschränkten
Fabeln, jedoch immer noch ohne die äsopische Kürze und immer in
Versen; bis endlich Lessing auch dagegen versuchte reformatorisch
aufzutreten. Lessing stiess sich an der Geschwätzigkeit, in welche
allerdings die Erzählungslust der deutschen Fabeldichter, wie sie noch
Gellert (LB. 2, 661) und Lichtwer (LB. 2, 703) eigenthümlich ist, nur
zu gern und zu gewöhnlich ausartete; an dem Missverhältniss, welches
meistentheils stattfand zwischen der breiten epischen Grundlage
und der winzigen Lehre, welche hinterdrein folgte. Er unterwarf vom
historischen Standpunkt aus das Wesen der Fabel einer gründlichen
Untersuchung, führte dieselbe aber nicht zu Ende, konnte sie auch
nicht wohl zu Ende führen, weil der historische Standpunct damals
noch nicht gehörig befestigt und von der alten Thiersage, der Mutter
der Thierfabel, so gut als nichts bekannt war. So gelangte er nicht
über die lehrhafte Fabel hinaus, und da erschien ihm denn die äsopische
Art und Weise als das einzig gültige Muster: natürlich bei der
Beschränktheit seines historischen Materials und bei der eigenthümlichen
Richtung seines Geistes, die überall mehr auf Witz und Kürze
und Schärfe gieng als auf episch erwärmtes Leben und phantasiereiche
Mannigfaltigkeit. Nur in Einem Stücke musste eben diese Lust
an witziger Kürze ihm die äsopische Fabel mangelhaft erscheinen
lassen: in Rücksicht des Epimythiums: dessen störende Ueberflüssigkeit
erkannte er wohl. Ein Ergebniss dieser seiner historisch-theoretischen
Untersuchungen war eine Sammlung eigener Fabeln, die er
1759 herausgab: epische, meistentheils aus der Thierwelt entnommene
Situationen als Mittel, irgend einen moralischen Satz zur Anschauung
zu bringen; in möglichster Kürze und in Prosa; ohne Epimythium.
Einen epischen Verlauf zeigt nur die Geschichte des alten Wolfs
(Buch 3, 16─22; LB. 3, 2, 189). Lessings Fabeln bilden in der
Geschichte dieser Dichtungsart eine Epoche: seitdem haben in Deutschland
auch die, welche bei der metrischen Form blieben, wenigstens
die moralische Nutzanwendung in der Regel dem Leser selbst überlassen;
andre sind Lessing auch im Gebrauch der Prosa gefolgt. Erst
Abraham Emanuel Fröhlich (1825) ist es gelungen, was an der Lessingischen
1
Litt. Gesch. S. 417.
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Auffassung und Behandlung der Fabel Einseitiges und
Unpoetisches war, wieder gut zu machen und überhaupt derselben eine
neue glückliche Wendung zu geben: eine Wendung, durch welche sie
freilich in vielen Fällen aus dem Gebiete der Epik in das der Lyrik
hinüber gerückt wird. Fröhlich betrachtet nämlich die Wirklichkeit
weniger vom Standpuncte des Verstandes als von dem des Gemüths;
er geht weniger auf Mittheilung eines Erfahrungssatzes, einer blossen
Vorschrift aus, als darauf, in seinem Leser unmittelbar irgend eine
bestimmte Empfindung anzuregen. Und was dann diesem Zwecke
auch wohl angemessen ist, die Wirklichkeit, welcher er sich anschliesst,
ist gern eine landschaftliche: es sind häufig kleine Landschaftsbilder,
die er dem Leser vor Augen stellt, und diese dann immer mit so
viel idyllischer Objectivität aufgefasst, dass man die Absicht zu lehren
kaum bemerkt, dass es eher scheint, der Dichter wolle an der Wirklichkeit
lehren als durch dieselbe. Natürlich haben diese Fabeln die
poetische Form und keine Epimythien (LB. 2, 1749).


Jetzt haben wir nur noch vom Sprichwort zu reden.


Das characteristische Merkmal, wodurch sich die eigentlichen
Sprichwörter von den blossen Sprüchen oder Sentenzen oder Gnomen
unterscheiden, ist dieses, dass die letzteren irgend eine sittliche Lehre
oder Wahrnehmung ganz abstract und allgemein in möglichster Kürze
aussprechen, gewöhnlich eben bloss als Wort des Verstandes, nur
zuweilen mit einer mehr gemüthlichen Beziehung und Wendung; daher
sie auch zum meisten Theile ganz ausserhalb der Poesie liegen, wo
sie aber poetisch können genannt werden, zur didactischen Lyrik zu
rechnen sind; dass dagegen das Sprichwort nicht beim Abstracten
und Allgemeinen stehn bleibt, sondern der Abstraction eine concrete
Gestaltung giebt, die Allgemeinheit in eine abgegrenzte Anschauung
aus der sinnlichen Wirklichkeit besondert und concentriert. Es ist
also z. B. nur eine Sentenz, so lange es heisst: „Auf Warnungen des
erfahrenen Alters soll man achten“; und erst durch die Versinnlichung
und Besonderung: „Wenn ein alter Hund bellt, soll man hinaussehn“
wird der Moralsatz zum Sprichwort. Mithin ist das Sprichwort eine
sinnlich umwundene Sentenz; daher auch der lateinische Name proverbium,
Fürwort, stellvertretendes Wort, nicht das eigentliche und
gewöhnliche; und der griechische παροιμία, was neben dem Wege
liegt, nicht auf dem graden Wege selbst, das, wozu man erst seitwärts
ablenken muss. Der deutsche Name Sprichwort, von spriche
d. h. Wort, oder mit ganz ungrammatischer Schreibung Sprüchwort,
bezeichnet nur in prägnant tautologischer Weise, dass es gesprochen,
d. h. häufig und gewöhnlich gesprochen werde.

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Es leuchtet ein, in wie nahem Zusammenhange das Sprichwort
mit der Fabel steht, und wie es sich wohl schickt, das eine nach
dem andern abzuhandeln. Die Fabel will irgend eine sittliche Wahrheit
lehren: das Sprichwort gleichfalls; die Fabel will sie lehren durch
irgend eine vereinzelte Anschauung aus der Wirklichkeit: das Sprichwort
gleichfalls. Aber nun kommen auch Unterschiede, die aus der
practischen Bedeutung hervorgehn, welche das Sprichwort hat: es soll
schnell in die Rede gemischt, es soll von Jedem gleich gefasst, von
Jedem leicht und von Allen unverändert können behalten werden, und
Jeder soll an seine Lehre glauben. Die Fabel fügt der epischen
Anschauung gern die gemeinte Lehre noch hinzu, dem Concreten das
Abstracte: das Sprichwort begnügt sich mit dem Concreten und erwartet,
dass man darein den rechten Sinn legen und es recht gebrauchen
werde. Die Fabel hat jedesmal eine gewisse epische Beweglichkeit
und Ausführlichkeit, sei dieselbe auch noch so beschränkt und dürftig;
und wo sie Parabel wird, ist sie sogar ebenso episch als die eigentlich
epische Erzählung: das Sprichwort theilt zwar mit der Parabel
das Gebiet der menschlichen, mit der Fabel das der untermenschlichen
Wirklichkeit, aber es concentriert die Anschauung derselben bis zu
einer Kürze, bei welcher zu epischer Ausführlichkeit kein Raum mehr
bleibt. Und zuletzt, von allen Unterschieden der wichtigste und
wesentlichste: die Fabel erzählt immer: das Sprichwort kann auch
erzählen, aber noch öfter stellt es seine Anschauung nicht als eine
vergangene Thatsache, sondern als eine täglich wiederkehrende Wahrnehmung
dar; es fasst die Wirklichkeit nicht als eine bewegte und
immer andere, sondern als eine ruhende und in ihrer Erscheinung
sich immer wiederholende und gleiche: die Fabel redet stets im Präteritum,
das Sprichwort lieber im Präsens. Diese letzte hauptsächliche
Eigenthümlichkeit des Sprichwortes ergiebt sich zumeist aus der
practischen Bedeutung, die es in Anspruch nimmt: es verlangt überall
und bei Jedermann zu gelten; Jedermann soll ihm glauben; zu allen
Zeiten und unter allen Umständen will es die Wahrheit sagen: daher
diese präsentische Form der wiederholten Wahrnehmung, die nicht
eine auf die Vergangenheit beschränkte erzählende ist, sondern sich
über die Gegenwart hin bis in alle Zukunft erstreckt. So gehört denn
das Sprichwort nur noch zur Hälfte in die Epik; zur Hälfte liegt es
ausser derselben: es gehört zu ihr, insofern es seine Anschauungen
auch aus der äussern Wirklichkeit entnimmt; es sondert sich von ihr
ab, insofern diese Wirklichkeit keine historisch bewegte ist.


Bei all dem ist der enge Zusammenhang, der zwischen der Fabel
und dem Sprichworte besteht, nicht zu verkennen. Zu der innern |#f0131 : 118|

Uebereinstimmung beider kommt auch noch mannigfache äussere Verbindung.
Es ist nämlich gar nicht zu bezweifeln, dass viele Sprichwörter
nur verkürzte Fabeln oder Thiersagen, viele Fabeln nur erweiterte
Sprichwörter seien. Wenn es z. B. bei Jesus Sirach 13, 3 heisst:
„Was soll der irdene Topf mit dem ehernen? wenn sie zusammenstossen,
zerbricht er“: so ist das noch ein Sprichwort. Zur Fabel
ausgeführt begegnet uns dann dasselbe Bild unter den jüngeren griechischen
Vermehrungen des Aesop (Halms Ausgabe 422), bei Avian 11,
bei Bonerius (im Edelstein, Fab. 77) u. a. Umgekehrter Weise verhält
es sich mit einem Sprichworte, das Freidank in seine Bescheidenheit
aufgenommen hat: „Swer den mûl wil frâgen von sînen
hœhsten mâgen, sô nennet er ê den œhein dan vater oder friunde
dehein“ (W. Grimms Ausg. 141). Das ist wieder Verkürzung einer
ältern Fabel, die schon bei Aesop erscheint (Halms Ausg. 157) und bei
Lateinern des Mittelalters vor Freidank und nach ihm noch als Fabel
im Renner Hugos vom Trimberg (LB. 14, 831. 15, 1011). Und ebenso
hat unsre sprichwörtliche Redensart „der Katze die Schelle anbinden“
d. h. sich zum gemeinen Besten einer Gefahr aussetzen (Grimm, Wörterbuch
5, 283) ihren Ursprung und ihre Erklärung nur in einer Fabel
lateinischer und deutscher Dichter des Mittelalters (Boner. Edelst. 70).
Am deutlichsten zeigt sich dieser Zusammenhang bei Bonerius: Bonerius
liebt es, die lehrhafte Wirkung seiner Fabeln noch durch eingemischte
Sprichwörter zu verstärken, und da sagen denn diese Sprichwörter in der
Regel auch das Gleiche, nur kürzer, was die ganze Fabel, nur weitläuftiger,
sagen will. So beginnt die zweiundzwanzigste (LB. 14, 945.
15, 1125) von der Reue des todtkranken Weihen mit dem Sprichworte:
„Dô der siech genas, dô was er, der er ouch ê was“; und weiterhin
(LB. 1 4, 946, 3. 1 5, 1126, 3) kehrt noch einmal der gleiche Satz
in andrer, wenig abweichender Einkleidung wieder: „Ein wolf was
siech: dô er genas, er was ein wolf als er ê was“. Sicher beruhen
auch diese beiden Sprichwörter auf älteren Fabeln: nur so erklärt
sich die hier angewendete seltnere Form des Präteritums.


Wie die Fabel in der äusseren Darstellung schwankt zwischen
gebundner und ungebundner Rede, so denn auch das mit ihr verwandte
Sprichwort. Und es dürfte kaum verwundern, wenn das
Sprichwort überall und ganz und gar die prosaische Form vorzöge,
da es ja wo möglich noch didactischer ist als die Fabel. In der That
liegt auch, wenn etwa ein Sprichwort rhythmisch geordnet und mit
dem Reim oder der Allitteration geschmückt ist, darin noch keinerlei
Anspruch auf poetische Kunst: der Rhythmus der Rede und der Gleichklang
der Laute sollen nur grade diese Gestalt der Abfassung sichern |#f0132 : 119|

und das Aufbewahren im Gedächtnisse erleichtern. Die ältesten
Sprichwörter der Deutschen, welche am Anfang des elften Jahrhunderts
schriftlich aufgezeichnet wurden (LB. 14, 139. 15, 317), sind beinah ohne
Ausnahme alle prosaisch, gleich denen der alten Welt und des Morgenlandes:
die Form des Reimes häufiger auf sie anzuwenden hat
man vielleicht erst von Freidank, also erst am Anfang des dreizehnten
Jahrhunderts gelernt.


2. DIE LYRISCHE POESIE.


Indem wir von der epischen Poesie zur lyrischen übergehn, kommen
wir von einem polaren Gegensatz zum anderen. In den meisten
Stücken liegen beide innerhalb ganz verschiedener Regionen und
schlagen durchaus verschiedene Wege ein. Aber doch ist die eine
aus der andern hervorgegangen, und so wird auch irgendwo ein Punct
sein müssen, in welchem sich beide berühren. Jene Trennung und
diese Vereinigung, beides ist nun zu besprechen. Die Eigenthümlichkeiten
der lyrischen Poesie werden uns klarer vor Augen treten, wenn
wir sie mit den uns bereits bekannten Eigenthümlichkeiten der epischen
Poesie zusammenstellen.


Die Epik entnimmt ihre Anschauungen aus der Wirklichkeit der
Geschichte, also der sinnlichen Aussenwelt: die Anschauungen des
lyrischen Dichters gehören der geistigen Innerlichkeit, seine Wirklichkeit
ist die des Seelenlebens; während uns also der epische Dichter
äussere Thatsachen vorführt, zeigt uns der Lyriker innere Zustände.
In der Epik ist das Object der Anschauung verschieden von dem
anschauenden Subject, und je weniger dieses sich bemerkbar macht,
je reiner und ungetrübter bloss das Object vor Augen tritt, desto
vollkommener wird auch die Dichtung sein: der Character der Epik
ist also die Objectivität. In der Lyrik sind Subject und Object eins,
das Subject hat sich selbst zum Object, sie ist gleichsam reflexive
Poesie: hier ist also die höchste Subjectivität zugleich die höchste
Objectivität, und je subjectiver ein lyrisches Gedicht ist, desto lyrischer
ist es auch: man kann deshalb im Gegensatz zur Epik als das
Wesen der Lyrik die Subjectivität bezeichnen. Der Epiker erlangt
jene Objectivität nur dadurch, dass er sich seiner Anschauungen vorzüglich
durch die Einbildungskraft bemächtigt, dass er die Geschichte
festhält durch die Erinnerung, dass er der Geschichte nachschafft durch
die Phantasie; die epische Poesie ist die Poesie der Einbildungskraft.
Die Subjectivität der Lyrik dagegen beruht in dem erregten Gefühl
des dichterischen Subjectes, in diesem sind die Anschauungen zu Hause, |#f0133 : 120|

welche der Dichter ausspricht, und wenn in der Epik das Gefühl
nur in so weit thätig ist, als es der Einbildung dient, so wirkt in
der Lyrik die Einbildung nur, indem sie dem Gefühle dient: die lyrische
Poesie ist also die Poesie des Gefühls.


Jene Oberherrschaft der Einbildungskraft, jene vollkommene
Objectivität, welche die Epik characterisiert, sind aber nur möglich,
wenn der Dichter entweder gar keine scharf ausgeprägte Individualität
hat oder sich wenigstens ihrer zu entschlagen weiss, so lange er
dichtet; die Epik ist kein Ausfluss und kein Wiederschein des Individuums,
sondern der gesammten Nation, sie ist national. Dagegen
die lyrische Subjectivität ist allein das Resultat der vollendeten Individualität,
die schon die Grenzen zwischen sich und der übrigen Welt
gefunden hat und sich ihrer selbst bewusst geworden ist: sie ist mit
Einem Worte individuell. Das Epos, weil es so national ist, wird
darum auch das volle Verständniss und die volle Reproduction immer
nur bei demjenigen Volke finden, in und aus dessen Mitte es erwachsen
ist: über die Grenzen dieses Landes und dieses Zeitalters hinaus wird
es immer fremder und fremder. Anders die Lyrik: ein lyrisches
Gedicht ist zwar in seinem Ursprunge auf den vereinzelten Punct Eines
Individuums eingeschränkt; trotzdem aber und eben deswegen erstreckt
sich seine Wirksamkeit über alle Völker und Länder und Zeiten
hin. Denn so wie der Dichter nicht mehr aus dem Volke, sondern
lediglich aus sich heraus spricht, spricht er auch nicht mehr als
Grieche und Deutscher, sondern lediglich nur noch als Mensch: und
damit ist seinem Gedichte die Reproduction bei allen gesichert, die
auch Menschen sind und auch schon gelernt haben, ihre menschliche
Besonderheit aus der nationalen Gesammtheit herauszulösen. Während
also die Epik national ist, hat die Lyrik einen egoistischen und deshalb
kosmopolitischen Character. Aus dieser zugleich egoistischen und
kosmopolitischen, dieser individuellen, subjectiven, gemüthlichen, innerlichen
Natur der Lyrik ergiebt sich als letzter Unterschied etwas, das
früherhin schon ausführlich ist behandelt worden (S. 42─46), nämlich ihr
jüngeres Alter; wenn hier auch gar keine äusseren Zeugnisse sprächen,
so dürfte man schon aus inneren Gründen zuversichtlich behaupten, sie
sei später entsprungen als die Epik. Denn eine solche Poesie ist nur
bei vorgerückter Civilisation möglich; noch jetzt können wir an einfachen,
natürlichen Menschen täglich die Erfahrung machen, dass Naturen
der Art niemals im Stande wären, ein lyrisches Gedicht weder
zu producieren, noch zu reproducieren. Solche Seelen haben dafür
ein viel zu gesundes Nervensystem: leisere Eindrücke empfinden sie
gar nicht, und durch stärkere werden sie in eine so heftige Aufregung |#f0134 : 121|

versetzt, dass sie die Leidenschaft nicht zu mässigen wissen, dass
ihnen jenes Mass der Kunst gebricht, ohne welches keine künstlerische
Anschauung möglich ist. Was aber ausser ihnen geschehen ist,
das zu erzählen wissen sie ganz wohl: die epische Poesie kann sehr
wohl unter solchen Menschen und muss zuerst unter ihnen entspringen.


Bisher haben wir Epik und Lyrik nur betrachtet, inwiefern sie
auseinandergehn; nun haben wir auch den Punct zu suchen, in welchem
sich die verschiedenen Richtungen berühren und vereinigen,
gleichsam den Indifferenzpunct der beiden Polaritäten. Also beide
zeigen den Dichter in Beziehung auf die Welt ausser ihm, beide
schliessen sich an die äussere Wirklichkeit, an geschehene Thatsachen
an; nur jede in eigenthümlicher Weise. Der Epiker macht die äussere
Wirklichkeit zur Form der angeschauten Idee, er giebt sich ganz den
Thatsachen hin und erzählt sie, sein Thun gleicht dem transitiven
Zeitworte mit einem Objectsaccusativ; den Lyriker geht die Welt ausser
ihm nur in so fern etwas an, als sie auf ihn einwirkt, als irgend ein
Factum oder sonst irgend etwas, das er ausser sich gewahrt, sein
Gefühl erregt, sein Thun gleicht einem in sich abgeschlossenen intransitiven
oder reflexiven, etwa mit einem Genitivus causalis bekleideten
Zeitwort: in so fern ist aber auch er durchaus von der geschichtlichen
oder sinnlichen Wirklichkeit abhängig: denn es giebt keine inneren
Zustände, die nicht ihren wirkenden Grund ausserhalb des Menschen
in der Geschichte, in der Natur oder in Gott hätten, sollte auch er
selber sich dessen nicht bewusst sein und keine Rechenschaft darüber
geben können. Jede lyrische Anschauung hat ihren Anlass ausser
dem Dichter: ebenso wird sie auch noch durch das Mittel der Darstellung,
durch die Sprache, unablässig in eine immer wiederholte
Beziehung zur äusseren Wirklichkeit gebracht. Der Grund aller Sprache
ist eine durchaus concret sinnliche Auffassung; die innerlichsten Dinge
benennt sie auf die alleräusserlichste Art, und so kann der Lyriker
kein Gedicht zu Stande bringen, ohne dass von Anfang bis zu Ende
seine innern Zustände mit Anschauungen der Aussenwelt umkleidet
und versinnlicht werden.


Jene causale Beziehung auf die Aussenwelt ist der Punct, in
welchem die Lyrik nicht bloss ihrem innern Wesen nach mit der Epik
zusammenhängt: es ist diess auch der Punct, an welchem sie im Entwickelungsgange
der Poesie aus der Epik entsprungen und herangewachsen
ist. Eh wir jedoch diese Betrachtung weiter verfolgen,
ist zuvor noch eine andre Uebereinstimmung zu besprechen, die zwischen
Epik und Lyrik besteht und deshalb besteht, weil eben beides
Poesie ist, d. h. weil beide progressiv anschauen und darstellen. Ein |#f0135 : 122|

episches Gedicht schreitet vorwärts, weil die Wirklichkeit, aus der
es seine Anschauungen entnimmt, eine geschichtliche, d. h. eine von
Thatsache zu Thatsache vorwärts schreitende ist. Ein lyrisches Gedicht
geht auch vorwärts, aber nicht aus dem gleichen Grunde: denn seine
Anschauungen gehören nicht der äusseren Geschichte an; sondern es
geht vorwärts, weil die inneren Zustände nothwendig auch einen
historischen Verlauf, eine causale Verkettung haben gleich den Thatsachen
der Epik, und weil die Empfindungen des Dichters auch nicht
neben einander liegen, sondern eine der andern nachfolgen, eine aus
der andern hervorgehen; es geht vorwärts auch wieder jenes Mittels
der Darstellung wegen, weil auch die Sprache vorwärts geht. Es hat
also ein lyrisches Gedicht in Anschauung und Darstellung ebenso wohl
zusammenhangenden Fortschritt und Reihenfolge als ein episches, nur
dass es hier innere Zustände sind, die in einer Reihenfolge von Ursache
und Wirkung vor uns treten.


Daraus ergiebt sich eine Regel über die Grösse und den Umfang,
überhaupt die ganze Composition lyrischer Dichtungen. Die Einheit
Einer leitenden Idee, welche Anfang, Mitte und Ende beherrscht,
welche Alles zusammenhält und jede Empfindung zurückweist, die
ausser ihrem Bereiche liegt, diese Einheit versteht sich von selbst:
denn das ist eine allgemeine Anforderung, der sich jedes Kunstwerk
unterwerfen muss. Aber für die Lyrik wird insbesondere noch eine
überschauliche, gedrungene, concentrierende Einfachheit verlangt. Ein
episches Gedicht kann sich eher ausdehnen und überall ausführlich
sein: denn da der causale Zusammenhang äusserer Thatsachen leichter
zu fassen ist, so kann der Leser dem Dichter auch auf einem längeren
Wege reproducierend folgen. Nicht so ist es bei lyrischen Dichtungen.
Hier gilt es die Reproduction innerer Zustände; und diese
ist offenbar um vieles schwieriger: es sind leisere Fäden, an welchen
die Empfindungen zusammenhangen als jene, welche Thatsache mit
Thatsache verbinden. Deshalb ist es hier gut, den Kreis so eng zu
ziehen als möglich, und gut, auch innerhalb des engen Kreises nicht
gar zu weitläuftig und ausführlich zu sein; wenn man gar zu sehr
bemüht ist, dem Leser die einzelnen Empfindungen eigentlich vorzuentwickeln
und ihm auch den kleinsten Schritt aus einer in die andre
vorzuthun, so kann man gewiss sein, dass er bald keinen mehr nachthut;
denn er erwartet hier nachempfindbare Bewegung des Gemüthes,
aber keine nachdenklich psychologische Entwickelung. Diese Regel
der concentrierten Einfachheit gilt jedoch in ihrer ganzen Ausdehnung
nur für rein lyrische Dichtungen, nicht aber für episch-lyrische oder
für didactisch-lyrische: bei solchen lässt man sich den längeren und |#f0136 : 123|

langsameren Verlauf schon gefallen, aber doch nur um des beigemischten
unlyrischen Elementes willen, um der Epik willen, die eine Reihe
von Thatsachen, um der Didactik willen, die eine logisch geordnete
und ausgesponnene Deduction mit sich führt. Die Elegien des Kallimachus
können deshalb so viel länger und breiter sein als die Oden
der Sappho, weil jene episch-lyrisch, diese rein lyrisch sind; und
eben deshalb ist die Eine Urania von Tiedge so lang, ja noch länger
als alle Lieder von Uhland zusammengenommen, denn sie ist didactischlyrisch,
diese meist rein lyrisch.


Die gedrängte Kürze der Lyrik war ursprünglich auch durch ein
Mittel ihrer Darstellung motiviert, den musikalischen Vortrag, von
welchem sie auch ihren Namen empfangen hat: als die epischen
Dichtungen längst schon nicht mehr gesungen, sondern nur noch gelesen
wurden, da galt für die Lyrik immerfort noch der Gesang, bei uns
wie bei den Griechen und bei andern Völkern, bei den Griechen
bis in die spätesten Zeiten, bei uns bis zur Erfindung der Buchdruckerkunst:
erst diess neue Mittel der Verbreitung und Erhaltung
poetischer Werke hat das Singen wie das Sagen mit Einem Male wo
nicht gänzlich verdrängt, doch vielfach entbehrlich gemacht. Der
Gesang aber ward meist mit Saitenspiel begleitet, im Mittelalter mit
der Harfe und der Geige und andern ähnlichen Instrumenten, bei den
Griechen meist mit der Lyra, die als vollkommeneres Tonwerkzeug an
die Stelle der epischen Kitharis oder Kithara getreten war. Daher
der Name, wie denn schon das griechische λύρα auch zur Bezeichnung
der lyrischen Poesie gebraucht wurde. Dieses Vortrages durch
den lebendigen Gesang und das kunstreiche Saitenspiel waren aber
natürlich nur solche Dichtungen fähig, die in ihrem Umfange der
Kraft des Sängers und der Aufmerksamkeit des Zuhörers nicht zu
viel zumutheten, so dass in diesem Darstellungsmittel eine neue Bedingung
zur Kürze vorhanden war. Obgleich wir zwar jetzt unsre lyrischen
Gedichte nur noch zu lesen pflegen, so ist doch diejenige Art
der metrischen Form, welche durch den Gesang bedingt ist, die strophische,
bestehn geblieben. Die strophische Abfassung überkam aber
unsre deutsche Lyrik von der Epik, wie das die ältesten lyrischen
Gedichte unverkennbar zeigen, deren Form ganz oder beinahe ganz
die altepische ist; nur hat sich die Strophe, welche in der Epik überaus
einfach gewesen war, nun in der Lyrik alsbald zu grösserer
Künstlichkeit und Mannigfaltigkeit ausgebildet: beides war an seinem
Orte durchaus angemessen, die einfache Strophe passte ebensowohl
zu dem gleichmässigen Fortschritt der Epik, als die reich und mannigfaltig
gegliederte zu der leidenschaftlichen Aufregung der Lyrik. |#f0137 : 124|

Bei den Griechen liegen die lyrischen Metra noch um vieles weiter
ab von den epischen. Die griechische Epik kannte wahrscheinlich die
Strophen überhaupt gar nicht; wenn sie dieselbe aber kannte, wie
die neuesten Aufstellungen behaupten, so waren sie jedesfalls höchst
einfach und bestanden aus lauter ganz gleichen Versen, nämlich Hexametern;
und auf der andern Seite geht die künstliche Mannigfaltigkeit
der lyrischen Metra bei den Griechen noch um vieles weiter als bei
uns, da nicht bloss die Strophen aus verschiedenen Versen, sondern
auch wieder die Verse aus verschiedenen Füssen zusammengesetzt
wurden. Weiter können wir hier in Einzelheiten nicht eingehn: es
ist genug, aufmerksam geworden zu sein, wie sich in diesem
metrischen Gegensatze zwischen Epik und Lyrik das characteristische
Verhältniss der äussern metrischen Form zum innern Gehalte scharf
genug bei uns und noch schärfer bei den Griechen ausgeprägt
zeige: denn bei den Griechen ist sowohl die Einfachheit der epischen,
als die Mannigfaltigkeit der lyrischen Form auf das Aeusserste
getrieben.


Diese neuen Vergleichungen, bei denen sich wiederum zu gleicher
Zeit Uebereinstimmung und Verschiedenheit der beiden Dichtungsarten
erwiesen haben, leiten uns jetzt von neuem darauf hin, das historische
Verhältniss derselben zu betrachten. Es wird mit wenigen Blicken
und kurzen Worten abgethan sein, da diess kein Gegenstand ist, den
wir jetzt zum ersten Mal berühren.


Die Lyrik ist nicht bloss jünger als die Epik: sie ist aus derselben
entsprungen. Die lyrisch gefärbte Epik, wie wir sie in den
Hymnen der Griechen, in den Liedern der Deutschen des zwölften
Jahrhunderts gefunden haben, begann den Uebergang; er ward weiter
und der Vollendung entgegen geführt durch solche Dichtungen, in
denen das lyrische Element bereits das überwiegende ist, die wir
deshalb im Gegensatz zu jener lyrischen Epik epische Lyrik nennen
wollen. In der lyrischen Epik wird die geschichtliche Wirklichkeit
noch durchaus episch, d. h. als eine Vergangenheit aufgefasst: in der
epischen Lyrik kann sie eine noch unvergangene, vorliegende sein,
ja es verhält sich gewöhnlich so, da hier das dichterische Individuum
schon mehr hervortritt und dem Individuum die Geschichte der Gegenwart
näher liegt und es mit ihr vertrauter und befreundeter ist. Das
Individuum tritt aber nur mehr hervor als in der lyrischen Epik,
noch nicht in der ganzen Fülle der Subjectivität und Individualität;
am deutlichsten zeigt sich das in den beiden Hauptarten der epischen
Lyrik, die bei den Griechen auf dieser überleitenden Stufe liegen, in
der Elegie der Ionier und der chorischen Lyrik der Dorier. Wie diese |#f0138 : 125|

in ihren Anfängen beschaffen waren, sprach da der Dichter immer
noch weniger aus seiner Seele, aus seiner Individualität heraus, als
aus der Seele seines Volkes, aus seiner Nationalität: aber diese
Nationalität war selbst schon eine individuell beschränkte; es war
nicht mehr die allgemein hellenische, sondern die speciell ionische
oder dorische, grade wie diese elegischen und chorischen Dichter
sich auch nicht mehr der alten epischen Gesammtsprache, sondern
schon ihrer abgesonderten Mundart bedienten. Mit diesem Anschliessen
an die nächste Gegenwart war denn aber der letzte Wendepunkt
gegeben, an welchem die Poesie endlich in die reine und eigentliche
Lyrik übertreten musste: wie von selbst schob sich an die Stelle der
gegenwärtigen geschichtlichen Wirklichkeit die gegenwärtige Wirklichkeit
überhaupt; nicht mehr bloss, was ausser dem Dichter grade
geschah, sondern was überhaupt ausser ihm war, die ganze äussere
Wirklichkeit ward der Anstoss zu lyrischen Anschauungen, und diese
mussten um so subjectiver und individueller sein, je weniger eigentlich
Geschichtliches in jenen anregenden Motiven lag. Diese leichte, aber
entscheidende Wendung ist es, die überall nach den vorbereitenden
Stufen, der lyrischen Epik und der epischen Lyrik, zuletzt die eigentlich
lyrische Lyrik hinstellt; so ist's bei uns, so ist's bei den Griechen
gewesen: die reine Lyrik der Aeolier hat sich erst nach der
epischen Lyrik der Ionier und der Dorier gebildet. Die volle Bedeutung,
welche nun endlich das dichterische Individuum gefunden hatte,
zeigt sich, wenn man die äolische Lyrik mit der dorischen vergleicht,
schon äusserlich auf das schlagendste darin, dass zum Vortrage der
dorischen Dichtungen noch der Chor gehörte, gleichsam der Repräsentant
des Volkes, in der äolischen dagegen der Gesang die Sache
eines Einzigen war.


Somit hätten wir nun bereits zwei Arten lyrischet Poesie: epischlyrische
als Weiterbildung der lyrisch-epischen, und lyrisch-lyrische
als Ziel und Ende des ganzen Weges. Aber auch die andre Mischart
der Epik, auch die didactische Epik trieb ihre Sprossen in die Lyrik
hinüber, und es erwuchs aus ihr auf diesem neuen Gebiete die didactische
Lyrik, Lyrik, die sich anschliesst an ein zu lehrhaften Zwecken
ergriffenes episches Motiv. Mithin haben wir drei Arten der Lyrik
zu unterscheiden: 1) die epische Lyrik oder die Lyrik der Einbildungskraft,
die Fortsetzung der lyrischen Epik, die sich anschliesst an
epische Motive; 2) die didactische Lyrik oder die Lyrik des Verstandes,
die Fortsetzung der didactischen Epik, welche lehrhafte Zwecke
verfolgt, und 3) die lyrische Lyrik oder die Lyrik des Gefühls, der
Gipfel, die Blüte und Frucht dieser ganzen Dichtungsart, ohne episches |#f0139 : 126|

Motiv und ohne lehrhaften Zweck. Jede dieser drei Arten ist nun
noch im Einzelnen näher zu betrachten. Wir beginnen mit der epischen
Lyrik, der Lyrik der Einbildungskraft.


Indem der Dichter die lyrische Entwickelung innerer Zustände an
ein äusserlich gegebenes episches Motiv anknüpft, kann er auf zwiefache
Weise verfahren. Erstens versetzt er sich ganz und gar mitten
in die epische Wirklichkeit hinein, so dass nicht er selbst es ist,
welcher die angeregten Empfindungen ausspricht, sondern dass er
seine Worte der Person in die Seele und in den Mund legt, die handelnd
oder leidend der tragende Mittelpunct jener Wirklichkeit ist.
Wir wollen diess Verfahren das objective nennen. Durch ihre Objectivität
schliessen sich dergleichen lyrische Dichtungen auf das engste an
die lyrische Epik an; sie sind auch, historisch betrachtet, unmittelbar
aus der letztern hervorgegangen. Wir haben es als eine gewöhnliche
Beschaffenheit lyrisch-epischer Lieder kennen lernen, dass sie ganz
kurz eine epische Situation hinstellen und dann die epische Person
die Empfindungen aussprechen lassen, welche durch jene Umstände
motiviert sind. Ein Beispiel der Art aus der Mitte des zwölften Jahrhunderts
bietet jenes Lied Dietmars von Aist (S. 95). Nimmt man
diese epische Situation fort, durch welche dergleichen Dichtungen
noch innerhalb der Epik festgehalten werden, und giebt man bloss
in jener objectiven Weise den Ausdruck der inneren Zustände, so
entsteht die Art von epischer Lyrik, die wir hier besprechen, die
lyrische Auffassung und Ausführung einer epischen Situation. Dergleichen
Lieder finden wir bald nach Dietmar von Aist; ja beinahe
gleichzeitig mit ihm bei nur wenig späteren Dichtern, beim Kürnberger,
bei Reinmar dem Alten (LB. 14, 331. 15, 509; Litt. Gesch. S. 240, Anm. 10).
Häufig sind es klagende Liebeslieder, aber keine des Dichters, sondern
eines Weibes, in dessen Seele der Dichter sich versetzt; das
epische Motiv wird nicht besonders dargestellt, weil es sich aus den
lyrischen Worten leichtlich von selbst ergiebt. Den Griechen und
Römern scheint diese objective Art der epischen Lyrik minder bekannt
gewesen zu sein; das bedeutendste Beispiel gehört einer späten Zeit
an, die Heroides des Ovid, Briefe, die von berühmten Liebhaberinnen
an ihre entfernten Liebhaber gerichtet werden, z. B. von Deïanira an
Hercules, nebst etlichen Gegenbriefen ihrer Liebhaber: den Inhalt
macht die Entwickelung innerer Zustände; die epische Grundlage derselben
wird theils als bekannt vorausgesetzt, theils ist sie aus den
inneren Zuständen zu errathen. Seit dem siebzehnten Jahrhundert,
seit Christian Hofmann von Hofmannswaldau und anderen hat man
diese Art hin und wieder auch in Deutschland nachgeahmt, zugleich |#f0140 : 127|

aber den Namen missverstanden und verdreht: statt unter Heroides
Heroinnen, Heldinnen, episch berühmte Weiber zu verstehn, hat man
gemeint, Herois verhalte sich zu Heros wie Aeneis zu Aeneas und
bezeichne ein Gedicht, das von Helden handle; deshalb und in diesem
Sinne hat man die Gedichte selbst Heroiden genannt und daneben
auch die deutsche Uebersetzung Heldenbrief gebraucht. Aber auch
ohne diese Heroiden, die man also erst dem Ovid abgelernt hat, ist
die objectiv epische Lyrik in Deutschland von jeher zu Hause gewesen;
auch bei neueren Dichtern findet sich genug der Art. Als Beispiel
ist eines der bekanntesten und besten Gedichte des Grafen von
Platen zu nennen, der Pilgrim von St. Just (LB. 2, 1727). Das epische
Motiv ist Karl V., wie er die Krone niederlegt und ins Kloster geht:
das wird aber nicht erzählt, der Dichter legt auch nicht seine
subjectiven Empfindungen dar, sondern er versetzt sich mit den Empfindungen,
welche diess Ereigniss anregen kann, in die Seele des Handelnden
selbst, er legt sie als Selbstgespräch Karl V. in den Mund.


Wenn nun das Motiv kein ganz eigentlich episches ist, keine
Thatsache, kein Ereigniss, kurz, nichts historisch Bewegtes, sondern
überhaupt nur eine äussere Wirklichkeit, äussere Umstände und
Zustände, in die aber der Dichter seine Empfindungen objectiv überträgt,
so ergiebt sich daraus die mimische Poesie, so genannt, weil
diess Versetzen in fremde Individualität und fremde Umstände die
grösste nachahmende Treue in Auffassung und Darstellung verlangt.
Dergleichen mimische Dichtungen finden sich gleichfalls, und diese ganz
besonders häufig, in der deutschen Poesie: wir dürfen darin eine
Nachwirkung des alten epischen Hanges erblicken. Beispiele bei
Göthe: der Goldschmiedsgesell u. a.; bei Uhland: Lied eines Armen,
Schäfers Sonntagslied, des Knaben Berglied, der Schmied, Jägerlied,
des Hirten Winterlied, Lied des Gefangenen u. s. f. Da die Wirklichkeit,
welche hier das Motiv abgiebt, keine historisch bewegte, sondern
eine ruhende ist, so muss natürlich die mimische Poesie sehr leicht
in das Gebiet der Idylle hinüberstreifen: in dieser Haltung erscheint
sie denn auch gewöhnlich bei solchen Dichtern, die auch sonst Idylliker
sind, wie z. B. bei Voss und Hebel.


In den bisher besprochenen Arten von epischer Lyrik fliessen die
epische Wirklichkeit und die lyrische Empfindung ganz in Eins; der
Dichter entwickelt innere Zustände, aber nicht seine eigenen oder
doch nicht als die seinigen, sondern als die einer fremden Individualität,
und bedingt und hervorgerufen durch eine Wirklichkeit, in welcher
er selbst sich nicht befindet, in welche er sich nur durch die
Einbildungskraft versetzt.

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Neben dieser objectiven epischen Lyrik giebt es noch ein andres
Verfahren, noch eine zweite Art, die auch auf epischen Anstössen und
Grundlagen beruht, bei der jedoch das Epische und das Lyrische sich
nicht in eben dieser Art und Weise mit einander verschmelzen, sondern
die Aussenwelt gesondert vor dem Dichter daliegt, und er dieselbe
in seiner Individualität und aus dieser heraus betrachtet. Zu dieser
Art von epischer Lyrik, die wir im Gegensatz zu jener die subjective
nennen können, gehört zuerst und zumeist die Elegie.


Wir sind gewohnt, die Worte Elegie und elegisch in einem eingeschränkten
Sinne zu nehmen, der den Griechen, von denen wir
doch Wort und Sache selbst bekommen haben, fremd ist. Wir sehen
für jetzt billiger Weise noch ganz von diesem einengenden Gebrauche
ab und fassen den Begriff in seiner ganzen, ihm gebührenden Ausdehnung.



Die Elegie der Griechen liegt recht eigentlich an der Grenze
zwischen dem epischen Gebiet und dem lyrischen, schon auf dem
lyrischen, aber noch hart am Uebergange und Anfange. Es mischen
sich da epische Anschauung und lyrische, so dass letztere zwar durchaus
herrschend bleibt und überwiegt, jene aber ebenso nothwendig
ist für das Wesen des Ganzen. Der Dichter nimmt die Wirklichkeit
ausser ihm, seien das nun einzelne, ihn besonders nah berührende,
frische Thatsachen, oder sei es die gesammte Aeusserlichkeit des
Menschenlebens oder der Natur, wie sie in ihrem ruhigen Bestande
ihn gegenwärtig umgiebt: der Dichter nimmt diese frische Wirklichkeit
mit all der epischen Objectivität, deren sie nur fähig ist, in sich auf
und knüpft daran eine mehr oder weniger leidenschaftlich bewegte
Entwickelung der subjectiven inneren Zustände, welche jene äussere
Gegenständlichkeit in ihm, in ihm selbst erregt. Wie somit die Elegie
episch und lyrisch zugleich ist, so ist sie auch bei den Griechen die
älteste Form der epischen Lyrik, diejenige Form, welche den Uebertritt
der Dichtkunst aus dem Gebiete des epischen Gesanges in das
des lyrischen historisch vermittelt hat und Alles in ihr und an ihr,
das Land, wo sie entsprungen ist, die metrische Form, in welcher
sie sich bewegt, der Name, den sie führt, der ganze Stufengang
der Entwickelung, den sie durchlaufen hat, das eigenthümliche
Wesen, zu welchem sie dabei gelangt ist, Alles das sind Nachwirkungen
und characteristische Spuren ihres organischen Zusammenhanges
mit der Epik. Wir betrachten deshalb diese einzelnen
Beziehungen näher.


Das Land und das Volk, dem die griechische Elegie ihre Entstehung
verdankt, und von dem sie auch bis in die spätesten Zeiten |#f0142 : 129|

hinein mit vorzüglicher Liebe und dem meisten Erfolge ist gehegt und
gepflegt worden, sind die Ionier. Sie ist also geboren und aufgewachsen
und hat gelebt bei demselben griechischen Volksstamme, der
sich auch von jeher zwar nicht ausschliesslich, aber doch vor Allem
verdient gemacht hatte um die Cultur des epischen Gesanges, wie
ja die mannigfach sich bestreitenden Nachrichten über den Geburtsort
des Homer ihn doch beinahe alle unter den Städten und Inseln der
Ionier suchen; Chios, die Heimat der Rhapsoden, die sich Homeriden
nannten, war eine ionische Insel, und die Rhapsoden Ioniens
trugen später ausser ihren epischen Rhapsodien auch Elegien vor.
Wie also die Elegie entsprungen war unter dem Lieblingsvolke des
epischen Gesanges, wie sie als älteste Gattung der Lyrik unmittelbar
auf die Epik folgte, und wie sie die epischen Anschauungen mit in
die Lyrik hinübernahm, so deutet sie auch in ihrer metrischen Form
auf die begründend vorangegangene Epik zurück, zeigt auch darin
ihre zwischen beiden Gattungen schwankende und schwebende Zwiespältigkeit.
Ihre Form ist bekanntlich das Distichon, eine zweizeilige
Strophe, bestehend aus Hexameter und Pentameter, dem altepischen
und einem lyrischen Verse. Jener entspricht der ruhenden, objectiven
Grundlage, welche die aufgefasste epische Anschauung bildet, dieser
der lyrischen Empfindung, welche sich bewegt über jene Grundlage
hin; jener stellt die stätig fortwirkende objective Ursache dar, dieser
die daraus entspringende Wirkung der mannigfaltig wechselnden subjectiven
Gefühle; jener ist gleichsam der epische Vordersatz, dieser
der lyrische Nachsatz. Damit ist jedoch nicht gesagt, dass wirklich
auch der Hexameter immer epischen, der Pentameter immer lyrischen
Inhalt habe und haben solle und könne: nur im Allgemeinen wird die
zwiespältige Mischung von Epik und Lyrik, die das Wesen der Elegie
ausmacht, durch den entsprechenden metrischen Zwiespalt epischer
und lyrischer Verse characteristisch bezeichnet: und es wird damit
auch in der metrischen Form bis zur grösseren Hälfte der Strophe
ein Ueberrest der alten alleinigen Epik bewahrt. Erst die Römer
haben es versucht, etwas von jenem Gegensatz sogar bis innerhalb
der einzelnen Distichen durchzuführen: bei ihnen ist es feste Regel,
was bei den Griechen kaum der gewöhnlichere Gebrauch ist, mit
jedem Pentameter einen Satz zu schliessen, und dann stehn sich auch
bei ihnen Hexameter und Pentameter häufig gegenüber wie Vordersatz
und Nachsatz, zuweilen wirklich auch als epischer Vordersatz
und lyrischer Nachsatz.


Wie die metrische Form der Elegie, so weisen auch ihre
Benennungen auf den epischen Ursprung zurück. Lange Zeit trugen |#f0143 : 130|

sie den gleichen Namen als die epischen Gesänge, nämlich ἔπη: so nannte
noch Solon selber seine elegischen Dichtungen. Dann aber trat ein
andrer an dessen Stelle, der jedoch nicht minder aus der alten epischen
Zeit herrührt. Wir haben früher als eine Hauptgattung der lyrischen
Epik, als eine epische Gelegenheitspoesie der Griechen die Threnen
kennen gelernt (S. 92); eine besondre Art solcher Threnen hiess ἔλεγος.
Dieses Wort, welches eine kindische Etymologie von ͗ὲ ͗ὲ λέγειν, weh
weh rufen, herleitet, gehört zu derselben Wurzel wie ἔλεος, Mitleid,
ἐλεέω, bejammern, ἐλελεῦ und mit Ablaut ἀλαλά, ein Kriegsgeschrei,
ὀλολύζω, klagen, jammern, namentlich zu den Göttern empor; das γ
von ἔλεγος findet sich auch in ἀλαλαγή und ὀλολυγή. Solche ἔλεγοι,
Klagelieder, wurden mit Begleitung der Flöte gesungen, wie die
Nenien der Römer; die characteristische Versart war der Pentameter,
vielleicht mit dem Hexameter, vielleicht mit andern Versen gemischt,
vielleicht ohne alle Beimischung für sich bestehend. Eine Ableitung
von ἔλεγος ist ἐλεγεῖον, das vielleicht ursprünglich nur der Name des
Pentameters ist, sicherlich aber und jedesfalls einer aus Hexameter
und Pentameter zusammengesetzten Strophe, also des sonst s. g. Distichons.
Die neue Dichtungsart nun, die Elegie, theilte mit dem alten
ἔλεγος die Anlehnung an die epische Wirklichkeit, sie sprach auch
nicht selten schmerzliche Gefühle aus, sie entlehnte von dem ἔλεγος
den Gebrauch des Distichons sammt der mit dem Gesange verbundenen
Flötenbegleitung. Alles diess war Anlass, jene von ἔλεγος gebildete
Ableitung ἐλεγεῖον nun in einem weiteren Sinne zu gebrauchen: es
ward nun eben jedes episch-lyrische Gedicht in der Form des Distichons
ἐλεγεια genannt, entweder als plur. neutr. τὰ ἐλεγεῖα oder als
sing. fem. ἡ ἐλεγεία. Also finden wir auch in den Benennungen eine
Rückbeziehung auf die Epik: in der älteren ἔπη auf die reine eigentliche,
in der späteren ἐλεγεία auf die lyrisch gefärbte, den ἔλεγος.


Aber auch in dem Entwickelungsgange, den die Elegie genommen,
zeigt sich ihr enger Zusammenhang mit der Epik. Auf den ersten
Stufen, nachdem sie entsprungen, tritt in dem lyrischen Theile kaum
schon eine persönliche Individualität heraus; es ist zwar eine Individualität
vorhanden und nicht mehr die allgemein gültige Nationalität
der Epik, aber noch nicht die Individualität des einzelnen Dichters,
sondern die des Volksstammes, der Insel, der Stadt, also eine nationale
Individualität: immer noch ein Theil der altepischen Anschauungsweise.
Die politische Gegenwart, das Staatsleben, das den Dichter
umgab, die Kämpfe nach aussen und im Innern, dergleichen bildete
den epischen Grund, auf welchem nun die lyrische Betrachtung sich
entfaltete; diess war aber keine Betrachtung vom Standpuncte des |#f0144 : 131|

Einzelnen, sondern vom Standpuncte Aller, die das gemeinsame Staats-
oder Parteiinteresse zusammenhielt. Ein Beispiel hiefür bieten die
kriegerischen Elegien des Tyrtäus, eines Dichters von ionischem
Blute. Nach und nach jedoch machte sich wie im Leben und sonst
in der Kunst auch in dieser Dichtungsart das Individuum immer geltender,
sie ward immer weniger national, immer mehr subjectiv, sie
wandte sich immer mehr von den allgemeinen Interessen ab und zu
den persönlich besonderen des Dichters hin und ward somit immer
lyrischer. Ereignisse aus dem beschränkten Leben des Dichters selbst
und diese allein wurden es nun, die ihn zu lyrischen Anschauungen erregten,
seiner Freude und seiner Trauer gab er Worte. Jetzt erst entstanden
auch Elegien in dem engern Sinne, welchen man diesem
Worte beizulegen pflegt, Ergüsse wehmüthiger Empfindungen über
irgend ein dem Dichter schmerzhaftes Ereigniss. Von dieser Art sind
die Elegien des Mimnermus. Aber keineswegs blieb die Elegie auf
solche Empfindungen eingeschränkt. Zwar nahm sie von jetzt an eine
beinahe ausschliessliche Wendung auf die Liebe: aber innerhalb dieses
Gebietes gab es keine weitere Begrenzung mehr: die Lust und das
Glück der Liebe wurden in gleichem Masse der factische Grund elegischer
Dichtungen als das Unglück und der Schmerz. In dieser Raum
gebenden Einschränkung haben dann auch die Römer die Elegie von
den Griechen übernommen. Wir endlich, die wir die ganze Dichtungsart
überhaupt erst durch Nachahmung der Alten uns angeeignet
haben, können auch die factische Grundlage nehmen, woher wir wollen:
es steht uns frei, in der politischen Weise des Kallinus zu dichten, in
der schwermüthigen des Mimnermus und in der leichteren des Ovid.


Nachdem wir die antike Elegie nach mehreren Seiten hin in
verschiedenen Beziehungen und zuletzt auch in Betreff ihrer geschichtlichen
Entwickelung betrachtet haben, sind jetzt noch einige Erörterungen
über das Wesen derselben im Ganzen und Allgemeinen hinzuzufügen.



Jede Elegie bedarf also einer Anschauung aus der äusseren Wirklichkeit
als des epischen Objectes, das der Dichter aus seinem Gemüthe
heraus subjectiv betrachtet, und das so dessen Empfindungen in Bewegung
und Erregung bringt: indem nun diese Empfindungen mit der
vorwärts schreitenden Betrachtung des epischen Elementes selber
vorwärts schreiten, entsteht die Elegie. Jene sein Gemüth anregende
Wirklichkeit darf aber niemals ein ganzer längerer Verlauf von vergangenen
geschichtlichen Thatsachen sein; solchen gegenüber ist nicht
wohl eine anhaltende gemüthliche Beziehung möglich, bei welcher der
Dichter seine individuelle Selbständigkeit bewahren könnte: das haben |#f0145 : 132|

wir früherhin bei der lyrischen und didactischen Epik gesehen. Es
sind vielmehr immer entweder vereinzelte Thatsachen ohne längeren
Verlauf, gewöhnlich eben erst in frischer Vollendung vorliegende und
in so fern noch gegenwärtige, oder, und so verhält es sich meistentheils,
es ist die in ruhiger Gegenwart ihn umgebende Aussenwelt, eine
Wirklichkeit ohne eigentlich epische Bewegung, die Natur, die seinem
Blicke sich darstellt, die äusseren Verhältnisse des Staates oder der
Familie, in denen sein Leben verweilt. Es besteht mithin eine gewisse
Aehnlichkeit zwischen der Elegie und der Satire, aber zugleich ein
noch grösserer Unterschied: auch der Satiriker blickt mit epischer
Objectivität in die ihn umgebende Aussenwelt, aber er blickt in sie,
um in ihrer Wirklichkeit Widersprüche zu finden gegen den Verstand
und das sittliche Gefühl, und er ergreift sie mit der Absicht, an ihr
zu lehren: bei dem Elegiker fehlt jedwede Absichtlichkeit; er beschaut
die Wirklichkeit nicht, um an ihr eine Reihe von Gefühlen zu entwickeln,
sondern er beschaut sie, und sie entwickeln sich in ihm; und
tritt sein Gefühl mit der angeschauten Wirklichkeit in Widerspruch,
so hat er diesen Conflict nicht gesucht, sondern hat ihn nur gefunden,
auch ist es nicht der des Spottes, sondern etwa der der Wehmuth.
Das epische Element hat demnach in der Elegie sein Wesen noch um
vieles reiner und unverfälschter bewahrt als in der Satire; es erscheint
nicht in einer dienstbaren Abhängigkeit von subjectiven Zwecken,
sondern selbständig anregend und einwirkend auf das Gemüth des
dichtenden Subjectes.


Weit grösser ist die Aehnlichkeit, und häufig genug sind deshalb
die Berührungen zwischen der Elegie und einer andern Mischgattung
der Epik, nämlich dem Idyll. Einmal sind sie in so fern ähnlich, als
die Anschauungen beider an sich selbst keine epische Beweglichkeit
haben: denn das macht ja das Idyll zum Idyll, dass es ausser dem
epischen Fortschritt von Thatsachen, die es erzählt, auch noch und
hauptsächlich ruhende Aeusserlichkeiten schildert; und ebenso ist die
Wirklichkeit der Elegie gern eine unbewegt ruhende und kann dann
häufig genug nur durch das idyllische Mittel der Schilderung zur
Anschaulichkeit gebracht werden. Wie aber das Idyll einen epischen
Schein an sich nimmt und die einzelnen Theile in historischer Entwickelung
dem Leser vor Augen führt, so muss sich auch die Elegie
zu einem solchen epischen Anschein bequemen; auch sie muss das
Ganze der äusseren Wirklichkeit in seinen Theilen auffassen und
diese Theile in fortschreitender Reihenfolge an einander hängen. Das
ist aber hier um vieles schwieriger als beim Idyll. Das Idyll enthält
immer einen wenn auch noch so dünnen historischen Faden, an |#f0146 : 133|

welchem der Dichter den Fortschritt der Schilderung leiten kann; in
der Elegie ist meistens keine Hilfe der Art vorhanden. Und doch
verlangt einmal alle Poesie einen gewissen historischen Fortschritt,
und hier soll sogar die fortschreitende Entwickelung der Wirklichkeit
noch einen andern Fortschritt begründen und tragen, den der inneren
Zustände. Diese Schwierigkeit bestimmt den eigenthümlichen Character
der Elegie: man hat nämlich auch hier nach dem Sprichwort aus der
Noth eine Tugend gemacht, und weil die Elegie in den meisten Fällen
nicht geradeaus gehn kann, nicht auf dem kürzesten Wege ihr Ziel
sofort erreichen kann, so pflegt man von ihr eine zögernde, zaudernde
Entwickelung zu fordern, und es ist Gebrauch, dass sie immer und
immer wieder inne hält, dass sie seitwärts ablenkt bald links, bald
rechts, dass sie die grosse Ebene der ruhenden Wirklichkeit wie ein
sanfter Bach in Schlangenlinien durchwandert, dass sie wie in halbem
Träumen hin und her schweift. Sie kann, wie gesagt, in den meisten
Fällen gar nicht anders: aber eben dadurch ist dieser unruhige, immer
wieder gehemmte, immer wieder stockende Gang so sehr zur Eigenthümlichkeit
der Elegie geworden, dass man ihn auch da zu beobachten
pflegt, wo er wohl zu vermeiden wäre, dass man es liebt, alle
entlegenen Oerter zu beiden Seiten zu betrachten, auch wo uns der
Dichter ganz wohl mitten hindurch auf der geraden Strasse führen
könnte. Zu diesem Zögern und Umherschweifen der epischen und der
damit verbundenen lyrischen Anschauungen passt auch sehr wohl die
metrische Form, diese kurze Strophe, die dennoch bei den Römern
wenigstens einen vollen Satz enthalten soll, die also den Dichter, eh
er sichs versieht, wieder abzubrechen nöthigt und ihn zwingt, die
Rede in lauter kleine Glieder zu zerlegen; die ausserdem zusammengesetzt
ist aus zwei in ihrem Character eigentlich widerstrebenden
Bestandtheilen, dem in gemächlicher Ruhe sich senkenden Hexameter
und dem in Ungeduld zweimal aufspringenden Pentameter. Kaum
hat der Hexameter auf ebenem Boden einen Schritt vorwärts gethan,
so erhebt sich die Rede im Pentameter über den Boden; und kaum
hat sie sich hier erhoben, so muss sie schon wieder in gemessenem
Gange weiter schreiten. Als Meister und Muster dieser Gattung ist
besonders Tibull zu betrachten. Aber nothwendig und wesentlich
gehört jene zögernde Entwicklung nicht zur Natur der Elegie, und
so sind denn auch die besten Elegien, welche die deutsche Litteratur
besitzt, keineswegs so beschaffen. Die einzige namhafte, die in jene
Art einschlägt, ist Die Kunst der Griechen von A. W. Schlegel vom
Jahre 1799 (Athenaeum 2, 181): hier wird mit allen Abschweifungen,
welche das weitläuftige Thema nöthig und möglich machte und mit |#f0147 : 134|

fein angelegten Motiven und Uebergängen dieser einzelnen Abschweifungen
die ganze griechische Kunst, ja beinah das ganze Leben der
griechischen Welt überhaupt nach allen Seiten hin und von allen Seiten
her geschildert und betrachtet; und wenn in solchem Verfahren
das ganze Wesen der Elegie beruhte, so wäre diess Gedicht gewiss
ein Meisterstück. Gleichwohl darf man dessen poetischen Werth nicht
zu hoch anschlagen. Denn bei aller Kunst der Sprache und des
Versbaues und bei aller kunstgeschichtlichen Gelehrsamkeit fehlt doch
und zum Theil eben deswegen das unentbehrliche lyrische Element
beinahe ganz: der Dichter hat dem epischen Grunde zu wenig Beziehungen
auf das Gemüth abgewonnen, hat ihm auch wenig abgewinnen
können, weil der epische Grund selbst ein für die Elegie unpasslicher
und unpractischer ist: er hat zu viel wirklich historische Natur, und
all diese Namen und Thatsachen gehören einer Zeit an, zwischen
welcher und dem lebendigen Gemüthe eines neueren Dichters nur
spärliche Verbindungen und Fäden laufen. Abgesehen von dieser
Elegie haben sich sonst die deutschen Dichter nicht viel auf die Seitenwege
und den Schlangenlauf der Elegie eingelassen. Schlegel selbst
geht in seiner andern, noch berühmteren Elegie Rom, vom Jahre
1805, eine ganz gerade Bahn (LB. 2, 1293): er beginnt mit der Gründung
der Stadt, ja mit der Vorgeschichte derselben, und verfolgt dann
ihre Geschichte ungesäumt in streng chronologischer Weise bis auf
den heutigen Tag. Also wiederum ein langer historischer Verlauf,
dessen unelegische Natur bei dieser Behandlungsweise erst recht vor
Augen tritt. Zeichen von Empfindung mischen sich nur verloren hin und
wieder in diese Geschichtserzählung, und wäre nicht der sentimentale,
an die Frau von Staël gerichtete Schluss, so würde man das Lyrische
ganz vermissen. Göthes Römische Elegien (LB. 2, 1069) sind alle
oder doch fast alle von der spätern griechisch-römischen Art, den
Inhalt bildet die Liebe, sie sind heiter, tändelnd und mitunter leichtfertig;
meist knüpft sich die lyrische Betrachtung an ein einzelnes
eben geschehenes Factum, seltener an die ruhende Wirklichkeit; daher
haben sie auch alle geringen Umfang. Das Meisterstück aber der
Elegie, nicht bloss bei den Deutschen, sondern aller Elegie überhaupt,
ist Der Spaziergang von Schiller, oder, wie es im ersten Druck, in
den Horen vom Jahre 1795 betitelt ist: Elegie (LB. 2, 1145). Leichtlich
möchte diess auch von allen Gedichten Schillers das gelungenste
sein, indem man hier keinen von den Fehlern findet, die man sonst
wohl an ihm rügen darf, dagegen all seine Vorzüge und manche Vorzüge,
die sonst nicht so bei ihm entgegentreten. Einmal die Wirklichkeit,
an welcher die Betrachtung sich entwickelt: es ist eine |#f0148 : 135|

durchaus ruhende, nämlich eine Gegend, eine Landschaft, aber indem
der Dichter sie durchwandert und nach und nach an seinem Auge
vorübergehen lässt, gewinnt sie historischen Character, rollt sie sich
in einer bedeutsam geordneten Reihenfolge von einzelnen Bildern vor
dem Leser auf. Die lyrische Betrachtung nun, welche die Landschaftbeschreibung
begleitet, und zwar begleitet in dem innigsten
causalen Zusammenhange des Parallelismus und der Symbolisierung,
erkennt in jenem Wechsel der Naturscenen nur ein Abbild der Geschichte
der Menschheit, wie diese mit jedem Schritte mehr und mehr
sich von der Natur entfremdet und damit auch von der Unschuld und
der unbefangenen Sittlichkeit, bis der letzte Blick, den der Dichter
um sich wirft, ihn überzeugt, nur in der Rückkehr zur Natur könne
die Menschheit noch Heil finden, zur Natur, die immer beständig,
immer sich gleich sei, während der Mensch in unablässigem Wandel
immer mehr ausarte. Man sieht, diese lyrische Betrachtung hat selbst
wieder, da sie sich auf die Geschichte der Menschheit richtet, einen
historischen Verlauf in sich und ein episches Element, und sie allein
könnte schon eine Elegie bilden: wie viel mehr Halt und Gehalt muss
nun die ganze Dichtung gewinnen, die so auf dem eng verbundenen
Parallelismus einer doppelten Wirklichkeit ruht, zuerst Natur und
darüber erbaut Geschichte. Und hier ist der lang ausgedehnte historische
Verlauf kein Fehler mehr, wie man ihn dort bei Schlegel
fehlerhaft und der Dichtung schädlich finden durfte: denn hier finden
wir keine Ueberfülle von Einzelheiten, sondern nur die grossen und
die eigentlich bezeichnenden Hauptzüge; dann ist es nicht die Specialgeschichte
Eines Volkes oder der Kunst Eines Volkes, es sind auch
keine Facta und Personen einer fremden und weit entlegenen Vergangenheit,
die hier vor dem Leser aufgezählt werden, sondern es
ist die Geschichte der Menschheit, also eine immer noch gegenwärtige,
fortdauernde Geschichte, eine Geschichte, die in dem Stufengange,
welchen der Dichter beschreibt, noch jetzt täglich beginnt und endet,
und so, dass wir mit darin stehn. Schiller gebraucht deshalb auch
immer das Präsens, während Schlegel in den erwähnten Gedichten
sich des Präteritums bedient. Da wird jenem denn auch voller und
freier Raum gegeben zur Entfaltung der reichsten und bewegtesten
Lyrik, einer Lyrik, die ganz und rein gemüthlich ist, zwar mit Beimischung,
aber durchaus ohne störende Beimischung verständiger
Reflexion, so nahe diese auch gelegt war, und so sehr sich sonst der
Dichter in ihr gefällt. Man könnte über diess Gedicht leicht ein ganzes
Buch schreiben, und ein solches Buch dürfte dann von selbst schon
auch eine Theorie der elegischen Dichtkunst enthalten.

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Wir haben in der bisherigen Erörterung der Elegie im antiken
Sinne des Wortes nirgend gesehen, dass die Wehmuth eigentlich und
unerlässlich zum Wesen derselben gehöre. Es ist ihr vielmehr, wie
wir gefunden, jedwede Regung und Aeusserung des Gefühles offen
gelassen, die Entfaltung jeglicher inneren Zustände, seien sie, welche
sie wollen, gestattet, wenn sie sich nur auf dem treibenden Grund
und Boden einer mit angeschauten und mit dargestellten Wirklichkeit
entfalten. Die Elegie hat zum alten Trauerliede, ἔλεγος, nur die
Beziehung, dass die metrische Form des ἔλεγος auf die Elegie übergegangen
und der ἔλεγος eine Art lyrischer Epik ist, wie die Elegie
eine Art epischer Lyrik. Gleichwohl lässt sich nicht leugnen, dass
das ganze Wesen der Elegie eine wehmüthige Art und Weise der
Auffassung, wenn auch nicht fordre, doch sehr begünstige. Denn das
ist ja Wehmuth, wenn das Gefühl einen Widerspruch entdeckt zwischen
sich und der angeschauten Wirklichkeit, und wenn es nun in die
Betrachtung dieses Widerspruches sich vertieft mit still duldendem
und sich selbst nachhangendem Schmerz. Nirgend aber kann das Gefühl
leichter in einen solchen Widerspruch treten als bei Bildern der Natur,
den Gegenständen der Elegie; und auf keine Art kann sich die Wehmuth,
die den Schmerz langsam auskostet, anschaulicher äussern als
in dem stockenden, hin und her irrenden, alles berührenden Gange
der Elegie. Wenn man also auch nicht behaupten darf, dass die
Elegie Ausdruck der Wehmuth sein müsse, so ist doch so viel zuzugeben,
dass die Wehmuth sich nicht besser ausdrücken könne als
in der Form der antiken Elegie. Darauf beruht denn auch der hohe
Werth der Elegien Hölderlins: sie sind alle durchdrungen von dem
Gefühle wehmüthiger Vaterlandsliebe, sind Elegien des Heimwehs,
wie z. B. das Gedicht Der Wanderer (LB. 2, 1258).


Die neuere Zeit hat aber den Begriff und den Namen der Elegie
so gewendet, dass er auf der einen Seite beschränkt, auf der andern
erweitert wurde. Beschränkt, insofern man nur solche Gedichte so
genannt hat, die eine gegebene Wirklichkeit mit Wehmuth betrachten,
erweitert, insofern man für die äussere Form der Darstellung alle
mögliche Freiheit gegeben und auch die moderne Reimstrophe zugelassen
hat. Solche Elegien haben wir zum Beispiel und namentlich von
Hölty und Matthisson. Matthisson lehnt sich auch hier an eine landschaftliche
Wirklichkeit: aber leider ist diese Wirklichkeit keine für
den Leser, da Matthisson nicht die Kunst besitzt, eine Landschaft
zur Anschauung zu bringen; so ruht denn auch die angeregte Wehmuth
auf keinem fest zusammenhangenden Boden mehr, der sie trüge
und hielte; der Leser gewahrt wohl einzelne Züge der Aeusserlichkeit |#f0150 : 137|

und der Innerlichkeit, deren jeder für sich ganz ansprechend sein
mag, aber sie vereinen sich zu keinem Ganzen: vgl. LB. 2, 1199 fgg.
Höher steht Hölty, der in seinen Elegien lieber von einer thatsächlichen
Wirklichkeit ausgeht, wie z. B. in seiner Elegie auf ein Landmädchen
(LB. 2, 867), und dessen Gefühl auch mehr Wahrheit und
Innigkeit besitzt, als die Sentimentalität Matthissons, deren ungesunde
Affectation nicht zu verkennen ist. Wie tief Matthisson steht, ergiebt
sich am deutlichsten, wenn man ihn mit noch einem andern Dichter
zusammenhält und z. B. sein Gedicht Die Kinderjahre (LB. 2, 1201)
vergleicht mit einem ältern Gedichte Joh. Christian Günthers, welches
überschrieben ist: „Als er sich seiner ehemaligen Jugendjahre mit
Schmerzen erinnerte“ (LB. 2, 595). Wie einfach, wie wahr, wie eindringlich
rührend ist Günther; wie kahl und kalt dagegen all die
schönen Phrasen und Bilder, welche Matthisson in bunt verwirrter
Menge aufhäuft! Höltys und Günthers Beispiel könnte jeden mit dieser
modernen Wendung der Elegie versöhnen, besonders den, der die
antike Form in der neueren Poesie unpasslich findet. Gleichwohl sind
auch die ausgedehnten, vielzeiligen Strophen, wie wir sie bei Günther,
bei Hölty und bei andern neueren Elegikern finden, nicht ganz passlich
gewählt: sie zerlegen die Betrachtung in zu breite und damit in zu
wenige Glieder; was aber dem Wesen gerade der wehmüthigen Elegie
besonders angemessen ist, das stockende Innehalten, das träumerische
Umherirren, kann in solchen Formen nicht erlangt werden: in ihnen
fliessen Gedanken und Worte zu gleichmässig in breitem, ruhigem
Strome dahin. Diess Bedenken macht sich auch gegen die italiänische
Form der Canzone geltend, die trotz dem grossen Umfang ihrer Strophen
von den Italiänern und den Deutschen, ich erinnere an Petrarca,
A. W. Schlegel (LB. 2, 1277: Todtenopfer) und Zedlitz (Todtenkränze),
für elegische Stoffe in diesem engern Sinne des Wortes angewandt
wurde. Unter allen modernen Strophenformen die geschickteste für
die Elegie möchte die Terzine sein. Statt dessen hat man sie lieber
auf erzählende Gedichte übertragen, auf Gedichte, bei denen jede
andre Form besser am Platze wäre als gerade diese.


Um schliesslich nach der griechisch-römischen und der deutschen
auch noch der hebräischen Poesie zu gedenken, so weist auch sie
Gedichte auf, welche aus mehr als einem Grunde Elegien zu nennen
sind. Diess gilt von zahlreichen Psalmen, Davidischen und andern,
namentlich aber von den Klageliedern des Propheten Jeremias. Hier
zeigen sich zwei der Elegie eigne Richtungen vereinigt: einmal haben
sie einen politischen Inhalt, den Anlass bieten Ereignisse der Zeitgeschichte,
politische Zustände der Gegenwart, wie in den ältesten |#f0151 : 138|

Elegien der Griechen. Sodann treten uns die Empfindungen der Trauer
in den verschiedensten Farben und Graden entgegen, von dem bittersten
Schmerze, der an Verzweiflung grenzt, bis zur Wehmuth, die
aus dem Leidenskelche zugleich den Trost kostet. Der Gedankengang
aber ist eben der, welchen wir als den der Elegie eigenthümlichen
gefunden haben. So verhält es sich namentlich in dem Klageliede,
welches das dritte Capitel bildet. Unpassend genug ist es, dass diese
Gedichte des Jeremias in griechischer und lateinischer Uebersetzung
Threni heissen; denn die θρῆνοι waren Klagelieder auf bestimmte
einzelne Verstorbene, und für Threnen sind diese hebräischen Gesänge
auch nicht episch genug und nicht genug episch einfach. Es sind
eben durchaus Elegien, und wäre Jeremias ein Grieche gewesen,
gewiss würde er auch keine andre Form als die der Elegie zur
Anwendung gebracht haben.


Unmittelbar an die Betrachtung der Elegie schliessen wir die
einer andern Dichtungsart, die mit ihr auf das engste und innigste
verbunden ist, die des Epigramms. Desjenigen Epigramms nämlich,
das den Griechen eigenthümlich ist, das die Römer meistentheils haben
bei Seite liegen lassen, das auch die deutsche Litteratur erst seit
Herder und Göthe kennt, das Epigramm der Empfindung: denn nur
diess ist episch-lyrischer Natur. Die Art von Epigramm, die wir
vor jenen Dichtern besessen, in der sich auch die Römer beinahe
ausschliesslich gefallen haben, die aber bei den Griechen nur spärlich
und erst in späteren Zeiten vorkommt, das Epigramm der Lehre,
namentlich das durch Spott lehrende, das satirische, gehört zur didactischen
Lyrik, und das werden wir erst dort als eine weitre, halb
prosaische Umgestaltung des episch-lyrischen behandeln.


Das Epigramm hat, wie das schon sein Name ἐπίγραμμα, Aufschrift,
Inschrift andeutet, seinen Ursprung aus der Sitte genommen,
Denkmäler, die man setzte, Weihgeschenke, die man den Göttern
widmete u. s. w., mit einer Inschrift zu versehen, die den Namen
des Weihenden oder dessen, dem das Denkmal gesetzt war, enthielt
sammt historischen Notizen über den einen oder den andern, wozu
dann noch, damit die Inschrift rechten Inhalt und auch sie einen
künstlerischen Sinn und Werth besitze, eine Andeutung der Empfindungen
kam, welche der Anblick des Denkmals, die Nennung
dieser Namen u. s. f. erregte. Namentlich waren es die Gräber, die
man mit solchen halb erzählenden, halb empfindungsvollen Inschriften,
mit Worten der Erinnerung an den Todten und der Klage über seinen
Verlust poetisch ausschmückte. Auch für andre Kunstwerke, Werke
der Plastik und der Malerei, pflegte man solche Epigramme zu |#f0152 : 139|

verfassen, die bald den Namen des Künstlers, bald den Namen oder
eine characteristische Bezeichnung des dargestellten Gegenstandes angaben
und dazu noch der Empfindung Ausdruck liehen, die das Kunstwerk
in dem Beschauer erweckte; dieser Ausdruck erschien nicht selten in
überraschend witziger Wendung, z. B. in der Form einer Hyperbel:
alles das beinahe immer zum Lobe des Künstlers. So gab es z. B.
viele Epigramme auf eines der bewundertsten Kunstwerke des Alterthums,
die Kuh des Myron. Viele: denn die meisten, ja man kann
annehmen, fast alle solche Epigramme sind niemals wirklich eingehauene,
angemalte Inschriften gewesen: sondern es war damit nur
gemeint, man könnte allenfalls diess darunter setzen. Es ist bei
manchen auch gar nicht das Kunstwerk als solches, das die Empfindung
anregt, sondern vielmehr die Persönlichkeit, die Thaten und
Erlebnisse dessen, den es darstellt. Indem man nun auf diesem Wege
noch einen Schritt weiter gieng, entstanden Epigramme ohne alle
Beziehung auf ein Kunstwerk u. s. w., Epigramme vielmehr, die ohne
irgend eine wirkliche Vermittelung solcher Art sich gradeswegs nur auf
die historischen Personen, auf Ereignisse, auf Naturgegenstände selbst
bezogen: das Object der empfindsamen Betrachtung ward für einen
Augenblick nur gleichsam plastisch oder malerisch fingiert und fixiert.
Es hat mithin das griechische Epigramm das mit der Elegie gemein,
dass es gleichfalls von einem historisch gegebenen Object ausgeht,
also von einer epischen Wirklichkeit, und dass es die Empfindung
darlegt, welche die Betrachtung jener Wirklichkeit hervorruft, dass
es also auch auf das epische Element ein lyrisches baut. Aber innerhalb
dieses Gemeinsamen finden wir bedeutende Unterschiede: die
Wirklichkeit der Elegie kann eine ausgedehnte, vielgliedrige sein,
z. B. die ganze politische Gegenwart, eine weithin sich erstreckende
Landschaft: das Epigramm greift immer nur vereinzelte Puncte heraus,
Ein Ereigniss, Eine Person, Ein Naturbild. Und während, angemessen
der breiten epischen Grundlage, die Elegie auch einen weiten
und breiten Verlauf innerer Zustände entfaltet, gewährt das Epigramm
nur Einen Zustand, nur Eine Empfindung, keine causal fortlaufende
Reihe, und auch diese Eine Empfindung wird, weil sie eben so vereinzelt
dasteht, weniger ausgeführt, als nur leise berührt und angedeutet.
Und während es der Elegie bei ihrer Ausdehnung vortheilhaft ist, und
in so fern von ihr gefordert wird, dass sie das epische Element mit
dem lyrischen verschmelze und verquicke und nicht das eine abgesondert
neben dem andern herlaufen lasse, ist es dem Epigramm bei
seiner Einschränkung auf Eine Situation und Eine Empfindung nicht
nur erlaubt und kaum anders möglich, sondern ihm auch vortheilhaft, |#f0153 : 140|

dass es beide Theile schärfer getrennt aus einander halte, den epischen
und den lyrischen, den objectiven und den subjectiven, den episch
darlegenden, der die Theilnahme anspricht, und den empfindsam ausdeutenden,
der die Theilnahme befriedigt: man unterscheidet auch
beide mit besondern Namen und nennt den einen Theil expositio oder
indicatio oder narratio, und den andern clausula oder conclusio. Und
während die Elegie zum Object ihrer lyrischen Betrachtungen nicht
gern einen geschichtlichen Verlauf der Vergangenheit nimmt, weil ein
solcher für die subjective Lyrik zu episch wäre, darf die Exposition
des Epigramms sehr wohl der fernsten und fremdesten Vergangenheit
angehören: denn es kann doch immer nur Eine Thatsache sein, und
es wird hier keine so innige Verbindung mit dem lyrischen Elemente
gefordert. Diese Beschränkung des Epigramms auf Eine Thatsache
und Eine Empfindung verlangt Kürze der Darstellung und ein angemessenes
Verhältniss beider Theile: die Exposition darf weder mehr
exponieren, als nachher ausgedeutet wird, noch die Clausel mehr
ausdeuten, als vorher exponiert war. Deshalb war das Epigramm
ursprünglich auf den Raum eines einzigen Distichons eingeschränkt,
auf den epischen Hexameter, der das erzählte Object darlegte, und
den lyrischen Pentameter, der die daran geknüpfte Empfindung enthielt.
Diese Form war schon im Allgemeinen die angemessenste: da
war sie es noch ganz besonders, wo ein solches Distichon oder ἐλεγεῖον
als Grabschrift diente, wo es also in dem eigentlichen Masse des
ἔλεγος die Trauer über den Verstorbenen ausdrückte. So auf ein
Distichon, ein ἐλεγεῖον, eingeschränkt erscheint das Epigramm auch
in metrischer Beziehung als die kleinste Einheit einer ausgeführten
Elegie (τὰ ἐλεγεῖα), wie sie auch sonst zu ihr sich ungefähr in dieser
Art verhält. Jedoch giebt es auch Epigramme, die sich über mehrere
Distichen hin ausdehnen, weil trotz der Vereinzelung des factischen
Gegenstandes und der empfindsamen Betrachtung dennoch jener Raum
für eine rechte Objectivierung und Subjectivierung gar zu eng war.


Epigramme der Art, wie sie eben sind beschrieben worden,
Epigramme der Empfindung, machen zum grössten und hauptsächlichsten
Theil den Inhalt der sogenannten griechischen Anthologie aus;
Epigramme der directen Lehre und der in Spott eingekleideten, didactische
und satirische Epigramme, kommen daneben nur spärlich vor.
Umgekehrt bei den Römern; wir Deutsche haben Jahrhunderte hindurch
das Epigramm der Empfindung kaum gekannt: erst durch
Herder und Göthe sind auch wir damit befreundet worden. Unter
dem Titel: Blumen aus der griechischen Anthologie gab Herder
1785 eine Auswahl von Epigrammen in deutscher Uebersetzung und |#f0154 : 141|

in der Form des Distichons heraus, denen er 1791 geistreiche und
so gut als erschöpfende Anmerkungen über das griechische Epigramm
folgen liess, und Göthe dichtete im Jahre 1790 seine Venetianischen
Epigramme (LB. 2, 1079). Nach ihrem Vorgange verfassten seitdem
auch andre Dichter Epigramme, zunächst Schiller, bei dem jedoch,
als einem reflectierenden Dichter, die didactischen Epigramme überwiegen
(LB. 2, 1157). Uebrigens hatte Göthe schon früher, aber vor
ihm nur wenige andre deutsche Dichter, Epigramme der Empfindung
verfasst, nur nicht in Distichen: er nennt sie Lieder, aber ihre zweigliedrige
Gestalt, die sich in einfache Exposition und einfache Clausel
theilt, macht sie zu Epigrammen. Ein Beispiel der Art ist Wandrers
Nachtlied, das an ein Naturbild die dadurch angeregten Empfindungen
anknüpft:


Ueber allen Gipfeln Ist Ruh;

In allen Wipfeln Spürest du

Kaum einen Hauch;

Die Vöglein schweigen im Walde.

Warte nur! balde

Ruhest du auch.
   LB. 2, 1023.


Dergleichen epigrammatische Lieder finden wir seitdem namentlich bei
Uhland, der durch seinen dichterischen Character auf das Epigramm
der Empfindung angewiesen war. Von den s. g. Liedern gehört hieher
z. B. Ruhethal:


Wenn im letzten Abendstrahl

Goldne Wolkenberge steigen,

Und wie Alpen sich erzeigen,

Frag' ich oft mit Thränen:

Liegt wohl zwischen jenen

Mein ersehntes Ruhethal?


Andere Epigramme der Empfindung hat Uhland unter den Sinngedichten
eingereiht; sie sind theils in Distichen, theils aber auch in Reimen
abgefasst.


Blicken wir noch weiter zurück bis ins Mittelalter, so finden wir
in der italiänischen Poesie eine eigne Strophenform für das Epigramm,
nämlich das Sonett. Seine vierzehn Zeilen lassen die Exposition wie
die Clausel in reicherer Fülle entfalten als das antike Epigramm; aber
dennoch bleibt der epigrammatische Grundriss, indem zwischen den
acht ersten Zeilen und den sechs folgenden eben auch jener Gegensatz
von Exposition und Clausel, von epischem Vordersatz und lyrischem
Nachsatz besteht.


Zur subjectiven epischen Lyrik gehört ausser der Elegie und dem
Epigramm der Empfindung auch die lyrische Gelegenheitspoesie. Auch
sie hat ein episches Element, die Gelegenheit, die äussere Wirklichkeit |#f0155 : 142|

des Ereignisses, das den Anstoss und Anlass zu den inneren
Zuständen, deren Grundlage bildet; lyrisch ist sie der Entwickelung
eben dieser inneren Zustände wegen, und da diese die Hauptsache
ist, so gehört sie eben zur epischen Lyrik. Dadurch unterscheidet
sich die lyrische Gelegenheitsdichtung von der epischen, die wir früher
besprochen haben (S. 92): in dieser, z. B. in den Hymnen der Homeriden,
überwog das Epische so sehr, dass daneben das Lyrische beinahe
verschwand; daher wir die Dichtungen jener Art auch nur haben
lyrische Epik nennen können. Dennoch schloss sich, wie das auch
nothwendig und natürlich war, die lyrische Gelegenheitspoesie der
Griechen, um von dieser zuerst zu reden, eng an ihre epische Gelegenheitspoesie
an. Und zwar finden wir diese weiter überleitende Zwischengattung,
die lyrische Gelegenheitspoesie, vorzüglich und so gut
als ausschliesslich in Gunst und Pflege bei den Doriern, oder wo sie
von andern geübt wurde, geschah es unter Anwendung der dorischen
Mundart, während die zuerst besprochene Gattung der epischen Lyrik,
die Elegie, Sache und Eigenthum der Ionier war. Der bedeutendste
aber und grösste unter all solchen dorischen Dichtern, die Blüte und
der Gipfelpunct der dorischen Lyrik ist Pindar, der zugleich auch
dadurch sich auszeichnet, dass von keinem so viel und in solcher
Vollständigkeit erhalten ist. Ihn haben wir daher namentlich ins Auge
zu fassen bei den wenigen Bemerkungen, welche die Betrachtung der
griechischen Gelegenheitslyrik veranlasst.


Freilich ist Pindar nur in so fern und nur dadurch der Blütepunct
der dorischen Lyrik, dass er zugleich über die echt dorische Weise
schon hinausgeht und sich der reinen Lyrik der Aeolier annähert
und zum Theil auch schon nach deren Weise dichtet: wie er denn ja
selbst als Böotier ein Aeolier war und daher auch in die dorische
Mundart mehr als einen Aeolismus einmischt. Die epische Natur der
dorisch-pindarischen Lyrik zeigt sich vor Allem aus darin, dass sie
bestimmt war, religiöse Feierlichkeiten, Nationalfeste u. dgl. zu verherrlichen,
dass also einmal ihr Anlass in einer bedeutungsvollen
äusseren Wirklichkeit lag, und dass es sodann die geistigen und die
politischen Interessen, die Religion und das Staatsleben des gesammten
Volkes waren, an die sie sich anschloss. Diese allgemeine,
religiös-nationale Beziehung kehrt Pindar als das Hauptsächliche auch
da heraus, wo nach unsrer Ansicht und Gewohnheit der epische Stoff
eher in den beschränkten und einseitigen Verhältnissen einer einzigen
Person wäre zu suchen gewesen. Wir haben nämlich von ihm fast
nur Epinikien und Enkomien: Siegeslieder und Lobgesänge, verfasst
auf die Sieger bei nationalen Festspielen. Diese sind Pindar zwar |#f0156 : 143|

nicht besonders und ausschliesslich eigenthümlich, aber er war darin
wohl besonders ausgezeichnet: es ist wohl kaum zufällig, dass nur
dergleichen Gedichte zahlreich und vollständig auf uns gekommen
sind, während von andern, z. B. von Threnen, Hymnen, Päanen
u. dgl. nur vereinzelte Fragmente erhalten sind. Zwischen Epinikien
und Enkomien besteht ein Unterschied der dichterischen Behandlungsweise.
In den Epinikien tritt die Persönlichkeit des Besungenen beinahe
ganz in den Hintergrund: häufig wird eben nur sein Name
genannt, er kommt nur in Betracht als Repräsentant seines Stammes
und Vaterlandes, sein Stamm aber auch nur wieder als Glied des
ganzen hellenischen Volkes, wie das Nationalfest diese grosse einige
Gesammtheit auswiess; und darüber schwebt dann noch als höchste
Einheit, die von aller menschlichen und persönlichen Einseitigkeit
abführt, der nationale Gott, dem die Spiele geweiht waren, der den
Spielen vorstand.


In den Enkomien tritt die Persönlichkeit dessen, dem der Gesang
gilt, weniger zurück, hier ist es vorzüglich auf sein Lob, auf seinen
Ruhm und Preis abgesehen, weniger auf den Ruhm und Preis des
Gottes und des Volkes; hier ist von diesem nur in untergeordnetem
Masse die Rede; übrigens sind die Enkomien minder zahlreich als
die Epinikien. Wie also namentlich in den Epinikien der gefeierte
Sieger nur für den Stellvertreter des ganzen griechischen Volkes gilt,
so wird auch von Seiten des feiernden Sängers und seines Festgesanges
eine allgemein nationale Gültigkeit angesprochen: der Sieger ist der
Held, der Dichter will auch nur die dichterische Stimme des Volkes
sein, und darum wird sein Festlied auch nicht von ihm allein, sondern
von einem ganzen Chor gesungen, gleichsam vom Volke im
Kleinen, wie denn überhaupt die dorische Lyrik eine chorische ist;
zum antiken Chorgesange gehört aber nicht bloss, dass es eine grössere
Anzahl von Sängern sei, welche sich vereinigen, sondern auch, dass
der Gesang und das ihn tragende und haltende Spiel der Leyer und
der Flöte begleitet werde vom Tanz: so denn auch bei Pindar: wir
erblicken also hier wiederum die drei rhythmischen und transitorischen
Künste der Poesie, der Musik und des Tanzes in ihrer natürlichen
Verbindung. Diese Verbindung hatte schon vor Pindar die eigenthümliche
Gliederung der Chorgesänge in Strophen, Antistrophen und
Epoden herbeigeführt: bei der στροφή, d. h. Wendung, gieng der
Chor in zwei Hälften aus einander, bei der ἀντιστροφή näherten sie
sich wieder durch eine Gegenwendung; die ἐπῳδός, d. h. Zugesang,
die übrigens nicht immer, aber doch gewöhnlich vorkam, bezeichnet
die Sammlung und Vereinigung der getrennten Hälften. Also, ganz |#f0157 : 144|

der Lyrik angemessen, strophische Gliederung und ein Wechsel der
kühnsten und künstlichsten Strophengebäude, so jedoch, dass jedesmal
die Strophen und die Antistrophen, die zusammen gehörten, einander
gleich waren, die Epode ihnen ungleich. So bei Pindar und
schon vor ihm: ursprünglich aber, als der Chorgesang noch ganz
innerhalb der Epik lag, kannte auch er noch kein andres Mass als
eben das epische, den Hexameter.


So national nach all diesem die chorische Lyrik Pindars ist, so
viel Episches sie enthält, so nahe sie sich demgemäss an die lyrische
Epik früherer Zeiten anschliesst, so lyrisch, d. h. so individuell subjectiv
ist sie dennoch auf der andern Seite, so sehr ist dennoch die
ganze Entwickelung seiner Dichtungen von beinahe rein lyrischer Art.
Pindars Genius ist durchaus ein lyrischer und darin eben besteht seine
gewaltige, stäts bewunderte und noch nie erreichte Kunst, wie er
vom lyrischen Standpuncte her aus seinem heilig begeisterten Gemüthe
heraus die Fülle des epischen Stoffes zu bewältigen weiss. Freilich
will er nur die Stimme des Volkes sein; aber er ist sie nicht wie
ein gemietheter Bote, sondern wie ein König oder Priester, in dem
sich das Wissen und Wollen Aller concentriert; er erzählt Sagen der
Helden und Mythen der Götter: aber er erzählt sie nicht bloss, wie
sie grade überliefert sind: er gestaltet sie um, er deutet sie aus wie
Einer, der um den Gang der Geschichte im Himmel und auf Erden
besser weiss als andre Menschen. Seine Lyrik schliesst sich zwar
an die politischen Zeitläufte an und an die Sagen und Mythen seines
Volkes, aber nicht, indem sie davon ausgeht, sondern indem sie darauf
hinkommt oder berührend daran vorüberstreift. Der Sieg, den irgend
ein vielleicht sonst namenloser Grieche in diesem oder jenem Festspiele
errungen hat, giebt ihm Anstoss und Anlass, der ist das epische
Motiv und ein an und für sich nicht eben sonderlich bedeutendes.
Alsbald aber, sowie dieser Anstoss ihn berührt hat, entspringen im
Gemüthe des Dichters aus tausend Quellen zugleich die Ströme lyrischer
Empfindung; unaufhaltsam rauschen sie vorwärts, nach allen
Seiten überfliessend, und wo sie auf einen sagenhaften Denkstein
treffen, nehmen sie ihn in sich auf und mit sich fort. Diess Ungestüm
in der Entwickelung der inneren Zustände und die Fülle von
mythischen und sagenhaften Beziehungen, an welchen und in welchen
sie sich entwickeln, diess beides begründet die Eigenthümlichkeit der
Pindarischen Lyrik: dass sie nämlich einmal Dinge in sich hereinzieht,
die weit ab vom Wege zu liegen scheinen, und dann, dass sie alle
vermittelnden Uebergänge verschmäht. Beides ist an Pindar bewundert,
beides auch getadelt worden; aber Lob und Tadel haben selten |#f0158 : 145|

das rechte Mass gefunden, das sowohl den allgemeinen Anforderungen
der Kunst als der besonderen Eigenthümlichkeit eines Dichters Rechnung
zu tragen weiss. Schon das Alterthum, schon die Zeitgenossen
Pindars haben sich zuweilen daran gestossen. So wird erzählt, als
er einmal einen Hymnus auf die Thebaner gedichtet und gleich zu
Anfange in sechs Versen fast ein Dutzend verschiedenartiger sagenhafter
Beziehungen angehäuft habe, habe die thebanische Dichterin Korinna
lächelnd gesagt: „Mit der Hand muss man säen, nicht mit dem Sack“
(Plut. de glor. Athen. 347 E). Ja er selbst wird sich mitunter dessen
bewusst, wie er in dem weiten Erguss des Gesanges den rechten
Weg verliere: so ruft er in der elften pythischen Ode (V. 38 fgg.):
„Wie weit, Freunde, bin ich in meiner Bahn auf Dreizackwege verirrt!
und gieng erst richtig einher. Oder hat meinen Gesang auf seinem
Wege der Sturm verschlagen wie ein Fahrzeug des Meeres?“1 Im
Grunde fallen beide Eigenthümlichkeiten, die Fülle des Inhalts und
die schnellen Sprünge, durchaus zusammen: die eine besteht nur durch
die andre: nur indem er unvermuthet von Diesem zu Jenem übergeht,
kann er so nach allen Seiten hin in den Schatz von Sagen und Mythen
greifen, und wiederum führt ihn diess Letztere so oft seitwärts und
über das Ziel hinaus, dass er nur durch einen kühnen Sprung sich
noch zurückschwingen kann auf die rechte Bahn und den alten Weg.
Es wäre angenehm und lehrreich, diese Bemerkungen weiter auszuführen,
indem wir einige seiner Dichtungen zergliederten und daran
nachzuweisen suchten, wie da überall der epische Stoff nur der Lyrik
diene, nicht aber umgekehrt, und wie der leiseste Anlass genug sei,
um sein Gemüth zu solch einem stürmenden Gange über das Gebiet
der Sage und des Mythos hin anzufeuern. Indessen würde uns das
für unsre Zwecke zu weit führen und zu lange aufhalten. Ueberhaupt
können wir uns jetzt von Pindar abwenden und nur noch diess Eine
bemerken, dass, indem er die Mythen eben als Lyriker, nicht als
Epiker in sich aufnimmt, indem sein Geist sie ergreift, nicht aber
sie seinen Geist, dass er da nicht selten auf das Gebiet der Didactik,
der lehrhaften Betrachtung überspringt. Denn, wie bereits vorher
erwähnt, er hält sich, wo er Mythen und Sagen erzählt, nicht mit
der Treue eines Epikers an das, was überliefert ist, sondern er verfährt
mit der Sage und dem Mythus ungefähr so, wie die Sage selbst
mit der Geschichte verfährt; er ändert, lässt weg, setzt hinzu, wenn

1
Ἤ ῥ', ὦ φίλοι, κατ' ἀμευσιπόρους τριόδους ἐδινάθην, ὀρθὰν κέλευθον ἰὼν
τοπρίν; ἤ μέ τις ἄνεμος ἔξω πλόου ἔβαλεν, ὡς ὅτ' ἄκατον εἰναλίαν.
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ihm die Ueberlieferung seiner höhern und geläuterten Idee von Gott
und Welt zu widersprechen scheint, und ändert, bis er eine bessere
Uebereinstimmung gewinnt. Dergleichen und vieles Andre giebt ihm
dann reichlichen Anlass zu religiösen und ethischen Betrachtungen, zu
Seitenwendungen rein didactischer Art. Ein Beispiel hiezu bietet
gleich die erste olympische Ode, wo er die Sage von Tantalus in
einer neuen und ihm eigenthümlichen Gestalt vorträgt und sich dann
ausdrücklich gegen die gewohnte Erzählung wehrt und verwahrt,
welche die unsterblichen Götter nur entehre und bis zur Tiefe menschlicher
Laster erniedrige.


Pindar ist bisher immer noch unerreicht geblieben, und man kann
wohl sagen, dass ihm grade die am fernsten stehn, welche es am
ausdrücklichsten versucht haben, ihn nachzuahmen. Der älteste und
nicht gerade der schlechteste unter den deutschen Nachahmern Pindars
ist Georg Rodolf Weckherlin, ein Schwabe (1584─1651). Wie der
Italiäner Metastasio und der Graf Platen bedient sich denn auch
Weckherlin gern einer metrischen Form, die der Pindarischen nachgebildet
ist; seine Strophen, Antistrophen und Epoden sind aber aus
Reimversen aufgebaut (LB. 2, 259). Am nächsten daran, es Pindar wenigstens
ungefähr gleich zu thun, waren Dichter, die von ihm nichts
wussten, die provenzalischen, die französischen und die deutschen
Lyriker des Mittelalters. Auch von diesen giebt es zahlreiche epischlyrische
Gelegenheitsgedichte, so bei den Provenzalen das Sirventês
d. h. Dienstgedicht. Aber wie schon dieser Name andeutet, waren
die Dichter meistens zu sehr in dienstbarer Abhängigkeit von mächtigen
Herrn, dienten zu sehr um deren Gunst und Unterstützung, als
dass sie sich zu der Freiheit und Kühnheit der Pindarischen Lyrik
hätten erheben können, auch wo Einer dem Pindar etwa an Geiste
wäre verwandt gewesen. Und auch sonst stand, allgemein betrachtet,
Manches entgegen und liess das Mittelalter zu keiner epischen Lyrik
nach Pindarischer Art gelangen: es gab da keine Feste, wie die
olympischen, mit all dem freudigen Nationalgefühl, das sich darin
und dabei aussprach; es gab keinen solchen Reichthum an Mythen
und an mythischen Sagen, mit denen der Dichter wie mit Bildsäulen
das stolze Gebäude seines Gesanges ebenso hätte ausschmücken können.
Und so konnte es nicht ausbleiben, dass die Dichter, indem sie
der Gelegenheit dennoch ein Gedicht abgewinnen wollten, nur zu sehr
und zu oft sich in Erörterungen unpoetischer Persönlichkeiten oder in
didactische Betrachtungen verloren. Am höchsten gelang es natürlich
den Dichtern sich da zu schwingen, wo sie weder bloss nationalen,
noch gar persönlichen Interessen dienten, sondern den grössten, |#f0160 : 147|

höchsten und allgemeinsten, die damals nur die Völker Europas beseelen
konnten, den Interessen der Kreuzzüge, also in Kreuzliedern, wie wir
deren denn auch ganz so von Provenzalen und Franzosen, wie von
Deutschen haben. Hier kehren vorübergehend ziemlich die gleichen
Verhältnisse wieder, unter denen die Pindarische Poesie erwuchs, zum
Theil nur noch in grösserem und höherem Massstabe: hier war nicht
bloss ein Spielfest, bei dem die Völker sich vereinigten, und nicht
bloss ein Localgott, dem es galt zu dienen, hier galt es nicht den Sieger
zu rühmen, sondern zum Siege anzufeuern, hier wurden keine Lorbeerkränze
vertheilt, sondern himmlische Kronen verheissen. Dergleichen
Lieder sind es auch namentlich, in denen der bedeutendste deutsche
Lyriker des Mittelalters, Walther von der Vogelweide, die nahe Verwandtschaft
besonders kund thut, die überhaupt zwischen ihm und
Pindar besteht. Vorzüglich kommt hier ein Kreuzlied in Betracht,
das Walther im Jahre 1228 gedichtet hat, und das zufällig sogar bis
in minder wichtige Einzelheiten hinein an Pindars Art und Weise
anklingt, nur dass es, indem der Dichter den altfranzösischen Alexandriner
zur Anwendung bringt, mehr epische Einfachheit hat, und dass
die bei Pindar seltnere Wehmuth die durchgreifende Empfindung ist:
vgl. LB. 14, 408 (15, 587); Wackernagels Walther S. 74. Nachdem
Walther mit der Freudlosigkeit der Welt begonnen, welche ihn befremdet,
der sie fröhlicher gesehen, stellt er sich, um das zu schildern,
in sagenhafter Weise als einen dar, der wie die h. Schläfer der
Legende so lange gelegen und geschlummert habe, dass die Welt in
der Zeit eine andre geworden. „Aber“, so fährt dann die Betrachtung
mit einem plötzlichen Uebergange fort, „alle Wonne dieser Welt ist
doch nichts: ringet nach der himmlischen, wappnet euch und ziehet über
See“. Und diese Schlussermahnung legt er dem Boten in den Mund,
der statt seiner das Ganze an irgend einem Hofe vorzutragen hat,
grade wie auch bei Pindar öfter der Chor in erster Person aus eignem
Munde spricht.


Was aber ganz besonders hervorzuheben ist, die Lyrik des Mittelalters
besass eine Form, welche sich der chorischen Poesie der Dorier
ziemlich eng und genau anschliesst: der deutsche Name dafür ist
Leich, was so viel als Spiel, Tanz bedeutet. Die Leiche bestanden aus
einer Reihe ungleichartiger Strophen, von denen jede in zwei gleiche
Theile zerfiel, und waren gleich den Chorliedern der Dorier bestimmt,
von Instrumentalmusik und Tanz begleitet zu werden. Die Uebereinstimmung
geht aber noch weiter. Die Gelegenheitslyrik der Dorier
beruht auf der ältern Gelegenheitsepik, die zumal religiöse Beziehungen
hatte, und sie selbst war immer noch mehr oder weniger religiös. |#f0161 : 148|

Ebenso steht der Leich mit den s. g. Sequenzen, einer alten Art lateinischen
Kirchengesanges, in Zusammenhang und hat häufig genug religiösen
oder ernst politischen Inhalt, obgleich die meisten Dichtungen
dieser Art zur eigentlichen Minnepoesie gehören und von Lust und Leid
der Liebe handeln: vgl. die Sequentia de S. Maria LB. 14, 259 (15, 437).
Wir jetzt können freilich nicht recht begreifen, wie religiöse Poesie und
Tanz zusammenpassen: dennoch steht fest, dass die mittelhochdeutschen
Leiche für den Tanz bestimmt, und dass auch die religiösen Leiche
eben Leiche waren, und nichts weist darauf hin, dass bei solchen
kein Tanz stattgehabt hätte. Haben doch auch die Griechen die
erhabensten Festgesänge ihres Cultus mit Tanz begleitet. Wir sind
daher berechtigt anzunehmen, dass solche Leiche an kirchlichen Festen,
zwar ausserhalb der Kirche, aber doch am geheiligten Tage und mit
Rücksicht auf seine kirchliche Bedeutung sind gesungen worden. Auch
hier ist wieder Walther von der Vogelweide hervorzuheben: wir
besitzen von ihm zwar nur Einen Leich, aber dieser Leich hat religiösen
Inhalt und scheint auf das Fest der Dreieinigkeit oder ein
Marienfest verfasst zu sein: er geht vom Lob und Preis Gottes und
der Maria aus, aber auf dem religiösen Grunde ist auch eine politische
Farbe aufgetragen; die Entwickelung ist eine springende, wie bei
Pindar; (Wackernagels Walther S. 1─8). Um noch ein bezeichnendes
Beispiel anzuführen, mag auch des Leiches vom heiligen Grabe gedacht
werden, womit Heinrich von Rücke, ein Schwabe, zur Theilnahme
am Kreuzzuge aufforderte, als die Trauerbotschaft von dem am
10. Juni 1190 erfolgten Tode Kaiser Friedrichs I. nach Deutschland
gelangte (LB. 14, 323. 15, 501).


Die deutsche Poesie der neueren Zeit hat die Form des Leiches
gänzlich fallen lassen; nur Rückert hat sich derselben einmal in seinem
Gedichte Das Licht bedienen mögen (LB. 2, 1550).


Die zuletzt erwähnte mittelalterliche Dichtungsart führt uns leicht
und natürlich zu einigen Bemerkungen über das Kirchenlied, insofern
auch dieses im Allgemeinen mit zur Gelegenheitspoesie gehört und
insbesondere und im engsten Sinne des Wortes epische Lyrik sein
kann. Denn es kann ja von epischen Motiven ausgehn, es kann,
und den Liedern für die hohen Feste ist das eigentlich recht und
angemessen, aus der Geschichte Jesu erzählen, von seiner Geburt,
seinem Leiden und Sterben, seiner Auferstehung, und an diese Erzählung
die Entwickelung derjenigen innern Zustände anschliessen oder jene Ereignisse
aus denjenigen Gefühlen heraus darstellen, die durch Betrachtung
derselben erweckt werden. So lange Motive der Art die einzige epische
Grundlage bilden, wird das Lied auch ein Kirchenlied sein: denn da |#f0162 : 149|

haben alle Christen das Gleiche zu empfinden, und der Dichter wird
im Namen der ganzen Gemeinde, der ganzen Christenheit sprechen,
grade wie die ältere epische Lyrik der Griechen auch nicht für den
Dichter allein sprach. Erst wenn der Dichter zu jener allgemeinen
epischen Grundlage noch ein zweites, rein persönliches Motiv hinzufügt
oder lediglich von einem solchen ausgeht, von einem innern oder
äussern Ereigniss, das nur ihm gehört und kein Moment ist aus dem
Leben aller Christenheit: erst dann hört sein Lied auf ein Kirchenlied,
ein Lied der Gemeinde zu sein, und es wird ein ebenso subjectives
geistliches Lied, wie die epische Lyrik der spätern Zeit Griechenlands
auch in ihrer Weise rein subjectiv war. Natürlich ist die
protestantische Kirche ärmer an episch-lyrischen Liedern, als die
katholische Kirche es ist und war: denn die katholische Kirche hat
zur Geschichte noch die Legende, hat noch eine christliche Mythologie,
und auch die Geschichte erscheint für sie so mannigfaltig mythisch
gefärbt, dass ihr religiöses Lied, was den Reichthum an epischen
Motiven betrifft, nicht sehr weit hinter der epischen Lyrik der alten
Welt zurückbleiben wird. Wir Protestanten können bei unsrer heilsamen
Beschränkung auf die Geschichte nicht so viel halb epische,
halb lyrische Kirchenlieder besitzen; denn solche Motive, die dem
innern Leben der Christen angehören, werden natürlich nur zu rein
lyrischen Dichtungen führen; noch öfter aber wird, da unsre geistliche
Poesie auch dogmatische und ethische Zwecke zu verfolgen hat,
hier die Lyrik eine didactische Farbe gewinnen, d. h. mit einem
Fusse aus der Poesie heraustreten. Leider aber bilden solche didactische
Kirchenlieder die Mehrzahl derer, die wir besitzen: unsre meisten
Kirchenlieder stammen aus dem siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert,
aus dem siebzehnten, wo ein streithafter Dogmatismus die
Kirche beherrschte, aus dem achtzehnten, wo ein seichter Moralismus
an dessen Stelle trat; nur Wenige behaupteten sich als wahre Dichter
in der epischen Lyrik und in der lyrischen Lyrik, wie Paul Gerhardt,
Benjamin Schmolck u. a. (LB. 2, 467. 553). Die herrnhutischen Dichter
wären vielleicht am ersten im Stande gewesen, die reine Lyrik zu
sichern, wenn nur bei ihren Anschauungen öfter das rechte Verhältniss
obgewaltet hätte zwischen dem Gemüth auf der einen und der Einbildung
und dem Verstande auf der andern Seite, und wenn sie mehr
Geschick in der Darstellung hätten erlernen wollen: es sind unter
ihnen nur Johannes Baptista von Albertini (1769─1831; LB. 2, 1355)
und Karl Bernhard Garve (1763─1841) zu nennen als geistliche Lyriker,
die in den meisten Stücken tadellos, und wo sie tadellos, auch
höchst ausgezeichnet sind.

|#f0163 : 150|


Neben der geistlichen Gelegenheitspoesie, der epischen Lyrik der
Kirche hat die neuere Zeit auch die weltliche Gelegenheitspoesie, die
Gelegenheitspoesie κατ' ἐξοχὴν besonders cultiviert, und es sind namentlich
die beiden s. g. schlesischen Dichterschulen des siebzehnten Jahrhunderts,
welche auf diesem Felde, wenn auch nicht viel geerntet,
doch wenigstens fleissig geackert haben; ja es giebt Dichter, von denen
faustdicke Bände auf uns gekommen sind, die kaum etwas andres
enthalten als Gelegenheitsgedichte, wie z. B. Christian Gryphius
(LB. 2, 529). Man darf die Gelegenheitspoesie keinesweges im Allgemeinen
verwerfen; denn es ist ein ganz lobenswerthes Streben, Jedwedes,
das geschieht, poetisch verschönen zu wollen: es hat auch
von jeher Gelegenheitspoesie gegeben, und die schönsten Dichtungen der
provenzalischen, der französischen, der italiänischen und der deutschen
Lyrik des Mittelalters sind oft im Grunde weiter nichts als Gelegenheitsgedichte.
Aber man muss es auch zu machen verstehn, wie z. B.
Walther von der Vogelweide, d. h. man muss einmal solche gelegenheitliche
Motive ergreifen, denen sich eine poetische Seite abgewinnen
lässt, und man muss dann auch diese poetische Seite herauszukehren
wissen. Es ist aber schwer, dem eine poetische Seite abzugewinnen,
wenn Hinz heirathet und Kunz taufen lässt oder begraben wird, und
es ist viel verlangt, dass Jeder, auch der Hinzen und Kunzen nicht
kennt, nun doch die poetische Anschauung in sich reproducieren solle.
Deshalb hat sich Walther auch niemals auf so geringfügige Personen
und Ereignisse eingelassen: seine Gelegenheiten haben historische
Bedeutung, es sind Menschen und Thaten, von denen heute noch die
Geschichte meldet, so dass auch das Gelegenheitsgedicht nicht mit
ihnen gestorben ist. Das haben die schlesischen Gelegenheitsdichter
des siebzehnten Jahrhunderts nicht bedacht: jedes Ereigniss war ihnen
recht und des Besingens werth, bald weil es ihrer Eitelkeit schmeichelte,
überall auch ein Wort mit drein zu reden, bald und noch
häufiger aus noch erbärmlicheren Beweggründen, um der Belohnung
mit Gunst und Geld willen; in Verlegenheit, was sie sagen sollten,
geriethen sie nie: ward auch ihr Gemüth von dem vorliegenden Ereigniss
gar nicht berührt, so liessen sich immer noch je nach den Umständen
kühle, ernsthafte Betrachtungen in der sentenziösesten Lehrhaftigkeit
anstellen, oder es liessen sich auch Ungebührlichkeiten
vorbringen. Der Reproduction in einem weiteren Kreise von Lesern
wussten sie beinahe nie entgegen zu kommen, und es war das auch
in den allerwenigsten Fällen möglich; dennoch liessen sie Alles
drucken, und ihre Zeitgenossen lasen auch das Alles und bewunderten
es sogar.

|#f0164 : 151|


In neueren Zeiten ist, man kann nicht sagen, die Gelegenheitsdichterei
überhaupt abgekommen: denn das wäre auch Unrecht: sondern
man lässt nur solche Gedichte, die das grosse Publicum nichts
angehn noch ihm verständlich sind, seltener für das Publicum drucken.
Dergleichen Gedichte verbleiben, wo sie hin gehören, im Hause und
im Kreise der Freunde.


Von solcher niederen Gelegenheitspoesie wohl zu unterscheiden
ist die im höhern Stil, die schon im Alterthum bestand und immer
noch besteht, und deren Existenz man auch weder übersehen noch
wegwünschen darf, die sogenannte Ode im engern Sinne dieses Wortes.
Im eigentlichen und allgemeineren Sinne bezeichnet das Wort
ᾠδὴ etwa wie unser Lied jedes lyrische Gedicht, insofern es sangbar
ist. Die Ode, wie man jetzt das Wort versteht, und wie
dergleichen Gedichte auch bei den Alten, namentlich bei Horaz vorkommen,
und wie auch viele Psalmen so könnten genannt werden,
richtet sich gleich den Pindarischen Chorgesängen auf Ereignisse von
allgemeinem, nationalem, ja allgemein menschlichem Interesse; sie
knüpft auch die Entwickelung innerer Zustände an eine Persönlichkeit,
die Jeder ehrt, an Thaten und Ereignisse, von denen Jeder als ruhmreichen
weiss, und die lyrischen Gefühle, die sie ausspricht, sollen
meistens auch nicht die bloss subjectiven des Dichters, sollen nicht
bloss entsprungen sein aus seiner persönlichen Beziehung zu jenem
epischen Element, sondern sollen auch allgemein nationale, allgemein
menschliche Geltung besitzen und die Stimme Aller stellvertretend
ausdrücken. So weit reicht die Uebereinstimmung mit dem Pindarischen
Chorgesang: nun der Unterschied. Bei Pindar ist die Person
oder das Ereigniss nur Anlass und Anstoss für die Lyrik: es bildet
lediglich ein äusserliches Motiv, und sowie es das eine Mal eingewirkt
hat, ist auch seine Einwirkung so gut wie vorüber. Anders in der
Ode, wie sich ihr Character einmal festgestellt hat: hier ist mehr als
ein blosses Motiv, hier giebt das Epische mehr als den flüchtigen
Anlass und Anstoss: es ist vielmehr der beharrlich vorliegende Gegenstand
der Betrachtung, es wirkt von Anfang bis zu Ende fort und
trägt die inneren Zustände, die sich an ihm entwickeln. Aber das
geschieht auch in der Elegie, und somit würden wieder Ode und
Elegie zusammenfallen. Allein es giebt auch hier wichtige und wesentliche
Unterschiede. Einmal den Unterschied der äussern metrischen
Form: die Elegie wird in Distichen, die Ode in grösseren kunstreichen
Strophen, antiken oder nach moderner Weise gebauten, abgefasst.
Indess so folgenreich diess auch sein mag, so ist es doch nur ein
äusserer Unterschied. Noch wichtiger sind aber sodann die innern |#f0165 : 152|

Abweichungen. Die Elegie nimmt die äussere Wirklichkeit, wie sie
ist, wie sie den Dichter gegenwärtig und in unmittelbarer Nähe umgiebt,
ergreift das Factum mit historischer Treue, und die lyrische Betrachtung
richtet sich nach ihm in ihrer grösseren oder geringeren Bewegtheit:
die Ode dagegen strebt überall nach dem Idealen, dem Ueberwirklichen,
sie hebt entweder die Person, das Ereigniss über die
gemeine Wirklichkeit um vieles empor und idealisiert es, oder die
Person liegt selber schon hoch über der gemeinen oder gar über aller
und jeder sinnlichen Wirklichkeit, ganz und gar im Reiche des Idealen:
denn der Gegenstand der Ode kann auch die Gottheit sein, kurz, sie
lobpreist und verherrlicht, und demgemäss ist dann auch das Lyrische
keine ruhig bei dem Objecte weilende Betrachtung, sondern es ist
Bewunderung. Die Auffassung des Idealen als eines epischen Stoffes
und die Erhebung der gemeinen Wirklichkeit zum Idealen ist aber
nur möglich, wenn bei der Conception die Phantasie eine vorwaltende
Thätigkeit ausübt, und diese Thätigkeit wird oft so sehr vorwalten
und vorwalten müssen, dass sie in Widerspruch geräth mit den Erfahrungen
und Urtheilen des Verstandes, ja den thätigen Antheil des
letzteren an der Conception beseitigt und aufhebt, d. h. dass die
Anschauung die Natur des Erhabenen gewinnt: denn jede Anschauung
ist ja erhaben, bei welcher der Verstand nicht mehr der Phantasie
nachmessen und nachrechnen kann. Natürlich ist der Odendichter
jedesmal im Vortheil, sobald er das epische Object seiner lyrischen
Bewunderung nicht erst zu erheben und zu überwirklichen braucht,
sobald diess Object die Gottheit ist: die höchste Höhe, zu welcher er
sich aufschwingt, wird doch nicht zu hoch, und das Erhabenste nicht
zu erhaben sein. Gefährlicher ist die willkürliche Idealisierung irdischer
Wirklichkeit: hier wird die Ueberwirklichung der gemeinen
Wahrheit nur zu leicht eine Uebertreibung und eine Lüge; die Schöpfungen
der Phantasie können dem Verstande leicht so unnütz und ungeschickt
vorkommen, dass er sich nicht gefangen giebt, sondern im
Widerspruche verharrt, wo dann an die Stelle der Erhabenheit, auf
welche der Dichter ausgieng, die blosse Lächerlichkeit tritt und sich
das bekannte Wort Napoleons bewährt, dass vom Erhabenen zum
Lächerlichen nur ein Schritt sei. Darum stehn die hebräischen Psalmisten
und steht Klopstock so viel höher als irgend ein andrer Odendichter,
weil das epische Element ihrer Oden Gott und göttliche Dinge,
bei Klopstock wenigstens vorzüglich Gott und göttliche Dinge sind;
darum geräth auf der anderen Seite Karl Wilhelm Ramler so oft ins
Lächerliche, weil er auch da, wo die Wirklichkeit an sich selbst
schon gross und erhaben genug wäre, wo er z. B. Friedrich II. besingt, |#f0166 : 153|

dennoch mit dem Gegebenen nicht zufrieden ist, sondern immer noch
höher und drüber hinaus will (LB. 2, 723 fgg.); darum beleidigt Ramlers
und vieler Andren Muster, Horaz, wenn auch grade nicht durch Lächerlichkeiten,
doch häufig genug durch Uebertreibung und Unwahrheit,
durch jenen kühlen Prunk, durch jene gezwungenen, gesuchten und
erkünstelten Kühnheiten im Gange der Entwickelung, die zuletzt nur
ein Schraubenwerk sind, um den epischen Gegenstand über sich selbst
und die Wahrheit zu erheben. So viel von der epischen Lyrik; jetzt
wenden wir uns zur didactischen, zur Lyrik des Verstandes.


Didactische Lyrik ist solche, an deren Conceptionen der Verstand
nicht bloss den untergeordneten, mehr negativen Antheil nimmt, der
ihm nach den allgemeinen organischen Gesetzen eigentlich allein
zukommt, wo er nicht bloss mässigt und zügelt, nicht bloss prüft, ob
das, was der Einbildung schön und dem Gefühl gut erscheint, auch
wahr und somit wirklich schön und wirklich gut sei: sondern solche,
wo der Verstand eine positive Geltung und Thätigkeit neben dem
Gefühle und der Einbildung, ja sogar vor und über ihnen anspricht,
wo demnach die verständige Belehrung nicht bloss der etwanige Erfolg
der poetischen Production und Reproduction ist, sondern der von vorn
herein beabsichtigte Zweck derselben. Nun kann und darf schon in
der didactischen Epik der Verstand diese positive Thätigkeit nur in
so fern ausüben, als er die Anschauungen der Einbildungskraft in
Beziehung bringt zu dem sittlichen oder sinnlichen Gefühl, als er aus
der epischen Wirklichkeit eine sittliche Lehre abstrahiert oder dieselbe
anmuthig oder launig beschreibt: also schon in der didactischen Epik,
bei welcher doch die Einbildungskraft voransteht, muss der Verstand
in das Gefühl überfliessen. Noch um vieles unausweichlicher wird
das bei der didactischen Lyrik erfordert werden: denn sie ist eben
Lyrik, d. h. das Gefühl, das Gemüth bildet den Mittelpunct und
Brennpunct der ganzen poetischen Production; diess vorzüglich soll in
dem Dichter bewegt erscheinen, diess soll bei der Reproduction ebenso
wieder angeregt werden. Deshalb ist alle didactische Poesie verwerflich,
die in keiner Beziehung steht zu dem Gefühl des Producierenden
und des Reproducierenden, deren Lehren und Beschreibungen
nicht hier ihre letzte Erfüllung und Beglaubigung finden. Es mag
daher Jemand noch so schön versificierte Anweisungen zum Fischefangen
und Vogelstellen u. dgl. verfertigen, wie es derartige s. g.
reine Lehrgedichte genug und auch schon von römischen Dichtern
giebt, er mag alle Vorschriften so genau stellen, dass Jeder an seinem
Buche zum Jäger und Fischer werden kann: wenn er der Lehre keine
Wendung ins Gefühl hinein zu geben weiss, so ist das Ganze nur in |#f0167 : 154|

so fern Poesie, als man unter Poesie versificierte Worte versteht, in
so fern aber Prosa, als alle sprachliche Darstellung, die das Wahre
ausserhalb des Schönen und des Guten zeigt, nur Prosa ist. Aber
auch die Einbildungskraft darf niemals bei einer poetischen Production
ganz leer ausgehn; auch sie muss an der Schöpfung des Dichters,
an der Rückschöpfung durch den Leser ihren Antheil haben, mag
dieser Antheil auch nur gering sein; fehlen und ausbleiben darf sie
nicht: denn es giebt keine ποίησις, keine Schöpfung ohne sie, ohne
die schöpfende Kraft der Einbildung.


Deshalb erscheint nach dieser Seite hin wieder eine andre
Art lehrhafter Poesie verwerflich, der Spruch, die Sentenz, die
Gnome, verwerflich, sobald die Vorschrift und die Erfahrung, deren
Mittheilung es gilt, in kalter, dürrer Abstractheit aufgefasst und vorgetragen
wird, wie das bei den Sentenzen der Fall zu sein pflegt.
Es mag eine solche Lehre ihren grossen Werth haben für das sittliche
Gefühl des Menschen, aber die Einbildung, die producierende und
reproducierende Grundkraft lässt sie unberührt. Solchen Gnomen ist
die metrische Form nur in so fern zuzugestehn, als sie vielleicht die
Darstellung und Aufbewahrung erleichtert, aber nicht als äusserer
Abdruck und Ausdruck inneren poetischen Gehaltes: denn der ist hier
gar nicht vorhanden. Die ersten Anfänge dieser wie überhaupt aller
Arten von didactischer Poesie, erlaubter und unerlaubter, finden sich
bei den Griechen in Hesiods Werken und Tagen und bei den Hebräern
in den Sprüchen Salomons. Nach Hesiods Vorgange war auch späterhin
der Hexameter eine gewohnte metrische Form der griechischen Gnomen.
Daneben gab es aber noch zwei andere, eine noch minder passliche
und eine passlichere. Eine minder passliche ergab sich durch die
Seitenwendung, welche bei Solon und seit ihm die Elegie nahm. Bis
auf Solon war dieselbe immer nur episch-lyrisch gewesen; bei ihm
und denjenigen, die seiner Art sich anschlossen, verlor sie den epischen
Character, ja auch den lyrischen, und ward rein didactisch, sie ward
Form dessen, was man insbesondere gnomische Poesie nennt. Freilich
war diese Wendung nicht unvorbereitet: der sittliche Ernst, welcher
der ältesten Elegie eigen war, konnte und musste darauf hinführen;
gleichwohl lag diese Richtung ausserhalb des Bereiches der Poesie:
denn wer wird das Poesie nennen mögen, wenn Philosophen die
abstracten Lehrsätze ihrer Schule bald vereinzelt, bald in einem grösseren
systematischen Zusammenhang, bald in einzelnen Distichen, bald
in einer Reihe von Distichen, also allerdings in der äusserlichen Art
und Weise einer Elegie vortragen? Dergleichen gehörte nur noch
durch die Form mit zur Poesie, und auch die Form war unpasslich |#f0168 : 155|

genug. Die bloss in Hexametern abgefassten Gnomen machten damit
keinen weiteren Anspruch: der Hexameter war einmal der gewohnteste
und geläufigste Vers, und die Poesie hatte lange Zeit kaum einen
andern gekannt. Anspruchsvoller jedoch war die zweizeilige Strophe: sie
kündigte durch den äusseren Gegensatz von Hexameter und Pentameter
auch einen inneren an von Epik und Lyrik: und doch war
weder Epik vorhanden, noch eigentliche Lyrik. Das scheinen die
wohl erkannt zu haben, die für die Gnome eine dritte metrische Form
in die Bahn brachten, den iambischen Trimeter: dieser aus sechs
Iamben bestehende Vers war noch einfacher und anspruchsloser als
der blosse Hexameter, er grenzte ganz eng und nah an die alltägliche
ungebundene Rede und war eben nur in so weit rhythmisch, dass er
dem Gedächtniss zu Hilfe kam. Die Salomonischen und die weiteren
hebräischen Gnomen begnügen sich, um einen Rhythmus herzustellen,
mit dem einfachsten Parallelismus der Worte und der Satzglieder.


Wie demnach alle bloss lehrende Poesie im engeren Sinne eigentlich
gar keine Poesie ist, weil sie der Einbildung nichts zu schaffen
giebt oder gar auch das Gefühl unberührt und unberücksichtigt lässt,
so verhält sichs auch mit der bloss beschreibenden. Wir haben bereits
früher gesehen, dass alle Beschreibung nur dann anschaulich werde
und der Reproduction entgegenkomme, wenn sie sich zu einem fortschreitenden
Verlaufe gestalte, wenn sie also neben der Epik begleitend
hergeht, wie im Idyll (S. 103), oder selbst gradezu episch und erzählend
wird, wie in der Elegie (S. 132). Verlässt die Beschreibung das Gebiet
der Epik, so verlässt sie auch das Gebiet der Poesie, weil sie die Einbildungskraft
auf die Seite stösst: ein Gedicht, das von Anfang bis
zu Ende nur beschreibt, ohne zu erzählen, giebt der Einbildung nichts:
denn diese kann nur schaffen, was lebendige Bewegung hat; es wird
vielleicht das Gefühl durch anmuthige Einzelheiten befriedigen, aber
es bleiben Einzelheiten, welche die Einbildung zu keinem Ganzen
vereinigen kann, weil ihnen der organische Zusammenhang fehlt, den
nur die historische Entwickelung zu geben vermag. Darum sind die
zahlreichen bloss beschreibenden Gedichte, welche die neuere Zeit
besitzt (das classische Alterthum und das Mittelalter sind nie auf dergleichen
gerathen), so leer und ausleerend, so ermüdend durch die
Unthätigkeit, in welcher der producierende Dichter den reproducierenden
Leser lässt; darum sind sie, die grossen wie die kleinen, die
Jahreszeiten des Engländers James Thomson (1700─1748), wie die
Tageszeiten Friedrich Wilhelm Zachariäs (1726─1777) und die Abend-
und Mondscheingemälde Friedrich von Matthissons (1761─1831), gar
keine Gedichte mehr, sowie man sie als Ganzes auffasst: und das |#f0169 : 156|

muss man doch zuerst und vor allen Dingen bei jedem Gedichte. Bei
Matthisson kommt gewöhnlich dazu noch ein anderer, noch schlimmerer
Fehler: es mangelt seinen meisten Gedichten auch noch die höhere
Einheit der leitenden und belebenden Idee, einer Idee, um derentwillen
und aus der heraus all diese Einzelheiten registriert würden.
Eine kleine Probe dieser Landschaftspoesie findet sich LB. 2, 1206 fgg.


Bei einem Dichter aber der neuesten Zeit sehen wir diese Unart
der vereinzelnden und leblosen und ideenlosen Beschreibung auf die
Spitze getrieben, bei dem Schwaben Karl Mayer. Von ihm erschien
1833 ein ganzer Band solcher Gedichte, zu denen alljährlich der
Leipziger Musenalmanach immer noch neuen Zuwachs brachte: das,
was er Lieder betitelt, sind nichts als einzelne landschaftliche Skizzen,
so kleine und beschränkte Anschauungen, dass historisches Leben nur
in den wenigsten Fällen möglich wäre; ebenso selten zeigt sich hier
ideale Bedeutung und Beziehung.


Mehr ist über diese unpoetische Art von Poesie nicht zu bemerken.
Man könnte aber dergleichen beschreibende und gnomische Gedichte
mit zur didactischen Lyrik rechnen wollen. Um so nöthiger war es
für uns, sie gleich von vorn herein zu beseitigen und uns das Feld
zu säubern für dasjenige, was nun noch von wirklicher didactischer
Lyrik abzuhandeln ist.


Es ist also die didactische Lyrik zwar auch, wie alle Lyrik, eine
Poesie der inneren Zustände, des Gefühls: aber die Erregung des
Gefühls ist keine so unmittelbare, als das sonst der Fall ist; das
epische Motiv, das überall der Anfangs- und Anregungspunkt der
inneren Zustände bildet, wirkt hier nicht unmittelbar selber ein, sondern
es tritt der Verstand dazwischen, der in seiner Weise jene Einwirkung
vermittelt; erst in Folge der Belehrungen des Verstandes
regt sich das Gefühl des Dichtenden und auch im Reproducierenden
gelangt die Anschauung erst über die Mittelstufe des Verstandes zu
seinem Gefühle. Es ist also überall bei der didactischen Lyrik abgesehn
auf Belebung des Gefühls durch den Verstand. Und dieser
lehrhafte Zweck ist es, durch den sich die didactische Lyrik von der
epischen und von der reinen Lyrik unterscheidet.


Es kann aber die Belehrung der einzige und hauptsächliche Zweck,
sie kann auch ein nur beiläufig eintretender sein; das Gedicht kann
von Anfang bis zu Ende einen solchen Zweck verfolgen, es kann
auch nur stellenweise geschehn. Wir reden von dieser Art zuerst.


Einmischung einzelner didactischer, lehrender oder beschreibender
Stellen in eine sonst lyrische Dichtung wird häufig bei solchen Dichtern
vorkommen, die zu jeglicher Poesie einen Hang zur Reflexion |#f0170 : 157|

mitbringen, und bei solchen, die überall Lust am Idyllischen haben.
Denn solchen wird es schwer, längere Zeit in der Entwickelung innerer
Zustände zu verharren, ohne einmal in den Verstand überzuspringen
und von da ein Streiflicht auf ihr Gefühl hin reflectieren zu lassen,
oder ohne je zuweilen einen Blick in die ruhig umgebende Wirklichkeit
zu werfen und auch diese zu schildern. Solche sind z. B. unter unsern
Lyrikern Schiller als der reflectierende, Hebel als der idyllische.
Und aus der Betrachtung ihrer Gedichte und ähnlicher Gedichte von
Andern ergiebt es sich, dass solche bloss vorübergehende Didaxis
weniger an die eben berührten Gesetze gebunden ist. Wo sich die
Reflexion nur flüchtig einmischt, da mag der Verstand allenfalls ganz
abstracte Dinge sprechen, an denen die Einbildungskraft keinen Theil
hat: mitten in der Bewegung seines Gemüthes merkt es der Leser
kaum, dass seine Einbildung für kurze Zeit nicht beschäftigt wird.
Ebenso ist es mit Beschreibungen. Wirft der Verstand des Dichters
nur einen kurzen Blick in die äussere Wirklichkeit hinein, um die
inneren Zustände durch Formen und Farben jener zu beleben, so
bleibt, eben weil es nur ein kurzer Blick ist, für ihn weder Zeit noch
Raum übrig, der Beschreibung einen historischen Verlauf zu geben,
und für den Leser wird diess augenblickliche Verweilen so unmerklich
sein, dass es den lebendigen Fortgang der Reproduction in nichts stört.


Anders ist es, wenn der Verstand die ganze Production hindurch
sich thätig erweist: da darf er nicht vereinzelt neben dem Gefühle
dastehn, sondern er muss überleitend mitten inne stehn zwischen der
Einbildung und dem Gefühle, zwischen der Einbildung mit ihren lebendig
bewegten Anschauungen aus der Wirklichkeit und dem Gefühle
mit seinen ebenmässig bewegten Empfindungen. Damit stellt sich,
wie man sieht, die didactische Lyrik dicht neben die didactische Epik
und die epische Lyrik: denn auch in der epischen Lyrik entwickeln
sich die inneren Zustände an der angeschauten Wirklichkeit, und auch
in der didactischen Epik wird das Gefühl vom Verstande an der
Wirklichkeit belehrt. Der Unterschied ist nur der, dass in der epischen
Lyrik der Verstand keine positive Thätigkeit äussert, und dass
in der didactischen Epik das Gefühl zwar belehrt wird, nicht aber
grade die inneren Zustände entwickelt werden, welche die Folge dieser
Belehrung sind. Daher hält auch, näher betrachtet, die didactische
Lyrik gewissermassen eine Mitte zwischen der didactischen Epik und
der epischen Lyrik: sie hat mit der didactischen Epik die Belebung
des Gefühls an der äusseren Wirklichkeit, mit der epischen Lyrik die
Entwickelung der Gefühlsregungen gemein. Und in der That schliessen
sich auch die einzelnen Arten didactischer Lyrik, die es giebt, theils |#f0171 : 158|

an die didactische Epik, theils an die epische Lyrik eng genug an,
so eng, dass man nicht selten wird in Zweifel gerathen dürfen, ob
man einem Gedichte nicht lieber hier oder dort seinen Platz geben
solle. Schillers Künstler z. B. können ebensowohl zur didactischen
Lyrik als zur epischen Lyrik oder zur didactischen Epik gerechnet
werden (LB. 2, 1119).


Wollen wir nun die einzelnen Arten solcher ganz didactischen
Lyrik näher betrachten, so ist gleich zuerst die Satire des Archilochus
zu erwähnen. Die Horazische Satire haben wir früherhin (S. 106) als
didactische Epik behandeln müssen: denn allerdings ist auch ihr Character
eine fortlaufende didactische Betrachtung der gegebenen Wirklichkeit,
und ihre epische Natur spiegelt sich auch ab in der epischen Form
des Hexameters, die ihr eigen ist. Die Satire des Archilochus dagegen
war wesentlich lyrisch, soweit wir sie beurtheilen können aus den
wenigen Ueberresten, die sich erhalten haben, und aus den Epoden
des Horaz, deren Mehrzahl deutlich dem Archilochus nachgebildet ist:
sie schloss sich freilich auch an ein episches Motiv an: aber das
Epische war eben nur ein anstossendes Motiv, nicht wie in der Horazischen
Satire die fortdauernde Grundlage; der weitere Verlauf der
Dichtung war eigentlich lyrisch, war die leidenschaftlichste Entwickelung
individueller Stimmungen, der Ausdruck des Zorns, der Rache,
des Hasses. Diese Mischung von Didactik und Lyrik zeigt sich auch
in dem Versmasse ausgeprägt, welches dem Archilochus eigenthümlich
ist: es besteht in einer zweizeiligen Strophe, die auf den halbprosaischen,
recht didactischen iambischen Trimeter, als dessen Erfinder
Archilochus bezeichnet wird, den lyrisch bewegten Archilochischen
Vers, d. h. einen halben Pentameter, folgen lässt.


Näher als die Archilochische Satire liegt der Satire des Horaz
eine andre didactisch-lyrische Dichtungsart, die Epistel. Die nahe
Verwandtschaft zeigt sich schon in der gemeinsamen Form: Horaz hat
seine Episteln wie die Satiren in Hexametern verfasst. Neuere deutsche
Episteldichter wie Boie, Gotter, Göckingk bedienen sich zwar grade
keines epischen Masses, aus dem einfachen Grunde, weil wir kein
nationales episches Mass mehr besitzen, aber sie gebrauchen doch
wenigstens auch keine lyrischen Strophen: sie verfassen ihre Episteln
in langen unstrophischen Reihen reimender Zeilen. Die Horazische
Epistel hat mit der Horazischen Satire gemein die fortdauernde oder
doch immer wiederkehrende Anlehnung an die gegebene Wirklichkeit
und den Gebrauch episodischer Abschweifungen; sodann auch, dass
Spott und Laune, die zur Satire überall und wesentlich gehören, ihr
wenigstens nicht fremd sind: in so fern wäre die Epistel auch didactische |#f0172 : 159|

Epik. Was sie aber auf das Gebiet der didactischen Lyrik hinüberzieht
und sie von der Satire entfernt, ist, dass in ihr nicht sowohl
verständige Reflexionen zum Besten des sittlichen Gefühles angestellt
werden, als sich vielmehr das sittliche Gefühl selber ausspricht, wie
es durch den Verstand ist geleitet worden; und dass auch, wo die
Reflexion überwiegen sollte, sie immer eine durchaus individuelle ist,
dass sie keine so allgemeine, gleichsam dogmatische Gültigkeit anspricht,
wie die Reflexion der Satire: die Lehre steht hier überall in der subjectiven
Beziehung zu der Persönlichkeit des Dichters. Und das
gehört sich auch für die Epistel, für den Brief. Die Briefform wäre
nicht nur bedeutungslos, sondern sogar störend und unpasslich, wenn
der Verfasser etwas andres thun wollte, als seine Reflexion und seine
Empfindungen darlegen, wie sie in seinen Umständen und seinen
Erlebnissen begründet sind, und wenn er sie nicht mit der ganzen
Unverholenheit seiner Individualität entwickeln wollte, wie sie in einen
Brief gehört, den man an einen Freund richtet oder an sonst Jemanden,
gegen den man sich frei und offen äussern kann, wie z. B. einer von
Horazens Briefen (1, 14) an den Verwalter seines Landgutes gerichtet
ist, ad villicum suum; einer von Göckingks Briefen an seinen Bedienten:
LB. 21, 753.


Diesen individuellen Character hat von allen Horazischen Briefen
vielleicht nur ein einziger in geringem Masse und beinahe gar nicht,
der letzte des zweiten Buches, ad Pisones, den man deswegen auch
gewöhnlich ganz aus dem Verbande der Briefsammlung herauslöst, als
ein besonderes didactisches Gedicht über die Dichtkunst, de arte poetica.
Allerdings erscheint hier auch die Briefform als ein blosser Vorwand: es
ist das lehrhafteste Lehrgedicht, von Anfang bis zu Ende spricht der Verstand
zum Verstande; die Individualität und das Gefühl des Dichters
kommt nur selten irgendwo zur Aeusserung, und die Briefform ist nur in
so weit benützt, als sie dem Dichter hat erlauben müssen, die sonst
geforderte systematische Entwickelung seiner Lehren gegen eine freiere,
mehr hin und her schweifende zu vertauschen: dadurch bekommt freilich
das Ganze einen minder prosaischen Anschein, aber es ist doch
nur der Anschein, der durch dieses Mittel verringert wird.


Nach all diesem kann man die Epistel eine auf das Gebiet der
Lyrik übertragene didactische Epik nennen: eine andre Dichtart lässt
sich als eine in die Didaxis übertragene epische Lyrik auffassen, nämlich
das Epigramm der Lehre und des Spottes. Wir haben früher
(S. 138) unter der epischen Lyrik das Epigramm der Empfindung abgehandelt
und haben da gesehen, wie diese Epigramme ein zwiefaches
Element enthalten, ein episches und ein lyrisches, ein aus der gegebenen |#f0173 : 160|

Wirklichkeit entnommenes Motiv und eine unmittelbar dadurch angeregte
Empfindung, eine Exposition und eine Clausel. Wenn sich nun in
die epigrammatische Anschauung der Verstand in der Weise einmischt,
dass er sich zuerst des epischen Motivs bemeistert und es dann erst
an das Gefühl gelangen lässt, dass er entweder jenem Motiv eine
directe, positive Lehre, eine Vorschrift, einen Erfahrungssatz abgewinnt,
oder damit in Widerspruch tritt, darüber lacht und spottet
und so indirect und negativ lehrt: wenn auf diese Weise die Einwirkung
des epischen Motivs auf das sittliche Gefühl erst durch den
Verstand vermittelt wird, so ergiebt sich daraus das didactische Epigramm,
das Epigramm der Lehre und des Spottes. Diese Wendung
der s. g. Clausel aus der Lyrik in das Didactische ist dann aber auch
der einzige Unterschied, der zwischen solchen didactischen Epigrammen
und denen der Empfindung besteht: sonst gelten hier die gleichen
Gesetze wie dort: die Exposition verlangt Einfachheit und Kürze,
die Clausel ausserdem noch eine piquante Einseitigkeit; dass Witz
und Scharfsinn hier besonders am Orte sind, wo es meist darauf
ankommt, einen spöttischen Widerspruch des Verstandes auszudrücken,
versteht sich von selbst. Bei den Griechen kommt dergleichen, wie
bereits früherhin ist erwähnt worden, nicht viel vor: die Römer
dagegen kehrten, als sie auch das griechische Epigramm auf ihren
Boden verpflanzten, diese didactische, namentlich aber die satirische
Richtung vorzüglich heraus. Reinere lyrische Empfindung ist überhaupt
nie recht die Sache der Römer gewesen, die ausgeführtere Satire war
von jeher bei ihnen zu Hause; und als sie das Epigramm kennen
lernten, da sah der Dichter um sich her wahrlich mehr Thorheit und
Verworfenheit als Anregungen der unmittelbaren lyrischen Empfindung.
So ist es ganz erklärlich, dass man bei dem vorzüglichsten Epigrammendichter
der Lateiner, bei Martialis, ganze Bücher durchlesen kann,
ehe man einem einzigen Epigramm der Empfindung begegnet. Wir
Deutsche sind mit dem Epigramm unter ähnlichen Umständen und
nach ähnlichen Präcedentien, im siebzehnten Jahrhundert, vertrauter
geworden: darum ist es auch bei uns beinahe zwei Jahrhunderte lang
auch nur ein Epigramm der Lehre, namentlich aber des Spottes gewesen.
Wir müssen hier für einige Augenblicke zu einem Puncte zurückkehren,
der schon früher ist berührt, und an dem schon damals auf
die jetzt vorliegende Erörterung ist verwiesen worden.


Wir haben, als wir von der didactischen Epik sprachen (S. 116),
den Unterschied zwischen Spruch und Sprichwort, zwischen γνώμη und
παροιμία, zwischen sententia und proverbium darin gefunden, dass
der Spruch seine Vorschrift oder seinen Erfahrungssatz ganz unumwunden |#f0174 : 161|

in nackter Abstractheit hinstellt, das Sprichwort aber nach Art der
Fabel, nur kürzer als diese, die Lehre umkleidet mit der concreten
Form einer gesetzten, angenommenen Wirklichkeit. Grade wie nun
die äsopische Fabel der epischen Einkleidung gern noch die lehrhafte
Ausdeutung hinzufügt, grade so zeigt sich bei den Völkern, wo besonders
viel Sprüche und Sprichwörter im Schwange sind, ein Wohlgefallen
an der Verbindung von gleichbedeutenden Sprüchen und
Sprichwörtern. So schon in den Sprichwörtern Salomonis; so auch
bei uns zu Anfang des dreizehnten Jahrhunderts in Freidanks Bescheidenheit
(d. h. so viel als Verständigkeit). Hier kommen erstens reine
Sprüche, zweitens reine Sprichwörter und endlich drittens solche Verbindungen
beider, sprichwörtliche Sprüche vor, die zuerst ein concretes
Symbol des Lehrsatzes, dann die abstracte Ausdeutung dieses Symbols
gewähren, z. B.: „Waʒ mac der haven gesprechen, wil in sîn meister
brechen? niht mêr muge wir wider got gesprechen, kumt uns sîn
gebot“ (Ausgabe W. Grimms 6, 26). In dieser Verbindung von
Sprichwort und Spruch sehen wir bereits eine Art von didactischem
Epigramm: auch hier eine epische Exposition und eine didactische
Clausel, nur noch mit dem Unterschiede, dass die Wirklichkeit der
Exposition keine gegebene ist, sondern eine angenommene, eine gesetzte,
und dass deshalb die Lehre der Clausel noch in ganz abstracter Allgemeinheit
erscheint. Man dichtete aber nach Freidanks Beispiel und
auf dem Grunde seines Werkes weiter: da kam man denn im vierzehnten
Jahrhundert (einzelne Vorklänge finden sich schon bei Freidank
selbst, ja sogar im zwölften Jahrhundert bei Spervogel) zu einer
eigenthümlichen Art von didactischem Epigramm, welche die Deutschen
eigentlich nur noch mit der Sanskritpoesie theilen, zu der Priamel.
Es wird da eine ganze Reihe von sinnlichen Einzelheiten aufgezählt,
von blossen Einzelheiten, nicht von epischen Situationen; diese Einzelheiten
erscheinen gar nicht zusammengehörig, und während in ihrer
Aufzählung praeambuliert wird (daher der Name), begreift man gar
nicht, wo es damit hinaus soll, bis zuletzt eine unsinnliche Allgemeinheit
sie alle vereinigt und zusammenfasst. Z. B. Ain junge maid on
lieb, und ain grosser jarmarkt on dieb, und ein alter jud on gut, und
ain junger man on mut, und ain alte scheur on meuss, und ain alter
belz on leuss, und ain alter bock on bart: das ist alles wider naturlich
art (LB. 14, 1205. 15, 1385). Was zu dieser eigenthümlichen Wendung
des didactischen Epigramms zunächst und zumeist den Anstoss geben
mochte, war wohl die den Deutschen gleichfalls von jeher beliebte
Räthselpoesie. Denn auch das Räthsel giebt gewöhnlich wie die Priamel
eine grössere oder kleinere Reihe von sinnlichen Einzelheiten, die auch |#f0175 : 162|

wie in der Priamel gar nicht zu einander zu passen scheinen: nur
wird die Clausel hier nicht vom Dichter hinzugefügt, sondern der
Hörer oder Leser soll sie selber finden, und sie ist in der Regel kein
Gedanke, sondern selbst wieder ein einzelner Begriff, in welchem
wie bei der Priamel all die gegebenen Merkmale zusammentreffen,
das Subject all der Prädicate. Und so gehört das Räthsel
neben die Priamel und mit ihr in das allgemeine Gebiet des
Epigramms.


Mit den sprichwörtlichen Sprüchen Freidanks und mit den Priameln
war der deutsche Boden zur Genüge vorbereitet worden, dass auf
ihn, als das Mittelalter gänzlich vorüber war, und die letzte grosse
Periode unserer Litteratur mit all ihren Entlehnungen aus der Vorzeit
und der Fremde begann, dass da auf ihn das römische Epigramm
des Spottes schnell und mit Leichtigkeit konnte übergepflanzt werden.
Man griff aber nach diesem mit um so grösserer Begierde, als damals,
in all dem sittlichen und politischen Elend des siebzehnten Jahrhunderts,
der satirische Epigrammendichter nur zu reichlichen Stoff vorfand.
Wie nah aber die alte deutsche Weise der neu erlernten römischen
lag, sieht man besonders deutlich an dem grössten Epigrammatiker
Friedrich von Logau. Er freut sich noch des alten deutschen Erbes,
der direct lehrenden und der sprichwörtlichen Sprüche und der Priameln,
daneben dann aber auch eines Schatzes von indirect lehrenden, von
spottenden und strafenden Epigrammen (LB. 2, 377). Nach ihm hat
die letztere Art immer das Uebergewicht behauptet; Epigramme der
directen Lehre kommen selten, die der Empfindung gar nicht vor,
bis endlich Herder und Göthe und Schiller das Epigramm über alle
drei Gattungen ausdehnten und zu dem deutschen der Lehre, dem
lateinischen des Spottes nun auch das griechische der Empfindung
gesellten. Aber mit Göthe und Schiller erlebte auch das didactische
Epigramm eine neue Epoche: durch sie ist auch für dieses die antike
Form des Distichons beinahe allgemein geltend geworden, während
vor ihnen alle Epigramme in Reimen abgefasst wurden.


Das lehrende und das satirische Epigramm sind nur die didactische
Umgestaltung des Epigramms der Empfindung, also einer Art
von epischer Lyrik: ebenso lehnt sich auch anderweitig die didactische
Lyrik eng an die epische Lyrik an. Diess ist der Fall in der didactischen
Gelegenheitspoesie.
Wir haben zuerst auf dem Gebiete der
lyrischen Epik eine Gelegenheitspoesie kennen lernen, wir sind ihr
sodann schon einmal wieder auf dem der Lyrik begegnet, als wir
von der epischen Lyrik sprachen: wir treffen nun auch eine didactische
Gelegenheitsdichtung, die ebenso aus der lyrischen hervorgegangen |#f0176 : 163|

ist, wie diese aus der epischen. Es ist bereits (S. 145) erwähnt worden,
wie die lyrische Gelegenheitspoesie Pindars an nicht seltenen Stellen in
das Lehrhafte hinübergreife, was die hohe religiös-sittliche Richtung
seines Geistes von selbst mit sich bringt; auch haben wir erwähnt
(S. 146), wie das gleiche Hinübergreifen bei den Dichtern des Mittelalters,
in den Sirventêsen der Provenzalen und den ihnen entsprechenden Dichtungen
der Deutschen wiederkehre. Hier jedoch ist der Grund und
Anlass dazu meist ein andrer als dort bei Pindar. Die mittelalterlichen
Dichter waren meist zu bereitwillig, zu freigebig mit solchen
Dienstgedichten, sie wollten jedwede Gelegenheit poetisch fixieren.
Aber häufig war da kein einziger Punct vorhanden, an welchem sich
reine und unmittelbare Lyrik hätte entwickeln können, und es bedurfte,
eh das Gefühl konnte zu Worte kommen, erst der ausdeutenden Vermittelung
des Verstandes und seiner lehrhaften Weisungen. Und so
ist es denn gekommen, dass die Gelegenheitspoesie des Mittelalters
nicht bloss stellenweise ganz aus dem Episch-lyrischen hinüberstreift
in das Didactische, sondern dass sie noch öfter ganz und gar nur
für didactische Lyrik gelten kann. Sowie es aber einmal eine didactischlyrische
Gelegenheitspoesie gab, konnte es nicht ausbleiben, man musste
unvermerkt und ohne bewusstes Zuthun auch da, wo es keine eigentliche
Gelegenheit galt, man musste mit der Lyrik überhaupt in die
Didaxis hineingerathen.


Bei Walther von der Vogelweide, wie er denn überhaupt der
bedeutendste Lyriker unseres Mittelalters ist, zeigt sich das alles noch
in einem rechten und gesunden Verhältniss. Er giebt dem Verstande
immer nur dann Raum, wenn ohne sein Zuthun die Production wirklich
unmöglich wäre; zuletzt aber finden dessen Urtheile ihre Erfüllung
doch nur in dem Gemüthe des Dichters, und seine Lehren beleben
sich in dem Licht und der Wärme des Gefühles. So ist es in den
politischen Gedichten, z. B. in denen auf Pabst Innocenz III. (LB. 14,
404. 15, 583), die in Ermangelung zahlreicherer und grösserer Ueberreste
von Archilochus selbst uns über das Wesen der Archilochischen,
d. h. der lyrischen Satire belehren können; so in den an keine bestimmte
Gelegenheit geknüpften ethischen Gedichten, die vor dem grösseren
Theile der gnomischen Poesie der Griechen so viel voraus haben, als
überhaupt in Sachen der Dichtkunst das Gefühl voraus hat vor dem
Verstande. Wo nun aber die Poesie eines Volkes noch organisch aus
sich selber lebt und wächst, da stehn die metrischen Formen desselben
stäts im innigsten Einklange mit den verschiedenen Gestaltungen ihres
Wesens: so war es denn auch in dieser Periode der Lyrik. Es zeigt
sich da nämlich, und zwar mit voller Bestimmtheit zuerst bei Walther |#f0177 : 164|

von der Vogelweide, ein fester Unterschied ausgebildet zwischen den
Formen der didactischen Lyrik und denen der übrigen. Die epische
Lyrik und auch die reine Lyrik hat die Form des Liedes oder des
Leiches; da treffen wir immer grössere oder kleinere Reihen von sangbaren
Strophen. In der didactischen Lyrik dagegen gilt die Form des
sogenannten Spruches, um den alten Ausdruck beizubehalten: jedes
Gedicht befasst nur eine Strophe, und diese Strophe ist sowohl selbst
ein Gebäude von grösserem Umfange, als auch die einzelnen Zeilen
lang gestreckt und gedehnt sind. Schon diess macht die Spruchstrophen
ziemlich unsangbar; dazu kommt dann noch, dass hier das
im melodischen Gesange begründete Gesetz der Dreitheiligkeit nicht
selten vernachlässigt wird. Die Sprüche wurden eben auch nicht
gesungen, sondern gesprochen, d. h. mehr in Art eines Recitatives
vorgetragen. Der eigentliche Gesang verblieb den Liedern und Leichen.
Man kann nicht leugnen, dass hier auf beiden Seiten vom besten
Tacte die angemessensten Formen sind gefunden worden; dass sich
namentlich für didactische Lyrik, d. h. für eine Gattung der Poesie,
die nah daran ist Prosa zu werden, keine bessere metrische Gestaltung
denken lässt als der einstrophige, lange und breite, unsangbare
Spruch. Vgl. Litt. Gesch. S. 233, 31. 237, 10.


So angemessen also und ganz nach Gebühr Alles in dieser glänzendsten
Epoche unsrer mittelalterlichen Litteratur sich verhielt, so
ungebührlich ward es schon ein oder zwei Menschenalter später in der
Zeit, als deren Repräsentant man Reinmar von Zweter betrachten darf,
also um das Jahr 1250 (LB. 14, 689. 15, 869). Reinmar von Zweter
dichtet gar keine Lieder mehr, sondern nur noch Sprüche: er weiss nur
noch von didactischer Lyrik, sei das nun eine gelegenheitliche oder
beziehungslose. Aber wie sich das schon an jenem Mangel errathen lässt,
er wendet die Didaxis häufig an, wo sie gar nicht an der Stelle ist,
und das Gefühl bleibt neben dem Verstande häufig ganz unthätig. Er
handelt z. B. auf didactische Weise von der Liebe, während grade
hier der unmittelbare Ausdruck der Empfindung besser wäre am Platze
gewesen; und er handelt von ihr oft so didactisch, in so abstracter
Verständigkeit, dass die Empfindung auch nicht einmal mittelbar davon
berührt und erregt wird. Er lehrt also, wo er gar nicht lehren
sollte, und belehrt auch da wieder nur den Verstand; das Gefühl
aber und mit ihr die Einbildungskraft feiern. In ihm haben wir
die gnomische Poesie der Griechen auf deutschem Boden und nach
deutscher Weise.


Dass es auch im siebzehnten Jahrhundert wieder die Gelegenheitspoesie
gewesen ist, die ein vornehmlicher Anstoss dazu war, überhaupt |#f0178 : 165|

beinahe alle Lyrik in die Didactik hineinzutreiben, braucht nach dem,
was schon früher über dieselbe ist bemerkt worden (S. 150), hier nicht
weiter ausgeführt zu werden.


Jetzt ist endlich noch von einer Gattung didactischer Lyrik zu
sprechen, dem eigentlichen Lehrgedichte. Das Lehrgedicht im besonderen
Sinne dieses Wortes verhält sich zu den so eben behandelten
Sprüchen des Mittelalters, wie sich die Epopöie zum altepischen Liede
verhält, d. h. während der Spruch nur Eine hauptsächliche Lehre nebst
den dazu gehörigen Empfindungen enthält, umfasst das Lehrgedicht
einen ganzen, um einen gemeinsamen Mittelpunct vereinigten Cyclus
von Lehren, ein ganzes System von didactischen Einzelheiten. Und
wie die Epopöie, um die grade Linie des historischen Verlaufes
scheinbar abzukürzen, seitwärts gehende Episoden liebt, so auch das
Lehrgedicht, damit man nicht an dem fortgesponnenen Faden verständiger
Deductionen ermüde. Wir haben schon zu Anfange dieses
Abschnittes (S. 153) eine Art von Lehrgedichten, die sogenannten reinen
Lehrgedichte, berührt, denen man nur um der metrischen Form willen
den Namen von Gedichten geben kann, die sonst aber, da sie lediglich
Producte des Verstandes sind und auch nur vom Verstande können
reproduciert werden, durchaus zur Prosa gehören. Mithin verbleibt
jetzt dieser Name lediglich solchen umfangreichen, systematisch
lehrenden Gedichten, in denen es auf Belebung des Gefühles abgesehen
ist, in denen mithin nothwendiger Weise auch die Einbildungskraft
zu schaffen hat. Obschon nun solchen Dichtungen der Anspruch
auf den Namen von Dichtungen weniger zu verweigern wäre, so sind
doch auch gegen sie allerlei gerechte Bedenklichkeiten vorzubringen.
Die systematische Klarheit auf der einen Seite wird fort und fort verlieren
durch die Empfindungen, die sich zwischen die Deductionen drängen,
und durch die Einbildungskraft, die mit ihren concreten Wirklichkeiten
hineinspielt; und doch werden sich wieder auf der andern
Seite Einbildung und Gefühl in ihrer Thätigkeit fortwährend gehemmt
und gehindert finden durch die Kettenglieder der Lehre. Sodann
wenn der Gegenstand des Lehrgedichtes der menschlichen Wissenschaft
angehört, wenn es ein s. g. scientifisches Lehrgedicht ist, wie
die Einen sagen, oder wie die Andern, ein niederes, so kann das
Gedicht beinahe über Nacht um seine Existenz kommen: es braucht
nur heut Jemand ein neues und besseres System z. B. der Physiologie
oder der Psychologie aufzustellen, so hat das Lehrgedicht, das noch
dem System von gestern folgt, keine Wahrheit mehr. Ein solches
vergängliches und vergangenes Lehrgedicht sind Die fünf Sinne von
Barthold Heinrich Brockes (1680─1747); und je weitere Fortschritte |#f0179 : 166|

Geologie und Chemie machen, desto unverständiger wird z. B. Valerius
Wilhelm Neubecks Gedicht über die Gesundbrunnen (1796) erscheinen,
dessen Didaxis aus der mangelhaften Kenntniss früherer Zeiten hervorgegangen
ist.


Oder das Lehrgedicht ist ein s. g. höheres, oder wie Andre sagen,
ein philosophisches, d. h. es handelt von Dingen, die über die menschliche
Wissenschaft hinaus vielmehr im Glauben und Ahnen liegen, also
von Gott, von Unsterblichkeit, von Ewigkeit u. dergl. Das sind nun
freilich keine vergänglichen Wahrheiten; Einbildung und Gefühl werden
sich hier sogar erst recht auf ihrem Gebiete finden. Um so weniger
aber der Verstand: er will die Sache von sich aus beschauen und
hat dafür doch in sich keinen ganz sicheren Standpunct; er will ein
System bauen, und ihm fehlt von sich aus der feste Grund dazu; er
will deducieren und weiss nicht, wo anfangen. So arbeitet er sich
in vergeblichen Anstrengungen ab, und während Einbildung und Gefühl
allein Alles ins Reine bringen würden, werden sie durch den Verstand
und seine störende Einmischung nur immer wieder vom Ziele zurückgetrieben.
Ein rechtes Beispiel ist Christoph August Tiedges Urania,
ein Gedicht über die Unsterblichkeit (1800): es ist da ein beständiges
unklares Durcheinander: man weiss nie, ob die Einbildung ihre
Anschauungen und das Gefühl seine Empfindungen ableitet aus den
Beweisen des Verstandes, oder ob der Verstand seine Schlussfolgerungen
zieht aus jenen Anschauungen und Empfindungen, also aus Prämissen,
die für ihn gar keine sind. Zuletzt aber ist nichts angeschaut,
nichts empfunden, nichts bewiesen: eine Kraft hat sich nur aufgerieben
an der andern. Und so wird der überall am besten thun, der
sich auf diese Art von Poesie gar nicht einlässt. Grosse und wahre
Dichter sind auch niemals darauf verfallen.


Ein umfangreiches Gedicht freilich von Friedrich Rückert, die
Weisheit des Brahmanen (1836─1839 in sechs Bänden erschienen),
führt auch den Titel Lehrgedicht: es ist aber kein langes und breites,
systematisch zusammenhangendes, nach Art der Urania, sondern wie
der Titel selber noch weiter sagt, ein Lehrgedicht in Bruchstücken.
Es sind lauter kleinere Gedichte, meist zur didactischen Lyrik gehörig,
nicht selten aber auch zur epischen Lyrik oder zur rein lyrischen
Lyrik. Zwar haben sie alle sehr wohl ihre Einheit, nämlich eine
Einheit der Empfindung, es sind alles Worte eines liebenden Menschengeistes,
dem, was er um sich erblickt, immer neu gestaltete und neu
gefärbte Abspiegelungen sind von der schaffenden und belebenden
Liebe Gottes: aber der Dichter hat sich sehr wohl enthalten, all diese
warmen, farbigen Stralen nun auch zu einer Einheit des Verstandes |#f0180 : 167|

zu sammeln und sie in systematischer Construction aus einander zu
legen; es lassen sich vielmehr auf dieses Lehrgedicht sehr wohl einige
Worte anwenden, mit denen Rückert selbst in früheren Jahren eine
Reihe von Epigrammen, Angereihte Perlen betitelt, beschlossen hat:


Ein Bruchstück ist mein Lied, ein Bruchstück das der Erde,

Das auf ein Jenseits hofft, dass es vollständig werde.

Die Liebe, die zum Kranz am Himmel reiht Plejaden,

Hält diese Perlen auch am unsichtbaren Faden. (Poet. Werke 7, 373.)


Die gleiche Art der Composition zeigt im Mittelalter Freidanks
Bescheidenheit, im Alterthum die Sprichwörter und der Prediger
Salomos; auch hier haben die Einzelheiten ihre Einheit: bei den
Sprichwörtern beruht diese auf dem Gedanken, dass alle Weisheit
aus der Gottesfurcht hervorgehe, beim Prediger auf der Eitelkeit der
Welt. In Hesiods Werken und Tagen dagegen vermisst man die Einheit;
die einzelnen Theile gehören nicht nothwendig zusammen, sie
haben sich vielmehr wie zufällig zusammen gefunden.


Nach der epischen und der didactischen Lyrik haben wir nun
noch die dritte Art ins Auge zu fassen, nämlich die lyrische oder die
Lyrik des Gefühls.


Lyrische Lyrik, so nennen wir zum Unterschiede von der epischen
und von der didactischen die reine, eigentliche Lyrik, die zwar auch
eines epischen Anstosses bedarf, aber denselben nicht erzählt, wie die
epische Lyrik, die zwar auch ihren lehrhaften Erfolg haben wird, aber
ihn nicht sichtlich und ausdrücklich bezweckt, wie die didactische
Lyrik: sie giebt immer nur die inneren Zustände des einen gegenwärtigen
Momentes, der mitten inne liegt zwischen jener epischen
Vergangenheit und dieser didactischen Zukunft. Sie wurzelt in den
gegenwärtigen, momentanen Zuständen des Gemüthes, und deshalb ist
ihr Gebiet, so eng begrenzt es auch nach diesen Worten erscheinen
möchte, dennoch so grenzenlos und unermesslich und unbestimmbar,
wie es ja auch grade der gegenwärtige Augenblick ist, der uns mit
den unbegrenzten Blicken, die er rückwärts und vorwärts eröffnet, die
erste und sicherste Ahnung der Ewigkeit, der Unendlichkeit gewährt.
Alles, was das menschliche Gemüth bis in seine noch unausgeforschten
Tiefen bergen mag, all das Licht und Dunkel, all die Formen
und Farben, die ihm von Gott und aus der Welt her zuströmen, und
die es Gott und der Welt entgegenbringt, alles dieses gehört, insofern
es sich den ewigen Gesetzen des Schönen, Guten und Wahren fügt,
der lyrischen Poesie zu als Stoff und Inhalt. Und wenn schon einige
Ideen als Hauptstoffe zu bezeichnen sind, die Ideen Gott und Liebe,
so unterliegen schon diese beiden, je nach dem Wechsel der Individualitäten |#f0181 : 168|

wie der Umstände, einem so grossen Wechsel verschiedenartiger
Auffassungen, und ausserdem bleibt noch eine solche Fülle von
anderen wirklichen und möglichen Stoffen und von Auffassungsweisen
derselben übrig, dass es ein vergebliches Beginnen wäre, sie alle aufzählen
und theoretisch erörtern zu wollen. Was unter solchen Umständen
über das Wesen der rein lyrischen Poesie kann gesagt werden,
das ist sowohl zu Anfange dieser ganzen Abtheilung (S. 119 fgg.), als
auch vergleichsweise mit der epischen Lyrik und der didactischen
Lyrik in den beiden vorigen Abschnitten bereits gesagt worden, und
wir brauchen nur noch einige wenige Bemerkungen über Geschichte
und Form hinzuzufügen, die immer dienen werden, die frühere
Characteristik noch zu vervollständigen.


Zu dieser reinen, eigentlich lyrischen Lyrik bringen es immer
nur diejenigen Völker, deren geistige und politische Entwickelung
ungehindert ihren Lauf vollenden kann, die auf der niedern Stufe der
Cultur weder von selbst verharren, noch irgendwie durch äusseren
Drang und Zwang festgehalten werden, deren Geist auch so glücklich
organisiert ist, dass es ihn überall zur reinen abschliessenden Vollendung
treibt, dass er sich nicht begnügt, auf dem halben Wege stehn zu
bleiben, dass er kein Gefallen findet an blossen Mischarten und Zwischengattungen.
In den Anfängen der Civilisation ist eine selbstbewusste
Absonderung des Einzelnen von der Gesammtheit des Volkes,
während welcher doch allein die lyrische Lyrik mit ihrem cosmopolitischen
Egoismus erwachsen kann, noch unmöglich und noch nicht
vorhanden. Solche Völker bringen es daher, wie die Serben und die
Littauer, allenfalls bis zur epischen Lyrik, aber weiter auch nicht.
Andre haben wohl die erforderlichen Fortschritte der Civilisation
gemacht, und der Einzelne ist sich schon so viel werth geworden,
dass er in so fern wohl für die lyrische Lyrik eingerichtet und
geschickt wäre: aber da fehlt dann wieder dem Geiste des Volkes der
Sinn für unvermengte Form, für scharfe Abgrenzung der einzelnen
Gattungen, wie z. B. den vorderen Orientalen, den Hebräern, den
Arabern. Man kann nicht sagen, dass sie keine Lyrik hätten: sie
besitzen sogar eine sehr reiche; nur haben sie wenig eigentlich reine,
lyrische Lyrik. Die Phantasie und das Gefühl dieser Völker hat von
jeher gern dem Verstande gedient, seiner ernsten Lehrhaftigkeit bei
den Hebräern, seinem Witz und seinen Spitzfindigkeiten bei den
Arabern. Daher hat ihre Lyrik, wo sie nicht gradezu noch auf der
Grenzscheide des Epos steht, immer eine stärkere oder schwächere
didactische Beimischung. Die Psalmen Davids zeigen das erregteste
Gemüth, die Dichtungen der Propheten die beweglichste Einbildung, |#f0182 : 169|

aber die Beispiele sind doch gewiss selten, wo Gemüth und Einbildung
sich nicht in fortdauernder Abhängigkeit von den lehrhaften Tendenzen
des Verstandes befänden oder sich letztere nicht wenigstens
vorübergehend dazwischen drängten. Solche dagegen durch ihre
Geschichte und durch ihre geistigen Anlagen bevorzugte Völker, bei
denen die Lyrik zu ihrer letzten vollkommenen Ausbildung hat gedeihen
können, sind im Alterthume die Griechen, in neuerer Zeit die
Deutschen. An beiden Orten haben die rechten Präcedentien den
rechten Erfolg nach sich gezogen, auf die epische Epik ist die lyrische
Epik, auf die lyrische Epik die epische Lyrik, auf die epische Lyrik
die lyrische Lyrik gekommen. An beiden Orten ist in dem allmählichen,
nirgend springenden Entwickelungsgange eines gesunden Organismus
die Nation erst nach und nach zu einer Vereinigung von Individuen
geworden, und die Poesie dem entsprechend aus dem ungeschiedenen
Gemeingute Aller in das Sondereigenthum des Einzelnen
übergegangen. Bei den Deutschen musste auf die Erzählung der
Thaten Anderer erst die objective Entwickelung der Zustände Anderer
folgen, eh der Dichter dazu kam, auch die seinigen zu entwickeln,
seine eigenen, individuellen, subjectiven: die reine Lyrik bei Walther
von der Vogelweide gegenüber der reinen Epik der alten Heldenlieder
ward erst dadurch möglich, dass zwischen beide die lyrische Epik
Dietmars von Aist und die epische Lyrik Reinmars des Alten trat.


So auch bei den Griechen, und hier vertheilen sich auf höchst
interessante Weise die einzelnen Arten und Uebergangsstufen nicht
bloss in verschiedene Zeiten, sondern auch noch unter verschiedene
Völkerschaften. Auf die epische Poesie, die, wenn schon bei den
Ioniern besonders gepflegt, doch allgemein hellenisches Gesammtgut
war, folgte als wichtigste und als kenntlichste Uebergangsstufe die
epische Lyrik, als Elegie bei den Ioniern, als Chorgesang bei den
Doriern, beide in ihren Anfängen und in den Fortschritten ihrer Entwickelung
einander gleichzeitig, und die eine wie die andre zugleich
national und individuell. Dann erst kommt rein lyrisch, frei von
epischen Motiven, abgelöst von aller Nationalität, die Lyrik der
Aeolier. Bei ihr zeigt sich bis in die metrische Form, bis in den
musicalischen Vortrag hinein die volle Freiheit und Selbständigkeit des
dichtenden Subjects. Hier ist der Dichter nicht mehr an die auf der
alten Nationalität beruhenden Anforderungen des Chors gebunden: wie
sein Gedicht nur ihn angeht, nur ihm dient und angehört, seinen
Interessen, seiner Freude und Trauer, so singt er es auch allein. Die
antistrophische Gliederung, wie sie dem Chorgesang eigenthümlich war,
wird aufgegeben: entweder braucht man unstrophische Formen, wie |#f0183 : 170|

bei den Hymnen und Dithyramben; diese waren ursprünglich lyrischepisch
und in Hexametern verfasst, zuletzt aber wurden sie rein lyrisch,
dienten zum Ausdruck feierlichen Schwunges und rauschender Begeisterung
und zeigten demgemäss einen freien, ungestümen Wechsel verschiedener
Versarten; oder aber, und das ist die eigentlichste Weise
der äolischen Lyrik, es kehren nur noch gleiche Strophen in gleicher
Melodie wieder: daher wird sie denn auch im Gegensatz zur elegischen
und chorischen die melische Lyrik genannt, von μέλος, was eigentlich
Strophe bedeutet, nicht Lied.


Bei uns im deutschen Mittelalter wird der Uebergang aus den
epischen Zwischengattungen in die lyrische Lyrik zwar durch keine
so auffallenden Veränderungen in der Form bezeichnet: nur das schon
früher angebahnte Gesetz der Dreitheiligkeit ward nun erst zur rechten
Kunstmässigkeit und Unverbrüchlichkeit ausgebildet. Wir nennen
jetzt ein solches in Strophen abgefasstes lyrisches Gedicht Lied. In
der älteren Sprache bezeichnete der Singular daʒ liet (eine Nebenform
von lit, d. h. Glied) eine einzelne Strophe, der Plural dagegen diu
liet
ein aus Strophen bestehendes Lied, grade wie sich auch im Griechischen
τὸ μέλος und τὰ μέλη unterscheiden. Der Grund, bloss der
einzelnen Strophe den Namen zu geben, ist der, dass ein lyrisches
Gedicht nicht nothwendig aus mehr als einer Strophe zu bestehen
braucht: wie Göthe, wie Uhland genug einstrophige Lieder haben, so
auch das Mittelalter, das griechische Alterthum, und es ist keine
Nöthigung vorhanden, so wie man häufig zu thun pflegt, solche vereinzelte
Strophen immer nur für Bruchstücke grösserer mehrstrophiger
Lieder zu halten. Ja die älteste lyrische Lyrik möchte in Griechenland
und in Deutschland, wie man wohl aus der Beschaffenheit der
erhaltenen Ueberreste schliessen darf, sich öfter mit einer Strophe
begnügt, als das Gedicht zu einer grösseren Strophenreihe ausgesponnen
haben. So sind die Scolien der Griechen, Lieder, die in heiterer
Gesellschaft über Tisch gesungen wurden, beinahe sämmtlich einstrophig.
Die neue Kunst hatte eben auch erst ihre Studien zu
machen, musste sich auch erst am Kleinen versuchen, eh sie Muth und
Kraft zu Grösserem gewinnen konnte. Jean Paul in der zweiten Ausgabe
zur Vorschule der Aesthetik (S. 589 fgg.) hat nicht übel Lust, auch
die Ausrufungszeichen und die Fragezeichen als besondere Art lyrischer
Poesie aufzuführen; mit dieser und einigen andern dergleichen Scherzreden
fertigt er da die ganze, gesammte lyrische Poesie ab, nachdem
er in der ersten Ausgabe aus leicht erklärlicher und verzeihlicher Verlegenheit
gänzlich von ihr geschwiegen. Solche einstrophige Dichtungen
kommen den Ausrufungs- und Fragezeichen oft nahe genug: denn natürlich |#f0184 : 171|

können sich nur ganz einfache, ganz abgerissene Empfindungen
in solcher Kürze vortragen lassen. Den Fortschritt von solchen einstrophigen
Gedichten zu mehrstrophigen könnte man dann etwa dem
Fortschritte vom kurzen Heldenliede zur ausgeführten Rhapsodie vergleichen:
denn eigentlich eine neue Idee kann die zweite und die
dritte Strophe zu der ersten nicht bringen; die Einheit muss bleiben,
die Eine Idee wird nur anschaulicher, weil sie in einer grösseren Mannigfaltigkeit
von psychologischen Motiven und Consequenzen erscheint.


3. DIE DRAMATISCHE POESIE.


Nach einem Gesetze organischer Entwickelung, das sich häufig
in geistigen Dingen wie in Dingen der Natur wirksam zeigt, kehrte
die Lyrik, als sie bis zur höchsten Ausbildung, d. h. bis zum höchsten
Grade ihrer Verschiedenheit von der Epik gediehen war, in diesen
ihren Gegensatz, dem sie aber zugleich ihren Ursprung verdankte,
zurück, und es entstand aus der Verschmelzung des Wesens beider
das Drama; damit war denn auch der Kreis der möglichen Dichtungsarten
geschlossen.


Der gleiche Gang lässt sich innerhalb der bildenden Kunst wahrnehmen.
Aus der Architectur, die ebenso der Ursprung und auch der
Inbegriff aller bildenden Kunst ist, wie die Epik Ursprung und Inbegriff
aller Dichtkunst, entwickelte sich durch Entzweiung ihr Gegensatz, die
Plastik; auf die Entzweiung folgte aber auch hier die Aufhebung des
Gegensatzes, die neue Vereinigung der Getrennten in der Malerei, welche
von der Architectur die geistige, idealische, von der Plastik die körperliche,
sinnliche Schönheit hat, welche die Figuren der Plastik nach der
Symmetrie und in der Perspective der Architectur geordnet vorführt.


Der Parallelismus aber zwischen der dichtenden und der bildenden
Kunst ist erst auf dieser letzten Stufe ein Parallelismus der Uebereinstimmung.
Denn vorher hatten diese beiderlei Aeusserungen des
menschlichen Schöpfungstriebes einander immer das entschiedenste
polarische Widerspiel gehalten. Neben der Epik, als der ältesten
dichtenden Kunst, stand als älteste bildende die Architectur, d. h.
neben einer sinnlichen eine rein geistige. Denn die Epik holt ihre
Anschauungen aus der geschichtlichen Wirklichkeit: die Architectur
verdankt der Wirklichkeit nichts, sie trägt ihre Muster und Masse in
sich selbst; es giebt (um es so auszudrücken) keine so abstracte Schönheit
als die architectonische ist. Auch bei dem ersten Fortschritt ihrer
Weiterbildung verharren Poesie und bildende Kunst immer noch in
einem solchen Gegensatze. Von der idealischen Architectur löst sich |#f0185 : 172|

die Bildhauerei ab, sie eine rein sinnliche Kunst, da sie ihre Formen
recht aus der handgreiflichen Wirklichkeit entnimmt. Aus der Epik
aber geht die Lyrik hervor, die sich ihrerseits dem Epos und auch
der Plastik in der schärfsten Entzweiung gegenüberstellt. Denn
in der Lyrik zieht sich die Poesie von der äussern Wirklichkeit gänzlich
in das Geistige zurück, von den Begebenheiten der Geschichte in
die Zustände des Gemüths. Wie also früherhin die Poesie in ihren
Anschauungen sinnlich gewesen war, die bildende Kunst dagegen
geistig, so ist jetzt die Poesie wieder geistig, die bildende Kunst
sinnlich. Der menschliche Geist will eben immer in beiden Richtungen
zugleich thätig sein.


Indem nun aber endlich die Lyrik in die Epik, die Plastik in die
Baukunst zurückwandelt, und hier die Malerei, dort das Drama entsteht,
werden nicht bloss die Gegensätze versöhnt, die innerhalb der
Poesie und innerhalb der bildenden Kunst bestanden, sondern auch
der Gegensatz aufgehoben, der zwischen der Poesie auf der einen und
der bildenden Kunst auf der andern Seite stattgefunden hatte. Beide
werden nun sinnlich und geistig zugleich. Die Malerei zeigt Körper
gleich der Plastik, aber schon in so fern geistiger, als die Körperlichkeit
nur Schein und Täuschung ist; und noch um vieles geistiger
dadurch, dass die Farbe dem Körper auch den Ausdruck der Seele
verleihen kann. Das Drama führt, wie das Epos, eine Reihe von
Begebenheiten vor, aber nicht bloss diese, sondern auch und ganz
vorzüglich die inneren Zustände, welche Motiv und Folge jener Begebenheiten
sind; es zeigt die Begebenheiten in den innern Zuständen
und durch dieselben. Es ist in so fern episch, als nicht bloss die
Begebenheiten, sondern auch die innern Zustände ausserhalb des Dichters
liegen, und es nicht seine individuellen Empfindungen sind, die
er darstellt; aber in so fern doch lyrisch, als er eben innere Zustände
entwickelt, zwar einer fremden Individualität, in die er sich jedoch
durch seine Einbildung versetzt. Es ist episch, insofern jene Begebenheiten
entweder wirklich früher geschehene sind oder doch als
früher geschehen betrachtet werden: es ist aber lyrisch, insofern
eben jene Begebenheiten in den begleitenden innern Zuständen Moment
für Moment vergegenwärtigt, Moment für Moment vor Auge und Ohr
des Hörers und Zuschauers entwickelt werden: denn die Lyrik ist die
Kunst der Gegenwart und des Momentes, wie das Epos die Kunst der
Vergangenheit und des Verlaufes ist. Auch hier tritt uns wieder eine
bemerkenswerthe Aehnlichkeit zwischen Drama und Malerei entgegen.
Die Plastik ist gleich der Lyrik auf Einen Moment angewiesen; die
Malerei freilich auch, aber doch nicht in solchem Grade, in derselben |#f0186 : 173|

Beschränkung wie die Plastik. Denn durch die Perspective, durch
die Breite der Ausdehnung und die Weite des Hintergrundes, die sie
ihren Bildern geben kann, ist ihr die Möglichkeit eröffnet, einen historischen
Verlauf anzudeuten und wenigstens errathen zu lassen, welcherlei
Begebenheiten dieser momentan fixierten vorangegangen seien,
und welche ihr nachfolgen werden.


Durch diese Verschmelzung des Lyrischen mit dem Epischen, der
innern Zustände mit der äusseren Wirklichkeit, der Empfindung mit
den Begebenheiten werden diese letzteren erst zu dem, was man eine
Handlung nennt: denn nun erst, wo sich die inneren Motive in ihrer
vollsten Geltung und Einwirkung zeigen, erscheint das, was geschieht,
auch als ein wirklich Gethanes; es begiebt sich nicht bloss, wie im
Epos, diess und jenes mit und an den Personen, welche auftreten,
sondern sie sind selber thätig, sie handeln. Daher auch die griechische
Benennung δρᾶμα1.


Daraus nun, dass es im Drama nicht auf Begebenheiten, sondern
auf Handlung abgesehen ist, folgt zugleich, dass es eben Personen
sind, mehr als Eine, die in ihm auftreten: bei einer Begebenheit kann
sehr wohl nur eine einzige Person betheiligt sein; zu einer Handlung
gehören zum mindesten zwei, grade wie zu einem vollthätigen, transitiven
Zeitwort wenigstens zwei Substantiva gehören, ein Subject und
ein Object. Auf die Zweizahl beschränkt sich jedoch die dramatische
Kunst nur in den Zeiten ihres Beginns und etwa auch in denen der
Ausartung: sonst aber pflegt sie den Kreis der Handlung über eine
grössere Menge von Personen auszudehnen, und ungefähr wie die
Sprache neben dem Nominativ und dem Accusativ noch einen Genitiv,
einen Dativ u. s. f. besitzt, so auch ausser dem Handelnden und dem
Leidenden, damit die Begebenheiten immer mehr zu wahrer Handlung
belebt werden, noch ursächlich wirkende und bloss betheiligte Personen
u. s. f. auftreten zu lassen. Die Uebereinstimmung zwischen der
Malerei und dem Drama bewährt sich auch auf diesem Puncte. Die
Plastik kann, da sie immer nur einen einzelnen Moment fixiert, auch
immer nur höchstens Begebenheiten und nie eine rechte Handlung
darstellen; zudem ist sie schon durch die Beschaffenheit ihres Materials
auf wenige oder gar Eine Gestalt eingeschränkt. Anders die Malerei.
Sie kann, wie vorher bemerkt worden, die Vergangenheit und die
Zukunft, die vor und hinter der augenblicklichen Gegenwart liegen,
wenigstens andeuten: schon das hilft ihr die Begebenheit zur Handlung

1
Die lateinische, fabula, ist minder passlich: sie berührt, da sie eigentlich
so viel als Erzählung heisst, nur das epische Element.
|#f0187 : 174|

steigern; sie wird aber darin noch unterstützt durch die Möglichkeit,
eine grössere Anzahl von Gestalten auf der Fläche zu versammeln
und sowohl durch die Gebärden und die Gruppierung als
durch die perspectivische Anordnung die causalen Beziehungen errathen
zu lassen, die unter denselben stattfinden.


Wie bringt nun das Drama diese seine Handlung zur Anschauung?
Zunächst, da es eine Art der dichtenden Kunst, der Kunst der Rede
ist, muss es sich zur Darstellung des Wortes bedienen. Da es aber
eben eine Handlung ist, an der als solcher Mehrere Antheil haben,
und da diese Handlung soll vergegenwärtigt werden, so kann die
Darstellung durch das Wort in keiner andern Form erscheinen als in
dialogischer, in der Form des Gespräches. In Gesprächsform also
drücken die handelnden Personen die innern Zustände aus, durch
welche sie zu einander in causaler Beziehung stehn; im Fortschritte
des Gesprächs, der wechselnden Rede und Gegenrede entwickelt sich
auch der fortschreitende Verlauf der Handlung.


Aber mit dem Dialog allein wären doch nur die innern Zustände
dargestellt, jedoch nicht die Begebenheiten selbst, die epische Grundlage
der Zustände. Erzählt werden dürfen sie nicht: denn damit
würde ein Theil der Dichtung rein episch werden. Da muss denn
die dichtende Kunst Hilfe suchen bei der bildenden: durch diese muss
sie sinnlich vergegenwärtigen lassen, was in ihr der grobe materielle
Kern der äussern Wirklichkeit, der epischen Begebenheiten ist. Sie
fügt zu dem geistig Anschaulichen das sinnlich Wahrnehmbare: sie
verbindet mit dem Worte die Gebärde, mit der Poesie die Mimik.
Was man im Drama hört, ist nur die Entwickelung der innern Zustände,
freilich eine episch fortschreitende: denn es sind Zustände von Handelnden;
die eigentlichen Begebenheiten aber, auf denen als den einzelnen
Motiven und Erfolgen jener Verlauf der innern Zustände beruht,
das epische Gerüst und Gebälk des dramatischen Gebäudes, werden
mit dem Auge wahrgenommen, werden gesehn.


Auf diese aus Poesie und Mimik gemischte Darstellung gehn die
mannigfachen mit Spiel gebildeten deutschen Benennungen: Schauspiel,
Trauerspiel, Lustspiel, Schimpfspiel u. s. f. Die Aufführung gehört
überall wesentlich zu einem dramatischen Gedichte, und es ist die
Sache eines Jeden, der ein Drama bloss liest oder lesen hört, in
seiner Einbildung die Gebärden, die er auch noch sehen sollte, beizufügen.
Denn wie an dem, welcher nur die Gebärden sähe, nur
einzelne Begebenheiten vorübergehn würden, aber keine zusammenhangende
Handlung: so würde auch der, welcher seine geistige Kraft
nur auf den Dialog richtete, wohl eine Reihe von innern Zuständen |#f0188 : 175|

vernehmen, aber wiederum keine Handlung; für jenen würde nur das
epische Element in der gröbsten Handgreiflichkeit, für diesen nur das
lyrische in unsicherer Anhaltlosigkeit vorhanden sein. Erst aus der
Durchdringung beider ergiebt sich die eigentliche dramatische Handlung.


Drama ist mithin ein Verlauf von epischen Begebenheiten, angeschaut
in einem Verlaufe von lyrischen Zuständen und dargestellt in
Form des Gespräches mit Begleitung des Gebärdenspiels; oder um
die Definition kürzer zu fassen, eine dialogisch und mimisch dargestellte
Handlung.


Ehe wir uns zur nähern Erörterung der Gesetze wenden, denen
das Drama im Allgemeinen folgt, und zur Betrachtung seiner einzelnen
Gattungen, wird es zweckdienlich sein, der Geschichte desselben in
etwas nachzufragen.


Schon wenn man lediglich das innere Verhältniss ins Auge fasste,
das zwischen den Productionen der dramatischen Kunst und denen
der Epik und der Lyrik stattfindet, dürfte man getrost behaupten,
das Drama müsse jünger sein als Epos und Lyrik: diese vollendete
Subjectivierung des Objectes, diese organisch untrennbare Verschmelzung
von Begebenheit und Empfindung sei erst da möglich gewesen,
als man sowohl in der Epik die Kunst der Erzählung, wie auch in
der Lyrik die Kunst, innere Zustände zu entwickeln, bereits zur Meisterschaft
ausgebildet hatte, als man es auf beiden Gebieten zu nichts
Weiterem mehr bringen konnte. Aber man braucht das nicht bloss
zu vermuthen und es als höchst wahrscheinlich zu behaupten: man
kann es auch mit historischer Gewissheit nachweisen.


In Deutschland war das Drama von den ältesten Zeiten her
mannigfach angebahnt. An mimischen Künsten hat unser Volk immer
Freude gehabt: schon Tacitus erzählt in seiner Germania (cp. 24) von
Waffentänzen als einer Art theatralischer Belustigung. Die dramatische
Gestaltung der Rede war auch schon vorbereitet und gleichsam vorgeahnt
in der alten, echtdeutschen Weise, die epische Erzählung mit Dialog zu
begleiten. Dichtungen jedoch, die mit einigem Recht den Namen von
dramatischen ansprechen dürften, zeigen sich in Deutschland erst während
des zwölften Jahrhunderts, also zu einer Zeit, wo die alte Epik
des Volkes schon anfieng in die Kunstepopöie überzugehn, und wo die
erste Entwickelung der lyrischen Poesie sich in den zwiespältigen halb
epischen, halb lyrischen Liedern zeigte. Indessen war, da es eben noch
keine rechte Lyrik gab, auch die Zeit des Dramas noch nicht recht
gekommen. Jene dramatischen Dichtungen hatten ihren Ursprung auch
nicht auf deutschem Boden, innerhalb der Nation: sie sollten nur die
Feierlichkeiten der Kirche noch herrlicher machen, standen im Dienste |#f0189 : 176|

der Geistlichkeit und waren deshalb, freilich nach ganz mittelalterlicher
Weise, in lateinischer Sprache abgefasst. Diese geistlichen Spiele
beruhten unzweifelhaft mit auf alten Ueberlieferungen aus den Zeiten
der römischen Litteratur: aber sie bequemten sich dem Zustande der
Nationallitteratur des Mittelalters, und so sind auch die im zwölften
Jahrhundert in Deutschland verfassten noch so roh und ungeschickt
dramatisiert, in einem so unverschmolzenen, bloss mechanischen Gemische
von Epik und Lyrik, wie es damals allein noch möglich war, wo
die deutsche Lyrik selber erst ihren Anfang nahm. Das nationale,
eigentlich deutsche Drama beginnt erst um das Jahr 1300, also, und
darauf kommt hier viel an, zu einer Zeit, wo die Epik sowohl als
die Lyrik sich schon überblüht hatten: die Poesie, die dort nicht mehr
heimisch war, flüchtete sich nun in ein neues Gebiet, wo sie die
dort erworbenen Güter zusammenwerfen und Eins in und mit dem
Andern nützen konnte. Der älteste Versuch eines nationalen deutschen
Dramas ist der Krieg von Wartburg, ein epischer Stoff lyrisch in
Form eines Dialogs behandelt. Auch in einigen Aeusserlichkeiten
weist diese dramatische Dichtung deutlich genug auf beides, die
Epik und die Lyrik zurück; es sieht in seinen Gesichtszügen zugleich
dem Vater und der Mutter ähnlich. Von der Lyrik hat es die strophische
Form, vom Epos die Einmischung einzelner erzählender Stellen.
In den nächsten Jahrhunderten, dem 14., 15. und 16., kehrt es sich,
was solche unverschmolzene Einmischungen betrifft, gewissermassen
um. Während nämlich in den Dramen dieser Zeit die Versform in der
Regel die epische ist, die der kurzen Reimpaare, treten dazwischen
häufig lyrische Stellen, lyrisch der Sache und der Form nach, eigentliche
Lieder. Von da an machte aber die dramatische Kunst immer
schnellere Fortschritte zur letzten Ausbildung, und wir könnten uns,
wäre nicht das 16. und das 17. Jahrhundert mit all seiner Unruhe
und seinem Elend, seinen Entlehnungen aus der Fremde dazwischen
gekommen, jetzt wahrscheinlich eines vollständig nationalen Dramas
freuen und rühmen. So aber ist unser jetziges Drama zu einem grossen
Theile mehr gemacht als geworden, mehr fremd als deutsch.


Das griechische Drama hat eben so wie das deutsche seinen
Ursprung aus der religiösen Gelegenheitspoesie genommen, und zwar
die ganze dramatische Kunst in ihren verschiedenen Arten aus einer
und derselben Art solcher Gelegenheitspoesie, nämlich aus dem Dithyrambus.
Der Dithyrambus gehörte, wie das von den Alten selbst
mehrfach bezeugt wird, ursprünglich zur Epik als ein dionysischer
Festgesang, der von den Werken und Wundern des Bacchus erzählte;
nur in so fern trug er von jeher auch einen Keim der Lyrik in sich, |#f0190 : 177|

der dann späterhin auch aufgehen musste, als es darauf ankam, den
Gott ausserdem noch zu preisen. Sein Charakter war ein rauschender
Enthusiasmus, und zwar je nachdem man den Gott auffasste,
bald der Enthusiasmus der ausgelassenen Fröhlichkeit, bald der der
schmerzvollen Klage. Vorgetragen wurde er, wie alle solche religiösen
Festgesänge, von dem repräsentierenden Ausschusse des ganzen feiernden
Volkes, von dem Chor, der singend und tanzend den Altar des
Dionysus umkreiste. Dabei galt im allgemeinen die Sitte der Verkleidung:
die Sänger des Chores suchten, indem sie sich in Bocksfelle
hüllten, die Gestalt der Satyrn, der Gefährten des Bacchus,
nachzuahmen. Nur in den dorischen Städten fiel, wie denn überhaupt
die Dorier sich vor allen griechischen Stämmen durch geistigen Adel
und so auch durch Läuterung der Religiosität auszeichneten, die
Satyrmaske schon frühzeitig fort, und auch sonst erhielt der dithyrambische
Chor dort in den Städten eine mehr ernste, würdige Gestalt:
den Landbewohnern indessen verblieb die bäurische Mummerei. An
der Spitze des Chors stand nach gewohnter Sitte alles Chorgesanges
ein Vorsänger (ἐξάρχων); gewöhnlich der Dichter selbst, ausserdem,
dass er den Gesang anhob und leitete, ursprünglich in nichts von den
übrigen Sängern unterschieden. Je mehr jedoch die Kunstbildung überhaupt
fortschritt und sich die Verschiedenheit der Dichtungsarten entwickelte
und befestigte, desto mehr sonderte sich auch dieser Chorführer
von dem übrigen Chore ab: er trat ihm entgegen wie die Epik
der Lyrik, indem abwechselnd er, begleitet vom Tanz und von den
mimischen Gebärden der Uebrigen, Thaten und Leiden des Gottes
erzählte, und diese dann wieder mit Preisgesange einfielen. Und bald
gewann jener epische oder „diegematische“ Theil des Dithyrambus
eine noch weitere Ausdehnung seines Stoffgebietes: die Erzählung
blieb nicht beim Dionysus stehn; sie wandte sich auch auf andre
Mythen und Sagen; auch die alten Landesheroen wurden gefeiert.
In solcher Weise spiegelte sich innerhalb der einen dithyrambischen
Poesie die allgemeine Sonderung von Epik und Lyrik wieder; eben
diese sollte nun aber auch den Punct hergeben, an welchem sich beide
auf neue Weise wieder vereinigten: sie sollte den Ausgangspunct bilden
für die dramatische Kunst. Es ward diess durch eine leichte
Wendung und Veränderung herbeigeführt, die um 540 v. Chr. der
Attiker Thespis in den Dithyrambus brachte. Er gestaltete ihn dialogisch
und machte den Vorsänger zu einem eigentlichen Schauspieler:
er liess diesen selbst dasjenige, was er diegematisch vortrug, was er
erzählte, auch mit den dazu gehörigen Gebärden und Bewegungen
begleiten, und liess es ihn vortragen in Form einer eigentlichen |#f0191 : 178|

Wechselunterhaltung mit dem singenden Chore. Nun bedurfte es nur
noch der neuen Aenderung und Hinzufügung, die man erst dem Aeschylus,
vierzig bis fünfzig Jahre nach Thespis, beizulegen pflegt, derjenigen
nämlich, dass dem Erzähler nicht mehr der Gesang des Chors
antwortete, sondern ihm ein andrer vereinzelter Zwischenredner beigegeben
ward, dass ausser und neben dem Chor zwei Personen hingestellt
wurden, die sich unterredeten und die Rede mit Gebärdenspiel
begleiteten: nur dieser Aenderung bedurfte es noch, und das eigentliche
Drama, die im Dialog mimisch dargestellte Handlung war fertig.
Und wohl zu merken, diese letzte entscheidende Aenderung fällt in
die Zeit, wo die Epik bereits in die prosaische Geschichtsschreibung
umschlug, wo auch die reine Lyrik der Aeolier schon längst in Alcäus,
Sappho und Andern ihre höchste Blüte erreicht hatte, wo also der
schöpferische Geist der Hellenen einer neuen dritten Kunstform bedurfte,
wenn er nicht müssig sein und in Müssigkeit absterben sollte.


So stand nun das Drama fertig da, und Sophocles, der jüngere
Zeitgenosse des Aeschylus, hatte es nur noch zu höherer und zu der
höchsten Blüte und Reife zu vollenden: aber grade wie der Dithyrambus
darum nicht minder fortbestand, nur von jetzt an als rein lyrischer
Ausdruck der bacchischen Begeisterung, so trug auch das Drama
fort und fort immer noch mancherlei nachgebliebene Spuren an sich
von seinem Ursprunge aus der Epik und der Lyrik jener dionysischen
Chorgesänge. Namentlich sind es die Ueberreste der Lyrik, die
besonders augentällig hevortreten, nicht so die der Epik. Etwa nur
von Aeschylus kann man behaupten, dass sich bei ihm öfter noch
das epische Element kaum verschmolzen mit dem lyrischen vordränge;
z. B. in den Persern und in den Sieben gegen Theben. Jene
noch bewahrte Selbständigkeit der Lyrik zeigt sich, wenn wir von
den gern gebrauchten Monologen absehen, die nothwendig und natürlich
immer ziemlich lyrisch gehalten waren, hauptsächlich und namentlich
in der Beibehaltung des vom Dithyrambus her überlieferten Chors.


Wie sehr der Chor eigentlich nur etwas Ueberliefertes und Beibehaltenes
war, giebt sich besonders deutlich darin kund, dass selbst
das attische Drama, während der Dialog im attischen Dialecte geführt
wurde, dem Chor immerfort seine dorische Mundart liess und auf
solche Weise das alte Eigenthumsrecht der Dorier auf die chorische
Poesie anerkannte und bewahrte. Die lyrische Bedeutung des Chores
beruht nicht bloss in den lyrischen Strophenformen, deren er sich
bedient: denn ohne Gesang von Strophe und Antistrophe konnte er
eben nicht wohl ein Chor sein; sie beruht noch viel mehr und viel
bestimmter in der ganzen Stellung, welche der Chor gegenüber dem |#f0192 : 179|

dialogischen, dem aus Epik und Lyrik zusammengeschmolzenen übrigen
Theile des Dramas einnahm.


Der Chor hieng zwar immer mit den handelnden Personen irgendwie
zusammen, indem er etwa eine derselben als Gefolg begleitete
oder aus Einwohnern des Ortes bestand, an welchem die dargestellten
Begebenheiten vor sich giengen. Dennoch stand er der Regel nach
ganz ausserhalb der Handlung. Wir finden freilich bei Aeschylus,
wir finden auch bei Aristophanes den Versuch gemacht, ihn thätig in
dieselbe eingreifen zu lassen; ein Beispiel sind die Schutzflehenden des
Aeschylus, wo die Töchter des Danaus, auf denen die ganze Handlung
dieses Dramas ruht, zugleich den Chor desselben bilden. Aber
es blieb bei solchen blossen Versuchen: sie scheiterten an der Unmöglichkeit,
einer so grossen Menge von Personen eine rechte dramatische
Thätigkeit zu geben: denn das hätte doch eigentlich nur geschehen
können, indem jede derselben auch einzeln und individuell thätig
gewesen wäre; sie scheiterten an der immer mehr anreifenden und
schon bei Aeschylus selbst bereits ziemlich angereiften Idee von der
höheren Bedeutung, die man dem Chore verleihen könnte. Er stand
also zwar ausserhalb der Handlung, aber nicht ohne Beziehung auf
sie, und diese Beziehung war eben eine lyrische oder didactisch
lyrische. In seinen Gesang legte der Dichter all die sittlichen und
religiösen Empfindungen nieder, welche die vorübergehende Handlung
in einem reinen und edeln Gemüthe erregen konnte. In den Worten
des Chors, wie sie von Zeit zu Zeit die Handlung unterbrachen,
begleitete der Dichter den Verlauf der Begebenheiten in ähnlicher
Weise mit lyrischen Betrachtungen, wie auch der Elegiker seine inneren
Zustände an äussern Motiven entwickelt. Aber grade wie in der
ersten Periode der Elegie das, was der Elegiker aussprach, entweder
wirklich Volksstimme war oder doch Volksstimme hätte sein können
und sein sollen: grade so waren es auch nicht die Empfindungen und
Meinungen seiner beschränkten Individualität, die der Dramatiker dem
Chore anvertraute, sondern Worte von allgemeinerer Weihe und Gültigkeit;
und oft schwebt der Chor in ähnlicher Art hoch über der
Handlung, wie sich Pindar, der auch nur für den Chor, für das
repräsentierte Volk dichtete, hoch über das alltägliche Wissen des
Volkes bis zu leuchtenden Ahnungen der göttlichen Weisheit zu erheben
pflegt. Schon Aeschylus erscheint in seinen Chören nicht selten
als ein solches Organ der gottbegeisterten Volksstimme; noch mehr
Sophocles, den bei der weisen Mässigung, die ihm überhaupt eigen
ist, selbst der höchste Schwung niemals zu jener Ueberschwänglichkeit
der Anschauung und der Darstellung dahinreisst, die den Aeschylus |#f0193 : 180|

characterisiert. Tiefer steht der Chor bei Euripides, wie z. B. der
Völker- und Schiffscatalog in seiner Iphigenie in Aulis beweist.


Das bisher über den Chor Bemerkte gilt jedoch in seinem vollen
Masse nur von dem Chor der Tragödie. In der Comödie stellt sich
die Sache allerdings etwas anders. Der Chor der Comödie erscheint
um vieles weniger als Repräsentant des Volkes: er muss vielmehr oft
den allerpersönlichsten Interessen des Dichters das Wort führen, seinem
Hass und seiner Liebe in Dingen der Politik und der Litteratur. Da
steht denn der Chor nicht bloss in der Weise ausserhalb der Handlung,
wie das auch beim tragischen Chore der Fall ist: er steht nicht
betrachtend neben und über ihr, sondern er wendet sich gradezu von
ihr ab; er befindet sich nicht aus irgendwelcher inneren Nothwendigkeit,
sondern nur aus altem dithyrambischem Herkommen auf der
Bühne, und diese geheiligte Stätte benützt er dann, um von ihr herab
oft in der masslosesten Freiheit zu dem versammelten Volke zu sprechen,
um in s. g. Parabasen (d. h. Ueberschreitungen, nämlich der Handlung)
das Volk selbst und die Mächtigen und Angesehenen im Volke mit
einer wahren Begeisterung der Satire zu züchtigen. Diess zügellose
Heraustreten des komischen Chors hat ihm auch schon frühzeitig den
Untergang gebracht, und während der Staat den Tragödien, so lange
es noch Tragödien gab, gerne den Chor vergönnte, musste er ihn in
der Comödie beseitigen. Darin beruht der Haupt- und Grundunterschied
der sogenannten mittleren und der neuern Comödie der Athener
von der älteren: alle übrigen Unterschiede, so bedeutend und wesentlich
sie auch sein mögen, sind von diesem nur die nothwendigen weiteren
Consequenzen. Bei den Römern findet sich der Chor noch in
den keineswegs mustergültigen Tragödien des Seneca, während dagegen
die Comödien des Plautus und des Terenz keinen Chor haben.


Indessen grade auch in dieser Absonderung des komischen Chors
von der Handlung der Comödie zeigt sich wieder recht deutlich der
Ursprung des Dramas aus dem Dithyrambus. Im Dithyrambus war
einst der Chor das Eins und Alles gewesen, und es gab ausser ihm
nichts: erst nach und nach hatte sich der Vorsänger von ihm getrennt,
und wiederum erst später hatte diese Trennung des Vorsängers den
dramatischen Dialog herbeigeführt. In der Tragödie unterwarf sich
der Chor diesem Dialoge und ward zur bloss begleitenden lyrischen
Betrachtung: in der Comödie zog er sich wie eifersüchtig zurück und
wollte hartnäckig immer noch sein altes Recht auf Selbständigkeit
behaupten. Und noch in andern Beziehungen lag der Chor der
Comödie dem alten Chor des Dithyrambus näher. Der dithyrambische
Chor pflegte, wie vorher erwähnt worden, in Vermummungen zu |#f0194 : 181|

erscheinen, die ebensowohl Grausen als Lust erregen konnten: auch die
Comödie gefällt sich fort und fort in den abenteuerlichsten Maskierungen
ihres Chores. In der Tragödie kommt dergleichen nur noch zuweilen
bei Aeschylus vor, ihrem eigentlichen ersten Urheber.


Endlich weist noch ein Umstand und ein noch mehr äusserlicher auf
die Bevorzugung und die Selbständigkeit hin, die der Chor der Comödie
und auch noch der der Aeschyleischen Tragödie in Anspruch nahm:
die bei Aristophanes herrschende und bei Aeschylus wenigstens noch
waltende Sitte, das Drama nach dem Chor zu benennen. Sophocles
entnimmt die Benennung schon beinahe durchweg von der Hauptperson
des dialogischen Theiles. In der Uebung des Volkes aber stand bis
in spätere Zeiten der Chor allem Andern voran, der Chor, der aus
seinen alten dithyrambischen Lustbarkeiten hervorgegangen war: ob
er gefiel oder nicht, darnach bestimmte sich das Urtheil der Menge
über Werth oder Unwerth des ganzen Dramas.


Der Chor ist Erbe und Eigenthum der griechischen Bühne: er ist
auch nur auf ihr die organische Folge historischer Prämissen. Bei
uns war nirgend ein Anlass, auf den sich ein solcher hätte bilden
können, und so haben denn auch die Versuche, die von den deutschen
Dramatikern des 16. und 17. Jahrhunderts und seitdem wieder von
einigen der letzten Periode sind gemacht worden, ihn auch auf die
deutsche Bühne überzuleiten, nur verunglücken können. Wir wollen
nur auf zwei besonders namhafte Beispiele Rücksicht nehmen, auf
Schiller und Platen.


Von Schiller haben wir in der Braut von Messina eine solche
Tragödie mit Chören. Hier ist nun nicht zu verkennen, wie der
Dichter sich in unaufhörlicher Verlegenheit befindet, den Chor in Rede
und Handlung recht zu verwenden. Er lässt ihn mehr und öfter
sprechen, als das die Alten jemals gethan: da kann es denn nicht immer
das grade im Drama selbst Geschehende sein, worauf sich seine Betrachtungen
hinlenken; der Chor, den die Alten nur in der Comödie jeglicher
Beziehung zur Handlung überheben, löst sich hier auch in einer
Tragödie häufig genug aus allem dramatischen Gange und Zusammenhange
heraus und stellt Reflexionen an, die ganz vereinzelt bleiben,
die auf das, was daneben geschieht, keinerlei Beziehung haben. So
an einer Stelle die Schilderung und vergleichende Erwägung des friedlichen
und des kriegerischen Lebens, der Liebe, der Jagd, der Schiffahrt:
alles das an sich wahrhaft schön und mit Recht bewundert, aber,
und das ist hier der Fehler, undramatisch. Auf der andern Seite lässt
dann Schiller den Chor wieder auf das thätigste und thätiger eingreifen,
als das irgend bei den Alten vorkommt, und in einer Weise, von |#f0195 : 182|

der die Alten nichts wissen. Aber es bedarf solcher Vergleichungen
mit den Mustern der Antike nicht, um einzusehen, worin hier der
Schillerische Chor fehlt. Es ist eben zuvörderst kein Chor, sondern
es sind Chöre; es theilt sich nicht Ein Chor bloss durch Gesang und
Tanz strophisch und antistrophisch in zwei Hälften, welche dann die
Epode wieder vereinigt, sondern es stehn von vorn herein und durchweg
zwei Chöre einander gegenüber, deren jeder für einen der zwei
feindlichen Brüder entschieden und thätig Partei nimmt, zwei Chöre,
die gleich den Herren, deren Gefolge sie bilden, einander bis zum
Handgemenge feindlich sind. Das aber erregt doch wohl das gerechteste
Bedenken, dass dieselben Chöre, die in so blinder Parteiung
den Leidenschaften ihrer Herren dienen, dennoch wieder das Recht
ansprechen, alle Augenblicke mit sittlicher Betrachtung, mit Urtheil
und Rath aus der Handlung zurückzutreten; es ist ein Widerspruch
in sich selbst, wenn dieselben Chöre, die sich eben noch mit gezückten
Schwertern gegenüber gestanden, nun mit einem Male sich wieder
vereinigen und sich einmüthig und einträchtig über denselben Zwiespalt
reflectierend erheben, den sie eben erst haben blutig ausfechten
wollen. Schiller hat diesen Wechsel von Zwiespältigkeit und von
Einigung der Chöre in seinem Vorwort zur Braut von Messina folgender
Massen gesucht kurz zu rechtfertigen: „Ich habe den Chor zwar
in zwei Theile getrennt und im Streit mit sich dargestellt: aber diess
ist nur dann der Fall, wo er als wirkliche Person und als blinde
Menge mithandelt. Als Chor und als ideale Person ist er immer eins
mit sich selbst.“ Indessen der Fehler und die künstlerische Unmöglichkeit
ist eben, dass die gleichen Persönlichkeiten jetzt eine blosse
blinde Menge ausmachen und dann wieder mit gotterleuchtetem Auge
auf die Handlung hinabschauen sollen.


Sodann Platen. Der Graf Platen hat seinen beiden antik gemessenen
Comödien, der Verhängnissvollen Gabel und dem Romantischen
Oedipus, auch nach Weise der antiken Comödie einen Chor geben
wollen. Indessen nur in der minder gelungenen von beiden, in derjenigen,
welche sonst eigentlich missrathen ist, im Oedipus, hat der
Chor ungefähr die antike Stellung gegenüber der Handlung auf der
Bühne und dem Volke vor derselben. Es ist ein Chor von Haidschnucken,
von wilden Schafen, wie sie in der Lüneburger Haide
umherziehen, die zuweilen in die Handlung drein reden, ohne jedoch
sonst Antheil an ihr zu haben, ausserdem aber noch in Parabasen aus
der Handlung hinaus reden zum Publicum. Aber wie gesagt, diess
ganze Drama ist von Anfang bis zu Ende eine so verfehlte Arbeit,
dass man aus ihm nichts abnehmen kann über die Bedeutung, welche |#f0196 : 183|

etwa noch jetzt und auch für uns der Chor ansprechen dürfe. Mit
Recht stellt man die andre, früher gedichtete Comödie höher, die Verhängnissvolle
Gabel: aus dieser wird man also eher in Bezug auf den
Chor ein entscheidendes Urtheil entnehmen können. Wie ist derselbe
nun hier beschaffen? Etwas genauer betrachtet, ist nur der Name
vorhanden, nicht aber die Sache. Eine Person nämlich, die aufs
wesentlichste mit zur Handlung gehört, ja die man als die Hauptperson
des ganzen Dramas betrachten darf, eine einzelne Person, der
Jude Schmuhl wirft zuweilen (ich gebrauche Worte des Dichters)
„Mantel und Bart weg und erscheint als Chorus, indem er bis an den
Rand des Theaters vortritt.“ Also nur Eine Person, und zwar eine
dramatische Hauptperson, die sich auch nicht maskiert, um Chorus zu
sein, sondern sich, um es sein zu können, demaskiert; sie thut das
ferner nur fünfmal je am Schlusse der Acte, um diesen Schluss nach
antiker Weise durch eine Parabase zu bezeichnen, durch eine längere,
im Interesse des Dichters an das Publicum gerichtete Rede. Das ist
denn Alles, was dieser sogenannte Chorus mit dem des Aristophanischen
Lustspieles gemein hat. Und auch an diesen fünf Stellen wäre
der ausdrückliche Name des Chors wohl zu entbehren gewesen, da
bei der selbstsüchtigen Polemik, aus welcher das ganze Stück hervorgegangen
ist, auch alle übrigen Personen genug Dinge reden, die
nicht eigentlich zur Sache gehören, die nichts für den dramatischen
Dialog bedeuten, sondern lediglich dem Verhältniss des Dichters zu
seinem Publicum dienen.


Zu solchen Ungehörigkeiten werden aber unsre Dichter immer
gezwungen sein, sobald sie den griechischen Chor in das deutsche
Drama einzuflechten suchen: sie werden entweder wie Platen nur den
Namen festhalten können oder wie Schiller die Sache in so schwankender
Weise erneuern müssen, dass es für uns immer noch eine
fremdartige Antike bleibt, ohne dass darum doch ein Grieche den
Chor seiner Bühne darin wieder erkennen würde. Alle Willkür, die
des historisch Gegebenen nicht achtet, straft sich selbst und vernichtet
ihr eigenes Werk. Das griechische Drama musste, vermöge seiner
Entstehung aus dem Dithyrambus, einen Chorus haben und konnte
ihm, wenn er anders nicht bedeutungslos sein sollte, nur jene früher
erörterte Bedeutung geben: hinter unserm Drama, mögen wir nun das
nationalere des 15. und 16. Jahrhunderts ins Auge fassen, oder das
halb fremde des 18., liegen keine solche Erinnerungen. Uns kann
und darf ein Chor, der ausser der Handlung steht, nur ungehörig
und störend vorkommen; einer aber, der in die Handlung eingreift,
ist auch kein Chorus mehr. Wer uns den Chor wiedergeben will, |#f0197 : 184|

baut ein Haus ohne Grund, das einstürzen muss, so kunstreich es
sonst gebaut und geschmückt sein mag.


Es sind nunmehr die allgemeinen Gesetze der dramatischen Kunst
abzuhandeln, die Anforderungen, die nach Recht und Uebung an jedes
dramatische Gedicht gestellt, die auch von jedem guten Drama erfüllt
werden.


Die erste und hauptsächlichste Anforderung, die der Einheit, theilt
das Drama mit jedweder andern Dichtung: jede Dichtung muss, um
schön heissen zu können, ein organisches Ganzes von mannigfachen
Theilen sein, die jeder für sich unselbständig, und einer dem andern
unentbehrlich, sich gegenseitig auf das innigste durchwachsen; ein
geistiger Organismus, dem nichts mangelt, an dem nichts zu viel ist.
Das gilt für alle Gedichte. Die Sache des Dramas aber insbesondre
ist eben δρᾶμα, ist Handlung, d. h. es muss eine durch die bestimmteste
Causalität zusammengehaltene und verschlungene Kette von Begebenheiten
bilden. Mithin ist hier vorzüglich und vor allen Dingen
Einheit der Handlung zu fordern: sie muss abgeschlossen und vollständig
sein; es darf in der Kette der Begebenheiten kein Glied fehlen,
aber auch keines mehr sein, als nöthig ist: sonst würden uns
Wirkungen vor Augen treten, deren Ursachen uns fremd sind, und
Ursachen, denen eine Wirkung gebricht. Vielmehr muss von Anfang
an Alles in stätigem Verlauf auf das Ende hin arbeiten, und das Ende
muss schon im Anfange begründet sein. Ein Drama darf nicht einer
ausgeführten Epopöie gleichen, die einen ganzen Sagenkreis in all
seinen einzelnen Gruppen theils durch fortschreitende Erzählung, theils
mit Einschaltung von Episoden erschöpft, sondern einem epischen Liede
nach der alterthümlichsten Weise. So besteht auch die Einheit der
dramatischen Handlung darin, dass Eine Hauptperson es sei, welche
die Handlung trage und weiter führe, in welcher Thun und Leiden,
die Idee des Ganzen sich vollende; dass Eine Hauptbegebenheit sei,
auf welche Alles abzwecke und hinziele; und dass die Handlung in
einem ununterbrochenen Verlaufe von causaler Entwickelung diesem
Zweck und Ziel entgegen gehe.


Bis so weit gelten die gleichen Anforderungen an das Drama wie
an das altepische Lied: dann aber sondern sie sich auf demselben
Puncte, auf dem überhaupt der Unterschied zwischen Epos und Drama
liegt. Das Epos erzählt eben, d. h. es zählt in causaler Entwickelung
her, was an und mit seiner Hauptperson und den übrigen sich begiebt;
das Drama giebt statt der Erzählung der Begebenheiten die Begebenheiten
selbst und macht sie mittelst der dialogischen Form so gänzlich
zum Werk und zur That der auftretenden Personen, dass aus ihrer |#f0198 : 185|

verbundenen Kette eben eine Handlung hervorgeht. Daraus ergiebt
sich, dass wohl mit der Einheit eines epischen Liedes immer die Einfachheit
verbunden sein müsse, nicht aber mit der Einheit der dramatischen
Handlung. Es ist ein andres, wenn vergangne Einzelheiten
uns erzählt werden, ein andres, wenn in gegenwärtiger Anschaulichkeit
eine Handlung sich vor uns entwickelt. Im epischen Liede je
mehr Einzelheiten da aufgezählt werden, desto mehr verwirrt es die
Production und erschwert es die Reproduction, desto eher ermüdet es
den Hörer: im Drama, wo die Reproduction so leicht gemacht ist,
würde grade eine zu grosse Einfachheit der Handlung den Dichter
wie den Zuschauer ermüden und langweilen; ja es würde unmöglich
sein, den Verlauf der Begebenheiten zur Handlung zu erheben, wenn
man bei der epischen Einfachheit stehn bliebe.


Somit stellt sich der Einfachheit des epischen Liedes im Drama
die Verwickelung gegenüber: das Drama motiviert überall reichlicher
und umständlicher; das epische Lied lässt alle minder wesentlichen
Motive getrost bei Seite, das Drama zieht ebensolche mit in den Verlauf
der Begebenheiten, damit daraus eine Handlung hervorgehe; das
epische Lied bringt seine Begebenheiten in eine einzige, gradaus auf
das Ziel zulaufende Linie: das Drama wandelt zwar auch einem einzigen
Endpuncte entgegen, aber von mehr als einem Ausgangspuncte;
die Handlung vertheilt sich unter mehrere Radien, wenn schon einer
der Hauptradius sein mag. Die Erzählung eines epischen Liedes verlangt
also Einheit und Einfachheit, die Handlung eines Dramas Einheit
und Verwickelung.


Diese Einheit der verwickelten Handlung zeigt sich nun, wie
bereits ist angedeutet worden, in drei Stücken: dass Eine Hauptperson
sei, Eine Hauptbegebenheit, ein stätiger und ununterbrochener
Verlauf der Handlung. Es sind das Anforderungen, die sich eigentlich
ganz von selbst verstehn, und es wäre deshalb unnöthig, noch
weiter davon zu sprechen, wenn sie nicht dennoch so häufig verletzt
würden.


Was zuerst die Einzahl der Hauptperson betrifft, so ist sie für
eine rechte Einheit der Handlung ebenso erforderlich, als es in der
Grammatik für einen einheitlichen Satz erforderlich und bezeichnend
ist, dass er nur Ein Subject habe; und grade wie ein Satz zusammengesetzt
wird, sobald er zwei Subjecte hat, so verliert auch die Handlung
ihre Einheit, und es tritt eine Zweiheit derselben ein, sowie in
ihr zwei Hauptpersonen agieren. Die Schöpferkraft des Dichters und
mit ihr das reproducierende Interesse des Zuschauers spalten sich alsdann
nach zwei gesonderten Richtungen und kommen aus dieser |#f0199 : 186|

Spaltung schwerlich wieder heraus, auch wenn eine der Hauptpersonen
die Bühne früher verlassen sollte als die andre. Auch diess ist es,
worin eine schon vorher besprochene Tragödie Schillers fehlt, die
Braut von Messina. Die zwei feindlichen Brüder Don Cesar und Don
Manuel bringen auch in die Handlung einen feindlichen Zwiespalt, da
jeder es ansprechen darf, Träger und Vollender derselben zu sein.
Die Trennung des Chors in zwei feindselige Hälften trägt nur dazu
bei, diese Kluft innerhalb der Handlung noch mehr aus einander zu
ziehen; und selbst die gemeinsame Geliebte sondert mehr, als sie vereinigt,
da sie nur dem einen Bruder gehört, von dem andern dagegen
bloss begehrt wird. Andre Dichter haben an ähnlichen Stoffen ein
grösseres Geschick bewiesen: so z. B. Schillers nächster Vorgänger
Leisewitz im Julius von Tarent, und sein Vorbild Klinger in den
Zwillingen: hier ist der eine der feindlichen Brüder von Anfang bis
zu Ende so sehr zu der einzigen Hauptperson gestempelt, dass die
Einheit der Handlung keinen Schaden leidet; es liegt auf dem einen
gleichsam der Hochton, auf dem andern nur der Tiefton. Noch behutsamer
ist Aeschylus in den Sieben gegen Theben verfahren: hier
kommt von den beiden Brüdern nur der eine, nur Eteocles auf die
Bühne; der andre aber, Polynices, tritt gar nicht auf: von ihm wird
nur erzählt; er greift abwesend in die Handlung ein: anwesend würde
er vielleicht eine Hälfte derselben an sich gerissen und somit ihre
Einheit zerstört haben, wie das auch wirklich der Fall ist in mehrfachen
modernen Bearbeitungen derselben griechischen Sage. Uebrigens
trifft eben dieser Tadel auch schon mehrere Dramen der antiken
Litteratur; in Bezug auf die Brüder (Adelphi) des Terenz hat ihn
Diderot (de la Poésie dramatique) unwiderleglich ausgesprochen.


Diese beherrschende Stellung der Einen Hauptperson wird sich
nun vorzüglich in dem Verhältniss erweisen und bewähren, in welchem
sie zu der Einen Hauptbegebenheit steht; darin nämlich, dass sie es
ist, welche diese Hauptbegebenheit vollbringt oder erleidet, und damit
in activer oder passiver Thätigkeit die ganze Handlung zum endlichen
Abschluss führt. Zum endlichen Abschluss: denn die Hauptbegebenheit
liegt immer am Ende des Dramas: diess ist der Punct, auf welchen
das ganze Stück hindurch von allen Seiten hingearbeitet wird, in
welchem alle vorher getrennten Fäden ihre Vereinigung, alle vorher
geschürzten Knoten ihre Lösung finden. Diese an das Ende gestellte
Hauptbegebenheit ist also der Prüfstein nicht bloss für die Einheit der
Hauptperson, sondern für die Einheit der gesammten Handlung überhaupt.
Was hier nicht seine Erledigung findet, was nicht als nähere
oder entferntere Ursache dieser letzten Wirkung erscheint, das liegt |#f0200 : 187|

entweder als fremdes Glied ausserhalb des dramatischen Organismus,
oder aber die Hauptbegebenheit ist selber nicht die rechte, ist nicht
der eigentliche Abschluss, ist nicht die volle und folgerechte Wirkung
aller vorangegangenen Motive.


Vielleicht der grösste Meister im Dichten recht eigentlich concentrierender
Hauptbegebenheiten ist Shakspeare. Er liebt es wie Wenige,
ein Drama so zu bauen, dass es scheinbar aus mehreren Handlungen
zusammengesetzt ist, bis sich die verschiedenen Wege, auf denen der
dramatische Verlauf vorwärts wandelt, immer näher und näher rücken,
und sich immer mehr und mehr zeigt, welcher der Hauptweg, welches
die Hauptperson sei; endlich aber vereinigen sie sich gänzlich, die
abschliessende Hauptbegebenheit tritt ein, und die Einheit der Hauptperson,
die Einheit der Handlung stehn triumphierend da. So im
Kaufmann von Venedig, wo anfangs nur leise sich berührend, später
immer mehr und mehr in einander geschlagen zwei Fäden zu Einem
gemeinsamen Ziele hinlaufen, ein Rechtshandel und ein Liebesabenteuer;
so in Heinrich IV., den man sehr äusserlich betrachten muss, wenn
man den engen Zusammenhang und die abschliessende Vereinigung
verkennen will, die zwischen den scheinbaren zwei Hälften der Handlung
bestehn, der ernsthaften, deren Träger der junge Königssohn,
Heinrich V., und der komischen, deren Träger Falstaff ist. Je mehr
auf der komischen Seite Falstaff sich einbildet, den königlichen Jüngling
in sein Lotterleben verwickelt zu haben, desto höher erhebt sich
dieser darüber auf der ernsthaften, bis zuletzt die Handlung umschlägt
und sich entscheidet, Heinrich in königlicher Würde dasteht, und Falstaff
sich tief unter ihm in Staub und Schmutz verliert. Das Schönste
und Grösste aber in dieser Art ist König Lear. Hier findet der äussere
Zwiespalt der Handlung nicht nur seine Aufhebung in der letzten Hauptbegebenheit,
sondern er ist schon von Anfang an in der Idee dieser
gewaltigen Tragödie auf das vollkommenste gelöst und ausgesöhnt
gewesen: denn schon von Anfang an prägt sich diese zugleich nach
zwei Seiten hin in den Begebenheiten aus, und der eine Theil der
Handlung spiegelt sich nur in dem andern wie das Bild in seinem
Gegenbilde wieder. Auf der einen Seite steht ein König, der von den
vorgezogenen Töchtern verstossen und zum Wahnsinn gebracht, von
der verstossnen aber gehegt und gepflegt wird; auf der andern Seite
wiederum ein Vater, den der vorgezogene Sohn blendet und ins Elend
stösst, der verstossne Sohn unerkannt in der Blindheit leitet; endlich
aber rächt eben dieser zugleich den König und den eigenen Vater.
Auch in Schillers letztem Drama, im Wilhelm Tell, sind zwei solche
neben einander herlaufende Handlungen, das politische Treiben der |#f0201 : 188|

Verschwornen des Rütli auf der einen, Tells Privathandel mit Gessler
auf der andern Seite; und auch diese treffen in der letzten Scene
zusammen. Jedoch dieses Zusammentreffen ist lediglich theatralisch,
nicht aber eigentlich dramatisch, ist keine rechte, wahre Einigung
zweier bis dahin nur äusserlich getrennter Richtungen. Tells Privathandel
ist eben nur ein Privathandel: er zieht sich mit allem, was er
sinnt und thut, geflissentlich von dem Sinnen und Thun seiner Landsleute
zurück; er will nirgend in der Sache sein. Sie haben mit ihm,
er hat mit ihnen nichts zu schaffen; und es ist also eine blosse
Gewaltsamkeit, wenn er in jener Schlussscene dennoch als die Hauptperson
und seine That als die Hauptbegebenheit des Dramas hingestellt
wird.


Noch ist von dem Verfahren zu reden, das der dramatische Dichter
beobachtet, um die Handlung auf diese eine Hauptbegebenheit und
damit zu ihrem vollständigen Abschluss, ihrem Ziel und Zwecke hinzuführen.
Einmal also muss die Handlung in einem stätigen, ununterbrochnen
Verlauf vorwärts schreiten; sie darf nicht stocken: denn sie
könnte es nur, indem man Dinge hineinbrächte, die nicht in den causalen
Zusammenhang gehörten, die also die Einheit verletzten; sie
darf aber auch nicht springen; es dürfen keine wesentlichen und nothwendig
geforderten Motive übergangen werden: denn auch damit wäre
die Einheit aufgehoben, da Einheit nur bei Vollständigkeit bestehn
kann. In jener Weise fehlt Euripides gern, in dieser Aeschylus.


Sodann aber zerfällt die Handlung überall, wo sich ihr Verlauf
recht organisch gestaltet, in drei unterscheidbare, aber eng mit einander
verwachsene Hauptglieder, in die Exposition, die Verwickelung
und die Auflösung. Die Exposition giebt gleichsam den Zettel des
Gewebes: hier lernt man zuerst die Personen kennen, die handeln
sollen, namentlich die Hauptperson; man erfährt die obwaltenden
Umstände, die Pläne und Wünsche und Besorgnisse der Handelnden:
kurz, Grund und Boden der Dichtung werden gelegt und gezeigt.
Dann folgt die Verwickelung: die Querfäden fahren durch den Zettel;
die Pläne der Handelnden arbeiten einander entgegen; ihre Besorgnisse
wachsen, ihre Wünsche durchkreuzen sich: Interesse kämpft gegen
Interesse; und so ist denn hier das eigentliche Gebiet der wahren
Handlung. Im dritten Theil, in der Auflösung, entscheidet sich der
Kampf: das Gewebe ist fertig, oder es wird auch Alles auf ein Mal
zerrissen; die Hauptperson hat mit der Hauptbegebenheit alle Hindernisse
überwunden, und ihr bleibt nun nichts mehr zu thun übrig; oder
sie unterliegt mit dem letzten entscheidenden Schlage der Uebermacht,
gegen die sie vorher angekämpft hat.

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Das schwierigste von diesen drei Gliedern ist überall die Exposition.
Hier ist es die Sache des Dichters, sich gleichermassen vor
dem Zuviel und vor dem Zuwenig zu hüten. Ist die Exposition zu
weitläuftig und zu mannigfaltig, so verwirrt das den Zuhörer oder
lässt ihn mehr erfahren, als dass er dem weitern Verlaufe noch mit
dem rechten Interesse folgen sollte. Ist sie kurz, einseitig, dürftig,
so kann der Zuschauer wieder nicht rechten Fuss fassen; er wird alles
Folgende nicht wohl begreifen. Die Exposition muss überall das Gegenbild
der Auflösung sein: sie muss ahnen lassen, aber nicht sagen, was
diese bestätigt; sie muss die Frage sein, und diese die Antwort darauf.


Die Verwickelung sodann kann mannigfacher Art sein: ob sie eine
mehr oder minder verschlungene ist, hängt natürlich von dem Gehalte
des historischen Stoffes ab, den der Dichter zur Anschauung bringen
will, hängt ferner ab von der Zahl der Personen, welche er in die
Handlung verflicht, von der Mannigfaltigkeit und Bedeutung der Interessen,
die er kämpfen lässt, von der Beschaffenheit der Auflösung,
welcher er entgegen arbeitet; namentlich aber davon, ob es eine Tragödie
ist, die er dichtet, oder eine Comödie. Dem ganzen Wesen
dieser beiden Gattungen nach hat an der Comödie der Verstand einen
viel grösseren und viel mehr positiven Antheil als an der Tragödie.
Gehäufte Verwickelungen sind aber für den producierenden Dichter wie
für den reproducierenden Zuschauer mehr von Seiten des Verstandes
durchzuführen und aufzufassen als von Seiten der Einbildung oder gar
des Gefühles. Somit ist auch die grössere Verwickelung wohl in der
Comödie an der Stelle, nicht aber in der Tragödie: einer Tragödie
könnte dergleichen nur schaden. Sie ist in der Comödie also an der
Stelle, ist zulässig, wird aber auch da nicht gerade gefordert; die
spanischen Dichter lieben sie. Die kunstvollste Verwickelung aber und
die wirksamste ist in der Tragödie wie in der Comödie die, welche
nur für die handelnden Personen, nicht für den Zuschauer eine solche
ist. Meister darin ist Sophocles: in seinem Oedipus Tyrannus zum
Beispiel wandelt die Hauptperson immer noch in einer verwirrenden
und betäubenden Nacht des Geheimnisses, während der Zuschauer das
Licht schon mehr und mehr empor schimmern sieht und mit ahnendem
Grauen dem vollen Hereinbrechen desselben entgegen wartet: da ist
wahrlich ein grösseres und reineres Interesse an Handlung und Handelnden,
als wo der Zuschauer in die Verwickelung mit verstrickt ist,
und der Dichter mehr dessen Neugierde spannt, als sein Mitgefühl in
Anspruch nimmt.


Endlich also kommt dann die Auflösung: sie entknüpft oder zerhaut
all die Verwickelung und lässt in das Dunkel ihren vollen Tag |#f0203 : 190|

hineinstralen. Der Punct, wo die Auflösung anhebt, und die Verwickelung
sich zu entwickeln beginnt, dieser Wendepunct der Handlung
heisst mit einem treffenden griechischen Namen die Katastrophe,
καταστροφή, d. h. Umwendung. Man pflegt denselben wohl auf die
Tragödie einzuschränken: eine Einschränkung, die weder begründet
ist im griechischen Sprachgebrauch, noch bequem und angemessen,
da ja der Sache und dem Wesen nach die Comödie auch ihre Katastrophe
hat. Ebenso ist es mit einem andern Kunstausdrucke der
Griechen, der den letzten entscheidenden Schlag, den eigentlichen
Kern der Auflösung bezeichnet, mit dem Ausdruck Peripetie, περιπέτεια,
d. h. Umschlag, plötzliche Umänderung. Aristoteles, von dem
wir auch diesen erlernt haben, beschränkt ihn durchaus nicht auf die
Tragödie, und es ist nur als ein Zufall zu betrachten, dass die Beispiele,
die er anführt, nur aus Tragödien entlehnt sind: er erklärt
ihn ganz allgemein als den Umschlag in das Gegentheil (ἔστι δὲ περιπέτεια
ἡ εἰς τὸ ἐναντίον τῶν πραττομένων μεταβολή, Poet. 11): er versteht
also darunter den plötzlichen Uebergang sowohl aus glücklichen
Lagen in unglückliche, als umgekehrt. Mithin giebt es eine Peripetie
nicht minder in der Comödie als in der Tragödie. Als eigne Art
und besondres Mittel der Auflösung nennt Aristoteles noch die Erkennung,
ἀναγνώρισις, d. h. ἡ ἐξ ἀγνοίας εἰς γνῶσιν μεταβολή. Diese
Erkennung kann den Beginn der Auflösung bilden; sie kann auch mit
jenem Kernpunct derselben, mit der Peripetie zusammenfallen. In
letzterer Weise findet es Aristoteles am schönsten, und das mit Recht:
beide, die Erkennung wie der Umschlag, sind dann von grösserem
Gewicht; Eins hebt und stärkt das Andre. Als Beispiel nennt er den
Oedipus: er meint Sophocles' Oedipus Tyrannus, unter dem die ganze
königliche, ja seine ganze menschliche Herrlichkeit in demselben Augenblicke
zusammenbricht, wo er erkennt, dass Laius, den er erschlagen,
sein Vater, und dass sein Weib zugleich seine Mutter sei.


Besonders in der Auflösung wird das Drama seinen Unterschied
vom Epos bewähren müssen. Das Epos, das eben nur eine Reihe
äusserer Begebenheiten vorführt, kann sie auch eher mehr äusserlich
abschliessen, z. B. durch ein Wunder, durch ein Ereigniss, das ausserhalb
alles natürlichen Zusammenhanges mit den vorangegangenen Ereignissen
liegt, und das dennoch die Reihe derselben beendigt. Das
Drama zeigt dagegen Handlung: in ihm sind alle einzelnen Begebenheiten
auf das engste innerlich verbunden; eine nach der andern ist
nur Ausfluss und Ergebniss der agierenden Charactere; Alles ist Motiv
und motiviert: so darf denn auch das Ende nur die letzte, volle und
vollendende Wirkung all der Ursächlichkeiten sein, die in der Exposition |#f0204 : 191|

dargelegt und in der Verwickelung sind durch einander gewoben
worden. Die Peripetie muss als die reife Frucht erscheinen, die aus
der ganzen Handlung, aus der activen oder passiven Thätigkeit der
Personen und ihrer Charactere hervortreibt; sie muss vollkommen in
ihnen begründet, muss ihr eignes Werk, wenn auch vielleicht ein
unbewusst geschaffenes sein. Dagegen wird jedoch nicht selten
gefehlt. Nicht selten ist die Exposition so ungeschickt, die Verwickelung
so verworren, dass zuletzt der Dichter den Knoten nur noch
durch die Gewaltsamkeit einer rein äusserlichen Entscheidung durchzuhauen
vermag. Welch ein grosser Unterschied zwischen der innerlichen
und der äusserlichen Auflösung bestehe, und wie sehr die wahre
dichterische Kunst auf Seite der ersteren sei, erkennt man am besten,
wenn man z. B. die beiden taurischen Iphigenien von Euripides und
von Göthe vergleicht. Euripides kann sich nur helfen, indem er
zuletzt noch die Athene Hand anlegen lässt: bei Göthe ist die ganze
Handlung so fest und sicher in sich selbst begründet, die Begebenheiten
und die innern Zustände, wie sie gehalten und getragen sind
durch die Charactere, haben eine so innige Wechselbeziehung und
Wechselwirkung, dass zuletzt kein andrer Ausgang möglich ist, als
grade dieser; es macht sich Alles wie von selbst, und der Dichter
braucht nicht noch zu guter Letzt über die Handlung hinaus nach einer
neuen Person zu greifen, damit er endlich fertig werde.


Mit dieser Dreigliedrigkeit der Handlung, mit diesem Zerfallen
derselben in Exposition, Verwickelung und Auflösung steht in genauer
und wesentlicher Verbindung die Zahl der Acte, in welche man das
Drama einzutheilen pflegt.


Acte in unserm Sinn, d. h. Abtheilungen des Dramas, die schon
äusserlich bezeichnet werden durch einen Stillstand der Handlung und
durch Verhüllung der Bühne, Acte in diesem Sinne des Wortes kannte
die ältere griechische Bühne, kannte die Tragödie und die alte Comödie
natürlich noch nicht, da der Chor immer auf dem Schauplatze blieb,
und er die jeweiligen Unterbrechungen der eigentlichen Handlung
durch seinen Gesang ausfüllte, dieser Gesang aber auch immer noch
seine Beziehung zu der Handlung hatte. Erst mit der mittleren und
jüngern Comödie, die sich des Chors nicht mehr bediente, beginnt
die Eintheilung in Acte ganz nach unserer Weise.


Die Zahl derselben steht also in Verbindung mit jener Dreigliedrigkeit
des dramatischen Organismus. Nämlich die Exposition darf
in That und Rede sich nicht zu weit ausdehnen; die Auflösung als
Gegenstück der Exposition muss ihr ungefähr gleiches Mass halten, sie
kann auch schon an sich selbst, da sie ja die abschliessende Concentration |#f0205 : 192|

des ganzen Verlaufes ist, sich nicht sehr breit entfalten; endlich
die mitten inne liegende Verwickelung spricht nothwendiger Weise das
weiteste Feld an und gewinnt selbst wieder einen dreifach abgestuften
Gang, indem sie hier an die Exposition als Weiterführung, dort an
die Auflösung als Vorbereitung derselben sich anlehnt: mit all dem
erscheint der alte, von uralten Zeiten her überlieferte Gebrauch wohl
begründet, nach welchem ein Drama in der Regel fünf Acte verlangt:
ein Gebrauch, den schon Horaz zur technischen Vorschrift
erhoben hat:


Neve minor neu sit quinto productior actu

Fabula, quae posci vult et spectata reponi. (Ars poet. 189.)


In der Regel fünf: denn es giebt allerdings Abweichungen, es
kommen auch andre Zahlen vor, aber auch diese meistens immer
noch verträglich mit jener Dreigliedrigkeit, insofern es meistens ungerade
Zahlen sind: so bei den Spaniern sieben, wo dann bei der sehr
verwickelten Verwickelung ganz häufig fünf auf eben diese verwendet
werden. Näher jener Dreigliedrigkeit liegt die Dreizahl der Acte,
die man in der ernsten Oper zu beobachten pflegt, und die auch
neben der Fünfzahl schon bei den Römern scheint gegolten zu haben.
Cic. ad Quint. fratr. 1, 1. „Hortor, ut tanquam poetae boni et actores
industrii solent, sic tu in extrema parte et conclusione muneris ac
negotii tui diligentissimus sis, ut hic tertius annus imperii tui tanquam
tertius actus perfectissimus atque ornatissimus fuisse videatur.“ Verwerflich
scheinen grade Zahlen, wie das moderne Lustspiel und Schauspiel
und die komische Oper sich vier oder gar zwei gestatten: es ist
nicht wohl abzusehn, wie da jedem der drei organischen Glieder sein
Recht geschehen könne. In den Dramen der Sanskritlitteratur steigt
die Zahl der Acte nicht selten gar bis auf zehn; und in der entgegengesetzten
Masslosigkeit ist es dem modernen Drama häufig schon an
Einem Acte genug.


Actus, so nannten die Römer diese einzelnen Abschnitte der Fabula,
weil in jedem eine Begebenheit enthalten ist, die den Verlauf der ganzen
Handlung wesentlich fördert. Eine alte Verdeutschung davon ist
Handlung: man hätte lieber sagen sollen Begebenheit, da Handlung
vielmehr das ganze δρᾶμα begreift. Jetzt heisst es Act, oder mit
derselben sinnlichen Aeusserlichkeit, mit der wir von Trauerspielen
und Lustspielen sprechen, Aufzug. Der spanische Name jornada (Tag)
schreibt sich von den geistlichen Spielen des Mittelalters her: diese
dauerten oft mehrere Tage hindurch, und bei der Weitläuftigkeit der
mimischen Action geschah da allerdings in Einem Tage nicht viel mehr,
als jetzt in Einem Acte geschieht.

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Die Acte zerfallen dann wieder in Scenen und in Auftritte. Man
vermengt wohl beides und nennt beides Scene: strengerer Sprachgebrauch
unterscheidet. Es ist eine neue Scene, wo ein Orts- und
Decorationswechsel eintritt, wo die σκηνή, die Bühne, gleichsam erneuert
wird; nothwendiger Weise wird dabei die Bühne verlassen und dann
von neuem betreten. Ein Auftritt aber bringt nur neue Personen auf
die unveränderte Bühne. Ueber Zahl und Mass der Scenen und der
Auftritte lässt sich nichts vorschreiben: die Redenden kommen und
gehen, die Gestalt der Bühne bleibt oder wechselt, je nachdem es im
Bedürfniss der Handlung liegt, je nachdem das momentane Interesse
diese Person verlangt oder jene.


Mit all dem Bisherigen haben wir jenes Grundgesetz aller dramatischen
Composition, die Einheit, bis in seine einzelnen Wirkungen
verfolgt. Hier aber können wir übergehn zur Betrachtung zweier
anderer Einheiten, welche die Theorie und die Praxis einer noch nicht
ganz vergangenen Zeit hinzu erfunden hat zu jener Einheit der Handlung,
nämlich der Einheit der Zeit und der des Ortes. Es sind die
Franzosen gewesen, die mit diesen beiden Einheiten zuerst sich selbst
das Leben schwer gemacht haben, dann auch uns, und welche Völker
sonst noch ihren Theoretikern nachbeten und ihren Dramatikern nachahmen
mochten. Man berief sich in Betreff derselben auf das Beispiel
der Griechen und auf die Lehren des Aristoteles. Damit nun verhält
es sich folgender Massen.


Die Griechen hatten wie gesagt ursprünglich und in der eigentlichen
Blütezeit ihres Theaters keine Acte in unserm Sinne des Wortes;
die Bühne ward nicht viermal den Augen der Zuschauer durch
Verhüllung entzogen: sondern sie stand die ganze Zeit des Dramas
hindurch offen vor ihnen da; es unterbrach auch die Handlung selbst
kein mehrmaliger Stillstand: sondern wenn auch je zuweilen die eigentlichen
Actoren abtraten, und der Dialog ausgieng, so blieb doch der
Chor zurück und füllte diese Pause mit Gesang und Tanz, oder wie
in der Comödie mit Parabasen. Daraus ergab sich dann als nothwendige
Folge einmal eine unveränderliche Einheit des Ortes: denn
man konnte doch nicht, während der Chor ununterbrochen auf dem
Schauplatze verblieb, die Gestalt desselben abändern, so dass er ohne
fortzugehn dennoch an einen andern Ort gekommen wäre; zweitens
eine gewisse Einheit der Zeit, darin bestehend, dass die Handlung
unausgesetzt vorwärts schritt, und dass einige Wahrscheinlichkeit blieb,
damals, als die Begebenheiten wirklich vor sich giengen, habe ihr Verlauf
ohngefähr eben so viel Zeit gekostet, als jetzt die künstlerische
Darstellung. Aber diese Uebereinstimmung zwischen der historischen |#f0207 : 194|

Wirklichkeit und dem künstlerischen Scheine traf doch immer nur
ungefähr. Man kann annehmen, dass die Aufführung eines ganz vollendeten
griechischen Dramas allerhöchstens drei Stunden lang gedauert
habe: aber es möchte schwer sein, ein Drama zu finden, dessen
Begebenheiten nicht einen viel längeren, einen wenigstens viermal so
langen Zeitverlauf voraussetzten. Das einzige Opfer, das in Betreff
der Einheit der Zeit die griechischen Dramatiker den äussern Umständen
brachten, war demnach diess: sie concentrierten den dramatischen
Stoff so sehr auf die allerwesentlichsten Momente, dass die Begebenheiten,
um in der Wirklichkeit zu geschehen, etwa einen Tag gebraucht
hätten, d. h. einen Sonnenlauf von Morgen bis Abend; manche aber
haben in jene zwei, drei Stunden einen noch viel längeren Zeitraum
eingeschlossen, z. B. Aeschylus im Agamemnon. Es erweist sich mithin
diese sogenannte Einheit der Zeit als eine sehr ideale; die Einheit
des Ortes aber war so durch die ganze Einrichtung der Bühne bedingt,
dass man sich ihr ohne Weiteres ergeben musste. Eine kühne Ausnahme
gestattete sich Aeschylus in den Eumeniden, wo die Zuschauer
zuerst den Tempel Apollos zu Delphi, dann das Heiligthum der Pallas
zu Athen vor sich haben. Sonst aber beachtete man diese räumliche
Einheit, und es ist nicht zu verkennen, dass sie auf die ganze Art
und Weise der dramatischen Production den wichtigsten Einfluss ausübte
und auch zu einem räumlichen Simplificieren und Concentrieren
derselben drängte. Man gewöhnte sich so sehr an diese räumliche
Zusammendrängung, dass auch die jüngere Comödie, die doch keinen
Chor mehr besass, die schon Acte abtheilte, dennoch dabei verharrte;
und dass Aristoteles von der Einheit des Ortes gar nichts lehrte, weil
er nicht daran dachte, dass es anders sein könnte. Was aber die
Einheit der Zeit betrifft, so bestimmt er als äusserstes Mass der Handlung
eben die Länge des Sonnenlaufes: das lässt voraussetzen, dass
dieses Mass mehr als ein Mal sei überschritten worden, wie denn auch
Aeschylus es wirklich überschritten hat.


Jetzt fragt sichs, ob und inwiefern auch wir an diese Einheiten
gebunden seien. Wir brauchen bloss die äussern Umstände zu erwägen.
Einmal die historischen Präcedentien des Mittelalters und des sechzehnten
Jahrhunderts wissen davon nichts. Sodann: wir haben keinen Chor,
der die Handlung nothwendig zwischen eine und dieselbe Scenerie festbannte:
sondern wir haben Zwischenacte, die wir uns, wenn wir nur
irgend wollen, tagelang denken können, wenn sie auch wirklich nur
minutenlang dauern sollten. Mithin gelten Einheit der Zeit und Einheit
des Ortes bei uns nur in so weit, als sie geboten sind durch die
Einheit der Handlung und durch die Stätigkeit ihres Verlaufes. Wir |#f0208 : 195|

dürfen z. B. nicht in der zweiten Scene eine Begebenheit darstellen
wollen, die denen der ersten Scene gleichzeitig wäre oder gar früher
geschehen als diese: während allerdings zwischen den einzelnen Gesängen
eines Epos gar wohl ein solches Zeitverhältniss stattfinden darf:
in einem Drama aber wäre damit nicht bloss gegen die Einheit der
Zeit, sondern vielmehr gegen die Einheit der Handlung gefehlt; wir
dürfen auch nicht zwischen zwei Auftritten in Gedanken mehr Zeit
verfliessen lassen, als in der Wirklichkeit verfliesst: denn damit wäre
der Verlauf unterbrochen, und es fehlte ein Glied in der Kette der
Einheit; wie lang wir uns aber einen Zwischenact, der die Handlung
unterbricht, in welchem nichts geschieht, denken wollen, ist durchaus
gleichgültig, wenn nur die beiden Acte, die er trennt, innerlich eng
und wesentlich zusammenhangen, wenn er nur nicht mit der Handlung
auch die Einheit der Handlung unterbricht. Das alles haben jedoch
die französischen Theoretiker und Dramatiker nicht beherzigt. Ohne
die concentrierende Kunst der Alten zu besitzen, suchen sie dennoch
ihren Stoff in den allerengsten Zeitraum zusammenzupressen, und ihre
Einheit der Zeit ist in den meisten Fällen eben nur eine Einheit der
Zeit, während sie bei den Alten zugleich und zuerst eine Einheit der
Handlung ist. Die Einheit des Ortes aber erzwingen sie oft auf die
lächerlichste Weise. Wenn in einem griechischen Drama die ganze
Handlung, um stäts an demselben Ort geschehen zu können, etwa auf
einem öffentlichen Platze vor sich geht, so stimmt das wohl zu dem
ganzen Leben der Alten, das vom Könige bis zum gemeinen Manne
herab mehr ein öffentliches als ein häusliches war: wenn aber ein
französischer Dichter in einer und derselben Antichambre den Herrn
des Hauses und seinen Kammerdiener ihre Liebeserklärungen machen,
ihre Liebesintriguen anzetteln und ausführen lässt, so ist das doch
ziemlich verkehrt.


Die so eben besprochenen und bekämpften Ansichten über die
beiden Einheiten der Zeit und des Ortes haben, obgleich sie ihren
Ursprung herleiten wollen aus dem Beispiel der Griechen und aus den
Lehren des Aristoteles, diese verkehrten Ansichten haben ihren wahren
Grund und Anlass dennoch ganz anderswo, in einer andern Verkehrtheit,
die überhaupt den Kunstbestrebungen der neueren Zeit vielfach
geschadet hat, in dem Wahne nämlich, überall in der Kunst, also
auch im Drama, komme es vor allen Dingen auf äusserliche, sinnliche
Täuschung, auf Illusion an. Freilich ist es die Aufgabe jedes Künstlers,
das Schöne unter den Formen der Wirklichkeit anzuschauen und
darzustellen, und in so fern wird es von ihm in demselben Masse gefordert
werden, als es ihm dienlich ist, dass er die Formen der Wirklichkeit |#f0209 : 196|

mit möglich grösster Treue beobachte und wiedergebe. Aber
auch nur mit möglich grösster. Die täuschende Nachahmung der Wirklichkeit,
das Streben nach äusserlicher Illusion darf immer nur so weit
gehn, als die Idee des Kunstwerkes und die Schönheit es gestatten
und fordern: sowie jedoch die Illusion anfängt, die Idee zu beeinträchtigen,
sowie sie dem Principe des Schönen, der Einheit, widerstrebt,
so bald muss auch der Dichter von ihren Aeusserlichkeiten
etwas zum Opfer bringen, und er wird es der Einbildungskraft des
Reproducierenden getrost anheimgeben, dass sie ergänze, was noch zu
der vollen Wahrheit der gemeinen Wirklichkeit gebricht; er wird der
Kraft des Schönen so viel vertrauen, dass von ihr gefangen der Reproducierende
die Masse und die Bedingungen der gewohnten Alltäglichkeit
für einige Zeit vergessen müsse; er wird es auch auf Illusion
absehen: aber es wird eine Illusion von höherer und edlerer, von
geistiger Art sein, darin bestehend, dass auf dem Standpuncte der
Kunst als Wirklichkeit erscheint, was unterhalb desselben eine Unwirklichkeit
ist.


Der Dramatiker wird also, wenn der einheitliche Verlauf der
Handlung es fordert, plötzlich die Scene ändern; er wird ferner den
fünf Minuten, die zwischen zwei Acten verfliessen, etwa den Werth
und die Geltung von fünf Tagen geben: denn er zählt darauf, dass
diese Unnatürlichkeit, aus der organischen Nothwendigkeit seiner Production
heraus betrachtet, ganz natürlich erscheinen, und dass die Einbildung
seiner Zuschauer Schnellkraft genug besitzen werde, um mit
einer Secunde sich in ganz andre räumliche Verhältnisse zu versetzen
und über fünf Tage, in denen für die Handlung nichts geschieht, auch
hinweg zu springen, als wären sie gar nicht vorhanden. Diesen
achtungsvollen Glauben an die Gewalt der Poesie, diess Zutrauen zu
den geistigen Fähigkeiten der Zuschauer hatten aber jene französischen
und nachfranzösischen Theoretiker und Practiker nicht, konnten sie
auch in den wenigsten Fällen haben, da den wenigsten Dichtern unter
ihnen selbst eine so bewältigende Kunst eigen war, und das Publicum sich
auch bewusst und unbewusst der Bequemlichkeit und der Pedanterei
hingegeben hatte. So giengen sie denn auf eine ganz gemeine Illusion
aus: die Vorstellung auf der Bühne sollte den Zuschauer dadurch täuschen,
dass sie mit der Wirklichkeit ausserhalb der Bühne Stück für
Stück übereinstimmte, dass die Zeit auf der Bühne nicht schneller
vergieng als sonst, dass die Scene niemals verändert ward, weil es
ja im gewöhnlichen Leben gar nicht möglich ist, so plötzlich einen
Ort gegen den andern zu vertauschen. Von reproducierender Mitthätigkeit
der Zuschauer, von Ansprüchen des Dichters auf ihre Einbildungskraft |#f0210 : 197|

konnte da gar nicht die Rede sein: sie brauchten sich nur
hinzusetzen und Alles in behaglicher Musse an sich vorübergehn zu
lassen.


Noch ein hiemit verbundenes und ein recht äusserliches und das
allersinnlichste Mittel zu dem grossen Zwecke der Illusion besitzt das
neuere Theater in der Scenerie, in den Decorationen. Damit sich der
Zuschauer nur gar nichts einzubilden brauche, wird ihm die ganze
Räumlichkeit, auf die es ankommt, in so genauer und so täuschender
Malerei als möglich vor Augen gestellt: und es darf da z. B. Schillers
Wilhelm Tell nicht mehr aufgeführt werden, ohne dass der Vierwaldstätter
See mit allen Bergen umher auf das naturgetreueste abconterfeit
zu sehen sei. Ob aber der wahren Kunst, ob der Poesie mit
solchen Aeusserlichkeiten und Kleinlichkeiten gedient sei, und ob man
das Publicum zum wahren künstlerischen Interesse erziehe, wenn man
so seine Theilnahme auf Nebendinge ablenkt und ihm auch Alles Alles
in die Hände giebt, was es eigentlich schon mitbringen sollte: das
ist eine Frage, die sich von selbst beantwortet. Das neuere Theater
geht von Jahr zu Jahr mehr darüber zu Grunde: das alte englische,
das griechische haben zwischen einer dürftigen Scenerie eine lang
anhaltende Kunstblüte gefeiert. Die Scenerie des griechischen Theaters
war von einer so symbolischen Allgemeinheit, dass eine und dieselbe
Decoration gar wohl für die verschiedenartigsten Dramen passte;
Shakspeare hatte nicht viel mehr als eine graue und eine grüne
Decke, eine graue, damit sich der Zuschauer Gebäulichkeiten, eine
grüne, damit er sich Wald und freie Natur vorstelle. Wahrscheinlich
sind aber die grössten Dramen, die wir bis jetzt besitzen, vor diesen
grauen und grünen Decken des englischen und vor der dreithürigen
Hinterwand des griechischen Theaters aufgeführt worden.


Die verkehrten Ansichten von der Illusion, von der Nothwendigkeit
einer Täuschung durch die volle natürliche Wirklichkeit haben
ihren Einfluss aber noch weiter ausgedehnt; es ist an den bisher
besprochenen übeln und verderblichen Wirkungen noch nicht genug
gewesen: auch das äussere Merkmal aller poetischen Productionen,
die metrische Form der Rede, hat vor ihnen weichen müssen. Es
sind zwar nicht die Verkündiger jener zwei unnützen Einheiten der
Zeit und des Ortes gewesen, sondern grade die, welche zuerst als
deren Gegner aufgetreten, es sind bei den Franzosen Diderot, bei den
Deutschen Lessing gewesen, welche durch Lehre und Beispiel die prosaische
Form empfahlen: beide nach dem Muster neuerer englischer
Dramen, Lessing ausserdem nach dem Vorgange der Dramatiker schon
des siebzehnten Jahrhunderts in England. Gleichwohl ist diese Ansicht |#f0211 : 198|

im Grunde nur ein Nachlass der Theorien, die sie selber bekämpften.
Dass die französischen Tragiker auf der Einheit der Zeit und des
Ortes bestanden, damit huldigten sie nur der sogenannten Natürlichkeit:
dass sie ihre Tragödien dennoch in Versen abfassten, damit
meinten sie daneben auch der Kunst ihre Genüge zu entrichten.
Indem nun Diderot und Lessing jene Einheiten bekämpften, bekämpften
sie nicht sowohl das Unkünstlerische derselben, als vielmehr nur
die Unnatürlichkeiten, zu denen die beabsichtigte Natürlichkeit doch
beständig führen musste; und derselbe Standpunct war es denn auch,
von welchem aus sie die metrische Form des Dramas angriffen: sie
fanden es eben unnatürlich, dass man auf der Bühne, weil sie ein
Paar Fuss höher ist als das Publicum, eine andere Sprache reden
sollte, als um einige Fuss tiefer; sie fanden es dem Zweck der Illusion
nicht dienlich, wenn die ganze natürliche Wahrscheinlichkeit der Handlung
wieder scheitere und zu Grunde gehe an der grossen Unwahrscheinlichkeit
eines rhythmisch gegliederten Dialogs. Und so hat
denn Lessing erst sein spätestes Drama, den Nathan, in Versen abgefasst,
und auch dieses nur mit Widerstreben, nur als Verwahrung und
Abwehr gegen den Geist der litterarischen Formlosigkeit, den er selbst
durch seine frühere Lehre heraufbeschworen; vorher dagegen Alles in
Prosa; und diesem Beispiel ist eine Unzahl von späteren Dichtern
gefolgt, theils verleitet von dem gleichen Principe der Natürlichkeit,
theils, und das noch öfter, aus künstlerischem Unvermögen, oder wie
Kotzebue aus Liebedienerei gegen ein entartetes Publicum.


Es scheint unnöthig, die Schiefheit dieser Ansicht zu beleuchten,
da, wie wir früher gesehen (S. 33 fg.), die Nothwendigkeit der metrischen
Form aus dem Wesen und den Zwecken der Poesie zur Genüge erhellt:
nur das sei bemerkt, dass die prosaische Form noch nicht viel zur
täuschenden Natürlichkeit hilft, wenn sie nicht mit den Einheiten der
Zeit und des Ortes verbunden ist, und dass auch dann immer noch
die grösste Unnatürlichkeit bleibt, nämlich unsere Sprache und die
Sprache unserer Zeit im Munde längst verstorbener Personen und im
Munde von Personen, die niemals deutsch gesprochen haben, wie z. B.
die Engländer und Italiäner in Lessings Trauerspielen. Lessing und
seine Nachfolger sind also der Scylla nur entflohen, um dann doch
nicht der Charybdis zu entgehn. Wo das Drama frei und selbständig
aus dem Kunsttriebe des Volkes hervorgewachsen ist, und solange
es von demselben allein ist getragen worden ohne Zuthun und Dreinreden
der Theoretiker, da hat es auch niemals eine andre Form
seiner Rede gekannt als die metrische. So bei den Griechen, so
überall im Mittelalter.

|#f0212 : 199|


Und dabei ist eins wohl zu beachten, was den Verfechtern der
Prosa hätte ein warnender und zurechtweisender Fingerzeig sein können:
dass nämlich das Drama für den Dialog immer eine Versform
erwählt, die nicht zu weit abliegt von der unrhythmischen, von der
prosaischen Form. Das griechische Drama mit seinem Chor konnte
freilich neben dessen kühn und kunstreich gebauten lyrischen Strophen
den Zwischenrednern keine Prosa in den Mund legen; es konnte nicht,
während es die grosse Unnatürlichkeit, die überhaupt ein Chor hat,
duldete, dem gegenüber im Dialog auf die gemeinste Natürlichkeit
ausgehn: gleichwohl durfte es sich hier der Natürlichkeit so viel
annähern, als die waltenden Principien der Poesie nur zuliessen; es
musste die historische Wirklichkeit, auf welcher der dialogische Theil
vorzüglich beruht, auch auf dessen metrische Form einfliessen lassen,
damit er sich auch darin scharf von dem rein lyrischen Element, den
Chorgesängen, unterschiede; man brachte also den Dialog zwar auch
in Verse, weil man eben dichtete: aber diese Verse lagen hart an
der Grenze der unkünstlerischen, natürlichen Wirklichkeit. Das Hauptmetrum
des dramatischen Dialogs bei den Griechen und Römern ist
bekanntlich der iambische Trimeter: denn er nähert sich am allermeisten
der gemeinen Sprechart (μάλιστα γὰρ λεκτικὸν τῶν μέτρων τὸ
ἰαμβεῖόν ἐστιν. Arist. Poet. 4). Daneben galten noch andre, namentlich
der trochäische Tetrameter, der bei Aristoteles und sonst als ein
dithyrambischer, mehr für den begleitenden Tanz geeigneter Vers
bezeichnet wird: dass er allerdings vom Dithyrambus ererbt und erst
nach und nach von den mehr dialogischen Iamben in den Hintergrund
sei geschoben worden, sieht man deutlich daran, wie er bei Aeschylus,
wo die Tragödie ihrem dithyrambischen Ursprunge noch näher liegt,
auch noch eine viel weiter ausgedehnte Anwendung findet als bei
Sophocles und Euripides. Auch die Comödie bedient sich des trochäischen
Tetrameters häufiger als die Tragödie. Eine dritte Versart
der Griechen ist der Comödie um vieles geläufiger als der Tragödie,
wie sie denn auch zu der beweglichen Natur der erstern, zu dem
Muthwillen ihrer Laune und ihres Spottes besser passt als zu dem
gemessenen Ernste der Tragödie: der anapästische Vers.


Das deutsche Drama, ich meine das auf deutschem Grund und
Boden in mehr selbständiger Weise erwachsene, schloss sich, da es
zuerst entstand, in seiner metrischen Form eng an die Lyrik an; so
ist das älteste deutsche Drama, der Wartburgkrieg, in sangbaren
Strophen abgefasst; weiterhin aber griff auch diess, in ähnlicher
Weise, wie das griechische den anspruchsloseren iambischen Trimeter
gebrauchte, zu einer einfachern Form des Dialogs, der vom Epos |#f0213 : 200|

her gewohnten Form der kurzen Reimpaare. Davon ist schon vorher
die Rede gewesen (S. 176).


Gleichzeitig wählte das Drama andrer Länder andere Formen;
zu erwähnen sind der Alexandriner der Franzosen, der assonierende
trochäische Vers der Spanier und der elfsilbige reimlose Iambus der
Italiäner und der Engländer, alles eigentlich epische Versarten. Letztere
Form ist nun auch bei uns die gebräuchliche; und es kann denen,
die sich vor gar zu grossem poetischen Schmuck in der Rede des
Dramas fürchten, ein Trost sein, dass dieser Hendecasyllabus der
baaren Prosa noch um vieles näher liegt als der griechische Trimeter.


Indem nun überall die gleiche Versart sich in langen Reihen
immer wiederholt, indem ganze grosse Theile eines griechischen
Dramas in Trimetern abgefasst sind, und ein modernes Drama, wenn
es mit dem Alexandriner beginnt, auch mit dem Alexandriner schliesst:
so wird durch diese Einförmigkeit die metrische Rede zugleich der
prosaischen noch ähnlicher gemacht, und zugleich schliesst sich damit
das Drama enge an das Epos an, das ja dieselbe Einfachheit der
Wiederholung liebt. Wie aber im Epos jeder Hexameter wieder seine
characteristische Eigenthümlichkeit aufweisen kann, so ist auch dem
Dramatiker überall Raum genug gelassen, die Einförmigkeit der Wiederholung
durch Mannigfaltigkeit in untergeordneten Einzelheiten zu
beleben.


Nachdem wir nun so die Gesetze mit einander besprochen haben,
welche in Anschauung und Darstellung bei jeder dramatischen Production
leitend sind, könnten wir jetzo gleich zur Betrachtung der
einzelnen Arten übergehen, wenn nicht manche Erscheinungen der
letzten litterarischen Periode nöthig machten, jenen Gesetzen noch ausdrücklich
eine Vorschrift beizufügen, die man früherhin würde bis zur
Lächerlichkeit überflüssig gefunden haben, die Vorschrift nämlich,
dass ein dramatisches Gedicht auch aufführbar sein solle, dass es
wirklich, so wie es geschrieben ist, auf der Bühne müsse dargestellt
werden können.


Wie gesagt, in andern Zeiten als den unsrigen würde diese
Regel bloss lächerlich geklungen haben. Ein Grieche hätte gefragt:
Wenn man nicht die Aufführung bezweckt und Schritt für Schritt im
Auge hat, wozu die dramatische Auffassung, die dialogische Gestaltung
des Stoffes? Wenn man nicht an die Scenerie der Bühne denkt,
wozu die Eintheilung in Acte, in Scenen, in Auftritte? u. s. f. Aber
unsre Litteratur steht einmal nicht mehr so zum Leben und zum Volke,
wie die griechische und wie lange genug auch die deutsche selbst
gestanden hat; sie ruht bei all ihrem Reichthum doch nicht so auf |#f0214 : 201|

der treibenden und nährenden Grundlage der allgemeinen Volksbildung:
sie steht vielmehr dieser in vielen Stücken fremd und abgewendet
gegenüber. Unsre Dichter sind gewohnt Epopöien zu verfassen
aus Sagen heraus, von denen das Volk nichts weiss; sie sind gewohnt
Lieder zu dichten in den sangbarsten Formen, die aber doch Niemand
singt: da ist es denn nur ein Schritt weiter in dieser verkehrten und
unlebendigen Richtung, auch Dramen zu schreiben, die Niemand aufführt,
die auch bei dem besten Willen Niemand aufführen könnte,
nicht bloss, weil sie dafür zu lang sind, sondern weil auch sonst
allerlei darin vorkommt, was sich zwar schreiben und drucken lässt,
was aber für die wirkliche Bühne zu den Unmöglichkeiten gehört.


Mancher Dichter wird in dieser Abtrennung des Dramas vom
Theater noch bestärkt durch den Unfug, der auf diesem pflegt getrieben
zu werden, und durch die allgemeine Entartung des Publicums,
das vor demselben sitzt; er darf nicht erwarten, dass seine Producte
jemals über die Bretter gehn werden: da fasst er sie lieber gleich von
vorn herein so ab, dass sie niemals über dieselben gehn können. Die
Reihe solcher Dramen beginnt mit Göthens Faust und Götz von Berlichingen
in der eigentlichen Urgestalt; die meisten hat weiterhin Tieck
geschrieben. Man darf sich durch diese Namen der Verfasser nicht
abschrecken lassen, all dergleichen Dichtungen von der Seite her
durchaus zu verwerfen, dass sie den Schein des Dramas annehmen,
ohne doch in der That Dramen zu sein; denn sie machen den Hauptzweck
der dramatischen Gestaltung, die Reproduction durch den
Zuschauer, von vorn herein selbst unerreichbar; sie sind zuletzt weiter
nichts als Epopöien oder Romane oder Satiren, aber in solchen Formen
der Anschauung und der Darstellung, die nicht die Formen der
Epopöie, des Romans und der Satire sind; es findet hier also bis auf
den ersten Grund der Production hinunter zwischen Inhalt und Form
ein Missverhältniss statt, welches dem Wesen aller Kunst widerspricht.
Und wenn dergleichen Dichtungen hervorgegangen sind aus der Unnationalität
unsrer Litteratur, und veranlasst sind durch den abschreckenden
Verfall des Theaters, so tragen sie ihrerseits nur dazu bei, diese
beiden Uebel noch zu verschlimmern: denn wenn selbst das Drama
sich von der lebendigen Mittheilung zurückzieht, so hört zuletzt alle
Beziehung auf zwischen dem Volke und den Schöpfungen seiner Dichter;
und wenn die begabteren Geister sich vom Theater fern halten,
so heisst das nur den Schwachen und den Schlechten noch vor
dem Kampfe die Wahlstatt überlassen. Wenn die Litteratur noch
je in das Volk wahrhaft eindringen kann, so geht ihr Hauptweg
nothwendig über die Bühne: darum darf an der Dichtung für die |#f0215 : 202|

Bühne nicht verzweifeln, wer nicht überhaupt an der Litteratur verzweifeln
will.


Wir gelangen nunmehr zur Betrachtung der verschiedenen Arten
dramatischer Poesie.


Hier sind nur zwei Hauptarten, zwei hauptsächliche Richtungen
zu unterscheiden: alles Weitere ist stäts nur ein irgendwie abgezweigter
Nebenweg der einen oder der andern oder ein vermittelnder Zwischenweg
zwischen beiden. Diese zwei Hauptarten sind die Tragödie und
die Comödie, oder zu deutsch Trauerspiel und Lustspiel. Aeltere
Benennungen der Comödie sind Freudenspiel, Scherzspiel, Schimpfspiel
(von Schimpf d. h. Scherz, Spott).


Die deutschen Namen gehn mit ihrer vordern, der unterscheidenden
Hälfte mehr auf das innere Wesen beider Dichtarten, bezeichnen
die Wirkung auf den Zuschauer oder auch die Art, wie der Dichter
selbst dabei thätig ist. Die griechischen Benennungen Tragödie und
Comödie treffen mehr nur Aeusserlichkeiten, und die Unterscheidung
beider Namen ist mehr zufällig und willkürlich. Beide nämlich weisen
zurück auf den Ursprung des Dramas aus dem Dithyrambus, dem für
die dionysischen Feste bestimmten mimischen Chorgesang.


Der weite Umfang und die Mannigfaltigkeit der dionysischen
Mythen gaben aber eine verschiedenartige Auffassung dieser Gottheit
an die Hand, verliehen ihrer Verehrung bei verschiedenen Völkerschaften
und in verschiedenen Zeiten und Umständen auch einen verschiedenen
Character: man konnte den Dionysus feiern mehr als den
fröhlichen und erfreuenden Gott der Weinbauer und Hirten; aber auch
mehr als einen ernsten, leidenden, dem Reiche des Todes selbst verfallenen
Gott, es gab auch einen Διόνυσος Ζαγρεύς, den Zeus mit
Persephone erzeugte, und der von den Titanen zerfleischt ward: es
konnte also der Dithyrambus sowohl von heiteren Thaten des Gottes
singen als von Leiden desselben. Es ist wahrscheinlich, wenn schon
nicht ausgemacht, dass der ernstere Cultus in den dorischen Städten,
der fröhliche bei den Ioniern, den Aeoliern und unter den Periöken
der Dorier stattfand. In dieser zwiefachen Richtung des Dithyrambus
liegt der Zwiespalt von Tragödie und Comödie schon deutlich genug
vorgebildet und vorbereitet. Dass man sie aber grade so benannte
und unterschied, ist namentlich für die Tragödie kaum mehr als eine
blosse Zufälligkeit. Τραγῳδία, Bocksgesang, so konnte man, ehe es
ein eigentliches Drama gab, jedweden Dithyrambus nennen, und
nannte auch wirklich jedweden so: denn überall war mit dem feierlichen
Dionysusdienste ein Bocksopfer verbunden; und noch eine andre
Sitte, die den zweiten Grund dieses Namens hergiebt, war ursprünglich |#f0216 : 203|

allgemein verbreitet, wiewohl sie in den dorischen Städten schon
frühzeitig mag abgekommen sein, die Sitte nämlich, dass der Chor,
um die Satyrgestalt nachzuahmen, sich in Bocksfelle hüllte. Wenn
man nun diesen ganz allgemeinen Ausdruck dennoch auf die eine Art
des Dramas einschränkte, so geschah das nur auf Anlass des Namens
der andern ihr entgegengesetzten Art, der Comödie. Auch κωμῳδία
hat wohl wie τραγῳδία einen doppelten Ursprung und Sinn. Von der
fröhlicheren Seite aufgefasst, war Dionysos vorzüglich eine ländliche
Gottheit, und mit seinem Cultus waren Umzüge verbunden, während
die ernstere Feier eher an Tempel und Altar gebunden blieb. Daher
kann der erste Bestandtheil dieses Wortes einmal κώμη sein, der
dorische Ausdruck für den Begriff des attischen δῆμος, für Dorf, offenen
Ort, im Gegensatze zur Stadt, so dass man besonders an die
Chorgesänge jener dorischen Periöken zu denken hätte; dann auch
κῶμος d. h. ein mit Gesang und Schmauserei verbundener fröhlicher
Festumzug. Beide Worte, κώμη und κῶμος, nehmen in der Zusammensetzung
die gleiche Gestalt an, und es ist ein unfruchtbarer Streit
der Etymologen, ob man in κωμῳδία jenes oder dieses zu verstehn
habe: man thut besser an beide zu denken, da man an beide denken
darf. So viel über die Namen Tragödie und Comödie.


Es beruht aber der innere und wesentliche Unterschied der tragischen
und der komischen Poesie auf dem verschiedenen Verhältniss,
in welchem bei der Production und der Reproduction die dichtenden
Kräfte zu einander stehn; darauf, welche dieser dichtenden Kräfte in
Zwiespalt mit einander gerathen. Denn ein Conflict der einen oder
der andern Art findet immer statt. Das Drama hat sich ja erst
gebildet durch eine Vermischung und Verschmelzung der Epik mit
der Lyrik, d. h. einer Dichtart, bei deren Conceptionen die Einbildung
die Hauptsache ist, mit einer andern, in der das Gefühl die Oberhand
hat. Da kann denn eine Zwiespältigkeit beider Seelenkräfte nicht
ausbleiben: bald wird sich das Gefühl in seinen lyrischen Empfindungen
verletzt fühlen von den epischen Anschauungen der Einbildung; bald
wird wieder die Einbildung dem Gefühle weichen müssen. Zu dem
Gefühle kommt dann noch der Verstand und theilt mit ihm den Zwist
und die Niederlage. Je nachdem sich nun diese Entzweiungen gestalten
und entscheiden, je nachdem ist das Drama entweder eine Tragödie
oder eine Comödie.


Als Resultate und Formen des unentschiedenen Zwiespaltes zwischen
Einbildung und Gefühl haben wir früherhin (S. 23 fgg.) kennen gelernt die
Laune, die Wehmuth und den Humor. Bei der Laune wie bei der
Wehmuth, beidemal lässt die von der Einbildung angeschaute Wirklichkeit |#f0217 : 204|

einen Stachel im Gefühle zurück, der dasselbe entweder
schmerzt oder kitzelt, der es zu nachsinnender Trauer oder zu fröhlichem
Scherze reizt: jenes bei der Wehmuth, dieses bei der Laune.
Und der erstere Conflict bezeichnet nun die Tragödie, der letztere die
Comödie; in der Tragödie weint, in der Comödie lacht das Gefühl
über die angeschaute Wirklichkeit. Der Humor dagegen, wie er nicht
auf dem momentan gereizten Gefühle, auf der vorübergehend erregten
Sentimentalität beruht, sondern auf der beharrlich gewordenen, auf
dem Gemüthe: der Humor ist auch über diese bloss einseitigen Reizungen,
über die blosse Wehmuth und die blosse Laune erhaben; er
schwebt über beiden Empfindungen als eine höhere Vereinigung beider;
und in so fern findet er seine Stelle ebensowohl in der Tragödie
als in der Comödie, obschon es natürlich ist, dass er in der Tragödie
mehr die wehmüthige, die tragische, in der Comödie mehr die launige,
die komische Seite herauskehren wird.


Laune, Wehmuth, Humor, diese Gestalten und Ergebnisse des
unentschiedenen Conflictes zwischen Anschauung und Empfindung, haben
das dramatische Gedicht von Anfang bis zu Ende zu erfüllen, müssen
als belebende Seele in allen Gliedern desselben wohnen. Anders ist
es, wo sich der Conflict zur vollständigen Negierung der einen oder
der andern Kraft entscheidet; wo das Gefühl von der Einbildung,
oder die Einbildung von dem Gefühle gänzlich überwältigt, und aller
Einspruch zum Schweigen gebracht wird: wo also die Einbildung das
Grausenhafte anschaut, oder das Gefühl die Wirklichkeit als lasterhaft
verwirft (S. 26). Das ganze Drama hindurch kann sich ein solches Verhältniss
nicht ziehen: denn es giebt keine poetische Conception mehr,
wo eine von den concipierenden Kräften beseitigt ist. Deshalb sind
Göthens Mitschuldige zu verwerfen, wie er selbst sich auch in reiferen
Jahren an dieser Jugendarbeit gestossen hat: hier ist es die gesammte
Handlung, von der sich als einer lasterhaften das sittliche Gefühl
beleidigt abwendet. So jedoch, dass der Schade bald wieder vergütigt
wird, und dass die unterlegene Kraft zuletzt sogar siegreich triumphiert:
stellenweise und bloss vorübergehend sind das Grausen und
das Lasterhafte allerdings von jeher zulässig gewesen: Shakspeare,
Aeschylus, Aristophanes sind in solcher Art oft genug ihren Zuschauern
mit grausenhaften Anschauungen und mit Anschauungen des Lasters
zu nah getreten. Und zwar ist die Einmischung des Grausens nur
die Sache der Tragödie, während das Lasterhafte ebensowohl in der
Comödie vorkommen kann als in der Tragödie: es zeigt sich uns
hier in tragischen Dichtungen Shakspeares, dort in komischen des
Aristophanes.

|#f0218 : 205|


Mit den Widersprüchen des Gefühles liebt auch der Verstand die
seinigen zu verbinden. Ergebnisse des ungelösten Conflictes zwischen
Einbildung und Verstand sind aber der Spott, der Ausdruck für die
Anschauung des Lächerlichen, und nächst dem Spotte die Steigerung
desselben zur schneidenden Schärfe, die Ironie (S. 22). Der Spott, als das
blosse Lachen des Verstandes, gesellt sich bloss dem Lachen des Gefühles,
der Laune, bei: sein Ort ist also gleichfalls lediglich in der
Comödie. Die Ironie dagegen, in welcher der Spott auf die höchste
Spitze getrieben und mit der Verachtung verbunden ist, welche sich
deshalb zum Spotte ebenso verhält, wie der Humor zur Laune, ist
deshalb gleich dem Humor auch in beiden Gebieten zu Hause, in
dem der Tragödie wie in dem der Comödie; und wir finden namentlich
in Shakspeares Tragödien, z. B. in Hamlet, Ironie und Humor
so eng und dicht eins mit dem andern verschmolzen, dass kaum mehr
zu sagen ist, wo das verachtungsvoll spottende Lachen der Ironie
aufhöre und das wehmüthige Lächeln des Humors beginne.


Der Verstand kann aber auch grade wie das Gefühl in seinem
Conflict mit der Einbildung vorübergehend unterliegen; Phantasie und
Erinnerung können ihm Anschauungen vorhalten, vor denen er verstummen,
denen er sich unterwerfen und gefangen geben muss: dergleichen
den Verstand besiegende Anschauungen heissen erhaben (S. 22).
Und grade wie die Negierung des Gefühls durch das Grausenhafte nur
in der Tragödie daheim ist, nicht in der Comödie, so auch die Negierung
des Verstandes durch das Erhabene: auch das Erhabene ist
ausschliesslich tragischer Natur. Es pflegt aber das Erhabene mit dem
Grausenhaften verbunden zu sein; die Einbildung liebt es, zu gleicher
Zeit dem Gefühle und dem Verstande den Mund zu schliessen. Auch
davon Beispiele bei Aeschylus wie bei Shakspeare.


Blicken wir auf das bisher Bemerkte zurück, so ergiebt sich
daraus eine gewichtvolle Wahrnehmung über das verschiedne Verhältniss,
in welchem die Tragödie und die Comödie das epische und das
lyrische Element mit einander mischen. Das Grausenhafte und das
Erhabene, also die Stillstellung des Gefühls und des Verstandes durch
die Einbildung, sind nur in der Tragödie daheim: das heisst doch
wohl, da die Einbildung wesentlich epischer Art ist, dass in den
tragischen Productionen das epische Element eine grössere Gewalt
und Bedeutung besitze als in den komischen, dass die Tragödie dem
Epos näher liege als die Comödie. Das wird sich auch gleich weiter
bestätigen, indem wir nun nach der allgemeinen Entgegensetzung dieser
beiden Hauptarten des Dramas jede für sich noch etwas genauer
betrachten. Zuerst reden wir von der Tragödie.

|#f0219 : 206|


Die gemeinsame Idee, auf der alle tragischen Dichtungen beruhn,
der grosse tragische Grundgedanke ist die Ueberzeugung von der
Unzulänglichkeit alles menschlichen Tichtens und Trachtens gegenüber
der göttlichen Weltordnung; ist die Erfahrung, dass der Wurm der
Gebrechlichkeit, welcher der Menschheit inne wohnt, sie immer und
immer hinaustreibe über die Schranke des Rechten; dass aber eben
dieselbe Gebrechlichkeit sie alsbald auch zu Falle bringe vor dem
ewig unverrückbaren Masse, das in der Allmacht und Weisheit und
Gerechtigkeit Gottes liegt. Wenn nun diese welthistorische Idee
von der Einbildungskraft angeschaut, wenn ihr die lebendigste aller
dichterischen Gestaltungen, die dramatische, gegeben wird, so erwacht
in dem Gefühle nur um so schmerzlicher die Empfindung von der
Unzulänglichkeit alles Menschlichen, und es erwächst jener Conflict
zwischen beiden Seelenkräften, als dessen Resultat vorher die Wehmuth
ist bezeichnet worden.


Die wahre Wehmuth aber trägt neben dem Schmerze in sich
selber schon den Trost; die tragische Anschauung gleicht der Lanze
des Peleus, die verwundet, aber auch die Wunden selbst wieder heilt.
Denn die Ueberzeugung von der Gebrechlichkeit alles menschlichen
Thuns und Treibens gewahrt ja zugleich dieser gegenüber und hoch
über ihr die unwandelbare Weltordnung: deren Gesetze sind es, vor
denen die gesetzlosen Bestrebungen des einzelnen Menschen erliegen;
mag da nun das Herz nach heidnischer Weise in jener leitenden Allmacht
ein unerbittliches Schicksal erblicken, das auch den Schuldlosen
endlich in das Verderben der Schuld und der Strafe hinein reisst;
oder mag es vom höheren Standpunkte des Christenthums in der
Allmacht auch die Allweisheit und die Allgüte erkennen: immer wird
es sich in Gehorsam beugen, und mit diesem Gehorsam hat der Schmerz
alsbald auch die Beruhigung, und der Streit des Gefühles gegen die
angeschaute Wirklichkeit seine Aussöhnung gefunden.


Noch leichter als die Wehmuth, als die schmerzlich gereizte blosse
Sentimentalität, gelangt der Humor zu dieser versöhnenden Befriedigung:
denn die Wehmuth bleibt immer noch am Staube der Erde
haften, wenn schon sie Trost suchend und findend nach oben blickt:
der Humor dagegen hat sich aus dem Staube empor bis zu jener
Höhe erschwungen, wo zwar das Treiben der Menschheit noch um
vieles gebrechlicher, die waltende Gottheit aber in desto glanzvollerer
Majestät erscheint. In so fern wird man mit dem vollsten Recht
solche Tragödien obenan stellen, in denen, wie in den meisten
Shakspearischen, der Widerstreit zwischen Gemüth und Wirklichkeit
und die Aussöhnung beider so in den höchsten Regionen vor sich |#f0220 : 207|

geht; dann aber ist das Mass künstlerischer Energie voll, wenn das
Gemüth auch den Verstand mit sich hinauf nimmt, wenn sich zum
Humor noch die Ironie gesellt, die gleichsam als der Humor des
Verstandes sich gleichfalls hoch über die verächtliche Wirklichkeit
erhebt. Und auch hier ist wiederum Shakspeare zu nennen als der
erste unter Allen, ja beinahe als der Einzige, der mit einer solchen
Vereinigung von Humor und Ironie der dramatischen Kunst das Schlusssiegel
der Vollendung aufgedrückt hat.


Nach all diesem ist es Wesen und Zweck der Tragödie, dass sie
Gemüth und Wirklichkeit in Widerspruch zu einander versetze, zugleich
aber selbst diesen Widerspruch tröstend aufhebe. Und damit vertragen
sich sehr wohl einige vielbesprochene Worte in der Aristotelischen
Definition der Tragödie, welche vollständig folgender Massen lautet
(Poet. 6): „Es ist Tragödie die Nachahmung einer bedeutenden und
in sich abgeschlossenen Handlung von einem gewissen Umfange, in
angenehmer Sprache, ausgeführt von Handelnden, und nicht durch
Erzählung, sondern durch Mitleid und Furcht die Reinigung solcher
Leidenschaften vollbringend.“ Wir können alles Uebrige in dieser
Definition bei Seite liegen lassen, da das Alles schon früher ist erledigt
worden: hier berührt uns nur der letzte Satz „durch Mitleid
und Furcht“ u. s. w. δἰ ἐλέου καὶ φόβου περαίνουσα τὴν τῶν τοιούτων
παθημάτων κάθαρσιν. Bis auf Lessing hat man diese Worte mannigfaltig
missverstanden, indem man φόβος nicht im Sinne von Furcht,
sondern im Sinne von Schrecken auffasste, und dann, was erheblicher
ist, die τοιαῦτα παθήματα auf die im Drama dargestellten Leidenschaften
bezog: also verstand, die Tragödie solle durch Mitleid und
Schrecken in dem Zuschauer jedesmal diejenigen Leidenschaften reinigen,
die er grade vor sich dargestellt erblicke. Es ist Lessing gewesen,
der in seiner Hamburgischen Dramaturgie den einzig möglichen Sinn
dieser Worte zuerst überzeugend dargethan hat, dass nämlich φόβος
Furcht bedeute, und die τοιαῦτα παθήματα Leidenschaften, Gemüthsregungen
von der Art wie Mitleid und Furcht: die Tragödie solle
durch Mitleid und Furcht eben diese und dergleichen Gemüthsregungen,
solle wieder das Mitleid und die Furcht selbst, und welche Gemüthsregungen
noch mit ihnen zusammenhangen, läutern und reinigen. Und
diess lasse sich, ist vorher gesagt worden, sehr wohl mit dem vereinen,
was wir als das Wesen der Tragödie erkannt haben. Allerdings
sind auch erstlich Mitleid und Furcht und alle dergleichen Affecte
in dem Kreise der wehmüthigen Empfindung enthalten, die den Character
der Tragödie abgiebt. Denn das Mitleid, das wir mit einer
dramatischen Person fühlen, die sich in verderblichem Irrthum von |#f0221 : 208|

der Bahn des Rechten entfernt, oder die mehr leidet, als sie scheint
verschuldet zu haben, und ebenso die Furcht, dass wir selber uns so
verirren, dass wir selber eben solche Leiden über uns herabziehen
könnten: beide Affecte beruhen ja in jener wehmüthigen Ueberzeugung
von unserer und aller Menschen Gebrechlichkeit; nur dass im Mitleiden
die Wehmuth eine objective, in der Furcht eine reflexiv subjective
Richtung annimmt; dass wir im Mitleiden die Gebrechlichkeit und
Unzulänglichkeit bloss an andern wahrnehmen, in der Furcht dagegen
in Bezug auf uns selbst, in uns und für uns. Sodann, sagt Aristoteles,
sollen durch Furcht und Mitleid eben diese und dergleichen Affecte
„gereinigt werden.“ Und auch wir haben eine solche Reinigung als
Zweck und Wesen der tragischen Production kennen gelernt, indem
wir sahen, dass mit der Wehmuth immer eine tröstliche Empfindung
verbunden, dass es in der Tragödie nicht bloss darauf abgesehen sei,
einen Widerspruch zwischen Gemüth und Wirklichkeit zu erregen,
sondern auch eben diesen Widerspruch befriedigend zu versöhnen;
dass also die Tragödie im Zuschauer die Empfindung der Wehmuth
über die irdische Unzulänglichkeit erweckt und doch zugleich dieselbe
läutert, indem sie über der vereinzelten Erscheinung die allgemeine
höhere Weltordnung zeigt, in der Alles aufgeht; indem sie dem Widerspruche
durch die künstlerische Auffassung der historischen Wirklichkeit
den Frieden und die Beruhigung giebt. Mithin ist es das Gleiche,
ob man sagt, durch Mitleid und Furcht läutere die Tragödie dergleichen
Gemüthsregungen, oder ob man es so ausdrückt, dass sie den
Widerspruch der Wehmuth anrege, um ihn zu versöhnen. Nur hat
die Aristotelische Definition zugleich etwas zu Beschränkendes und
etwas Schrankenloses, indem sie auf der einen Seite zwei vereinzelte
Affecte bestimmt hervorhebt und auf der andern noch alle übrigen
dergleichen unbestimmt dazu rechnet.


Aus dem bisher Abgehandelten ergiebt sich von selbst ein allgemein
gültiges Gesetz über die Beschaffenheit der tragischen Charactere.
Die Tragödie darf unter den Hauptpersonen niemals einen vollkommen
guten, niemals einen vollkommen schlechten Character aufstellen;
sie darf weder die vollendete Tugend noch das vollendete Laster
leidend und der göttlichen Lenkung unterliegend zeigen. Denn was
das erstere betrifft, das Untragische leidender Tugend, so soll ja die
Tragödie nicht bloss bewähren, dass dem Göttlichen gegenüber alles
Menschliche unhaltbar sei, sondern auch, dass es so sein müsse: sie
darf also die Gebrechen nicht verschweigen, die der nothwendige
Grund des Unterganges sind. Führte sie eine Strafe vor ohne Schuld,
so würde sie einmal der Geschichte widersprechen, die dergleichen |#f0222 : 209|

nicht kennt, und aus der doch die Tragödie die Offenbarungen jener
tragischen Grundidee zu entnehmen hat; es würden dann ihre Anschauungen
auch mit einer ganz andern Empfindung verbunden sein
als mit der der Wehmuth, und an eine Läuterung, eine Versöhnung
derselben wäre gar nicht zu denken: das Gefühl, statt sich versöhnt
unter die höhere Weltordnung zu beugen, könnte nur mit derselben
hadern. Aber eben so wenig darf der Character der leidenden Person
ein vollkommen böser sein. Denn das Leiden des Bösen erregt keine
Wehmuth; sein Untergang vor der Gerechtigkeit Gottes findet im
Gefühl auch nicht den leisesten Widerspruch; wo aber kein Widerspruch
ist, bedarf es auch keiner Ausgleichung und Versöhnung. Es
fordert mithin die Tragödie einen Mittelschlag von Characteren, Charactere,
die weder vollkommen rein, noch vollkommen befleckt sind,
die weder zu schuldlos sind für die Wehmuth, noch zu schuldvoll
für dieselbe: sie behält für sich das ganze grosse Gebiet mit all seinen
Abstufungen, das mitten inne liegt zwischen jenen beiden äussersten
Grenzen; all die mannigfaltigen Mischungen des Guten und des Bösen,
in denen des einen wie des andern genug ist, dass sowohl ein Widerspruch
als eine Aufhebung desselben möglich bleibt. Kurz, die
Tragödie verlangt im Allgemeinen nur eine sittliche Unvollkommenheit
der Charactere.


Diess gleiche Gesetz ergiebt sich auch, wenn man das Wesen
der Tragödie nach Aristotelischer Weise bestimmt, und Aristoteles
selbst fasst es (Poet. 13) in folgende Worte: „Zuerst ist es klar, dass
weder gute Männer aus Glück in Unglück übergehend erscheinen
dürfen: denn das erweckt weder Furcht noch Mitleiden, sondern ist
nur grausenhaft; noch Böse aus Unglück in Glück: denn das ist vor
Allem am wenigsten tragisch: denn es hat nichts von dem, was gefordert
wird: denn das erregt weder das Menschlichkeitsgefühl, noch
Mitleid noch Furcht; noch endlich der ganz Böse aus Glück in Unglück
stürzend: denn eine solche Darstellung möchte wohl zum Menschlichkeitsgefühle
sprechen, nicht aber zum Mitleiden noch zur Furcht.
Denn das Mitleid richtet sich auf den, der unwürdig leidet; die Furcht
auf den, der dem Zuschauer gleich ist. Daher wird, was solchen
geschieht, weder Mitleid erwecken noch Furcht. So bleibt nur, der
zwischen diesen in der Mitte ist. Das ist aber ein solcher, der weder
durch Tugend und Gerechtigkeit sich erhebt, noch durch Laster und
Verderbtheit ins Unglück kommt, sondern durch irgendwelche Verirrung,
und zwar ein Hochangesehener und Beglückter, wie Oedipus
und Thyestes, und sonst aus dergleichen Geschlechtern die berühmten
Männer.“

|#f0223 : 210|


Wenn also die Tragödie weder ganz gute noch ganze böse Charactere
duldet, so ist auch schon damit ein ziemlich ausreichender
Grund gegeben, weshalb das Grausen und das Lasterhafte wohl vorübergehend
Zutritt in ihre Anschauungen finden, niemals aber die
ganze Handlung von Anfang bis zu Ende begleiten dürfen. Vom
Lasterhaften versteht sich das nun von selbst; und die Empfindung
des Grausens würde ja in den meisten Fällen nur daher rühren, dass
man den Guten ins Verderben stürzen sehe, was schon Aristoteles als
grausenhaft (μιαρόν) bezeichnet. Aber wir haben bereits früherhin
(S. 204) bemerkt, dass bei dergleichen Anschauungen ein Verhältniss
der dichtenden Kräfte stattfinde, das überhaupt alle poetische Production
aufhebe, alle, auch die dramatische und die tragische, und
dass sie demnach immer nur stellenweise zulässig seien.


Wir haben nun noch zu sprechen von der Wirklichkeit, aus welcher
die Tragödie die Formen ihrer Anschauungen entnehme, wie
diese beschaffen sein müsse, und wie sich der producierende Dichter
zu ihr verhalte. Ehemals war der ausschliessliche, und auch jetzt noch
ist der allgemein vorherrschende Gebrauch der, dass die Tragödie
sich anlehne an den Mythus, an die Sage und an die Geschichte;
dass der Tragiker seine Wirklichkeit nicht frei aus der Phantasie
heraus erfinde und ersinne, sondern sich an das halte, was als wirklich
einmal geschehen entweder historische Zeugnisse verbürgen, oder
der Mund des Volkes in Götter- und Heldensage überliefert. So sind
beinahe ohne Ausnahme die griechischen Tragiker alle verfahren: vornehmlich
Homer war ihre Fundgrube und nächst ihm die Nachfolger
Homers, die s. g. cyclischen Epiker; so auch, um aus der modernen Litteratur
nur ein Volksgebiet ins Auge zu fassen, unsere älteren deutschen
Dramatiker, z. B. Hans Sachs, der zu der einen Tragödie den Stoff
aus der Bibel entlehnte, zu einer andern aus Boccaccio, zu einer
dritten aus dem deutschen Heldenbuche u. s. f. In der That ist auch
der tragischen Kunst nichts angemessener und zugleich nichts für den
Tragiker vortheilhafter als ein solches Anlehnen an das historisch
Gegebene. Denn einmal haben ja alle Tragödien zum ersten und
letzten Zwecke die concrete Veranschaulichung jener schon früher
bezeichneten welthistorischen Idee: natürlich wird aber dieser Zweck
am besten erreicht, die Ueberzeugung von der Gebrechlichkeit alles
Menschlichen wird dann am unfehlbarsten und eindringlichsten hervorgerufen,
wenn man sie darthut an dem, was entweder wirklich
geschehen ist, oder was wie eine Sage als wirklich geschehen geglaubt
wird. Sodann hat der Dichter auch für sich selber schon viel gewonnen
und sich der reproducierenden Theilnahme seiner Zuschauer |#f0224 : 211|

versichert, sowie es historisch oder sagenhaft berühmte Namen sind,
die er zu Trägern seiner Handlung erwählt. Mit Recht bemerkt Jean
Paul (Vorschul. S. 500): „Ein bekannt-historischer Character, z. B.
Socrates, Cäsar, tritt, wenn ihn der Dichter ruft, wie ein Fürst ein und
setzt sein Cognito voraus: ein Name ist hier eine Menge Situationen.
Hier erschafft schon ein Mensch Begeisterung oder Erwartung.“


Man darf dagegen nicht einwerfen, dass das Interesse des Reproducierenden
viel grösser sein müsse, wenn ihm die Wirklichkeit der
dramatischen Handlung noch ganz unbekannt sei, wenn also der
Dichter selbst sie erst erfunden. Dann werde er erst recht mit
gespannter Erwartung dem weiteren Verlauf und dem letzten Ausgange
der Handlung nachfolgen und entgegenschauen; viel grösser
sei alsdann das Interesse, als wenn man schon durch Lesen oder
Hörensagen Alles zum voraus wisse. Dieser Einwurf hat allerdings
viel Schein für sich; mehr aber nicht. Der Kunst ist nichts verderblicher
als solch eine gespannte Erwartung, die der gemeinen Neugierde
wahrlich um vieles näher liegt als dem eigentlichen künstlerischen
Interesse. Das wahre Interesse wird weniger nach einzelnen Begebenheiten
fragen: denn es soll hier ja keine Geschichte erzählt, sondern
eine dramatische Handlung vorgeführt werden; es wird vielmehr eben
auf die Handlung achten, d. h. auf die Art und Weise, wie der Tragiker
den aus der Geschichte oder dem Epos wohlbekannten Stoff
nun nach den Anforderungen seiner Kunst gestaltet, wie er ihn dramatisch
belebt habe. Ein für gesunden Kunstgenuss eingerichtetes
Volk empfindet keine Langeweile dabei, denselben epischen Stoff, ja
dasselbe epische Lied immer von Neuem zu vernehmen: da ist Langeweile
noch weniger zu befürchten, wenn nun der Dichter den epischen
Stoff in so idealischer Weise und so in Beziehung auf die heiligsten
Regungen des menschlichen Gemüthes auffasst, wie das in der Tragödie
der Fall ist. Die Athener waren sonst in vielen Stücken novarum
rerum studiosi: aber auf ihrer tragischen Bühne verlangten sie
keine Neuigkeiten; es ermüdete sie nicht, einen alten historischen
Stoff, den sie schon aus der Volkssage und aus der epischen Poesie
her kannten, nun auch von Aeschylus im Gewande der Tragödie dargestellt
zu sehen, und dann wieder von Sophocles, und dann noch
einmal von Euripides. Ja es ermüdete sie nicht und benahm ihnen
nichts von ihrem lebendigen künstlerischen Interesse, wenn Euripides
seinen Tragödien Prologe vorausschickte, in welchen Alles schon zum
voraus durch eine kurze Erzählung berichtet ward, was nachher in
ausgeführter dramatischer Handlung nach und nach sollte entwickelt
werden. Hätte dergleichen das Interesse der Athener nicht vielmehr |#f0225 : 212|

noch erhöht, so verstand Euripides seinen Vortheil zu gut, als dass
er sichs würde zum Gebrauch gemacht haben. Solche historische
Thatsachen könnten hinreichen, um darzuthun, wie sehr jene Einwendungen
bloss aus der Luft gegriffen sind. Aber es kommt noch
etwas dazu, das sie nicht minder genügend widerlegt. Diess nämlich,
dass sich ja die Tragödie keinesweges in strengstem Gehorsam an das
historisch Gegebene bindet, keinesweges dem Zuschauer lauter längst
Bekanntes nur von Neuem darbietet: dass vielmehr der tragische Dichter
in den meisten Fällen mit dem, was Geschichte und Sage ihm an
die Hand geben, noch um vieles freier verfährt und verfahren muss,
als die Sage mit der Geschichte und das Epos mit der Sage verfährt.
Es geschieht das aber aus einem doppelten Grunde.


Erstlich aus demselben, aus welchem auch die Sage an der
Geschichte ändert: nicht alle Züge, die eine Begebenheit bilden, nicht
alle Begebenheiten, die eine Handlung bilden könnten, sind der Idee
angemessen; hier ist dafür zu viel, dort mangelt es wieder: da muss
denn auch der Tragiker, wie das sagenerzählende Volk und wie der
Epiker es thut, die Geschichte vom Standpuncte der Idee aus berichtigen.
Den zweiten Grund und Zweck des freieren Umbildens theilt
die tragische Poesie nicht so mit der epischen: den hat sie mehr für
sich. Das Epos nämlich zeigt seine Gestalten mehr von aussen als
von innen, insofern es eben nur erzählt, was sich an ihnen und mit
ihnen begeben habe: die Tragödie dagegen, welche die äusseren Begebenheiten
in den inneren Zuständen zu entwickeln, welche nicht Begebenheiten
zu erzählen, sondern eine Handlung darzustellen hat, muss
um vieles mehr auf den Character der einzelnen Personen achten,
diese Grundlage eben der dramatischen Handlung. Wie oft aber verdeckt
die Geschichte einen Character; wie oft wird er sich selber
ungetreu, oder zeigt sich wenigstens nicht in der beständigen Durchsichtigkeit,
die für die tragische Production und Reproduction unentbehrlich
ist. Da bleibt denn dem Dichter auch auf dieser Seite wiederum
nichts Andres übrig als nur getrost zu ändern, fortzulassen,
einzuschieben, umzugestalten, bis zuletzt die Begebenheiten die geforderte
characteristische Physiognomie und damit in ihrem zusammenhangenden
Verlaufe die eigentliche Bedeutung einer Handlung gewinnen.


Es ändert also der Tragiker an dem geschichtlich Ueberlieferten
theils der Idee, theils den Characteren und der Handlung selbst zu
Liebe. Beispiele giebt die Poesie der alten und der modernen Welt
zur Genüge. Bei mehr als einer griechischen Tragödie lassen sich
die selbständigen Abweichungen des Dichters von Mythus und Sage
nachweisen; ohne dass ein solches Verfahren frei stand, hätten auch |#f0226 : 213|

schwerlich Mehrere nach einander einen und denselben Stoff behandeln
können, wie das doch genugsam vorkommt. Aus unserer Litteratur
wollen wir nur Göthe und Schiller hervorheben. Von Göthe nächst der
Iphigenie in Tauris (S. 191) den Egmont. Diese Tragödie widerspricht
allerdings der wahrhaften Geschichte mannigfach; sie mischt Begebenheiten
in die Handlung, von welchen dort auch nicht die leiseste Spur
vorhanden ist, und Begebenheiten solcher Art, dass damit Egmonts
Character selbst, wie ihn die Geschichte zeigt, könnte angetastet
erscheinen. So pflegt man das Stück auch wirklich zu beurtheilen;
und Schiller ist in einer Recension der erste gewesen, der hier das
Mass der dem Tragiker gestatteten Freiheit hat überschritten gefunden.
Dem ist aber doch nicht so. Einen andern Character als hier in der
Tragödie besitzt Egmont auch in der Geschichte nicht: er zeigt auch
dort ein Gemüth, das allem Edeln geöffnet ist, dem aber keine Kraft
des Entschliessens und Handelns zur Seite steht; auch dort ein in
rath- und thatlose Träumerei versunkenes Heldenherz: er zeigt es
jedoch nicht in der Art und Weise, dass damit ein Dramatiker, ein
Tragiker hätte etwas beginnen können, und Göthe war in seinem
vollen Recht, wie er in seiner Pflicht war, als er die Begebenheiten,
welche die Geschichte erzählt, immerhin mit einer gewissen Kühnheit
so umgestaltete, dass sich jener Character nun auch in der dramatischen
Handlung ausprägte. Um vieles mehr hat sich dagegen Schiller
selbst in einer seiner Tragödien an der historischen Treue verfehlt.
Ich meine nicht den Wallenstein und die Jungfrau von Orleans, wo
er nur von seinem Rechte Gebrauch gemacht hat, das Ueberlieferte
der tragischen Idee und dem gegebenen Character gemäss umzubilden:
ich meine den Don Carlos. Hier hat er denn freilich nicht, wie er
und mit ihm Andre das dem Göthischen Egmont ohne Grund vorwerfen,
einen hohen Character in den Staub gezogen: aber er hat sich das
Gegentheil erlaubt; er hat eine historische Person, von der die
Geschichte wahrlich nicht mit sonderlicher Ehre zu sprechen weiss,
eben den Don Carlos, auf eine solche Höhe edler Gesinnung versetzt,
dass in der That dieser tragische Carlos mit dem historischen kaum
mehr gemein hat als den Namen und einige an ihm hangende Begebenheiten,
den Character aber, für ein Drama die Hauptsache, ganz
und gar nicht. Durch eine der Wahrheit grade zuwider laufende
Verherrlichung wird aber die Tragödie ebenso wohl von der Stelle
gerückt, die sie neben der Geschichte anspricht, als durch Erniedrigung
und Entwürdigung.


Den Begebenheiten gegenüber ist der Dichter zu freiem Verfahren
berechtigt, ja oft verpflichtet: der Character dagegen, die Idee verlangt |#f0227 : 214|

historische Treue. Zur Treue ist der Tragiker aber in noch einem
Puncte verpflichtet, der zugleich Bezug hat auf den Zweck der künstlerischen
Täuschung, der Illusion. Er soll nämlich das Costüm beobachten,
diesen Ausdruck im weitesten Sinne genommen, wo er, seinem Grundworte,
dem lateinischen consuetudo, entsprechend, Alles bezeichnet,
was gebräuchlich und üblich, was innerhalb einer historisch bestimmten
Zeit Gebrauch und Sitte im Denken, Handeln und Reden ist, und
was somit auch zu einer vollständigen und richtigen Veranschaulichung
jener Zeit und ihrer Personen und Begebenheiten gehört. Das Costüm
macht sich allerdings entschieden genug geltend bei dramatischer
Behandlung historischer Stoffe: wählt also z. B. ein Dichter zum Inhalt
einer Tragödie den Tod Julius Cäsars, so sollen die Schauspieler
nicht bloss gekleidet sein wie Römer: auch, und noch vielmehr, ja
zu allervorderst in den Gesinnungen, welche sie darlegen, auch in
Wort und That sollen sie Römer, und zwar Römer grade jener Zeit
sein. Das ist eine billige Anforderung.


Aber auch hier giebt es Mass und Grenze. In Einer Beziehung
bindet sich kein Dichter an das Costüm, und diese Eine ungetreue
Abweichung zieht nothwendiger Weise eine Menge anderer nach sich.
Es ist die, dass der Dramatiker seine Personen, mögen sie auch einer
längst vergangenen Zeit, einem andern Volke, ja mehreren verschiedenen
Völkern angehören, dennoch eine und dieselbe Sprache, und
die Sprache seines Volkes und seiner Zeit reden lässt. Hätte Göthe
im Egmont das Costüm in der vollen und täuschenden Wirklichkeit
und Wahrscheinlichkeit beobachten wollen, so durfte natürlich kein
Wort Deutsch darin vorkommen, und die Einen mussten niederländisch,
die Andern spanisch sprechen. Hier wird also dem Zuschauer auch
wieder eine ergänzende und nachhelfende Einbildung zugetraut, und
die Poesie sucht auch hier ihre Wahrheit in einer andern Sphäre als
in der gewöhnlichen. Sowie aber einmal der Dichter den Personen
seines Dramas die Sprache seiner Zeit und seines Volkes in den Mund
legen muss, so ist es nicht zu vermeiden, dass er ihnen auch mehr
oder weniger von den Gedanken und Empfindungen seiner Zeit und
seines Volkes in Kopf und Herz lege, und dass dieselben beide auch
sonst mannigfach mit ihren Sitten in das Drama hineinspielen. Das
Mehr oder Weniger hängt lediglich von dem jedesmaligen Stande der
Bildung ab, von dem Masse historischer Kenntnisse, das Dichter und
Volk besitzen, und das der Dichter bei seinem Volke voraussetzen
darf. Je gebildeter das Volk ist, desto historisch treuer darf der
Dichter sein; zur Treue bis ins Jota hinein wird man es aber schwerlich
jemals bringen. Wenn jetzo Jemand in einem Julius Cäsar die |#f0228 : 215|

Glocke schlagen und die Trommel rühren liesse, so dürfte man das
billig tadeln: denn er sollte wissen, wie es das Publikum im Allgemeinen
weiss, dass die alten Römer noch keine Glockenuhren und keine Trommeln
hatten. Wenn Shakspeare es that (Jul. Cäs. 2, 1. 4, 2), so war
dieser Anachronismus für ihn noch kein Fehler. Wenn jetzt Jemand
einen Moment aus den Kriegen der Perser und der Griechen dramatisierte,
so würde er die persische Nationalität der griechischen contrastierend
entgegenzusetzen haben: dass Aeschylus in seinen Persern es nur
schwach gethan, ist für ihn kein Vorwurf, da eine solche objectiv
unterscheidende Betrachtungsweise überhaupt nicht und am allerwenigsten
damals schon Sache des Griechen war. Diesen Masstab darf
man bei der Beurtheilung, darf man auch beim Abfassen dramatischer
Dichtungen niemals aus der Hand verlieren, damit weder die Kritik
noch die Poesie von der altklugen Gelehrtthuerei Schaden leide.
Gelehrsamkeit und Bildung sind wahrlich nicht einerlei; der Dramatiker
aber, wie überhaupt jeder Dichter darf es nur auf ein gebildetes
Publicum absehn: er würde also die Illusion grade verfehlen, wenn
er sie durch einen Wust von historischer und antiquarischer Gelehrsamkeit
erzwingen wollte.


Bei der grossen und mannigfachen Freiheit, die also dem Tragiker
gegenüber dem historisch Gegebnen vergönnt ist, braucht man nun
wahrlich nicht zu fürchten, dass er dem Zuschauer bei der Behandlung
historischer Stoffe nur lauter längst Bekanntes wieder aufwärmen,
und dieser darüber die Lust und Geduld verlieren werde. Es haben
also aus vielfältigen Gründen diejenigen Unrecht, die sich in der Tragödie
vom Historischen abwenden, die für ihre Anschauungen die
Formen der Wirklichkeit selber erst ganz und gar erfinden und ersinnen.
Solche Tragiker genügen niemals in rechter und voller Weise
dem, was eigentlich Zweck und Wesen ihrer Kunst ist: denn mit
erfundenen Geschichten können sie nie in dem gleichen Grade, wie mit
wahrhaften, die welthistorische Idee von der Unzulänglichkeit alles
Menschlichen zum Bewusstsein bringen; sie erschweren sich auch selbst
von vorn herein das Gelingen ihrer Arbeit, indem ihnen nicht so wie
dem historischen Tragiker die Reproduction auf halbem Wege entgegenkommt;
und in den meisten Fällen wird das Interesse, das sie erwecken,
eher nur eine neugierige Spannung sein als wahrhafte künstlerische
Theilnahme. Dergleichen Tragödien sind auch überall erst in solchen
Zeiten auf die Bahn gekommen, wo die Poesie bereits überreif war
und sich dem Verfalle entgegen neigte, oder wo sie vielleicht blühte,
aber nicht auf dem Boden einer allgemeinen nationalen Kunstbildung.
Bei den Griechen ist das erste und vielleicht auch das einzige Beispiel |#f0229 : 216|

der Art die Blume des Agathon, eines Zeitgenossen des Euripides;
uns übrigens nur dem Namen nach bekannt. Die Engländer haben
dergleichen erst seit dem vorigen Jahrhundert: Shakspeare benutzte
für seine Schöpfungen noch keine andere Quelle als Geschichte und
Sage. Wir seit Lessing. Gewöhnlich sind es sogenannte bürgerliche
Trauerspiele: d. h. es treten darin Personen auf aus den niederen
Ständen der menschlichen Gesellschaft: Namen von erfundenen Königen
und Helden würden zu sehr die Geltung geschichtlicher Wahrheit
ansprechen und dadurch den Dichter von vorn herein gar in eine
schiefe Stellung versetzen. Das historische Trauerspiel dagegen ist
natürlich auf Personen der Art angewiesen als diejenigen Puncte, an
welche die Geschichte der Menschheit ihre Fäden anzuknüpfen pflegt;
deshalb wird die historische Tragödie auch die heroische genannt.


Nun die Comödie. Während der Grundton der tragischen Stimmung
die Wehmuth ist, ist der Grundton der komischen die Laune: d. h.
während bei der Tragödie das Gefühl von seinem Zwiespalt mit der
Wirklichkeit schmerzlich berührt wird, setzt es sich in der Comödie leichtsinnig,
ja leichtfertig scherzend darüber hinweg; es lässt hier den Stachel
nur in so weit an sich kommen, als er kitzelt und zum Lachen reizt.
Und in dieser Stellung gegenüber der Wirklichkeit wird das Gefühl
gewöhnlich noch unterstützt von dem Verstande, indem auch dieser
sein Mass an dieselbe legt und sich auch weiter nicht betrübt, wenn
beide nicht recht zu einander stimmen wollen, sondern nur lacht über
das Lächerliche und seinen Spott treibt mit der Thorheit. Erst wenn
die Laune sich zum Humor, der Spott sich zur Ironie erhebt, erst
dann erscheint jener Widerspruch in grösserer Tiefe und Ernstlichkeit:
denn nun gesellt sich zu der Laune auch die Wehmuth, und der Spott
veredelt sich zu bitterm Zorn und stolzer Verachtung. Aber die Ironie
beruht doch immer auf dem Spotte, und der Humor lässt, wie bereits
früherhin (S. 204) ist bemerkt worden, in der Comödie die launige Seite
vorwalten: das Wehmüthige des Humors wird von ihr übertönt; so dass
die wesentliche Grundstimmung dennoch die Laune bleibt, und mit
ihr verschwistert der Spott.


Damit ist nun der Comödie in Bezug auf die Idee eine ganz andere
Richtung angewiesen, als die wir bei der Tragödie haben kennen
lernen; und die Wirklichkeit, unter deren Formen sie die Idee zur
Anschauung bringt, kann demgemäss auch nicht die gleiche sein als
die Wirklichkeit der Tragödie.


Die Comödie geht freilich auch von einer Unzulänglichkeit aus:
Gefühl und Verstand widersprechen auch hier der Wirklichkeit, weil
sie in ihr etwas Unzulängliches vorfinden: aber sie können den Zwiespalt |#f0230 : 217|

nur darum so leicht verschmerzen und verscherzen, weil sie der Menschenwelt
hier nicht die göttliche Allmacht und Gerechtigkeit mit ihren
Gesetzen und Fügungen gegenüberstellen, sondern nur was die Menschen
selbst unter sich aus ihrer Sittlichkeit und Verständigkeit heraus
als gut und recht und geziemend auffassen; weil sie also das menschliche
Treiben nicht contrastieren mit der göttlichen Weltordnung, sondern
mit der menschlichen, mit einer von den Menschen selbst gesetzten.
Die Tragödie misst den Menschen mit der Göttlichkeit, die Comödie
mit der Menschlichkeit. Jene verweilt mithin auf einer höheren, diese
auf einer tiefer liegenden Stufe der Weltanschauung.


Das Gebiet der Comödie ist aber nicht bloss tiefer gelegen: es
ist eben deshalb auch beschränkter, hat eine geringere Ausdehnung.
Tragisch betrachten kann man die ganze Weltgeschichte, weil die
ganze, gesammte Weltgeschichte immer nur von Neuem darthut, dass
der Mensch nichts sei vor Gott, dass Keiner etwas vermöge gegen die
göttliche Weltordnung: vor der menschlichen Weltordnung bestehn aber
Viele; nicht an Jedem finden Gefühl und Verstand über Verkehrtheiten
zu scherzen und über Lächerlichkeiten zu spotten. Gebrechlich ist alle
Welt: aber nicht alle Welt ist thöricht. Mithin ist, verglichen mit der
Tragödie, die Comödie sehr bedingt und beschränkt. Der Tragödie
ist die Wirklichkeit tragisch, weil sie überall in ihr jene Grundidee
wieder findet: der Comödie ist die Wirklichkeit nur komisch, wenn
sich irgendwo in derselben Verkehrtheit und Unverstand zeigen. Deshalb
ist auch das Lasterhafte in der Comödie höchstens vorübergehend
zulässig: denn da ist mehr als blosse Verkehrtheit, mehr als blosse
Unzulänglichkeit vor den menschlichen Sittengesetzen, mehr als ein
spöttischer Conflict des Verstandes und ein bloss launiger des Gefühls.


Laune und Spott, diese komischen Widersprüche, tragen aber
ihre Aufhebung und Versöhnung eben sowohl in sich selbst als die
tragische Wehmuth. Die Wehmuth findet ihren Trost in resignierter
und gehorsamer Ergebung; Laune und Spott darin, dass solche Verstösse
gegen Gefühl und Verstand zwar allenfalls häufig vorkommen,
aber nicht immer und überall; dass daneben das menschlich Gute und
Rechte immer noch bestehn bleibe; wie man ja auch vom Standpuncte
eben des Guten und Rechten aus jene Verstösse als solche erkannt
hat. Freilich schmeckt diese Aufhebung des Conflictes stark nach
Selbstgenügsamkeit: der producierende Dichter, wie der reproducierende
Zuschauer können nur dann recht scherzen und spotten, wenn sie sich
selber unantastbar auf dem rechten Standpuncte fühlen oder glauben,
wenn sie der angenehmen Ueberzeugung leben, dass wenigstens sie
nicht zu der lächerlichen Hälfte der Menschheit gehören.

|#f0231 : 218|


Diess menschliche Mass, das an der Wirklichkeit bloss den Widerspruch
der Laune und des Spottes entdeckt, verliert jedoch der Dramatiker
alsobald aus der Hand, wie er sich an die Vergangenheit
wendet. Denn die Geschichte erzählt wahrlich von mehr als bloss
von menschlichen Thorheiten und Lächerlichkeiten; die Poesie kann
und darf jene tragische Idee, die sich in der Geschichte überall
offenbart, nicht übersehen: ein historisches Drama wird also, wenn es
wirklich ein historisches ist, immer nur eine Tragödie sein, grade wie
auch das wahre Epos immer einen ernsten Sinn besitzt. Der Comödie
dagegen verbleibt die Gegenwart, verbleibt eine Wirklichkeit, die dem
menschlichen Geiste noch nicht zur Geschichte geworden, in der er
selber noch befangen ist, und die sich ihm deshalb noch nicht so
objectiviert hat, dass er in all ihren Begebenheiten fähig wäre, jene
tiefere, tragische Idee zu erkennen; er kann sie also, wenn er sie
dennoch in ideale Beziehung bringen will, nur noch in Beziehung
bringen zu der bedingteren und eingeschränkteren und oberflächlicheren
Idee der komischen Poesie.


Demnach nimmt die Comödie im Bereiche des Dramas ungefähr
denselben Platz ein, wie im Bereiche der Epik die Satire: denn die
Satire ist ja eine auf die Gegenwart gerichtete didactische Epik. In
der That besteht auch zwischen beiden Dichtarten ein historischer
Zusammenhang: bekanntlich hat sowohl das Nationallustspiel der Römer
seinen ersten Ursprung genommen aus ihrer Satire, als auch späterhin
wieder die Satire sich unter bedeutendem Einfluss der alten attischen
Comödie weiter ausgebildet hat: Horaz nennt (Sat. 1, 4) als des Lucilius
Muster Eupolis, Cratinus, Aristophanes u. a. Grade wie nun die
Satire an der Wirklichkeit lehrt, welche den Dichter gegenwärtig
umgiebt, wie es die moralischen Gebrechen seiner Zeit sind, auf
welche der Satiriker seine spottende oder strafende Rede richtet:
grade so fasst auch der Komiker zunächst nur seine Zeit ins Auge
mit ihren Verkehrtheiten und Lächerlichkeiten und pflegt demgemäss
auch aus ihr seine Formen zu entnehmen, Charactere, wie sie in ihr
zu Hause sind, Begebenheiten, wie sie in ihr sich ereignen. Und wo
er, was jedoch immer selten geschieht, sich an eine vergangene Wirklichkeit
anschliesst, wo er die Handlung aus Begebenheiten bildet, die
der Geschichte oder der Sage zugehören: auch da ist diese historische
Form doch nur eine blosse Form, ein blosser Schein und Vorwand;
im Grunde meint er auch da immer nur seine Zeit, und wenn schon
er ihr die Larve einer längst vergangenen vors Antlitz gesetzt hat, so
schaut sie doch mit ihren eigenen Augen heraus. So z. B. in den
sagenhaften und märchenhaften Lustspielen von Tieck, im Gestiefelten |#f0232 : 219|

Kater, im Däumchen. Da thut freilich der Dichter, als wolle er nur
alte Geschichten dramatisieren: eigentlich aber steht er als Satiriker
recht mitten drin in den Albernheiten der Gegenwart.


Schon aus dem bisher Besprochenen ergiebt es sich überzeugend
genug, mit welchem Rechte früherhin (S. 205) ist behauptet worden, die
Tragödie sei um vieles epischer als die Comödie. Denn da das eigentliche
Gebiet des Epos die Vergangenheit, und sein Sinn immer ein
ernster ist, so wird auch ein Drama, welches vergangene Wirklichkeit
mit den Augen der Wehmuth betrachtet, die Tragödie wird näher an
das Epos grenzen als die Comödie, die mit Laune und Spott in der
Gegenwart stehn bleibt, aus der Gegenwart ihre Anschauungen und
die Formen der Anschauung entlehnt und entlehnen muss.


Das Unepische der Comödie erweist sich aber auch noch anderweitig.
Die Tragödie macht, wie sie überhaupt historischer Natur ist,
auch zu Trägern ihrer Handlung historische Personen: wenigstens die
hauptsächlichen müssen solche sein; und diese werden dem Character
gemäss gestaltet, den sie in der Geschichte aufweisen. Die Personen
der Tragödie sind Individuen. Anders in der Comödie. Sie steht in
der Gegenwart und schaut in die Gegenwart hinein, in eine noch
unhistorische Wirklichkeit, aus der sie deshalb auch keine historischen
Individualitäten holen kann von der Beschaffenheit wie die Individuen
der Tragödie. Die Comödie zeigt immer und wesentlich ganze Arten.
Sie bringt also z. B. kein historisch bestimmtes Individuum, mit der
Eigenschaft des Geizes oder des Zornes oder der Prahlerei behaftet,
auf die Bühne, sondern nur überhaupt einen Geizhals oder Zornigen
oder Prahler und giebt diesem erst nach Massgabe der Bedingungen
der Gegenwart eine Persönlichkeit. Die Tragödie gestaltet ein historisch
gegebenes Individuum gemäss seinem gleichfalls schon historisch
gegebenen Character: die Comödie wählt frei einen Character und
individualisiert ihn in den Formen der gegenwärtigen Wirklichkeit.


Dem könnte nun zu widersprechen scheinen, dass die Comödie
oft genug historische, zwar der Gegenwart angehörige, aber doch
historische, nämlich wirkliche Personen, eigentliche Individuen zu Trägern
ihrer Handlung gemacht habe, wie z. B. Socrates auftrete in den
Wolken des Aristophanes. Aber der Widerspruch erledigt sich hier
wie überall in dergleichen Fällen auf die leichteste Weise. Aristophanes
hatte es da eigentlich gar nicht auf Socrates als historisches
Individuum abgesehen, sondern nur auf die Neigung seiner Zeit zu
unpractischem Philosophieren, auf die ganze Art, auf den Stand und
Character der Philosophen, mochten das nun Sophisten sein oder, wie
Socrates, deren Gegner. Und diese ganze Art unpractisch grübelnder |#f0233 : 220|

und redender Menschen fasste er nun in die Eine Figur des Socrates
und unter dessen Namen; das Einzelwesen sollte ihm nur als Umkleidung,
als concretere Gestaltung eines allgemeinen Spottes dienen.
Daher hatte denn auch der Aristophanische Socrates so wenig gemein
mit dem wirklichen; daher konnte der Dichter den Socrates der Bühne
so viel Dinge thun und sagen lassen, von denen er sehr wohl wusste,
dass der Socrates der Wirklichkeit sie nie gesagt hätte und nie sagen
würde. Uebrigens begegnen uns solche scheinbare Individuen eigentlich
auch nur in der ältern attischen Comödie: in der mittleren und in der
neueren kommen sie kaum mehr vor, theils weil die ältere es in
dieser poetischen Licenz mitunter zu weit mochte getrieben haben,
theils auch weil dergleichen gar nicht nothwendig zum Wesen der
Comödie gehört, weil ja auch auf andern Wegen die allgemeine Art
immer noch genügend kann besondert werden.


Wie wenig es der Comödie auf bestimmte Individuen, wie es ihr
dagegen nur auf ganze Arten ankomme, das zeigen recht deutlich
andere satirische Lustspiele von Tieck, z. B. der Prinz Zerbino. Hier
ist die Satire allerdings gegen mehrere bestimmte Personen jener Zeit
gerichtet, gegen Nicolai u. a.: aber Tieck fühlte sehr wohl, dass es
dem Wesen des Lustspieles nicht angemessen wäre, diese Personen
nun auch ganz in ihrer wirklich gegebenen Individualität aufzufassen:
er verallgemeinerte sie demnach so, dass sie als Repräsentanten ganzer
Arten gelten konnten; und um sie so verallgemeinern zu dürfen, vertauschte
er auch die wirklich gegebenen Namen gegen fingierte, Nicolai
gegen Nestor u. s. f. Ein Verfahren, das jenem Aristophanischen grade
entgegengesetzt ist oder vielmehr nur entgegengesetzt scheint: denn
eigentlich führen beide Wege zu dem gleichen Ziele. Aristophanes
gebrauchte den Namen des Socrates und auch diess und jenes
von des Socrates Wesen, um darin die ganze Art der ihm widerwärtigen
Philosophen zu individualisieren; Tieck warf den Namen
Nicolais fort und erweiterte das Wesen desselben so, dass er tauglich
wurde zur stellvertretenden Individualisation aller litterarischen
Philister.


Jetzt ein neuer Unterschied zwischen Tragödie und Comödie, der
mit dem so eben erörterten auf das engste zusammenhängt und gleich
diesem zeigt, um wie vieles entfernter die Comödie von dem Epos
sei als die Tragödie.


Von der Tragödie ist dargethan worden, dass für sie der Dichter
die Formen der Anschauung zwar gänzlich erfinden könne, dass er
jedoch aus mehr als einem Grunde besser thue, wenn er sich an das
von Sage und Geschichte ihm Gebotene anschliesse; dass auch in den |#f0234 : 221|

Blüteperioden der Kunst die Tragiker nie anders verfahren seien.
Nicht so ist es, noch kann es so sein bei der Comödie. Ihre Wirklichkeit
liegt in der Gegenwart, nicht in der Vergangenheit; ihre
Individuen sind auch da, wo sie einen historischen Anschein tragen,
in der That immer nur Individualisationen. Man kann aber die Personen,
kann die Charactere nicht von der Handlung trennen, die ja
immer erst aus dem Wechselstreite des Thuns und des Leidens derselben
erwächst. Mithin ist, auch was nun diese betrifft, der Lustspieldichter
auf eben das angewiesen, was dem vollendeten Tragiker verwehrt
ist, auf freies Erfinden auch der Handlung. Seine Kunst besteht also
nicht, wie die des Tragikers darin, eine historisch überlieferte Reihenfolge
von Begebenheiten der Idee und den Characteren der Personen
gemäss zur Handlung zu gestalten, sondern darin, dass er zu der Idee
erst die passlichen Personen und Charactere, dann zu beiden, der Idee
und den Characteren, eine Wirklichkeit von dramatischen Begebenheiten,
eine Handlung erfinde. Dem Tragiker ist beides gegeben, die
allgemeine tragische Idee sammt dem besondern historischen Material;
dem Komiker nur die allgemeine Idee der Comödie: alles Uebrige ist
seinen Kräften anheimgestellt; und damit ist ihm die Arbeit, je nachdem
man es ansieht, leichter und schwerer gemacht. Während mithin
die Tragödie gleich dem Epos vorzugsweise die Erinnerung in Anspruch
nimmt, und die Phantasie nur in so weit einwirkt, als es darauf ankommt,
umzugestalten: ist dem Epos grade entgegengesetzt die Comödie lediglich
auf die Phantasie angewiesen.


Diese Freiheit der Phantasie kommt auf der einen Seite den
Zwecken der Comödie sehr zu Statten: denn erst bei ihr können
Laune und Spott sich in all ihrem Muthwillen gehn lassen; wie denn
auch z. B. Aristophanes sich dieses Verhältniss wohl zu Nutze gemacht
hat, und ebenso Hans Sachs in seinen Fastnachtsspielen und Jacob
Ayrer in seinen Possenspielen, die reich sind an Situationen, welche
von der kecksten Phantasie und mit der übermüthigsten Laune hingeworfen
sind. Auf der andern Seite jedoch muss sich der Lustspieldichter
wohl vorsehen, dass die Freiheit der Phantasie nicht ausarte
in Zügellosigkeit; dass sie den Verstand nicht des Antheils beraube,
der ihm einmal an jeder poetischen Conception gebührt; dass sie keine
Planlosigkeit und Verwirrung mit sich führe, wie das in den meisten
Lustspielen von Tieck entweder durchweg oder wenigstens stellenweise
der Fall ist. Wo aber Phantasie und Verstand sich wohl zu vertragen
wissen, da machen sie für die Comödie ebendasselbe möglich, was
sich für die Tragödie nicht recht schicken will, nämlich eine fein und
reich verschlungene Verwickelung: denn diese ist ja nur zu bewältigen, |#f0235 : 222|

von Seiten des Dichters wie des Zuschauers, wo Phantasie und Verstand
das Uebergewicht bei der poetischen Conception besitzen. Man
nennt solche fein verwickelte Comödien Intriguenstücke; Meister darin
sind die Spanier und Shakspeare. Hier wird eine besonders scharfe
und aufmerksame Durchführung der Charactere verlangt: ohne eine
solche würde man sich unmöglich hindurchfinden durch das in einander
gewobene Gewirr von Begebenheiten und streitenden Interessen.
Das weniger verwickelte Lustspiel, wie z. B. jene Fastnachtsspiele
und Possenspiele, will zwar die Charactere auch festgehalten haben:
das versteht sich von selbst; aber sie brauchen hier nicht so fein und
scharf ausgeprägt zu sein, und Phantasie und Laune und Spott können
sich mehr verlegen auf das Komische der äusseren Begebenheiten,
der Situationen. Man pflegt wohl diese beiden Arten von komischen
Dichtungen zu unterscheiden als die höhere oder feinere und die niedere
Komik: es kann aber diese Unterscheidung natürlich nicht überall
mit Sicherheit durchgeführt werden, da die Grenzen verschwimmen;
sie ist auch falsch, wenn sie eine Art unter die andere setzen soll,
da doch jede für sich so viel werth ist als die andere; in die Beurtheilung
solcher Dichter wie Aristophanes hat sie unnütze Streitigkeiten
gebracht. Die Aristophanische Komik ist eine niedrige, wenn die
Niedrigkeit erkannt wird an der Einfachheit der Composition und an
dem phantastischen Uebermuth in den einzelnen Situationen; zugleich
aber auch eine sehr hohe, wenn man den Schwung des Geistes und
des Gemüthes mit in Anschlag bringt.


Wir kommen nunmehr zur letzten unter den characteristischen
Eigenthümlichkeiten der Comödie. Es ist hier also der Phantasie des
Dichters volle Freiheit gegeben; es umschliessen ihn keine Schranken
der historischen Ueberlieferung; er ist nirgend von bereits festgesetzten
Persönlichkeiten beengt: da kann es denn nicht ausbleiben, dass seine
eigne Persönlichkeit, seine Subjectivität mehr in den Vordergrund trete,
als das in der Tragödie möglich ist. Den Tragiker nöthigt, und das
theilt er wiederum mit dem Epiker, das ganze Wesen seiner Dichtungsart
zur grössten Objectivität; je mehr er von seinen subjectiven
Empfindungen und Urtheilen einmischt, desto mehr wird er auch die
reine, volle Wirkung seines Gedichtes beeinträchtigen. Der Komiker
dagegen, der auch auf der Bühne mitten in der Gegenwart und unter
Zeitgenossen steht, der mit seinem Gefühl und seinem Verstande dem
Unverstande und dem Ungefühl Andrer, und zwar wiederum der
eigenen Zeitgenossen lachend entgegentritt: der Komiker wird sich
gegen Zweck und Bedeutung seines Gedichtes nicht so sehr verfehlen,
wenn er gradezu sein Ich geltend macht; es wird ihm das kein Vorwurf |#f0236 : 223|

sein, obschon man es auch nicht fordern kann als zur Comödie
nothwendiger Weise gehörig.


Erlaubt hat sich aber dergleichen, und in reichlichem Masse, die
ältere attische Comödie, wie wir sie aus Aristophanes kennen. Und
zwar wirft sich da die Subjectivität in denjenigen Theil des Dramas,
der allerdings auch am meisten geeignet ist, sie in sich aufzunehmen,
in die strophischen Gesänge und in die Parabasen des Chores. Der
Chor der Tragödie steht zwar der Regel nach ganz ausserhalb der
eigentlichen Handlung: gleichwohl dient er niemals dem Ich des Dichters;
was er sagt, er sagt es nicht in dessen Namen und als dessen
Meinung: er ist nur die begleitende vox populi vox dei. Anders der
komische Chor. Obschon dieser gewöhnlich grade auf das Thätigste
in die Handlung eingreift, so steht er doch namentlich in den Parabasen
wieder ganz abgesondert von derselben da: was er hier vorträgt,
geht die Handlung ganz und gar nicht, sondern nur den Dichter
an; und auch wo sein Gesang sich mit Laune und Spott zu dem hinwendet,
was auf der Bühne geschieht, ist es häufig nur der Dichter
der in der subjectivsten Weise durch ihn sich äussert.


Das ältere und theilweis noch als Alterthum so fortbestehende Lustspiel
der modernen Völker hat etwas aufzuweisen, das sich dem Chor
der attischen Comödie wohl vergleichen lässt. Es ist diess die lustige
Person, der Pickelhering, der Hanswurst, der Clown (d. h. Bauer),
der Casperle, und wie sie sonst noch heisst. Zur eigentlichen Handlung
trägt auch sie in der Regel nichts bei: aber es ist ihr Geschäft,
wie das des attischen Chores, den Verlauf der Begebenheiten zwar
nicht im Gesange, aber sonst mit Spöttereien zu begleiten, die sie
entweder in unumwundener Schalkheit vorbringt, oder die auch ironischer
Weise eingekleidet sind in Plumpheiten und Dummheiten. Wie
gesagt, in der Handlung hat der Pickelhering der Regel nach wenig
zu thun: oft aber wendet er sich auch ganz aus ihr hinaus und redet
frischweg die Zuschauer an, um ihnen im Interesse des Dichters
Fingerzeige zu geben: er ist die Mittelsperson zwischen dem producierenden
Dichter und dem reproducierenden Publicum und führt
mitten in der Handlung für beide das Wort. Ein Deutscher, der sich
dieser lustigen Person mit besonderem Geschick bedient hat, Christian
Weise, sagt über deren Bedeutung: „Die Sache beruhet auf einer
also genannten Prosopopöia. Denn ein jedweder Mensch ist so gesinnet,
dass er über anderer Leute Verrichtungen sich verwundert, und
wo nicht öffentlich, dennoch im Herzen eine kleine Satyram darüber
machet. Absonderlich wenn etliche Personen auf dem Theatro vorgestellet
werden, so geschieht es darum, dass die Zuschauer sich |#f0237 : 224|

dabei verwundern und von der Sache selbst ernsthaft oder höhnisch
raisonnieren sollen. Damit nun den Leuten in solcher Verwunderung
gleichsam eine Secunde gegeben werde, so wird eine Person darzu
genommen, welche gleichsam die Stelle der allgemeinen Satyrischen
Inclination vertreten muss. Also trifft es sich unterweilen, dass eine
solche Person mitten in der Kurzweil die klügsten Sachen vorbringt.“


So viel von der Comödie. Jetzt zum Schluss noch Einiges über
einzelne Abarten und Ausartungen der dramatischen Poesie, welche
nicht mit in den Gegensatz von Tragödie und Comödie zu bringen
waren, und über die antiken und modernen Verschmelzungen und
Vermischungen dieser beider.


Schauspiel: mit dieser eigentlich ganz allgemeinen Benennung
bezeichnet man in neuerer Zeit all solche dramatische Dichtungen, die
in der Exposition und in der Verwickelung zu ernst aussehen, als
dass man sich getrauen möchte sie Comödien, und in der Auflösung
wieder zu heiter, als dass man es erlaubt hielte, sie Tragödien zu
nennen; nicht selten bedient man sich auch der ebenso allgemeinen
Bezeichnung Drama, wofür im sechzehnten Jahrhundert, bei Hans
Sachs, das Wort Spiel gebräuchlich war. Betrachten wir jedoch all
die zahlreichen Stücke näher, welche man mit diesen Namen belegt,
so werden wir alsbald innerhalb des weiten Raumes, den sie einnehmen,
zwei scharf genug bezeichnete Abtheilungen gewahren.


Ein Theil der sogenannten Schauspiele sind gradezu Trauerspiele,
sind Tragödien, nur mit der characteristischen Eigenthümlichkeit, dass
die Lösung des tragischen Widerspruchs innerhalb der Handlung selbst
erfolgt; dass, um mit Aristoteles zu sprechen, die Reinigung der Furcht
und des Mitleidens nicht bloss in uns als ein Ergebniss der Dichtung
liegt, sondern dass sich schon innerhalb der Tragödie selbst, und
zwar mit der abschliessenden Hauptbegebenheit der Gegensatz zwischen
den Bestrebungen der Menschen und der höheren Weltordnung
ausgleicht: die Empfindung der Wehmuth, mit welcher wir bis gegen
das Ende hin die Handlung begleitet haben, wird noch an diesem
Ende selbst und noch vor dem letzten Ende zum Frieden gebracht
und getröstet; denn wir erblicken da in einer concreten Bühnenbegebenheit
und nicht bloss in unserm Gemüthe den menschlichen Irrthum
in das göttliche Recht aufgegangen und den Zwiespalt beider
versöhnt und aufgehoben. Die Alten machten zwischen solchen Tragödien
und andern, welche mit der herbsten Dissonanz abschliessen
und deren Ausgleichung dann dem Zuschauer überlassen, billigerweise
keinen Unterschied in der Benennung, hiessen beides Tragödien.
Aeschylus nannte die Eumeniden sowohl eine Tragödie als den Agamemnon: |#f0238 : 225|

wir würden jene nur ein Schauspiel zu nennen wagen; und
ebenso würden wir den Philoctet des Sophocles, die taurische Iphigenie
des Euripides nicht Tragödie, sondern wiederum nur Schauspiel
betiteln; wie denn auch Göthe seine Iphigenie in der That so betitelt
hat. Und die Alten thaten daran ganz recht: denn es ist in der
Sache ganz das Gleiche, ob die erregte Wehmuth schon innerhalb
des Dramas selbst oder erst nach seiner Vollendung versöhnt wird.
Die Hauptsache ist beidemal da, erst die Wehmuth, dann deren Versöhnung.
Wir Neueren aber haben uns nach und nach in dem Wahne
befestigt, wenn eine Tragödie nicht auf eine gewaltsame Art schliesse,
wenn am Ende derselben nicht zum mindesten Eine Leiche auf der
Bühne liege, so sei sie auch keine Tragödie; und so haben denn die
Deutschen für dergleichen Stücke jene indifferenten Namen Schauspiel
und Drama erwählt, während die Franzosen im sechzehnten und
siebenzehnten Jahrhundert und damals zuweilen auch die Deutschen
nach einem noch unpasslicheren, dem Namen Tragicomödie, gegriffen
haben, wie z. B. Corneille für seinen Cid. Dieses Wort ist einmal
ebenso falsch gebildet, als wenn man Idolatrie sagt für Idololatrie: es
sollte Tragicocomödie heissen; sodann aber spricht es aus, dass hier
eine Vermischung tragischer und komischer Elemente stattfinde, was
nicht der Fall ist. Göthe hätte in der Iphigenie und im Torquato
Tasso wohl den Namen Tragödie wagen können, so gut wie Corneille
nicht angestanden hat, seinen Cid späterhin Tragödie zu überschreiben.


Schauspiele dieser Art gehören ganz in die Kategorie des heroischen
Trauerspiels. Andre, und deren ist weitaus die grössere Zahl, sind
dagegen mit dem bürgerlichen zusammenzustellen. So namentlich die
von Iffland und Kotzebue. Und hier wäre in den meisten Fällen der
Name der Tragicomödie schon weit eher an seinem Platze. Schon in
einem bürgerlichen Trauerspiel mit unglücklicher Katastrophe ist es
schwierig, den wahren Zwecken der Tragödie vollkommen zu genügen;
ein bürgerliches Stück aber, das nach einer sogenannten tragischen
Verwickelung glücklich endigt, muss nun gar untragisch ausfallen.
Von einem Widerstreben gegen das Schicksal und von einer Versöhnung
mit demselben kann da nicht wohl die Rede sein: es wird Alles
hinauskommen auf die Erbärmlichkeiten, womit sich die Alltagsmenschen
das Leben unter einander schwer machen, auf einen Kampf mit
Neid und Bosheit u. dgl., und die Versöhnung wird zuletzt darin
bestehn, dass der Held etwa alle Kabalen glücklich überwindet. Das
ist aber offenbar eine Wirklichkeit, die sich weit besser für die
Comödie schicken würde, für ihre Auffassung in Spott und Laune.
Der Missgriff hat sich auch dadurch gerächt, dass all solche Schauspiele |#f0239 : 226|

mehr oder weniger, stärker oder schwächer komisch gefärbt
sind: Iffland z. B. hat es nicht unterlassen können, es hat ihn so zu
sagen das künstlerische Gewissen dazu getrieben, in seine Jäger einige
Scenen und Situationen einzuschieben, die durchaus komischer Natur
sind; und der Held von Kotzebues Menschenhass und Reue brauchte
in Wort und That nur wenig verändert zu werden, um der Held eines
eigentlichen Lustspieles zu sein.


Und damit können wir zu einigen Bemerkungen über die wirkliche
Vermischung des Komischen und des Tragischen übergehn.


Bei den modernen Völkern begegnet uns dergleichen zuerst schon
im Mittelalter, als es wohl bereits Tragödien, aber noch keine selbständigen
Comödien gab. Da kam es auf, den heiligen Ernst der
Passionsdramen mit komischen Situationen und Reden zuerst nur ganz
äusserlich und mechanisch zu durchflechten, je mehr und mehr griff
diese Einmischung ungebührlich um sich, endlich mit dem Beginn der
neuen Zeit gieng daraus, indem das Komische sich selbständig machte,
auch eine neue, eigne Form der Kunst, die Comödie, hervor. In
Griechenland aber ist eine dem ähnliche Mischung beider Arten wo
nicht älter als deren Trennung, doch gewiss schon ebenso alt. Ich meine
das Satyrspiel. In ihm ward ein Versuch gemacht, den Zwiespalt
der beiden Arten des Dithyrambus einigend zu vermitteln, und das
geschah vielleicht, noch ehe man dazu gelangte, aus dem ernsthaften
die Tragödie, aus dem heiteren die Comödie zu entwickeln. Bekanntlich
galt die Blütezeit der griechischen Tragödie hindurch in Athen
die Uebung, wenn bei den tragischen Wettkämpfen der Dionysusfeste
ein Dichter eine zusammenhangende Dreiheit von Tragödien, eine s. g.
Trilogie, vorführte, noch als viertes ein Satyrspiel beizugeben, wodurch
die Trilogie zur Tetralogie wurde: das heisst, grade wie man innerhalb
der Tragödie dem Volke zu Liebe noch den alten dithyrambischen
Chor beibehielt, so liess man auch neben derselben, wenn schon untergeordnet,
das alterthümliche Satyrspiel hergehn; das Alte ward aus
Rücksichtnahme bewahrt, aber in den Hintergrund geschoben. Es ist
zu bedauern, dass von den Satyrspielen des Aeschylus keines mehr
vollständig auf uns gelangt ist: bei ihm, der noch am Anfang der
ausgebildeten Tragödie steht, und der zugleich als Meister im Satyrspiele
gerühmt wird, würde sich gewiss am deutlichsten zeigen, wie
beide Dichtungsarten sich unter einander und rückwärts zum Dithyrambus
verhalten. So aber besitzen wir überhaupt nur noch ein einziges,
und diess grade von der dritten, schon abwärts leitenden Stufe
des griechischen Dramas: den Cyclops des Euripides. Indessen so
viel sieht man auch aus diesem noch, wie das ποίημα σατυρικὸν eine |#f0240 : 227|

beinah unvermittelte Mischung von Tragik und Komik war, und zwar
in der Weise, dass sich die Tragik wiederum auf der mehr epischen,
die Komik auf der lyrischen Seite hielt: es wird im Cyclops, und es
ward, so weit unsere Nachrichten gehn, überall im Satyrspiel eine
ernste aus der Götter- oder Heldensage entlehnte Handlung begleitet
von den muthwilligen Scherzen eines Satyrchors; eben wie beim Dithyrambus
der episch erzählende Vorsänger in der Mitte gestanden hatte
eines ihn umtanzenden Chores von Sängern in Bocksfellen.


Sodann die neuere Zeit, das letzte Jahrhundert. Man fühlte sich
getrieben doch auch etwas für die Weiterförderung der Kunst zu thun.
Eine neue Dichtungsart über das Drama hinaus war aber nicht mehr
zu erfinden: mit ihm war einmal der Kreis der Entwickelung für immer
abgeschlossen. Es blieb also nur übrig, dasjenige, was fertig und
vorhanden da lag, hier zu spalten, dort zu verbinden. Und so ward
denn auf der einen Seite von der Tragödie das sogenannte Schauspiel
abgesondert; auf der andern aber mussten Tragik und Komik von
Neuem in einander fliessen. Wir haben eine solche Verschmelzung
vorher schon als beinahe unvermeidbar wahrgenommen an einem Theile
der sogenannten Schauspiele. Es sind jedoch diese nur eine Abart
des bürgerlichen Trauerspieles, und so überwiegt natürlich in ihnen
das tragische Element, und das Komische zeigt sich nur mit einer
gewissen Schüchternheit, oft sogar wider eigenes Wissen und Wollen
des Dichters. Dem gegenüber nun bildete sich eine andere Mischung,
in der das Komische die Oberhand behauptet; bildete sich eine Art
von Lustspiel, bei der es zwar im Ganzen auf Zweck und Wesen der
Comödie abgesehen ist, in die aber dennoch vorübergehend auch das
Tragische Eingang gewinnt durch Situationen, die eine Rührung
erwecken nach Art der tragischen Wehmuth. Es ist diess das rührende
Lustspiel
1, das wir Deutschen Lessingen verdanken, er den
Engländern und namentlich Diderot. Natürlich ist es in vielen Fällen
schwer, das rührende Lustspiel, die tragisch gefärbte Comödie, streng
zu sondern von dem bürgerlichen Schauspiel, der komisch gefärbten
Tragödie; wie denn auch Lessings Lustspiel Minna von Barnhelm zuletzt
ebensowohl zu den Schauspielen könnte gerechnet werden. Sie müssen
aber leicht in einander laufen und sich vermischen, da sie selber nur
Mischungen sind. Aus der Litteratur streichen kann man diese bürgerlichen
Schauspiele, diese rührenden Lustspiele nicht: sie sind einmal
vorhanden, sind eine Thatsache, die man als solche anerkennen muss.
Aber es ist Vieles in der Geschichte, das man nicht ableugnen kann,

1
Vgl Gellert, Pro comoedia commovente commentatio, Lips. 1751.
|#f0241 : 228|

ohne dass man doch sich daran freuen möchte. So ists auch mit dergleichen
Dramen: für den, der sich nicht bloss durch Rührung will
amüsieren lassen, sind sie neben so vielem Andern nur ein trauriges
Merkmal mehr von dem nicht ganz natürlichen und nicht ganz gesunden
Leben unserer neueren Litteratur. Allerdings kommt dergleichen
Mischung von Tragödie und Comödie scheinbar bereits viel früher und
in ganz anderer Zeit vor: man kann sich auf die Engländer des sechzehnten
Jahrhunderts, kann sich auf die Blütezeit der indischen Bühne
berufen. Indessen die scheinbare Komik, welche Shakspeare und
Kalidasa in ihre Tragödien verflechten, ist wahrlich kein blosser Ausdruck
des Spottes und der Laune, ist in der That gar keine Komik:
dem aufmerksamen Betrachter zeigt sich vielmehr in all dem der
Humor und die Ironie, die in der reinen Tragödie nicht bloss zulässig
sind, sondern sogar zu ihrer höchsten Vollendung dienen.


Nächst dem bürgerlichen Schauspiel und dem rührenden Lustspiel
hat endlich noch eine reiche und weitausgedehnte Abart der dramatischen
Poesie ihren Ursprung erst in der modernen Welt gefunden:
das Singspiel in all seinen mannigfaltigen Formen. Griechenland
wusste von keinem eigenen Singspiele, weil es auch von keiner gesanglosen
Tragödie oder Comödie etwas wusste: wie die epischen Aöden
eben Aöden waren d. h. Sänger; wie auch noch die Homerischen
Rhapsodien immerfort mehr gesungen wurden als gesprochen; wie es
da keine Lyrik gab ausser im Gesange zur Lyra: so gehörte auch
zum Drama, das ja aus dem lyrisch-epischen Gesange des Dithyrambus
seinen Ursprung genommen hatte, wesentlich und untrennbar der
musikalische Vortrag und, was wieder mit diesem durch das gemeinsame
Gesetz des Rhythmus verbunden war, der Tanz; diess beides
in den Chören: aber selbst der Dialog ist wohl nicht in der gewöhnlichen
Haltung der Stimme gesprochen worden, sondern wie eben die
Homerischen Rhapsodien mehr recitativartig gewesen. Auch die geistlichen
Spiele des Mittelalters waren reich an Gesang sowohl einzelner
Personen als ganzer Chöre; erst mit dem sechzehnten Jahrhundert,
wo überhaupt die Poesie sich von der Musik trennte, verschwand der
Gesang auch von der Bühne; obschon nicht plötzlich, nur nach und
nach: von Jacob Ayrer giebt es noch ganze Dramen, die durch und
durch sind gesungen worden; zwar in ziemlich roher und kunstloser
Weise: sie sind nämlich strophisch abgefasst nach Massgabe bekannter
Volkslieder, deren Melodie dann sich von Anfang bis zu Ende immer
und immer wiederholt. Wie in Deutschland, so gieng es zur selben
Zeit auch in anderen Ländern: überall hat sich die neuere Tragödie
und Comödie gleich von vorn herein gesanglos ausgebildet. Nur in |#f0242 : 229|

Italien blieb noch eine Erinnerung an den alten Zusammenhang der
Kunst des Wortes und der Kunst des Tones, und ein Bedürfniss,
diesen Zusammenhang nicht gänzlich fallen zu lassen. Zwar gab es
auch da Tragödien und Comödien ohne Musik, ohne Gesang und
Tanz; aber daneben verlegte man sich mit allem Fleiss und Eifer
auch noch auf Dramen mit Musik und Tanz, auf Tragödien, die gänzlich,
auf Comödien, die zum grösseren Theil für den musikalischen
Vortrag bestimmt waren: kurz auf Singspiele, auf Opern und Operetten
(opera s. v. a. δρᾶμα). Von Italien aus hat sich dann das Singspiel
nach und nach auch in das übrige Europa verbreitet.


Weil nun aber diese musikalischen Dramen einmal in einer Art
von Gegensatz stehn zu den unmusikalischen, so ist es in ihnen auch
zu einer ganz anderen Behandlung des dramatischen Stoffes gekommen.
Im antiken Drama war die Musik der Poesie höchstens nebengeordnet,
wo nicht untergeordnet: in der Oper macht sich jene zur Hauptsache,
zur Herrin; die Poesie dient ihr nur noch; bei der ganzen Disposition
des Stoffes werden vor allen Dingen die Bedürfnisse und der Vortheil
der Musik ins Auge gefasst, und auch bei der weiteren Ausführung
sollen die Worte eben nur eine nothdürftige Grundlage sein für die
Pracht und Zierlichkeit des musikalischen Gebäudes. Eine nothwendige
Folge dieses Verhältnisses ist, dass die Oper überall einen viel
lyrischeren Character hat; dass sich hier das Drama beinahe gar zu
deutlich zergliedert in eine nur obenhin episch angeordnete Reihe von
lyrischen Zuständen; dass die aneinandergereihten Situationen zwar
den Agierenden jedesmal zu dem vollsten musikalischen Ausdruck
ihrer Empfindung Gelegenheit geben, ihr dichterischer Zusammenhang
aber ein höchst lockerer, ihr dramatischer Verlauf nur leicht und
oberflächlich skizziert ist; es bewährt sich darin die natürliche Verbindung,
die zwischen der lyrischen Poesie und einer kunstmässigeren
Musik besteht.


Eine andere Folge, die zwar nicht grade so nothwendig ist, aber
doch als schwer vermeidbar gewöhnlich eintritt, ist die Kunstlosigkeit der
Operntexte, das Unpoetische des poetischen Theiles. Dichter und Musiker
werden, wenn jeder etwas Rechtes leisten will, einander meist unbequem:
den Dichter beengt die Suprematie, die der Componist anspricht;
der Componist will nichts wissen von der Nebenbuhlerschaft des Dichters.
Und so mögen sich nur solche zu Operndichtern hergeben, und
die Componisten wollen auch nur solche, die eben nicht viel von
Poesie in sich tragen. Grade bei den vorzüglichsten Opern darf man
auf den Text nur ja nicht achten: er wird immer der leerste und
albernste sein: ich erinnere des Beispiels wegen nur an die Zauberflöte; |#f0243 : 230|

während Göthens Singspiele zwar componiert worden sind, aber
die Musik dazu längst hat in Vergessenheit gerathen können. Eine
Ausnahme macht Richard Wagner, der seine Operntexte selbst zu
verfassen pflegt. Was somit der Oper an Poesie gebricht, sucht sie
nun auf einer anderen Seite zu ersetzen: die Malerei, die Mechanik
mit all ihren Künsten werden zu Hilfe gerufen, um die Sinne zu
reizen, um durch allerlei Ueberraschungen den Geist gefangen zu
nehmen und von höheren Anforderungen abzuziehn. Wie A. W.
von Schlegel treffend sagt: „Die Anarchie der Künste, da Musik,
Tanz und Decoration sich gegenseitig zu überbieten suchen, ist das
eigentliche Wesen der Oper.“ Auf sie haben deshalb selbst die strengsten
Theoretiker die beliebte Lehre von den drei Einheiten nicht
anwenden mögen, wenigstens sie bei ihr niemals durchgesetzt, wenn
schon namentlich ernsthafte Opern dieselben gern beobachten.


Jetzt sind nur noch einige andere Arten dramatischer Poesie zu
nennen, die sich auch, da in ihnen gleichfalls das poetische Element
mit dem musikalischen verschmolzen oder verbunden ist, mit unter
die allgemeine Art des Singspiels einordnen lassen.


Zuerst das Vaudeville. Mit diesem Namen bezeichnet man in
Frankreich Dramen von geringerem Umfange und meist komischer
Art mit eingelegten einzelnen Arien und Chören: der Form nach sind
sie eine Rückkehr zu der Art der geistlichen Schauspiele des
Mittelalters.


Sodann das Melodrama. So heissen Tragödien oder Schauspiele,
in denen zwar nicht gesungen, aber der Dialog von Instrumentalmusik
stellenweis begleitet und unterbrochen wird. Eine Nebenart
bildet das Monodrama, das zuerst durch J. J. Rousseaus Pygmalion
ist aufgebracht worden: es besteht in einem dramatisch gehaltenen
Monolog, der von Musik begleitet wird. In Deutschland war eine der
ersten und lange Zeit auch beliebtesten Nachahmungen dieser Art die
Ariadne auf Naxos, welche der Schauspieler Joh. Christian Brandes
1774 als Glanzrolle für seine Frau verfasste. Die Grundlage dieses
Monodramas bildet Gerstenbergs gleichnamige Cantate; in Musik gesetzt
wurde es von G. Benda. Jetzt ist dieses Zwittergeschöpf der dramatischen
Poesie von der Oper verschlungen.


Endlich die Cantate und deren Unterart das Oratorium. In
der Cantate zeigt sich das Lyrische des Singspiels auf die höchste
Höhe gesteigert und das Epische gänzlich untergeordnet, nur verloren
in leichte Umrisse, wie denn auch die Handlung überall nicht theatralisch
dargestellt, sondern nur vorausgesetzt und es dem Hörer überlassen
wird, sich dieselbe hinzuzudenken. Deshalb hat die Cantate |#f0244 : 231|

kaum mehr etwas Dramatisches, sondern ist beinahe nur noch eine
grössere lyrische Dichtung, die sich in verschiedenen Gliedern und
in mannigfaltigen Formen der musikalischen Composition entwickelt.
Cantate ist der allgemeine Name dieser Dichtungsart; hat sie geistlichen
Inhalt, und ist sie zugleich mehr in die Länge und Breite,
nämlich mit noch reicherer Lyrik ausgeführt, so heisst man sie nach
dem Vorgange der Italiäner Oratorium. Deutsche Cantaten und Oratorien
haben wir von namhaften Dichtern, von Ramler, Wieland,
Gerstenberg, Herder und andern: allerdings konnten sie sich dazu
eher verstehen, da hier beinahe reine Lyrik verlangt wird, und keine
Anforderungen an dramatische Kunst auf eine solche Weise und unter
Umständen gemacht werden, die jeden rechten Dichter, wie bei der
Oper, abschrecken müssen.

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|#f0246 : E233|

RHETORIK. |#f0247 : E234|
|#f0248 : E235|


Rhetorik ist schon seit lange ein Wort von sehr unbestimmtem
und wandelbarem Begriffe, bald von sehr eingeschränktem, bald wieder
über das Mass ausgedehntem Sinn. Die Alten verstanden demgemäss,
dass ῥήτωρ einen Redner und einen Lehrer der Beredsamkeit
bezeichnet, darunter auch nur die Kunst und Lehre der Beredsamkeit;
und so fasste sie Aristoteles, der wie der Vater der Poetik, so auch
der der Rhetorik zu nennen ist. Ganz entsprechend nun dem Zwecke,
dass die Rhetorik zur vollständigen und erschöpfenden Bildung und
Unterweisung von Rednern dienen sollte, zogen die Alten ausser dem,
was den Redner ins Besondere angeht, auch Vieles mit hinein, was
die Kunst des Redners mit der jedes andern Prosaikers und selbst
der des Dichters theilt, allerlei Dinge, die überhaupt zu jeglicher
Darstellung durch das Wort gehören: sie lehrten also in der Rhetorik
nicht bloss den Bau der „Rede“ und die Mittel, die zu den verschiedenen
Zwecken derselben führen, sondern sie gaben da zugleich auch
Anweisungen in Bezug auf Richtigkeit und Schönheit des Ausdrucks,
auf Periodenbau, auf wohllautende Gliederung der Worte, auf Ausschmückung
durch uneigentliche und bildliche Wendungen, kurz in
Bezug auf allerlei Dinge, die ihren Ort ebensowohl in einer philosophischen
Abhandlung, in einer historischen Darstellung und in jedem
epischen und lyrischen und dramatischen Gedichte haben, als grade
bloss in der Rede: sie schlossen in die Rhetorik auch die Stilistik
ein, aber nicht, als ob nur der Redekünstler sie brauche, sondern
weil er sie auch braucht. Wenn sie es für nöthig befunden hätten,
einmal eine Historiographik abzufassen, würden sie die Stilistik ebensowohl
mit hineingezogen haben; und Aristoteles hat auch in seiner
Poetik wirklich einige stilistische Abschnitte.


Die neuere Zeit hat sich durch diese Verbindung von Rhetorik
und Stilistik, die man einmal in den griechischen und lateinischen
Lehrbüchern vorfand, und die auch in deren Zwecken gar wohl begründet
war, nach zwei Seiten hin auf Irrwege verleiten lassen. Die
Einen nehmen deshalb, weil jene stilistischen Gesetze und Regeln ihre
Anwendung eben auch auf den poetischen Vortrag finden, das Wort
Rhetorik in einem so weit ausgedehnten Begriffe, dass es wirklich |#f0249 : 236|

und ausdrücklich auch den poetischen Vortrag mit in sich befasst,
dass Rhetorik nun die Kunst der Rede überhaupt bedeutet, im allgemeinen
Sinne des Wortes, die Kunst sowohl der prosaischen als der
poetischen Darstellung, nicht bloss der prosaischen des Redners.
Andere dagegen beschränken sich zwar bei der Rhetorik dem Vorgeben
nach auf die prosaische Darstellung, theilen dann aber doch alle jene
stilistischen Regeln gleichfalls mit, als hätten sie ihre Geltung nur
für die Prosa, nicht auch ebensowohl für die Poesie; und doch haben
viele, sehr viele dieser Regeln ihre Geltung sogar nur für die Poesie
und können auf die Prosa niemals angewendet werden. Letztere Art,
den Begriff und die Bestimmung der Rhetorik aufzufassen, ist die
gewöhnlich gangbare; man findet sie nicht allein in solchen Lehrbüchern,
die bloss die Rhetorik, sondern auch in solchen, die beides
neben einander, Poetik und Rhetorik abhandeln, wo also schon diese
Zusammenstellung hätte darauf können aufmerksam machen, welch
ein gedankenloser Missgriff es sei, die allgemeinen Lehren der Stilistik
unter die einseitige Theorie der Prosa zu mischen. Wie gross die
Verwirrung sei, die dadurch überall in die letztere gekommen ist,
davon kann man sich überzeugen, sowie man auch nur das Inhaltsverzeichniss
irgend einer der gangbaren Rhetoriken überliest, wie da
solche Rubriken, die zur Theorie der Prosa insbesondere gehören, und
solche, die allgemein stilistischen Inhaltes sind, in der buntesten
Unordnung durcheinander laufen.


Wir nun wollen die Rhetorik in der Weise behandeln, dass wir
darunter zwar mehr als die blosse Theorie der Beredsamkeit verstehn,
aber nicht mehr als die Theorie der Prosa. Wie also die Poetik
die Theorie der Poesie ist, so fassen wir die Rhetorik als die Theorie
der Prosa. Freilich ist diese Ausdehnung und Festsetzung in der
Etymologie des Wortes ganz und gar nicht begründet: aber es giebt
kein anderes, alt überliefertes, welches das Rechte besagte; daher
schliessen wir uns in diesem einen Stück an das Beispiel und den
Vorgang der erwähnten neueren Rhetoriken an. Alles aber, was über
den besonderen Bereich der Prosa hinaus auf dem Gebiete liegt, in
welchem Poesie und Prosa sich begegnen, auf dem des Stiles, alle
Regeln der Darstellung, die beiden Darstellungsweisen gemeinsam
sind, behandeln wir nach Abschluss der Rhetorik unter dem Namen
der Stilistik.

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I. VON DER PROSA IM ALLGEMEINEN.


Grade gegenüber wie ein Pol dem andern steht der Poesie die
Prosa. Sie ist der sprachliche Ausdruck für die Anschauungen, deren
Subject der Verstand ist und deren Object das Wahre, eben der
Verstand, der bei den Productionen der Poesie nur im Hintergrunde
steht, und eben das Wahre, das die Poesie nur in so fern in sich
aufnimmt, als es auch schön ist. Sie ist die Form, in welcher der
Verstand, das Organ des Wissenstriebes, seine Erfahrungen und
Urtheile, seine Erkenntniss niederlegt und darstellt, darstellt zu dem
Zwecke, dass auch bei der Reproduction es wiederum der Verstand
sei, der sich thätig erweise, dass dieser zu der gleichen Erkenntniss
gelange. In so fern ist der allgemeine Character der Prosa das Lehrhafte,
sie hat didactische Natur. Die Poesie richtet sich auf das
Gute und auf das Wahre, nur insofern es schön ist, weshalb denn
auch die didactische Poesie ohne Mitwirkung des Gefühles und der
Einbildungskraft nicht bestehen kann. Die Prosa dagegen bedarf solcher
Mitwirkung und Vermittelung nicht, sie wendet sich lediglich
und gradeswegs vom Verstande zum Verstande, und nicht immer ist
das, was der Verstand als wahr erkennt, auch schön und gut; wo
es aber schön und gut ist, macht er es doch nicht deswegen zum
Object seiner Anschauung, sondern weil es vor allen Dingen wahr ist.


Die Prosa, die Sprache des Verstandes, ist also die Darstellung
des Guten und Schönen, insofern es wahr ist, und des Wahren, auch
wenn es nicht gut und schön ist. Deshalb bedarf denn auch
die prosaische Sprache nicht derselben Schönheit der Form als die
poetische. Nur in der Poesie, nur da, wo eine Anschauung des
Schönen darzustellen ist, muss auch über der Sprache das Gesetz der
Schönheit walten, welches Einheit in Mannigfaltigkeit fordert; nur
da bedarf es der rhythmischen Gliederung der Rede zu Versen und
der Vereinigung der Verse zu Strophen. Dem Verstande dagegen
kann es in der Form der Darstellung auch nur auf Verständlichkeit,
auf Deutlichkeit ankommen, mehr will er nicht, auf Schönheit der
Rede geht er nur in so fern aus, als sie zur Deutlichkeit frommt und
das Verständniss erleichtert; die Rede des Verstandes wird zwar niemals,
wenn sie eine gebildete ist, den Wohlklang ausser Acht lassen,
aber nur weil bei dem innigen Zusammenhange der Sinne und der
Seele der Verstand bereiter und willfähriger ist, eine ihm dargebotene
Erkenntniss in sich zu reproducieren, sobald sie ihm auf eine |#f0251 : 238|

den Sinnen wohlthuende Art dargeboten wird. Nur in dieser beschränkten
und bedingten Weise ist auch hier von künstlerischer Behandlung,
von Kunst der Rede zu sprechen. Aber bis zu jener, der poetischen
Rede eigenthümlichen Fülle und Höhe des Wohlklanges, deren Grund
tiefer liegt als bloss in dem Zwecke den Sinnen zu schmeicheln,
erhebt sich die Rede des Verstandes nicht: sie ist eben prosa, oratio
prosa
d. h. prorsa, proversa d. h. sie geht vorwärts, ohne dass sich
die gleiche rhythmische Gliederung wiederholt, und die Rede gewissermassen
in sich selbst umkehrt, während die poetische Rede oratio
vorsa
heisst: der gebundenen Rede, oratio alligata metris (oratio ligata
ist ein unclassischer Ausdruck), steht die ungebundene, soluta, gegenüber.
Diese und keine andere Form verlangt der Verstand, wo er
spricht und zum Verstande spricht: und diese Form verlangt und duldet
auch wieder keinen anderen Inhalt als einen solchen. An rein
verständigen Lehrgedichten ist die poetische Form ebensowohl ein
Fehler als an einem Drama die prosaische: beidemal ist ein Missverhältniss,
das den organischen Zusammenhang, der zwischen Inhalt
und Form stattfinden sollte, aufhebt. So viel von der Prosa im Allgemeinen
und über ihre Unterschiede von der Poesie.


Nun ist vom Alter und Ursprung der Prosa zu sprechen. Bei
der Gelegenheit wird sich auch gleich ergeben, in wie viele und welche
Hauptarten die prosaische Rede zerfalle.


Die Prosa ist überall, bei allen Völkern und in allen Epochen
der Weltgeschichte jünger als die Poesie. Natürlich ist diess nur in
so fern zu sagen, als wir die Litteratur ins Auge fassen und nur von
der litterarischen Anwendung der einen und der anderen Form sprechen.
Sonst ist freilich die Prosa gewiss älter, und die Menschen werden
sich gewiss eher in Prosa unterhalten als Verse verfasst haben. Indessen
davon sehen wir hier billig ab; wir nehmen die Prosa als eine
mit bewusster Absicht zu litterarischen Zwecken gehandhabte Form
der Darstellung, als die Form der zweiten Art von Litteratur nächst
der Poesie. Und so aufgefasst ist die Prosa allerdings die jüngere
Schwester oder noch lieber die Tochter der Poesie. Ueberall sind
Jahrhunderte vergangen, eh man zu ihr gelangt ist; ja es giebt Völker,
alte Völker, die noch jetzt immer keine Prosa besitzen. Die
Prosa stellt sich immer erst dann ein, wenn ein Volk aus dem Zustande
unbefangener Einfachheit in das bewusstere Leben einer künstlichen
Civilisation übergeht; bis zu diesem Puncte ist ihm und wird
ihm Alles Poesie: die Geschichte kennt es nur noch als Sage, d. h.
es forscht nicht in den Ereignissen der Vorzeit nach der nackten und
dürren Wahrheit, sondern es behält von ihnen nur die poetisch umkleidete |#f0252 : 239|

Idee in ihrer lebendigen Schönheit; die Sage aber, dichterisch
in ihrem Wesen, zeigt sich auch in der Form dichterisch, als Lied,
als Gesang, und es gilt für diese Zeit von allen Völkern, was Tacitus
(Germ. 2) von den Germanen sagt: „Carmina antiqua unum apud illos
memoriae et annalium genus.“ Selbst der Verstand geht jetzt noch
mehr oder weniger in die Poesie unter: er giebt seinen Lehren eine
solche Beziehung auf Einbildung und Gefühl, wodurch sie auf das
Gebiet der poetischen Anschauungen oder doch wenigstens an dessen
Grenze versetzt werden, wie das früherhin bei der didactischen
Epik und der didactischen Lyrik ausführlich ist besprochen worden
(S. 100. 153); und wo das nicht gelingt, muss sich die Lehre dennoch
wenigstens die poetische Form gefallen lassen: so wenig ist man
jetzt noch mit einer andern Art der Darstellung bekannt: in dieser
Zeit werden denn z. B. selbst die Rechtssatzungen metrisch und immerhin
mit einer gewissen poetischen Färbung des Ausdrucks abgefasst,
wie das von griechischen und keltischen Völkern mehrfach berichtet
wird, und wie von germanischen noch genug der Art sich erhalten hat.


Allgemach wird aber der Wendepunct erreicht: dem Verstande
kommt endlich das Bewusstsein, was in der Litteratur sein Recht und
seine Sache sei: er ärgert sich an dem, was die Phantasie aus der
Geschichte gemacht hat, er stösst sie zurück und will nur noch mit
der unschuldigen Erinnerung zu schaffen haben; er verschmäht von
der Geschichte nichts, da es ihm nur auf Wahrheit ankommt: so
häufen sich die Nachrichten, und zugleich mit der Nothwendigkeit
einer bequemeren und kunstloseren Darstellungsweise kommt die Einsicht,
dass eine solche auch passlicher sei; so erwächst denn aus
der epischen Poesie die Eine Art der Prosa, die erzählende, historische.
Auch in der didactischen Poesie stellt es sich immer mehr
heraus, wie wenig angemessen und auch wie hemmend die dichterische
Auffassung und Darstellung in den meisten Fällen sei, wie viel kürzer
sich das Eine geben, wie viel genauer sich das Andere ausführen, wie
viel deutlicher und verständlicher sich also beidemal reden lasse, wenn
man die prosaische Form erwähle; das Staatswesen, das gesellschaftliche
Leben wird immer verwickelter, vielleicht auch die Sittenverderbniss
immer grösser, da genügt es nicht mehr an den wenigen
alten Satzungen in metrischer Form, man braucht jetzt viele, mit
vorsichtiger Ausführlichkeit abgefasste: und so schliesst sich denn an
die didactische Poesie die didactische Prosa.


Noch ein äusserer Umstand ist nicht zu übersehen, der überall
das Seinige dazu beigetragen hat, die Ausbildung der Prosa, sowohl
der historischen als der didactischen, zu unterstützen und zu beschleunigen: |#f0253 : 240|

der Gebrauch der Schrift, der in diesen Zeitaltern der gehobenen
Civilisation sich immer weiter ausbreitet. Wenn man früher auch
bereits die Schrift gekannt hatte, so war man doch zu wenig vertraut
mit ihr und war schon dadurch genöthigt, Erzählungen und Lehren,
die man wollte aufbewahrt wissen, der für das Gedächtniss bequemeren
poetischen Darstellung zu überlassen; auf der andern Seite war
es dann eine natürliche Rückwirkung, dass die Schrift wieder nicht
in rechten Gebrauch kam, weil man Alles eben auch sonst recht wohl
behalten konnte. Ein entsprechendes Verhältniss von Wirkung und
Rückwirkung zeigt sich nun auf der Stufe höherer Bildung zwischen
Schrift und Prosa Die Schrift ist gebräuchlicher, und damit wird
die Prosa möglich, deren Aufbewahrung man nicht so getrost dem
blossen Gedächtnisse anheimgeben kann; die Prosa ist da, und damit
wächst das Bedürfniss, sich der Schrift zu bedienen.


Historische und didactische, erzählende und lehrende Prosa, das
sind die beiden Hauptarten, in welche diese zweite Form der Darstellung
durch das Wort zerfällt. Anfangs- und Endpunct ist beidemal
der Verstand, Zweck beidemal Production und Reproduction einer
Erkenntniss des Wahren. Inwiefern jedoch auch den beiden andern
Kräften, der Einbildung und dem Gefühl, immer noch ein gewisser
Antheil, und welcher Antheil ihnen könne eingeräumt werden, das
wird sich besser bei näherer Erörterung der beiden Arten besprechen
lassen, zu der wir jetzt übergehn wollen.


II. VON DER PROSA IM BESONDERN.

1. DIE ERZÄHLENDE PROSA.


Die erzählende Prosa schliesst sich also an die epische Poesie;
aber sie ist nicht bloss darauf gefolgt, als das Spätere auf das Frühere,
sondern sie ist eigentlich daraus hervorgegangen, ist eine auf
dem Gebiete des Verstandes unternommene Fortsetzung dessen, was
der menschliche Geist vorher auf dem Gebiete der Einbildung versucht
hatte. Bei solchem inneren Zusammenhange kann aber der Uebergang |#f0254 : 241|

des Einen in das Andere nicht urplötzlich und ohne alle Vermittelung
stattgefunden haben, so wenig als innerhalb der Poesie eine
Dichtungsart unmittelbar auf die andere gefolgt und gleich in ihrer
reinsten Ausbildung aus derselben und hinter derselben hervorgesprungen
ist. Sondern wie schon in der Poesie selbst, so giebt es auch zwischen
der Poesie und der Prosa, hier also zwischen der erzählenden
Poesie und der erzählenden Prosa Mittelarten und Uebergangsstufen.
Besonders klar ist diess nachzuweisen in der deutschen Litteratur,
wo einmal die Geschichtsschreibung schon innerhalb der Epik beginnt,
und dann wieder die Epik noch fortreicht bis in die Geschichtsschreibung.
Nämlich so: der Verfall der epischen Poesie wird in Deutschland
dadurch bezeichnet, dass ziemlich zahlreiche Werke entstehn,
die mit der epischen Poesie zwar die Form, aber sonst nicht viel
gemein haben, indem ihren Inhalt baare, unpoetische Geschichte bildet:
seit dem Ende des elften Jahrhunderts gab es zahlreiche Chronikwerke
in Versen und Reimen. Auf der andern Seite aber beginnt die erzählende
Prosa mit Schriften, die wiederum mehr nur der Form nach
als durch ihren Inhalt der Prosa angehören: denn auch die Geschichtsschreibung
kennt in ihren Anfängen noch beinahe ebenso wenig als
vorher die epische Poesie einen Unterschied zwischen Geschichte und
Sage, und an ihren Productionen haben Phantasie und Gemüth noch
reichlichen Antheil neben dem Verstand; und ausser der eigentlichen
Geschichtsschreibung entwickelt sich noch eine Art von erzählender
Prosa, in der gradezu und absichtlich Phantasie und Gemüth denselben
Rang einnehmen und einnehmen sollten als im Epos, so dass, streng
genommen, die prosaische Form hier durchaus eine Ungehörigkeit ist:
das ist der Roman. Der Roman ist im Grunde nur ein prosaisches
Epos, wie denn auch die ältesten Romane sowohl bei uns als bei
anderen Völkern des Mittelalters wirklich nichts weiter sind als prosaische
Umgestaltungen älterer Heldengedichte, und in so fern bezeichnet
der Roman noch viel mehr den Untergang der epischen Poesie als den
Beginn der erzählenden Prosa.


Bei den Griechen lässt sich ein solches Vorahnen der historischen
Prosa und solch nachhaltiges Fortwirken der epischen Poesie nicht
so deutlich nachweisen, wie bei uns und wie sonst bei den neuern
Völkern am Ende des Mittelalters. Es giebt nicht genug Documente.
Indessen so viel weiss man doch, dass Herodot zwar der Vater der
griechischen Historiographie gewesen, dass er aber doch seine Vorgänger
hatte, die nach Allem, was man von ihnen kennt, an Phantasie und
an gläubigem Auffassen von Mythen und Sagen noch nicht weit über
die epische Poesie hinaus waren, Pherecydes, Hecataeus u. a. Die |#f0255 : 242|

Anfänge des Romans aber liegen bei den Griechen weit hinter denen
der Geschichtsschreibung.


Mit dem Bisherigen sind bereits die zwei Arten der erzählenden
Prosa bezeichnet, von denen wir nun noch ausführlicher zu
sprechen haben: die Prosa der Geschichtsschreibung und die des
Romans.


Zuerst reden wir von der Geschichtsschreibung.


Einen Historiker machen zweierlei Dinge, erstens das Erforschen
und Erkennen der geschichtlichen Wahrheit und zweitens die Darstellung
des als wahr Erkannten, die Mittheilung desselben zum Behufe
der Reproduction. Also Forschung und Darstellung, und jene muss,
wie schon der Name ἱστορία, d. h. Forschung, beweist, immer vorangehn.
Ganz anders die früher geübte Epik. Die Sage und die mit
ihr verbundene Poesie haben mit den forschenden Untersuchungen des
Verstandes nichts zu thun: ihre Darstellung wird von der Einbildungskraft
getragen. Denn auch die Stellung zur Idee ist eine ganz verschiedene.
Jede Sage, jedes Epos drückt irgend eine in der Geschichte
sich offenbarende Idee aus; aber sie rücken diese Idee in das Gebiet
der Einbildungskraft, und von diesem Standpuncte beschauen sie die
Thatsachen, in denen sich die Idee offenbart hat: da muss denn die
Wahrheit aufgehn in die Schönheit; da fällt denn fort, was zu viel
ist und die einheitliche Anschauung der Idee behindert, und die Phantasie
fügt wieder aus freier Erfindung hinzu, um die Anschauung auch
zu schöner Mannigfaltigkeit zu beleben; und, was geschehen muss, damit
es möglich werde fortzulassen und hinzuzufügen, selbst die verbliebenen
und nicht erfundenen Thatsachen werden oft mit der grössten
Kühnheit der Phantasie umgebildet. So verfährt die Sage, so verhält
sie sich zur gemeinen Wirklichkeit und zu der darin wahrgenommenen
Idee. Wie nun aber die Geschichtsschreibung? Allerdings wird sich
auch der rechte Historiker niemals der idealen Richtung entschlagen:
auch er wird in der Geschichte, die ihm vorliegt, eine leitende und
belebende göttliche Idee zu erkennen suchen, sie wird auch ihm
Anfang und Ende der Production und der Reproduction sein: aber,
und darin beruht der Unterschied, er sieht ihre Offenbarung nicht im
Schönen, sondern im Wahren; er betrachtet die historischen Thatsachen,
über denen sie schwebt, von der Seite des Verstandes her,
nicht von der der Einbildung: er verschmäht wenigstens alles schöpferische
Zuthun derselben, alles Zuthun der Phantasie, und er duldet nur
die Dienste der Erinnerung, die so vereinzelt der verständigen Erkenntniss
unschädlich, ja beförderlich und unentbehrlich ist; er verwirft keine
Thatsache deshalb, weil sie etwa die Idee verdunkelt; er erfindet auch |#f0256 : 243|

keine, damit sie die Idee in ein helleres Licht setze: da braucht er endlich
auch nichts umzugestalten, sondern gestaltet nur, bildet nur nach, was
er vorfindet, und bevor er es nachbildet, prüft er, ob er auch das Wahre
vorgefunden habe. Aber, wie gesagt, bei all dieser resignierenden Treue,
all diesem rein verständigen Forschen wird ein rechter Historiker immerfort
auch auf die Idee sein Auge richten: er wird sich fort und fort
bemühen, sie zu erkennen und mit der unverkürzten Wahrheit zu
vereinbaren, sie als den Keim jeder Thatsache, jede Thatsache als
ihre Frucht zu fassen und darzustellen und so die Reihe der Ereignisse,
die er uns vorführt, zu einem Organismus zu verketten, der durch die
Einheit einer inneren Nothwendigkeit zusammengehalten und beseelt
sei und erst mit Vollendung der Idee selber ende.


Diess Verfahren ist es, das allein den vielfach missbrauchten
Namen pragmatische Geschichtsschreibung verdient. Es hat diese
Benennung, um das beiläufig zu erinnern, zuerst Polybius aufgebracht1:
bei ihm findet sie sich freilich nur im Gegensatze zum Mythus und
zur Sage: er versteht darunter die wahrhafte, die wirkliche Geschichte.
Der Historiker bemüht sich also, die Wirksamkeit und Vollendung
der Idee innerhalb einer unverkürzten Wahrhaftigkeit der berichteten
Thatsachen darzuthun: aber nur zu oft ist diese Bemühung eine fruchtlose,
nur zu oft erweist sich ihm statt jenes organischen Zusammenhanges
der Idee ein bloss mechanischer, nur zu oft auch nicht einmal
dieser. Und dennoch darf er, sobald er gewissenhaft ist und kein
Epiker sein will, sondern ein Historiker, den Standpunct nicht verlassen,
von welchem aus betrachtet ihm die Dinge so abgerissen, so
ohne Leben und Bedeutung erscheinen, den der blossen Verständigkeit.
Da zeigt sich denn am herbsten und schärfsten der Contrast der
Geschichte zur Sage, der Historie zur Epik, das Unkünstlerische,
das verglichen mit den Anschauungen der episch erzählenden Poesie
denen der historisch erzählenden Prosa beiwohnt: denn die Sage würde
mit der Kühnheit der schöpferischen Phantasie jene der Idee widerstreitenden
Einzelheiten entweder ganz beseitigen oder sonst wie den
Zusammenhang herzustellen wissen, den der Verstand nicht zu erkennen
vermag.


Es giebt nun freilich Arten von Geschichtsschreibung, wo der
Verfasser niemals in jene schmerzliche Verlegenheit geräth; es giebt
Historiker und historische Schriften, in denen gar nirgend ein Bemühen

1
Polyb. 9, 2, 15 ὁ πραγματικὸς τρόπος τῆς ἱστορίας; 1, 2, 8 ὁ τῆς πραγματικῆς
ἱστορίας τρόπος.
|#f0257 : 244|

waltet, in den Thatsachen die belebende und zusammenhaltende
Idee zu erkennen, bei denen also auch nicht zu beklagen ist, dass
stellenweise diess Bemühen immer ein unfruchtbares bleiben müsse.
Solche niedrig gestellte, ideelose Geschichtswerke sind die Annalen
oder Chroniken, wie sie bei allen Völkern des Alterthums und bei
den neueren als die ersten rudimenta der eigentlichen Geschichtsschreibung
vorgekommen sind. Diese Chroniken verzeichnen eben
nur, was Jahr für Jahr, sei es in der ganzen Welt, sei es in einer
einzelnen Stadt sich ereignet hat: Seuchen, Hungersnoth, Schlachten,
Strassentumulte u. dgl., kurz lauter Einzelheiten, deren jede für sich
wahr sein mag, die aber keine höhere Wahrheit der Idee zu einem
organischen Ganzen verbindet und somit wahrhaft belebt. Solche niedrig
gestellte Geschichtswerke sind aber ausserdem noch, damit wir
nicht zu vornehm auf die Anfänge der Geschichtsschreibung hinabsehen,
bei weitem die meisten, welche die letzten Jahrhunderte an
den Tag gefördert haben, auch die meisten, die den vornehmen Titel
pragmatisch an der Stirn tragen. Zwar begnügen sich diese nicht
mit trockener Aufzählung, zwar suchen sie überall das Spätere durch
das Frühere zu motivieren und bei jedem Ereigniss Ursache und Wirkung
nachzuweisen: aber diese ursächlichen Verhältnisse sind gewöhnlich
der alleräusserlichsten Art, und namentlich herrscht da ein thörichtes,
man könnte auch sagen ein frevelhaftes Bestreben, das Allergrösste
nicht bloss aus dem Allerkleinsten, sondern auch aus dem
Allerkleinlichsten herzuleiten, wenn z. B. der Grund der Kreuzzüge
in den Predigten eines Bettelmönches gesucht wird, oder der dreissigjährige
Krieg dadurch soll verursacht worden sein, dass man zu Prag
einige österreichische Beamte aus dem Fenster warf, oder die französische
Revolution durch den ersten Schuss, der am 10. August 1792
fiel; kurz, es gilt da ein so mechanisches, jeder Idee entfremdetes
Verfahren, dass man dergleichen Werke eher mit jedem beliebigen
anderen Namen als mit dem einer pragmatischen Geschichte belegen
kann. In dergleichen Erbärmlichkeiten liegt kein πρᾶγμα: diess Wort
bezeichnet ja nicht jedwedes, das geschieht, sondern etwas, das
geschieht, weil es geschehen muss, und das wirksam ist, weil es
geschieht. Die volle Nothwendigkeit aber und die wahre Wirksamkeit
kann sich immer nur vom Standpuncte der Idee ergeben, und deshalb
verdient auch nur jene Art von Geschichtsschreibung den Namen der
pragmatischen, die wir neben das Epos gestellt haben als Nebenbuhlerin
derselben in der Anschauung der Idee.


Daraus, dass die Geschichtsschreibung innerhalb des Verstandes
beharren muss, und somit nicht überall die gegebene Wirklichkeit mit |#f0258 : 245|

der angeschauten Idee in Einklang bringen kann, daraus ergiebt sich
noch ein anderer Nachtheil, der in künstlerischer Beziehung den meisten
geschichtlichen Werken anhängt, ein Nachtheil, der ihnen aber
auch noch aus anderweitigen Gründen unausweichlich zufällt: der
Mangel nämlich an Einheit. Der Epiker hat es immer mit einem in
sich abgeschlossenen, concentrierten Ganzen zu thun, Einer Sage oder
Einem Cyclus von Sagen, die sich alle um Einen Hauptpunct und Eine
Hauptbegebenheit herumlegen; es wird ihm aber deshalb Alles so abgeschlossen
und concentriert, weil die belebende Seele der Sage, die
Idee, das Fremdartige von sich stösst. Wie nun der Historiker? Wo
das Gebiet seiner Forschung eng und eingeschränkt ist, da wird es
ihm wohl noch möglich, eine Einheit zu behaupten, wie der epische
Dichter sie hat, ohne dass er darum sich die Freiheiten des Epikers
gestattete; der historische Verlauf, den er berichtet, wird, wenn auch
nicht einfach, doch einheitlich sein können.


Solche Historiker, die damit dem Epiker am nächsten stehn, sind
die Biographen, die Geschichtsschreiber einzelner Personen; die Einheit
der Person haben sie schon vorweg; damit pflegen dann aber
auch noch andere, mehr oder minder wesentliche Einheiten verbunden
zu sein. Je weiter sich nun jedoch das Gebiet des Historikers ausdehnt,
desto mehr und mehr schwindet selbst die Möglichkeit der
Einheit. Es kommen nun die verschiedenen Arten der sogenannten
Specialgeschichte, die Geschichte einzelner ganzer Völker, ganzer aus
vielen Jahrhunderten bestehender Zeiträume, die Geschichte der Religionen,
der Künste, der Wissenschaften. Es schreibt also nun der
Historiker etwa die ganze römische Geschichte. Freilich liegt sie fertig
und abgeschlossen vor ihm da, er kann erkennen, er kann wenigstens
ahnen, was Gott mit den Römern gewollt habe, er kann zur Anschauung
der Idee gelangen, die sich in der römischen Geschichte offenbart:
gleichwohl wird es ihm schwerlich glücken, dieser Einheit der Idee
gemäss auch eine Einheit des thatsächlichen Inhaltes herzustellen: denn
er hat mehr als Eine Hauptperson, mehr als Eine Hauptbegebenheit,
und er darf die Thatsachen, in denen er jene Idee nicht wieder
erkennt, darum doch nicht beseitigen. Noch schlimmer ist derjenige
Historiker daran, dessen Gebiet noch nicht einmal abgegrenzt und
abgeschlossen ist, der eine Geschichte schreibt, die unvollendet noch
bis in die Gegenwart hereinreicht, wie z. B. die Geschichte eines jetzt
lebenden Volkes in politischer oder in litterarischer Hinsicht. Selbst
wenn da der Historiker die Idee richtig auffasste, so könnte er sie
doch immer nicht zur rechten Anschauung bringen, da sie sich jedesfalls
noch nicht ganz in der äusseren Wirklichkeit vollendet hat. Eben |#f0259 : 246|

diess ist nun auch der unausweichliche Stein des Anstosses für alle
diejenigen Historiker, die endlich das allerausgedehnteste Gebiet zum
Gegenstande ihrer Forschung haben, für die Universalhistoriker. Der
Biograph kann in Bezug auf Einheit gar wohl Schritt halten mit dem
Epiker; dem Specialhistoriker wird es schon in den meisten Fällen
schwer bis nahe zur Unmöglichkeit; dem Universalhistoriker ist es
gradezu unmöglich, denn einmal besitzt der Stoff, der vor ihm liegt,
eine zu reiche Fülle, als dass er ihn zur Einheit bewältigen könnte;
und sodann ist ja auch dieses weite Gebiet nach der einen Seite hin,
auf der Seite, wo der Historiker selber steht, noch ganz unabgegrenzt;
er hat vor sich einen weiten leeren Raum, in welchem nur Gott weiss,
was Alles noch geschehen kann. Ihm gebricht nothwendiger Weise die
Einheit der Idee sammt allen übrigen Einheiten, die zu ihr gehören;
eine auf volle Erkenntniss der Idee basierte, eine eigentlich pragmatische
Weltgeschichte kann erst am jüngsten Tage geschrieben werden:
so dass auch in dieser Wendung das Wort Schillers gilt: „Die Weltgeschichte
ist das Weltgericht.“


So viel wäre über die historischen Anschauungen zu bemerken
gewesen und über die immer mehr und mehr sich ausdehnenden
Gebiete, auf welche sie sich richtet, Biographie, Specialgeschichte,
Universalgeschichte. Nun noch Einiges über die sprachliche Verkörperung
der historischen Anschauungen, über die historische Darstellung.



Hier kommt Alles auf Ein Grundgesetz hinaus, das der Historiker
mit dem Epiker gemein hat: auch von ihm wird strenge Objectivität
gefordert, und von ihm um so mehr, da die Wahrheit, auf welche es
in der Geschichtsschreibung abgesehen ist, bei Verletzung der Objectivität
offenbar noch weit mehr leiden würde als jene in der Schönheit
beruhende Wahrheit der epischen Anschauungen. Es muss also der
Historiker vor allen Dingen nur erzählen, nichts aber einmischen, das
den Gang der Erzählung irgendwie unterbrechen könnte. Er soll
erzählen, d. h. die als wahr erforschten Thatsachen in ihrem ununterbrochenen
Verlaufe darstellen. Da darf also erstens die Forschung,
die der Darstellung vorangehen soll, nicht mit in dieselbe übergehn.
Zwar giebt es Gebiete genug innerhalb des weiten Bereiches der
Geschichtsschreibung, in denen es zur Zeit noch unmöglich ist und
wohl immer unmöglich bleiben wird, die Darstellung ganz rein zu
halten von den Uebergriffen der Forschung und die Resultate der
Untersuchung zu geben, ohne zugleich die Untersuchung selbst vor
Auge und Ohr des Lesers zu führen. Indessen wird man doch dergleichen
immer nur als eine Verschmelzung historischer und didactischer |#f0260 : 247|

Prosa, als ein Gemisch von Erzählung und Abhandlung betrachten
dürfen. Werke, die ganz oder stellenweise so beschaffen sind,
werden deshalb auch ganz oder stellenweise ausserhalb der eigentlichen
Geschichtsschreibung liegen. Leider so die Werke der meisten
neueren Historiker; Muster reiner, ungetrübter Darstellung finden sich
fast nur bei den Alten, bei den Griechen und Römern; unter den
Neueren etwa noch bei den Engländern und Franzosen.


Ziemlich auf Einer Stufe mit dieser unkünstlerischen Einmischung
der Forschungen steht, und es begleitet dieselbe gewöhnlich die Einflechtung
von Auszügen aus den Quellenschriften. Damit hört der Historiker
eigentlich auf zu erzählen, wenigstens er als solcher erzählt nicht
mehr, und seine Darstellung verliert jene Gleichmässigkeit des Einen
Gusses, bei der allein die ruhige Erfassbarkeit und Objectivität möglich
ist; statt dessen giebt er nur eine bunt zerstreute und zerstreuende
Mosaik. Damit soll nicht gesagt sein, dass dergleichen ganz und gar
zu vermeiden und überall ein Fehler sei: mitunter kann sogar ein
geschickt angebrachtes Zeugniss, kann die Aussage eines den erzählten
Ereignissen gleichzeitigen Schriftstellers viel dazu beitragen, die
Ereignisse selbst zu veranschaulichen, zu objectivieren, da sie unmittelbar
aus dem Geiste jener Zeit selbst entsprungen ist. Aber immer
und immer wiederkommen darf dergleichen nicht; der Text der Erzählung
ist keinesfalls das rechte Bett für den ganzen, vollen Strom von
Beweisstellen, den etwa ein Historiker vorführen kann: dazu giebt es
Anmerkungen; an denselben Ort verweist er auch am besten die
Untersuchungen.


Der Historiker soll erzählen, soll Thatsachen in ihrem ununterbrochenen
Verlaufe darstellen. Da darf er denn auch zweitens nichts
einmischen von seinen subjectiven Empfindungen, nichts von seinen
subjectiven Urtheilen. Es stört schon die epische Anschaulichkeit,
wenn der Epiker seine Erzählung mit sentimentalen Abschweifungen
begleitet, und doch liegt der Einbildung, auf welcher das Epos zumeist
beruht, das Gefühl nicht so fern als dem Verstande: wie viel mehr
stört es daher die Objectivität eines historischen Werkes, das zunächst
Verstandessache ist, wenn der Autor den Ausdruck seiner Empfindung
nicht zurückhalten kann. Ebenso wenig darf sich aber auch der Verstand
selbst in didactischer Weise geltend machen: er soll hier nur
das Wahre erforschen und soll es zu einer objectiven, verständlichen
Darstellung bringen; dazu können aber Reflexionen wenig helfen,
welcher Art sie nun sein mögen, philosophisch oder politisch oder
moralisch. Erzählt der Historiker nur Alles in rechter Treue und
Deutlichkeit, und wo möglich von der Idee her, so kann ein verständiger |#f0261 : 248|

Leser sich all dergleichen und noch diess und jenes dazu selber
sagen, besser, als wenn es ihm vorgesagt wird. Es giebt aber nur
wenige Historiker, die nicht bald mehr, bald minder sich in solcher
subjectiven Didaxis gefallen hätten; namentlich die fälschlich so genannten
Pragmatiker sind stark darin, von dem ersten an, der von einer
pragmatischen Geschichtsschreibung gesprochen hat, von Polybius an;
selbst Livius, sonst ein Muster der Darstellung, geräth zuweilen in
unhistorisches Politisieren hinein, mitunter in ein Politisieren von der
allermüssigsten und unfruchtbarsten Art, wenn er z. B. (9, 18) berechnet,
welchen Ausgang es wohl hätte nehmen können, wenn Alexander
auch an die Römer gerathen wäre. Eine den Alten eigenthümliche
Form der Reflexion, bei welcher dennoch die Objectivität gewahrt
wird, sind die eingelegten Reden: sie enthalten mehr oder weniger
Empfindungen und Urtheile des Historikers selbst, werden aber einer
objectiven Person in den Mund gelegt und in den Zusammenhang
objectiver Ereignisse und Zustände verflochten; so zuerst bei Thucydides,
dann bei Livius u. A. Oft indessen, namentlich bei den Römern,
ist diese objective Einkleidung nur zu deutlich eine blosse Einkleidung,
ein blosser Vorwand, wie bei Sallust. Wo man der philosophischen
oder politischen Didaxis allenfalls freien Lauf gestatten mag, das ist
zu Anfang oder zu Ende eines Werkes: da hemmt sie wenigstens den
Gang der Erzählung nicht. Da mag der Historiker dem Leser namentlich
die Idee andeuten, die er in seiner Geschichte als waltend erkannt
hat; da mag er so den Leser auf den rechten Standpunct zu setzen
und ihn aufmerksam zu machen suchen, indem er in ihm allgemein
menschliche und besondere vaterländische Interessen in Anspruch nimmt.
Als Beispiel kann der Vater der Geschichtsschreibung dienen, Herodot,
der sein Werk mit Erörterung der Frage beginnt, woher der Hass und
Zwist zwischen Europa und Asien rühren: er erkennt aber darin nur
die gerechte Vergeltung, die nimmer säumende Busse alter gegenseitiger
Schuld. Dergleichen Einleitungen werden, wenn sie auch unhistorisch
sind, doch immer zu der Sache gehören, die grade vorliegt;
tadelnswerth ist es nur, sich in zu allgemeinen Reflexionen zu ergehn,
die überall hin gehörten, oder gar in Alltäglichkeiten, die nirgend an
ihrer rechten Stelle wären, wie z. B. die bei allem Prunk so trivialen
Betrachtungen, mit denen Sallust seinen Catilina eröffnet.


Wir wollen jetzt diesen mehr negativen Regeln über die Darstellung
noch einige Bemerkungen positiver Art beifügen. Sie betreffen
die Anordnung eines historischen Werkes: denn auch diese wird wesentlich
dazu beitragen, dass dem reproducierenden Leser der organische
Zusammenhang der erzählten Thatsachen deutlich und verständlich |#f0262 : 249|

werde. Es kann aber die Anordnung je nach der Lage und der Ausdehnung
und der sonstigen Beschaffenheit des Gebietes, das der Historiker
durchwandert, eine sehr verschiedene sein, grade wie auch die
Anordnung der Epopöie nicht überall die gleiche ist. In dieser erlaubt
und fordert bald die Einfachheit des sagenhaften Stoffes eine ungesäumt
vorwärts schreitende Darstellung, bald die reichere Fülle und Verwickelung
desselben eine rechts und links abschweifende, episodische Entfaltung:
grade so auch in der Historiographie. Lebensbeschreibungen
lassen sich gar wohl ganz in grader Linie vortragen, wohl auch noch
die Geschichte mancher mehr seitab dastehenden Völker; aber die
meisten Völkergeschichten sind nur mit episodischen Digressionen abzuthun,
und gar die Weltgeschichte in keiner anderen Weise. Hier wird
es immer und immer wieder erforderlich sein, seitab noch einmal von vorn
anzufangen und einen Faden nach dem anderen in das grosse Band
der Welt, der Menschheit zu leiten; jedoch muss das so geschehen,
dass diess grosse gemeinsame Band niemals darüber vergessen werde,
dass es immer seine Bedeutung behaupte, dass man es nun in Asien,
nun in Griechenland, nun in Rom, nun endlich bei den Germanen
erblicke. Und bis in das Kleinste hinein muss der oberste Zweck der
Anordnung die Erfassbarkeit für den Verstand sein, eine verständige
Deutlichkeit. Das Hochbedeutsame und das Minderwichtige muss jedwedes
durch die Stellung, welche es erhält, und durch die Art, wie
es vorgetragen wird, auch als solches erscheinen, und wo dem Historiker
der Umfang oder die Bestimmung seines Werkes nicht gestattet,
alle Einzelheiten zu berichten, die man kennt, muss er das Mehr- und
das Minderwichtige zu unterscheiden wissen, das Eine festhalten, das
Andere getrost fallen lassen. Einem Biographen Friedrichs des Grossen
kann es ganz angemessen sein, selbst die Farbe und den Namen des
Pferdes anzugeben, das dieser König in der Schlacht von Mollwitz
geritten; einem Geschichtsschreiber von Deutschland aber wird dergleichen
schwerlich in die Feder kommen, er müsste denn sehr ausführlich
sein wollen. So lässt auch der Epiker von dem historisch
Gegebenen manche Einzelheit fallen: aber er thut das, wie wir früherhin
(S. 81. 242) gesehen haben, aus ganz anderen Gründen und zu
weit anderen Zwecken als der Historiker. Ein rechtes Beispiel von
ungehöriger Einmischung unwesentlicher Kleinigkeiten geben mehrere
der Biographien und Characteristiken, welche der König Ludwig von
Bayern unter dem Titel Walhallas Genossen veröffentlicht hat. Sie
sollen und wollen in einem gewissen Lapidarstil abgefasst sein und
nur das Wichtigste und Bedeutendste sagen, so dass man sie etwa
als Inschriften sollte einhauen können unter die Steinbilder. Aber |#f0263 : 250|

wie das beobachtet ist, zeigt z. B. die Biographie Wilhelm Heinses
(LB. 3, 2, 1507).


So viel von der Geschichtsschreibung; nun wenden wir uns zur
zweiten Art der erzählenden Prosa, zum Roman.


Die Prosa des Romans liegt dem Epos um viele Schritte näher
als die Prosa der Geschichtsschreibung, ja sie liegt eigentlich dicht
neben ihm. Wir haben auch gesehen, wie der Roman ganz unmittelbar
aus dem Epos hervorgegangen, wie er ursprünglich nichts mehr und
nichts weniger gewesen sei, als eine blosse Auflösung und Uebersetzung
epischer Poesie in Prosa. Eigentlich bedeutet auch der Name Roman
gleich dem Worte Romanze (S. 98) so viel als ein erzählendes Gedicht,
abgefasst in der romanischen Volkssprache. Und so sind denn auch
die Unterschiede, die sich nach und nach zwischen Epos und Roman
ausgebildet haben, zum Theil mehr veranlasst worden durch die einmal
erwählte prosaische Form, als sie eigentlich begründet waren in
einem ursprünglich eigenthümlichen Wesen des Romans. Wir wollen
nun sowohl die Uebereinstimmungen als die Unterschiede zu erörtern
suchen.


Haupt- und Grundgesetz für den Roman wie für das Epos ist
die Einheit, die Einheit in all ihren Abzweigungen und Spiegelungen:
Einheit der Idee, Einheit des Verlaufes der Thatsachen, und worin
sich diese vorzüglich kund thun wird, Einheit der Hauptperson und
Einheit der Hauptbegebenheit, als des Punctes, in welchem alle etwa
zerstreuten Radien des Verlaufes der Thatsachen sich zuletzt doch
wieder vereinigen. Denn der Verlauf braucht sich hier so wenig als
im Epos gradlinig zu entwickeln; ja der Roman liebt, wie die ausgebildete
Epopöie, eine kunstreiche Verschlingung, er liebt Episoden,
wenn nur der leitende Hauptfaden darüber nicht verloren geht. Die
Odyssee bei ihrem Wechsel der Personen und des Locales und bei
ihrer episodischen Gliederung würde einen vollkommneren Roman abgeben
als die Iliade in ihrem zwar einfachen, aber doch nicht recht einheitlichen
Verlaufe.


Die Wirklichkeit nun, die in solcher Weise vielgliedrig entfaltet
und zugleich durch jene Einheiten wieder zusammengehalten wird,
braucht, wie der Roman sich einmal ausgebildet hat, nicht in solcher
Weise historisch zu sein, als das vom Epos gefordert wird. Das Epos
verlangt jedesmal, wie das früher umständlich ist dargethan worden,
einen sagenhaften Stoff: es muss immer entweder Sagen vortragen, oder
wenn auch wahrhafte Geschichte, dann diese doch aufgefasst in Art
der Sage. Ebenso war es nun freilich auch in den ältesten Romanen:
nicht bloss in denen, die nur prosaische Auflösung waren von älteren |#f0264 : 251|

Epopöien, sondern auch in den selbständigeren Originalschöpfungen, die
zunächst auf sie folgten: auch diese lehnten sich immer an die volksmässigen,
sagenhaften Ueberlieferungen: so im sechzehnten Jahrhundert
der an Riesensagen Südfrankreichs sich anlehnende Roman Gargantua,
den französisch zuerst Rabelais und nach ihm dann Fischart
deutsch bearbeitete; ebenso auch der Eulenspiegel und der Schwarzkünstler
Johannes Faust: beides sind historische Personen, aber umgestaltet
von der ausschmückenden Hand der Sage. Indessen war doch
das Epos nur darum untergegangen und hatte sich nur darum in die
prosaische Form flüchten müssen, weil diejenige poetische Stimmung,
auf welcher allein die Sage fussen kann, vom Volke gewichen war.
Da konnte denn auch der Roman nicht länger sagenhaft bleiben, und
es ward ein Vorrecht dieser neueren prosaischen Epiker vor den früheren
poetischen, dass ihnen freie und willkürliche Erfindung gestattet
ist. So willkürliche aber doch nicht, dass die Wirklichkeit, in deren
Form der Romanschreiber seine Anschauungen kleidet, ganz frei und
ohne Halt in der Luft schweben dürfte; sie muss immer noch einen
Anschein von historischem Grund und Boden haben. Dieser historische
Anschein kann aber von doppelter Art sein. Entweder erfindet der
Verfasser Alles, alle Personen und alle Begebenheiten, und giebt ihnen
nur im Allgemeinen eine historische Farbe, ein historisches Costüm,
verleiht ihnen nur den Localton einer gewissen Zeit und eines bestimmten
Landes. Diess Costüm ist sehr der Mode unterworfen: jetzt meistens
gilt die jetzige Zeit, vor einem halben Jahrhundert galt der scandinavische
Norden, noch früher die Zeit der Kreuzzüge, des Faustrechtes,
der heiligen Vehme, und wie es sonst noch beliebt ward das Mittelalter
unheimlich zu betiteln, noch früher, wie in den Schäferromanen
Salomon Gessners, jenes allerdings mehr geträumte, als historisch
gewusste halbgoldene Zeitalter der Hirten und Hirtinnen in Arcadien.
Oder aber man giebt dem Roman gradezu einen wirklich historischen
Hintergrund und füllt und vertieft diesen Hintergrund mehr oder weniger;
man erfindet zwar die hauptsächlichen Personen und die hauptsächlichen
Begebenheiten des Vordergrundes, aber man verflicht sie
mit historisch gegebenen und in der wirklichen Geschichte bedeutsamen,
mögen diese auch in dem Romane minder bedeutsam eingreifen.
Solche halbhistorische Romane sind in England durch Walter Scott auf
die Bahn gebracht worden; sie fanden zahlreiche deutsche Nachahmer,
deren einige mit besonderem Beifall aufgenommen wurden. Man kann
auch nicht läugnen, dass diess halbgeschichtliche Verfahren die Anschaulichkeit
um ein Beträchtliches fördert, und man mag, wenn man günstig
urtheilen will, in dem grossen Beifall, den solche Romane gefunden |#f0265 : 252|

haben und immer noch finden, einen erfreulichen Ueberrest des epischen
Geistes erkennen, der einst alle Völker Europas und vor allen das
deutsche beseelt hat. Wohl zu unterscheiden von diesen halbhistorischen
Romanen sind die eigentlich historischen, wie sie bei uns im
siebzehnten Jahrhundert durch Daniel Caspar von Lohenstein, später
wieder, im achtzehnten Jahrhundert, durch August Gottlieb Meissner
und Ignaz Aurelius Fessler aufgekommen sind, und wie sie in unseren
Tagen Louise Mühlbach mit wahrhaft erschreckender Schreibseligkeit
zu liefern pflegt. Solche Romane rücken dicht an das Epos. Denn
hier sind die Hauptpersonen selbst historisch und ebenso alle Hauptbegebenheiten,
wie z. B. Alcibiades bei Meissner, Alexander der Grosse
bei Fessler, Arminius und Thusnelda bei Lohenstein. Aber mit dichterischer
Freiheit werden sowohl die historischen Nachrichten anders
gewendet, als Lücken in denselben ergänzt. So wären denn solche
Romane ihrem Wesen nach durchaus episch, und es ist nur die Schuld
der Schriftsteller, dass sie ihren Vortheil nicht besser verstanden und
benutzt haben: aber Lohenstein war dafür zu gelehrt und pedantisch,
Fessler zu unklar und ungleichmässig in sich selbst, Meissner endlich
und manche Andere zu flach.


Mit der Erlaubniss, den Stoff selbst zu erfinden, ist jedoch dem
Romandichter eine Pflicht auferlegt, die sich unter den Anforderungen
an die epische Kunst nicht in dem Masse geltend macht: die Pflicht
einer sorgfältigen Characteristik. Der Epiker, dem mit den Begebenheiten
und den Namen seiner Personen auch die Charactere derselben
überliefert sind, und der von der Sage und der Geschichte her bei
seinen Zuhörern einige Bekanntschaft mit denselben voraussetzen darf,
ist deswegen auch der Pflicht und der Mühe überhoben, die Charactere
weitläuftig zu entfalten: seine Sache ist nur, dass er die Personen
ihrem Character gemäss handeln und reden lasse; und in dieser Beziehung
genügt dem Epiker oft ein einziges Wort, eine einzige That.
Anders im Roman. Da hier die Wirklichkeit ganz oder doch zum
grössten Theile eine erst erfundene zu sein pflegt, so bringt der Leser
nicht die Erwartung mit, wie die Personen ihrem längst gegebenen
und bekannten Character gemäss handeln und reden, sondern vielmehr
die, welchen Character sie überhaupt erst zeigen werden. Der Romanschreiber
muss also von Anfang bis Ende darauf bedacht sein, seine
Personen durch Thaten und Reden zu characterisieren: Thaten und
Reden sind hier nicht, wie im Epos, bloss Ergebnisse des Characters,
sondern zugleich Mittel der Characteristik. Aber auch wirklich durch
Thaten und Reden: der gemeinte Character muss sich lebendig und
wirksam an den Personen selbst erweisen und in ihnen und durch sie. |#f0266 : 253|

Es ist verfehlt, wenn man den Character abgelöst von dem, welchem
er eigen ist, zum Gegenstande einer besonderen Darstellung macht;
man darf nicht sagen: Felix war gutmüthig, aber schwach u. s. f.,
sondern man muss es dem Leser überlassen und es ihm überlassen
können, aus der ganzen thätigen Erscheinung der Person sich grade
diesen Character zu entnehmen. Wir haben nun bereits beim Epos
gesehen (S. 62), dass Reden um vieles characteristischer sind als Thaten,
dass es daher auch Zeiten und Völker gebe, wo man es in epischen
Dichtungen liebe, den Verlauf der Begebenheiten mit einem beinahe
überwiegenden Dialog zu begleiten. Noch um so mehr muss im Roman,
wo die Characteristik so viel wichtiger ist, die Anwendung characterisierender
Reden vortheilhaft erscheinen. In der That giebt es auch
genug Romane, die ganz oder doch beinahe ganz in Dialogen abgefasst
sind und damit in das Gebiet des Dramas hinübergreifen, weshalb
es denn auch für Zschokke ein leichtes gewesen ist, seinen Roman
Abällino späterhin in ein Drama zu verwandeln, wie es umgekehrt
auch nicht sonderlich schwer sein würde, aus Göthes erstem Drama,
dem Götz von Berlichingen, einen dialogischen Roman zu machen;
ja er ist gewissermassen schon ein solcher. In anderen Romanen tritt
an die Stelle des Zwiegespräches eine Formgebung, die damit verwandt,
die auch dramatischer Art ist, die aber vom Drama mehr nur
das lyrische Element, die Fixierung einzelner lyrischen Zustände festhält:
das ist die Form der Briefe und die des Tagebuches, wie sie in Göthes
Werther vereinigt erscheinen. Ebenfalls dramatischer Art ist diese
Form in so fern, als eine Reihe von Briefen einem Dialog gleich kommt:
sollten sie auch, wie im Werther, alle von einer und derselben Person
sein, so ist es doch nur eine Reihe von Fragen ohne Antworten
und von Antworten ohne Fragen, zu denen man sich aber die Antworten
und die Fragen gar wohl ergänzen kann; also die eine Hälfte
eines Dialogs, dessen andere Hälfte sich von selbst versteht. Und die
Selbstgespräche in einem Tagebuche stehn ganz gleich den Selbstgesprächen,
den Monologen eines Dramas: es sind eben Gespräche,
die man mit sich selber führt; man wird von der Leidenschaft so ausser
sich gesetzt, dass ein leidenschaftlicher Monolog, wenn auch nicht
die Form, doch Wesen und Gehalt eines Dialoges hat. Aber es überwiegt
bei dieser Auffassung und Darstellung des Romanstoffes das
Individuell-lyrische; darum taugt auch eine solche Form recht eigentlich
zum Ausdrucke einer von Moment zu Moment neu aufgeregten
Empfindung, und sie hat von jeher ihre Anwendung besonders in
solchen Romanen gefunden, die man sentimentale oder empfindsame
nennt: an ihrer Spitze steht Göthes Werther.

|#f0267 : 254|


Als wir die Epopöie mit einander besprachen, erwies sich als
eine nothwendige Folge ihrer sagenhaften Natur die Ausschliessung
des Komischen; es erwies sich, dass jedes komische Epos von vorn
herein eine missglückte Unternehmung sei (S. 90). Für den Roman, der
sich einmal von jener ersten Grundforderung der sagenhaften Natur frei
gemacht hat, gelten natürlich auch nicht die weiteren Folgen derselben;
er braucht nicht sagenhaft zu sein, es steht ihm also auch das
weite Gebiet des Komischen offen. Das Epos ruht so sehr mit beiden
Füssen in der Einbildung, dass es einen fortgesetzten Widerspruch
des Gefühles und des Verstandes, die Laune und den Spott nicht als
herrschenden Character der ganzen Dichtung dulden mag. Am Roman
dagegen hat vermittelst der verständigen Form der Prosa der Verstand
einen solchen Antheil gewonnen, und das Gefühl ist durch die hier
bedeutsamere Characteristik zu solcher Wichtigkeit gelangt, dass sich
beide wohl auch in ihren Widersprüchen können geltend machen, dass
im Roman Spott und Laune zulässig sind, sammt den Steigerungen
und Veredlungen derselben, Ironie und Humor. Man nennt all dergleichen
Romane im Allgemeinen komische, während dann wieder
insbesondere diejenigen komisch heissen, in denen die Wirklichkeit
unter dem Lachen des Gefühls, mit Laune, angeschaut wird, und mehr
mit Laune als mit Spott. Ueberwiegt dagegen der Spott, der lachende
Verdruss des Verstandes, so heisst der Roman ein satirischer. Und
so bilden dann auch die humoristischen wieder eine besondere Classe.
Diese letzteren zeichnen sich vor den übrigen komischen und überhaupt
vor allen Romanen durch die grosse Einfachheit aus, durch den Mangel
an Verwickelung, der ihrer geschichtlichen Wirklichkeit eigen zu sein
pflegt. Führt man Yoricks empfindsame Reise von Sterne, führt man
die humoristischen Romane von Jean Paul auf den eigentlichen historischen
Kern zurück, wie wenig bleibt da, wie wenige Begebenheiten,
und in welcher einfachen Verknüpfung! Aber der Humor braucht
nicht mehr, ja ein Mehreres würde ihm nur hinderlich sein. Denn
eine grössere Zahl und eine reichere und buntere Verwickelung der
Begebenheiten würde die Production wie die Reproduction innerhalb
der angeschauten Wirklichkeit festbannen, während grade der Humor
sich über sie aufzuschwingen strebt; er braucht und fasst aus ihr nur
einige wenige Puncte ins Auge und knüpft an diese sein reiches
Gewebe. Spott und Laune sind nicht so mit Wenigem zufrieden; sie
verlangen immer neue und neue Situationen, die ihren Widerspruch
reizen; denn Laune ist ja nur das Lachen der Sentimentalität: die
Sentimentalität wird aber niemals in so nachhaltige Bewegung versetzt
wie das Gemüth; deshalb bedarf auch die Laune einen öfter |#f0268 : 255|

wiederholten Anstoss als der Humor, das wehmüthige Lächeln des
Gemüthes.


In den satirischen Romanen macht sich der Verstand in höherem
Grade geltend, als ihm das jemals in einer Epopöie würde verstattet sein.
Gleichwohl macht er sich niemals so ausschliesslich geltend, dass nicht
auch das Gefühl mit seiner Laune hineinspielen sollte. Und so ist auch
hier dem Roman immer noch in prosaischer Form ein poetischer Gehalt
gesichert. Erst in den eigentlich didactischen Romanen sehen wir alle
Poesie gänzlich bei Seite geschoben, in solchen Romanen, mit denen
es ganz eigentlich nur auf Belehrung des Verstandes abgesehen ist,
in denen eine geschichtliche Wirklichkeit nur darum erzählt wird, um
damit irgend eine philosophische oder moralische oder politische Tendenz
oder dergleichen in lehrhafter Weise zu verfolgen. In solchen
Romanen (Deutschland ist zu allen Zeiten reich daran gewesen, im
siebzehnten wie im achtzehnten Jahrhundert: ich erinnere an Friedrich
Heinrich Jacobis Woldemar) hat die prosaische Form über das epische
und poetische Wesen einen vollständigen Sieg davon getragen: denn die
Einbildung ist hier ganz zur Dienerin des Verstandes, die angeschaute
Wirklichkeit ganz zum blossen Werkzeug ihrer Lehren herabgesetzt.
Gewonnen hat man damit nicht viel, so wenig als mit dem didactischen
Epos. Im didactischen Epos erscheint das didactische Element nur unpasslich
für die poetische Darstellung, und im didactischen Romane das
epische Element unpasslich für die prosaische; einem didactischen Epiker
möchte man am liebsten die Lehre, einem didactischen Romanschreiber
am liebsten die epische Wirklichkeit schenken, an welcher er lehrt.


Es giebt nun noch eine oder zwei Unterarten vom Roman, die
sich zu dem, was gewöhnlich Roman heisst, ziemlich ebenso verhalten,
wie die poetische Erzählung zur Epopöie. Es sind das die Erzählung
(der Ausdruck wiederholt sich) und die Novelle.


Wir hatten früherhin (S. 79. 91) die poetische Erzählung darin von
der Epopöie unterschieden gefunden, dass jener ein kleinerer Umfang,
eine geringere Verwickelung, ein leichterer Inhalt eigen ist, dass ihre
epische Wirklichkeit keine sagenhafte zu sein braucht und sogar erst
vom Dichter erfunden sein kann, dass sie endlich deshalb Laune und
Spott beinahe mit Vorliebe in sich aufnimmt. So vielseitig ausgebildet
ist nun freilich der Unterschied zwischen der prosaischen Erzählung
und dem Romane nicht. Denn schon der Roman bedarf keines sagenhaften
Bodens, er kann aus Anschauungen der Gegenwart und aus
einer frei schöpfenden und erfindenden Phantasie hervorgehn, und Spott
und Laune, Ironie und Humor können auch seine Darstellung von
Anfang bis zu Ende begleiten. Es bleibt daher nur dieser eine Umstand, |#f0269 : 256|

dass die prosaische Erzählung in sich einfacher und minder
verwickelt und von geringerem Umfange sei als der Roman. Und
damit ist allerdings keine sonderlich scharfe Trennungslinie gezogen:
denn verschiedene Personen und Zeiten haben für das Mehr oder Minder
der Verwickelung und Ausdehnung auch einen verschiedenen Massstab.
Zudem halten auch Verwickelung und Ausdehnung nicht immer gleichen
Schritt: es giebt erzählende Prosawerke, die in sich so kurz sind, äusserlich
aber so lang und breit, dass man sie aus dem einen Grunde Erzählungen
nennen könnte und aus dem anderen Romane: so die humoristischen
Erzählungen Jean Pauls; und umgekehrt liegt nicht selten
in dem geringsten Umfange, wie ihn nur die sogenannten Erzählungen
haben, eine Fülle des Inhalts, die für den weitläuftigsten Roman hinreichen
würde: Beispiel die Novellen des Cervantes. Daher herrscht
denn auch unter den Schriftstellern wie im Publicum eine beständige
Unsicherheit im Gebrauche dieser Namen.


Gebräuchlicher übrigens als die Benennung Erzählung ist eine
von den Italiänern und Spaniern entlehnte, Novelle (novella, novela).
Und nicht selten wird in der Theorie wie in der Praxis ein Unterschied
zwischen beiden gemacht. In folgender Weise. Eine Erzählung,
welche ruhig vorwärts schreitet, den Verlauf der Begebenheiten beim
allerersten Anfange beginnt und ihn in möglichst gradem Gange bis zum
letzten Ende vollständig ausführt, eine solche gänzlich und rein epische
Erzählung nennt man dann auch eine Erzählung. Nimmt dagegen die
Darstellung einen mehr dramatisch bewegten Character an, verweilt
sie nur bei den bedeutsameren und wichtigeren Situationen, zeigt sie
ihren Helden gleich beim ersten Auftreten so, dass er durch Handeln
und Leiden eine volle und gespannte Theilnahme in Anspruch nimmt,
und bricht sie ab, wenn das Wesentliche geschehen und vollbracht
ist, so dass sich der Leser das Minderwesentliche, das noch übrig
bleibt, in eigenen Gedanken hinzu ergänzen kann: ist die Erzählung
so beschaffen, so heisst sie eine Novelle. Eine Erzählung wird also
z. B. damit beginnen, dass der Held von Vater und Mutter Abschied
nimmt und in die Fremde zieht, und wird endigen mit dem Gastmal
und dem Tanz bei seiner Hochzeit; eine Novelle dagegen zeigt ihn,
sowie sie anhebt, etwa gleich mitten in der Wanderung, weit fort
in der Fremde, gleich in allerlei Reiseabenteuern, und sie ist schon
fertig, sowie jeder sieht, dass es zu einer Hochzeit kommen müsse,
aber bis zur Hochzeit selbst geht sie grade nicht fort. Dieser Unterschied
wäre ganz gut, und man müsste ihn billigen, wenn er nur
durchzuführen wäre. Aber so scharf sondern sich die beiden Arten
der Darstellung nicht überall; man bedürfte dann eigentlich noch einiger |#f0270 : 257|

Unter-Unterschiede, zur vollständigen Classification würden noch
novellenartige Erzählungen und erzählungartige Novellen gehören.
Zudem erscheint dieser Gegensatz auch in so fern noch willkürlich,
als er weder in dem Worte Erzählung, noch in dem Worte Novelle
irgendwie sprachlich begründet ist. Die Italiäner haben seit dem
Ende des dreizehnten Jahrhunderts, wo diese Gattung der Litteratur
bei ihnen beginnt, alle und jedwede erzählende Prosa, sobald man
meinte damit etwas bisher noch nicht Erzähltes oder nicht so Erzähltes
zu berichten, und sobald der Umfang ein eng begrenzter, selbst
wenn er der allergeringste war, novella genannt, d. h. eine kleine
Neuigkeit. Novelle bedeutet mithin s. v. a. Anecdote, und Anecdote
hat ja auch ursprünglich ganz denselben Sinn und bezeichnet eine
noch nicht herausgegebene, noch unbekannte, neue Geschichte. Alle
und jede eng begrenzte erzählende Prosa, auch die eigentlich historische,
kann also mit dem Namen Novelle belegt werden. So enthält
die älteste italiänische Novellensammlung, die noch dem dreizehnten
Jahrhundert angehörenden Cento novelle antiche, unter andern eine
ganze Menge solcher Stücke, die wir historische Anecdoten nennen
würden, einzelne Thaten und Reden von bedeutenden Personen des
Mittelalters, die oft nur wenige Zeilen umfassen. Erst über ein halbes
Jahrhundert später gelangte die italiänische Novelle durch Boccaccios
Decamerone zu einer grösseren Kunst der ausführlichen Darstellung
und wandte sich zugleich beinahe gänzlich von dem eigentlich Historischen
ab. Aber wohl zu merken: erfunden hat Boccaccio keine einzige
seiner hundert Geschichten, sie haben alle, wenn nicht historische,
dann immer sagenhafte Natur, die Darstellung hält sich in allen
sammt und sonders in der episch ausführlicheren Weise jener sogenannten
Erzählungen, und gleichwohl nennt er alle Novellen. Und
ebenso sind die spanischen Novellen beschaffen, z. B. die von Cervantes,
auch sie würden nach jener Theorie Erzählungen zu nennen
sein. Nur darin weicht Cervantes von Boccaccio ab, dass er den
Inhalt seiner Novellen wohl grossentheils schon selber erfunden hat:
er lebte aber auch in einer Zeit, wo in Spanien wie in anderen Ländern
das Epos und mit ihm die sagenhafte Richtung der Litteratur
längst abgestorben war. Nach all diesem ist es nichts als eine pure
Willkürlichkeit, wenn wir nun die Sache gradezu auf den Kopf stellen
wollen und Erzählungen der Art, wie sie bei den Italiänern und Spaniern
Novellen heissen, Erzählungen nennen, solche aber, wie jene
eigentlich gar nicht gekannt haben, grade solche nur Novellen mit
diesem italiänischen und spanischen Namen. Der ganze Unterschied
ist ersonnen, wie jener zwischen Ballade und Romanze (S. 99).

|#f0271 : 258|


Noch mag, mehr als eine historische Notiz, bemerkt werden, wie
man in neuerer Zeit Romane aus mehreren in sich abgeschlossenen,
aber unter einander zusammenhangenden Novellen zusammengesetzt
hat. Es giebt dergleichen Romane von Steffens, z. B. Die Familien
Walseth und Leith (1827) und Die vier Norweger (1828); er hat dafür
den Namen Novellencyclus erfunden. Da hier das Ganze des Romans
aus einer Reihe einzelner Novellen erwächst, so ist damit wenigstens
das wieder bestätigt, dass sich die Erzählung oder Novelle vom Roman
unterscheide durch ihre Einfachheit oder Kürze, oder mit anderen
Worten, dass sich die Novelle zum Roman verhalte, wie die epische
Rhapsodie zur Epopöie.


Nachdem wir so die beiden Hauptarten der erzählenden Prosa,
die Prosa der Geschichtsschreibung und die des Romans, für sich und
in ihrem Verhältniss unter einander und zur Epik betrachtet haben,
ist noch von zwei Abarten derselben zu reden, vom Gespräch und
von der Beschreibung.


Was nun zuerst das Gespräch betrifft, so haben wir bereits vorher
bei Betrachtung des Romans gesehen, dass dieser es liebe, bei einzelnen
epischen Situationen in lyrischer Weise zu verweilen und die
von irgend einer Thatsache angeregten inneren Zustände in dialogischer
Form zu entwickeln. Greift man nun eine solche Situation ganz
vereinzelt auf und baut auf sie in dieser Vereinzelung einen Dialog,
so dass die Situation nur noch aus diesem Gespräch zu erkennen,
selbst aber nicht eigentlich erzählt ist, so entsteht daraus, was man
vorzugsweise Gespräch nennt. Dergleichen lässt sich mit der lyrischen
Epik zusammenstellen. Als wir von dieser, von Ballade und Romanze
sprachen (S. 62. 94 fg.), haben wir in der Poesie mehrerer Völker genug
Dichtungen angetroffen, die weiter nichts sind als Dialoge, ruhend auf dem
Hintergrunde einer einfachen und bloss durch das Zwiegespräch angedeuteten
epischen Situation. Wenn die prosaischen Gespräche gewöhnlich
etwas länger und breiter ausgeführt sind, so ist das eine mehr zufällige
Folge der äusseren Form. Als Erfinder dieser Nebenart von
poetischer Prosa ist wahrscheinlich Lucian zu bezeichnen; in seinen
Gesprächen bringt er theils göttliche Wesen zusammen, theils, indem
er sie in die Unterwelt verlegt, historische Personen, die im Leben
nicht wohl hätten mit einander sprechen können, weil sie ganz verschiedenen
Völkern oder gar auch verschiedenen Zeiträumen der
Geschichte angehören. Namentlich in diesen Todtengesprächen giebt
ihm die Wechselbeziehung, in welche die beiden Redenden durch ihre
Reden kommen, oft das beste Mittel an die Hand zu einer anschaulichen
Entwickelung ihrer Charaktere. In neuerer Zeit ist Lucian von |#f0272 : 259|

Engländern und Franzosen nachgeahmt worden; bei uns namentlich
von Wieland in dessen Gesprächen im Elysium und in den Neuen
Göttergesprächen. Damit zusammenzustellen sind die meisten Idyllen
Salomon Gessners und Maler Müllers, insofern die meisten eben solche
Gespräche sind, solche dialogische Entwickelungen episch motivierter
innerer Zustände, nur Gespräche von Schäfern und Schäferinnen und
Satyrn u. dgl. Es ist nicht zufällig, dass diese ganze Art und Form
bei den Griechen erst so spät aufgekommen und zu uns nur durch
Nachahmung gelangt und jetzt seit Langem wieder ungebräuchlich
geworden ist: sie hat etwas Unkünstlerisches, das man nicht wohl
läugnen kann: hier, wo der Dialog nicht innerhalb eines Romans,
nicht organisches Glied solch eines grösseren Ganzen ist, sondern für
sich allein dasteht, macht er auch für sich selbst Ansprüche und sollte
nun diese Ansprüche durch grössere Kunstmässigkeit der Darstellungsform
zu bekräftigen und zu sichern suchen: grade hier erscheint das
prosaische Gewand einer in sich poetischen Production in seiner vollsten
Ungehörigkeit. Auch die griechischen Idyllendichter und nach
ihnen Virgil bedienten sich wiederholendlich der Gesprächsform; aber
diese dialogischen Idyllen sind wie die anderen ganz dichterisch gestaltet,
auch in Versen abgefasst. Und schon in einer viel früheren Zeit hatte
die griechische Litteratur solche abgerissene Gespräche: die μῖμοι des
Syracusaners Sophron, eines Zeitgenossen des Euripides, so genannt,
weil darin das gewöhnliche Leben in seinen Sitten und Characteren
mit treuer Nachahmung aufgefasst und dargestellt wurde: aber auch
diese Mimen waren nicht prosaisch, wenn schon man es hin und
wieder so angegeben findet: es ist dargethan, dass sich Sophron nur
eine grössere Freiheit im wechselnden Rhythmus und Längenmass der
Verse genommen, dass er sich in diesen seinen halbdramatischen
Dichtungen nur nicht der im eigentlichen Drama für den Dialog
gewohnten Versarten bedient habe.


Sodann die Beschreibung, diese das prosaische Gegenbild der
didactischen Epik: sie hat es gleich dieser mit der ruhenden Wirklichkeit
zu thun. Aber sie handhabt diesen Stoff doch in anderer
Weise. Die didactische Epik hat stäts ein lyrisches Element, ihre
Lehren haben Bezug auf das Gefühl: hier dagegen, hier in einer prosaischen
Schrift wird hauptsächlich eine vom Verstand zum Verstande
gerichtete Belehrung bezweckt, hier kann Beziehung auf das Gefühl
nicht gefordert werden. Eins jedoch ist auch hier nothwendig, nämlich
dass der Verfasser durch eine gleichsam historische Entwickelung
es der Einbildungskraft möglich mache, dem reproducierenden Verstande
hilfreiche Dienste zu leisten. Und dadurch reiht sich dann die |#f0273 : 260|

beschreibende Prosa an die erzählende, während sie auf der anderen
Seite, da sie keine eigentlich erzählende ist, nicht die bewegte Wirklichkeit
darstellt, in das Gebiet der lehrhaften, der didactischen hinüberreicht.
Es wird also die prosaische Beschreibung schon der prosaischen
Deutlichkeit und Verständlichkeit wegen, es wird auch sie
gleich der in Gedichten, wo es nur irgend geht und so gut es geht,
sich successiv zu gliedern suchen. Es ist das freilich nicht überall
leicht, und am schwersten da, wo die Beschreibung am häufigsten
gefordert wird, in den Naturwissenschaften. Aber auch hier wird es
in den meisten Fällen möglich sein, sich dieser Regel eines geordneten,
gleichsam historischen Fortschrittes wenigstens annäherungsweise zu
unterwerfen, und je mehr es geschieht, desto förderlicher wird es
auch den lehrhaften Zwecken sein. Hat also z. B. ein Botaniker eine
Pflanze zu beschreiben, so wird er nicht jetzt von der Frucht, dann
von der Wurzel, dann von der Blüte, dann von den Blättern reden,
sondern er wird das Bild am besten in der Reihenfolge entwerfen,
in welcher die Pflanze selber sich entwickelt; seine Beschreibung wird
Schritt für Schritt einen solchen Gang einschlagen, dass man den
Verlauf der Pflanze von der Wurzel an durch Stengel, Blätter und
Blüte bis zur Frucht gleichsam geschichtlich verfolgt, dass sie gleichsam
vor unseren Augen wächst. So auch in der Geographie, in der
Topographie. Hier wird auch der am anschaulichsten beschreiben,
den Verstand am besten belehren, der die Einzelheiten des ganzen
grossen Bildes successiv zu ordnen weiss, der uns, wie ein Führer
den Wanderer, nach und nach von Berg zu Berg, von Fluss zu Fluss
geleitet. Ein Muster einer solchen successiven oder progressiven naturhistorischen
Landbeschreibung liefern E. Pöppigs Reisen in Chile, Peru
und auf dem Amazonenstrome 1827─1832, überhaupt vielleicht eines
der besten unter allen neueren Werken dieser Art. Hier soll z. B.
einmal die südamericanische Gebirgswelt namentlich in Bezug auf ihre
Vegetation geschildert werden. Es wäre schon progressive Anordnung
genug gewesen, wenn der Verfasser die Einzelheiten nur aufgezählt
hätte, wie sie Stufe für Stufe etwa vom Fusse des Berges bis zum
Gipfel auf einander folgen. Aber er weiss die Anschaulichkeit noch
zu steigern, indem er wirklich erzählt, wie er eines Tages in die
Berge hinauf gezogen sei; und nun sehen wir mit ihm und aus seinen
Augen Eins nach dem Anderen an ihm und an uns vorübergehen, und
wir können zuletzt die einzelnen Erscheinungen in unserer Erinnerung
so ununterbrochen zusammenhangend festhalten, als wären wir mit
ihm gegangen. Nicht minder ausgezeichnet und musterhaft ist Alexander
von Humboldts Aufsatz Ueber die Steppen und Wüsten (Ansichten |#f0274 : 261|

der Natur Bd. 1, im Auszug LB. 3, 2, 1161): die Prairien Südamericas
werden hier in anschaulichster Folge geschildert, indem die
Beschreibung sich an die Tages- und Jahreszeiten anschliesst und die
einzelnen Erscheinungen so vorführt, wie sie mit diesem zeitlichen
Wechsel selbst auch wechseln.


Eine in solcher Weise historisch gewendete Beschreibung ist schon
dergleichen naturwissenschaftlichen Werken vortheilhaft und in so fern
von ihnen zu fordern: noch um vieles mehr wird es in dem Wesen
einer eigentlich erzählenden Schrift begründet sein, dass an denjenigen
Stellen, wo die Erzählung in die Beschreibung übergeht, die letztere,
um den Ton des Ganzen nicht zu stören, auch den Anschein von
Erzählung gewinne. Und dgl. Stellen müssen häufiger oder seltener
wie in jedem epischen Gedichte, so auch in den verschiedenen Arten
der erzählenden Prosa sich vorfinden, im Roman sowohl wie in Geschichtswerken.
Die Geschichtsschreibung wird öfter in die Erdbeschreibung
überschweifen müssen; und auch der Verfasser eines Romans
hat jezuweilen eine Gegend, oder er hat die Kleidung einer seiner Personen
zu beschreiben. Wie es der Historiker zu halten habe, wo
er als Geograph sprechen muss, lehrt durch das schönste Beispiel
Johannes von Müller im Anfang der Schweizer Geschichte: da ist
kein verworrenes und verwirrendes Hin- und Herschweifen, sondern
in der wirklich lehrhaften Uebersichtlichkeit schreitet die Beschreibung
von Süden gegen Norden, von den Höhen in die Thäler nieder. Insbesondre
von der erzählenden Prosa des Romans, d. h. des prosaischen
Epos, kann man verlangen, dass ihre Beschreibungen gehalten und
getragen seien von dem Fortschritte der Erzählung, dass sich hier die
ruhende Wirklichkeit mit und in der thatsächlich bewegten historisch
entwickle. So sind z. B. auch alle die vielen norwegischen Landschaftsschilderungen
behandelt, die in den erwähnten Romanen von Steffens
vorkommen; und ebenso, ich nenne diess Beispiel als eins der vorzüglichsten
Muster, verfährt die „Novelle“ von Göthe (LB. 3, 2, 689):
hier ist die Erzählung von Anfang bis zu Ende fast unausgesetzt von
Beschreibung begleitet, aber die Beschreibung ist so unlösbar in die
Erzählung verwoben, dass sie darüber selbst einen ganz historischen
Character angenommen hat. Nicht so musterhaft sind bei Walter
Scott und seinen Nachahmern die ihnen so beliebten und geläufigen
Schilderungen der Aeusserlichkeit von Personen, ihres Aussehens,
ihrer Kleidung u. s. f. Auch die epische Poesie ist oft genug im Fall
Kleidungen oder Waffen zu beschreiben: aber wie verfährt in dergleichen
Umständen z. B. Homer? Wie schon früher (S. 29) berührt worden,
erzählt er, wie die Waffen nach und nach entstehn, erzählt er, wie |#f0275 : 262|

die Kleider Stück für Stück angelegt werden: er weiss das an sich
Unbelebte und Unbewegte mit in den belebten und bewegten Gang der
Ereignisse hinein zu ziehen. So sollte es denn auch die prosaische
Epopöie, der Roman, halten. Nicht aber so Walter Scott: er beschreibt
in allen solchen Fällen wirklich nur, er lässt das Ruhende in seiner
Ruhe, er schaut das, was in der Wirklichkeit neben einander ist, auch
neben einander an, obgleich er es doch nur nach einander vorführen
kann, es also auch in einem historischen Nacheinander auffassen sollte,
er bleibt stille stehn, geht nicht vorwärts.


Von einer Art didactisch erzählender Prosa, die eigentlich als
organisches Glied in Werke der Geschichtsschreibung gehört, die aber
auch öfters eine selbständige Geltung für sich in Anspruch nimmt,
sprechen wir noch zuletzt besonders. Es ist diess die sogenannte
Characteristik. Einem Historiker ist es oft zweckdienlich, den Character
irgend einer ausgezeichneten Person, deren Geschichte er erzählt
hat oder erzählen will, noch zuletzt oder vorher zum Gegenstande
einer besonderen Darstellung zu machen, damit derselbe durch diese
psychologische Zusammenfassung in ein noch helleres Licht trete.
Denn vielleicht gestattet ihm der geringe Umfang oder die Bestimmung
seines Werkes nicht, die Geschichte jener Person so umständlich zu erzählen,
dass aus den erzählten Thaten und Reden der Character in genügender
Deutlichkeit hervorleuchtete, oder er hat auch vielleicht eine solche
Fülle thatsächlicher Einzelheiten zu berichten, dass er fürchten muss, der
Character werde dadurch eher verdunkelt. Dann ist ihm, dem Historiker,
diese Aushilfe, eine abgelöste, besondere Characteristik als Einleitung
oder als Recapitulation am Schlusse, wohl zu erlauben, während in
einem Roman dergleichen von vorn herein nur tadelhaft wäre: denn
der Roman soll einmal, das ist ja ein hauptsächlicher Zug seiner
Eigenthümlichkeit, durch Thaten und Reden characterisieren, nicht
ausserhalb derselben. Eine solche Characteristik gehört nun wesentlich
auch mit zur Beschreibung: denn auch hier ist der Gegenstand
der Darstellung ein unbewegt verweilender: der Character ist ja der
eine unveränderlich ruhende Grund der vorüberfliessenden und bunt
wechselnden Thaten und Begebenheiten. Soll nun aber diese Darstellung
zu dem historischen Wesen der übrigen Theile des Werkes
passen, so muss auch sie, muss auch die Characteristik eine historische
Farbe annehmen. Und das ist gar nicht so schwer, denn einerseits
gliedert sich jede wohlgehaltene psychologische Entwickelung von
selbst in solcher Weise, entwickelt sich in einer causalen Reihenfolge,
und sodann muss hin und wieder auf bezeichnende und beweisende
Begebenheiten aus dem Leben der characterisierten Person Bezug |#f0276 : 263|

genommen werden, womit dann die Characteristik wenigstens stellenweise
in das Gleis der eigentlichen Erzählung zurücklenkt. In diesem Stück
ist Johannes von Müller weniger ein Muster: seine Characteristiken,
z. B. die Ludwigs XI. und Karls des Kühnen (LB. 3, 2, 831 und 835),
tragen mehr das Gepräge einer aus Einzelheiten etwas künstlich zusammengesetzten
Mosaik, als sie daraus zu einem belebten Organismus
erwachsen wären. Höher stehen in dieser Beziehung ausser Fr. Rühs,
aus dessen Geschichte von Schweden die Characteristiken Gustav
Adolfs und Karls XII. wohl als vorzügliche Beispiele dürfen angeführt
werden, der Biograph Karl August Varnhagen von Ense und vor allem
der Historiker Leopold von Ranke: es mag genügen von jenem die
Schilderung Blüchers (LB. 3, 2, 1313), von diesem die Characteristik
des Ignatius Loyola (LB. 3, 2, 1471) als besonders mustergiltig hervorzuheben.



In ähnlicher Weise nun wie das Gespräch hat sich auch die Characteristik
zu einer besonderen Gattung didactisch erzählender Prosa
erhoben. Diese Characteristiken sind von doppelter Art. Entweder
schliessen sie sich näher an die Geschichtsschreibung an, insofern ihr
Gegenstand eine wirklich historische Person ist: solche Characteristiken
sind z. B. die Gedächtnissreden (éloges), die von französischen Academikern
auf verstorbene Mitglieder gehalten werden, solche auch die
litterarischen Characteristiken, wie sie A. W. von Schlegel z. B. von
Bürger und Anderen entworfen hat: die Thaten, aus denen hier der
Character entnommen wird, sind Schriften, und der Character auch
nur der schriftstellerische. Hieher gehören auch die früher schon
erwähnten Schilderungen, die der König Ludwig von Bayern Walhallas
Genossen betitelt hat (LB. 3, 2, 1493). Oder aber, und diese
zweite Art ist in der Litteratur von grösserer Bedeutung, sie schliessen
sich mehr an den Roman, und die Persönlichkeiten, deren Character
soll geschildert werden, sind erst zu diesem Behufe erfunden. Solche
Characteristiken sind die Charactere des Theophrast und seiner Nachahmer,
unter denen de la Bruyère der berühmteste ist; auch da wird unter
der Annahme einer einzigen bestimmten Persönlichkeit je ein allgemein
gangbarer Character entwickelt; ein Geizhals z. B. wird hingestellt und
auf dem Grunde dieser erfundenen Persönlichkeit der Geiz von allerlei
Seiten her und nach allerlei Seiten hin characteristisch geschildert. Die
Freiheit der Erfindung macht dem Verfasser solcher Characteristiken das
Geschäft leichter, als es für die Characteristik historischer Personen
ist. Für den Verfasser einer historischen Characteristik ist die psychologische
Entwickelung fast das einzige, wenigstens das hauptsächlichste
Mittel, um seiner Darstellung einen gewissermassen historischen |#f0277 : 264|

Verlauf zu geben: solch ein Characteristiker dagegen kann auch die
einzelnen characteristischen Thatsachen in ganz eigentlicher Art historisch
verbinden. Zum Beispiel, er will den Character eines Zerstreuten
entwerfen: wäre der Zerstreute eine historische Person, so würde die
eine Thatsache, die als Beleg erzählt wird, vielleicht in ihr zehntes,
die andere in ihr fünfzigstes Lebensjahr gehören, und es bestünde zwischen
ihnen kein unmittelbarer geschichtlicher Zusammenhang; hier
aber, wo die Persönlichkeit des Zerstreuten mit all ihren Zerstreutheiten
frei erfunden ist, darf auch alles das in den ununterbrochen
fortschreitenden Verlauf der Geschichte etwa eines einzigen Tages aus
dessen Leben zusammengedrängt werden. Solchen Characteristiken
fehlte dann, um zu Novellen oder gar zu Romanen zu werden, nur
eine grössere Fülle von thatsächlichem Inhalt und eine reichere Verwickelung
desselben. Wirklich findet sich dergleichen bei Cervantes
unter seinen Novellen; es sind reine Characteristiken, die er jedoch
Novellen nennt.


2. DIE LEHRENDE PROSA.


Wie sich die erzählende Prosa sowohl ihrem innern Wesen nach
als in ihrer äussern historischen Entwickelung an die epische Poesie
anlehnt, so ist die zweite Art der Prosa, die lehrende, die didactische,
das Nachbild und Gegenbild der Lyrik, und zwar derjenigen Lyrik,
in welcher schon eine prosaische Richtung anklingt, der didactischen.
Schon früherhin (S. 154) ist angedeutet worden, wie sich das auch wenigstens
in der griechischen Litteratur ganz historisch nachweisen lasse: da
finden sich die Anfänge der philosophischen Didaxis dem Wesen und
der Form des Vortrages nach noch innerhalb der Poesie, und dann
erst, als die Erkenntniss wuchs, und die Philosophie auf verschiedenen
Wegen immer mehr der systematischen Ausbildung entgegenreifte, erst
da stellte sich nach und nach das Bedürfniss der prosaischen Form
und die prosaische Form selber ein; die rednerische Prosa aber hielt
in ihrer Ausbildung gleichen Schritt mit der philosophischen. In der
neuen Zeit freilich ist auf dem Gebiete der lehrenden Prosa kein
Stufengang der Art vorhanden, und die Gründe dazu liegen nah. Die
Deutschen und die übrigen neueren Völker bekamen zu einer Zeit, da
ihre Poesie noch am Anfang ihrer Laufbahn stand, da sie nur noch
das einfache Heldenlied besass und noch keine Lyrik, bekamen damals
schon mit dem Christenthum und der kirchlichen Gelehrsamkeit auch
die lehrende Prosa, und so gehn von den ersten Anfängen unserer |#f0278 : 265|

Litteratur an neben den verschiedenen Formen der Poesie, wie sie
stufenweise sich entwickelten, immer schon die beiden Hauptarten der
lehrenden Prosa her, die Abhandlung und die Rede. Gleichwohl wiederholt
sich auch in Deutschland, nur unter solchen Umständen mehr
verwischt und getrübt, jenes historische Verhältniss der didactischen
Prosa zur didactischen Poesie. Denn der erste rechte Aufschwung,
die erste reichliche Fülle und Blüte der abhandelnden und redenden
Prosa fällt auch bei uns in eine Zeit, wo die Poesie, namentlich aber
die Lyrik sich überblüht hatte und reif geworden war zur Ablösung
durch die Prosa: die Zeit vom Ausgange des dreizehnten Jahrhunderts
bis um 1350, die Blütezeit namentlich der deutschen Mystik. Vorher
hatte man auch in Deutschland für all dergleichen Dinge der poetischen
Form den Vorzug gegeben.


Es ist nach diesen historischen Bemerkungen nöthig, das verwandtschaftliche
Verhältniss dieser beiden Arten von Poesie und
Prosa nun auch in Bezug auf ihr inneres Wesen zu berühren; dabei
wird sich dann auch ergeben, in welche Arten die didactische Prosa
zerfalle.


Die Lyrik fasst das innere Leben des Gemüthes als ein gegenwärtiges
und im einzelnen Moment fixiertes auf. In so fern kann denn
auch die Lyrik Alles in ihren Bereich ziehn, was überhaupt dem geistigen
Leben des Menschen zufällt, und was, da es unvergänglich ist,
da es immer bestanden hat und bestehn wird, deshalb auch immer
gegenwärtig ist und in jedem einzelnen Momente existiert, die Gesetze
der Natur, der Sitte, der Religion. Wenn es nun so die Lyrik sich
zur Aufgabe setzt, die Wahrheiten der Sittenlehre, der Religion, der
Naturkunde zur Erkenntniss zu bringen und von ihnen zu überzeugen,
so ist sie didactisch: die gleichen Zwecke aber verfolgt die didactische
Prosa. Nur mit dem Unterschiede, dass die didactische Lyrik
immer, um ihre poetische Geltung zu behaupten, um eben Lyrik zu
sein, über den blossen Verstand hinausgeht und ihren Lehren namentlich
eine Beziehung auf das Gefühl zu geben bestrebt ist, und dass,
wo sie diess nicht thut, sie auch aufhört, Poesie zu sein, und nichts
mehr mit der Poesie gemein hat als die äussere metrische Form;
dagegen die didactische Prosa ist erst recht Prosa, je mehr sie innerhalb
des Verstandes verharrt, aber es thut ihrem Wesen auch keinen
Abbruch, wenn sie, um die Ueberzeugungen des Verstandes mit grösserer
Sicherheit durchzusetzen, auch das Gefühl, ja selbst die Phantasie
zu Hilfe ruft, sobald nur die Mittheilung der erkannten Wahrheit an
den Verstand, sobald nur die Ueberzeugung das zunächst wichtigste
Ziel verbleibt.

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Die lehrhafte Prosa schränkt sich also entweder auf den Verstand
und die Ueberzeugung ein, oder sie nimmt auch Gefühl und Phantasie
in Anspruch und fügt somit der Ueberzeugung die Ueberredung hinzu:
dadurch nun unterscheiden sich auch die beiden Hauptarten der
didactischen Prosa, die abhandelnde und die rednerische: die abhandelnde
überzeugt, die rednerische überzeugt und überredet.


Wir fassen zuerst die abhandelnde Prosa ins Auge.


Zur abhandelnden Prosa gehören alle wissenschaftlichen Werke,
deren Inhalt kein historischer ist, die nicht eine bewegte und vergangene
Wirklichkeit der Aussenwelt zum Gegenstande ihrer Darstellung
haben, sondern die Gesetze, die nur dem Geiste wahrnehmbar
in beständiger Gegenwart und unveränderlich andauernd hinter
und unter der beweglichen und vergehenden äusseren Wirklichkeit
liegen. Die Geschichtsschreibung gehört also zur erzählenden Prosa:
die Philosophie der Geschichte dagegen zur abhandelnden. Oder: die
Naturgeschichte, wie man das Wort jetzt strenger zu nehmen pflegt,
ist rein historisch: sie erzählt von der Bildung und Veränderung der
Erde oder der ganzen Welt und dessen, was in und auf und mit ihr
lebt; die Naturbeschreibung hält zwischen erzählender und abhandelnder,
historischer und didactischer Prosa eine Mitte, da ihr Gegenstand
zwar eine ruhende Wirklichkeit, aber eine Wirklichkeit der
Aussenwelt und eine solche ist, die in der Darstellung den Anschein
einer historischen Beweglichkeit gewinnen kann und soll: die Naturkunde
dagegen ist rein abhandelnd: denn sie hat bloss von den unwandelbaren
Gesetzen zu sprechen, von denen jene bewegte oder ruhende
Wirklichkeit nur die äussere vergängliche Erscheinung ist. Und so
fort. Trotz diesem wesentlichen Unterschiede kann man es dennoch
der abhandelnden Prosa nicht verwehren, dass sie jezuweilen in die
Erzählung oder Beschreibung hinüberstreife; es wird ihr auch in vielen
Fällen unmöglich sein, anders zu verfahren. Namentlich ist naturwissenschaftlichen
Werken diese Freiheit zu lassen: die Naturkunde
wird fort und fort genöthigt sein, hier Glieder der Naturgeschichte,
dort Glieder der Naturbeschreibung in sich aufzunehmen. An die
Erinnerung also darf sich der abhandelnde Prosaiker sehr wohl wenden:
denn nur diese eine Seite der Einbildungskraft wird bei solchem
Verfahren in Mitwirkung gezogen; aber nicht an die selbständige und
willkürlich schöpferische Phantasie und ebenso wenig an das sinnlich
und sittlich reizbare Gefühl. Denn sein Ziel ist lediglich die volle
unverkürzte Wahrheit, nicht aber das Gute als solches, nicht das
Schöne, nicht das Edle und Anmuthige. Die abhandelnde Prosa soll
nur überzeugen wollen, die Ueberredung dagegen durch Anregung |#f0280 : 267|

des Gefühls und der Phantasie muss sie der rednerischen überlassen,
bei der sie durch Zweck und begleitende Umstände gefordert wird,
wie wir späterhin sehen werden.


Es sind nun zwei Arten der abhandelnden Prosa zu unterscheiden,
die Abhandlung im engeren Sinne des Wortes und das Lehrbuch.


Die Abhandlung unterscheidet sich vom Lehrbuch durch ihre einschränkende
Einfachheit: sie hat zum Gegenstande immer nur eine
jener gesetzlichen Wahrheiten, nur einen wissenschaftlichen Satz; sie
kann aber in dessen Behandlung bejahend oder verneinend oder aus
Bejahung und Verneinung zusammengesetzt sein, behaupten oder widerlegen
oder vertheidigen. In beiden letzteren Fällen, wo nicht bloss
einfach und direct zu überzeugen, sondern zugleich eine entgegenstehende
Meinung oder Ueberzeugung aus dem Wege zu räumen ist,
in diesen Fällen ist dann eine vorzügliche Strenge und Schärfe der
Untersuchung und die grösste Genauigkeit und Ausführlichkeit der
Beweisführung erforderlich. Wie aber auch die Abhandlung beschaffen
sein möge, sei es bejahend oder verneinend oder vertheidigend, jede
muss überall einem in bestimmter Weise geordneten Entwurfe folgen.
Und darüber gilt im Allgemeinen folgende Regel, die in so fern sicher
ist und unverletzlich, als man sie dem Verstande abgesehen hat, der
seine Urtheile durch eben ein solches Verfahren gewinnt. Es besteht
nämlich jede rechte Abhandlung aus drei Gliedern, dem Eingang
(exordium oder expositio), der Abhandlung im engern Sinne des Wortes
oder der Ausführung (disputatio) und dem Beschluss (conclusio).
Natürlich dürfen diese Glieder nicht stückweise getrennt auseinanderfallen,
sondern der Uebergang vom einen zum andern muss in schicklicher
Weise vermittelt sein; es müssen organisch zusammenhangende
Glieder sein, nicht mechanisch zusammengesetzte Stücke. Im Eingang
wird der Satz, welcher soll erörtert, die Wahrheit, von welcher soll
überzeugt werden, in Einem Wort das Thema einfach aufgestellt und
zugleich die Wichtigkeit oder Nothwendigkeit der Erörterung nachgewiesen;
damit verbindet sich etwa noch, dass von den abweichenden
Ansichten oder den grade entgegengesetzten Behauptungen Anderer
Bericht erstattet wird. In den meisten Fällen ist es zweckmässig,
dass diese Begründung und Einleitung noch vorangehe, um auf das
Thema hinzuführen, und dann erst das Thema selbst ausgesprochen
werde. Ist diess geschehen, weiss also der Leser, was es gelte, und
dass es der Mühe werth sei, darüber nachzudenken und davon zu
sprechen, so kommt die Erörterung und Ausführung selbst, der eigentliche
Kern der Abhandlung, der deshalb auch wieder insbesondere
Abhandlung genannt wird. Hier wird die vorher einfach und einheitlich |#f0281 : 268|

aufgestellte Wahrheit analysiert: hier wird der Satz, wenn er mehr
allgemeiner Art ist, in seine Besonderheiten auseinandergelegt, wenn
aber ein besonderer, auf die Allgemeinheit zurückgeführt; in beiden
Fällen bedarf es einer Zergliederung seines Inhaltes; von allen Seiten
her werden Beweisgründe für seine Wahrheit beigebracht, und nach
allen Seiten hin werden Folgerungen daraus gezogen und damit die
möglichen oder wirklich gemachten Einwürfe widerlegt. Dann erst,
nach dieser analytischen Mannigfaltigkeit der Erörterung kommt im
dritten Theile, im Beschluss, die synthetisch zusammenfassende Einheit:
hier kehrt der Satz wieder, wie er schon im Eingange ist aufgestellt
worden, aber doch in ganz anderer Weise, unter ganz anderen
Verhältnissen: dort ward er aufgestellt, um bewiesen zu werden, hier
erscheint er als bereits bewiesen; dort ward er vorgelegt, um
zergliedert zu werden, hier werden die vereinzelten Glieder von
Neuem zu einem Ganzen zusammengefasst. So stellt jede Abhandlung
eine Kreislinie dar, die nach einem langen Umschweife von
einer anderen Seite her in denselben Punct zurückkehrt, von dem sie
ausgegangen.


Sodann das Lehrbuch. Das Lehrbuch verhält sich zur Abhandlung
ungefähr wie die ausgebildete Epopöie zum einfachen Heldenliede.
Während die Abhandlung nur einen vereinzelten wissenschaftlichen
Satz erörtert, legt das Lehrbuch ein ganzes System wissenschaftlicher
Wahrheiten dar, es enthält alle einzelnen Lehren einer Wissenschaft
zusammengefasst in sich. Ueber Plan und Anordnung eines Lehrbuches
lassen sich begreiflicher Weise keine allgemeinen Regeln aufstellen,
da hierin die eine Wissenschaft diess, die andere jenes Verfahren
fordert, ja manche Wissenschaft deren sehr wohl mehrere
zulässt, und da auch der jedesmalige Zweck und das Bedürfniss derer,
für welche das Lehrbuch zunächst bestimmt ist, manche Verschiedenheiten
der inneren und äusseren Einrichtung nöthig machen. Das freilich
muss in jedem Lehrbuch beobachtet werden, was sich übrigens
ganz von selbst versteht, dass man die Sachen nicht auf den Kopf
stelle, dass man die Folgerungen erst dann bringe, wenn die Sätze,
von denen sie begründet werden, aus denen sie hervorgehn, bereits
dagewesen sind. Dass jedoch begründender Satz und Folgerung immer
unmittelbar zusammenstehn, das kann man nicht so verlangen. Wenn
man ein System rein in seinem abstracten Schematismus auffasst, so
steht da freilich Manches neben einander, was doch die Darstellung
immer nur nach einander geben kann, und Manches unmittelbar zusammen,
was die Darstellung weit von einander trennen muss; dadurch
wird dann der grade Verlauf der Entwickelung mannigfach unterbrochen, |#f0282 : 269|

und der Verfasser ist fort und fort zu demselben episodischen
Verfahren genöthigt, das wir bereits in der Epopöie (S. 83) und in
den meisten Arten der Geschichtsschreibung (S. 249) gefunden haben;
in der blossen Abhandlung ist wie in der Biographie und im einfachen
Heldenliede der Regel nach kein Anlass zu einer solchen
episodischen Behandlungsweise.


Es giebt nun noch zwei mehr künstlerische Gestaltungen der abhandelnden
Prosa, die Form des Dialogs und die Briefform. Wir sind
beiden Formen bereits im Gebiet der erzählenden Prosa, des Romans,
begegnet, und wie wir sie dort kennen lernten als Mittel, eine dargestellte
Persönlichkeit noch individueller zu characterisieren, so werden
sie auch in der abhandelnden Prosa dann angewendet, wenn es darauf
ankommt, einen wissenschaftlichen Satz oder eine Reihe von Sätzen in
der grössten Anschaulichkeit darzustellen und recht siegreich überzeugend
durchzuführen. Denn mit diesen Formen ist die Möglichkeit gegeben, die
behauptete Wahrheit so erschöpfend von verschiedenen Standpuncten
aus zu betrachten und alle Einwürfe, auch die unbedeutendsten, in
solcher Ausführlichkeit hin und her zu überlegen und wo nöthig auch
zu widerlegen, wie das in der Form der gewöhnlichen Abhandlung
nur selten angeht. Und natürlich sind diese Vortheile bei dem schneller
wechselnden Dialog in noch reicherem Masse vorhanden als bei der
Briefform. Die letztere wird deshalb auch auf Gegenstände, wie sie
hier in Betracht kommen, nur seltener angewendet. Ein vorzügliches
Beispiel sind die polemischen Briefe Lessings, die an den Pastor
Göze in Hamburg 1778 gerichteten über theologische Dinge, und die
Briefe antiquarischen Inhalts von 1768. Beidemal haben wir da keinen
eigentlichen Briefwechsel, es sind Alles nur Briefe von Lessing,
aber sämmtlich in einer so lebendig individuellen Bezüglichkeit, dass
man keine Fragen und Antworten von der anderen Seite her vermisst.
Sie sind auf dem Gebiete der abhandelnden Prosa dasselbe, was auf
dem des Romans Göthes Werther, wo die Briefe auch alle nur von
Einer Seite geschrieben sind.


Häufiger war von jeher der Dialog. Der Dialog als umkleidende
Form der Abhandlung war schon im griechischen und römischen Alterthum
bekannt und beliebt, und auch von Neueren wird er häufig genug
gebraucht; in Deutschland zuerst von Johann Jacob Engel und Moses
Mendelssohn (Phaedon oder über die Unsterblichkeit der Seele in drei
Gesprächen 1767). Zu Zwischenrednern des lehrhaften Dialoges werden
zuweilen fingierte Persönlichkeiten mit willkürlich ihnen beigelegten
Characteren und Ansichten gemacht: so bei Lessing (Ernst und Falk,
Gespräche für Freimaurer 1778), bei Karl Wilh. Ferd. Solger (Erwin, |#f0283 : 270|

Vier Gespräche über das Schöne und die Kunst 1815); das ist jedoch
hier, wo die Form sich dem Drama nur annähert, noch um vieles
bedenklicher, als im eigentlichen Drama selbst. Schon dem Dichter
eines ernsten Dramas wird es schwer, einer erfundenen Persönlichkeit
volles Leben und rechten Character zu verleihen, aber es ist doch
möglich: in einem abhandelnden Dialog jedoch, der aller eigentlich
dramatischen Handlung entbehrt, möchte das gradezu unmöglich sein.
Das hat Herder auch sehr wohl erkannt und in seinem vortrefflichen
Werk vom Geist der ebräischen Poesie die dialogische Form bald
wieder aufgegeben. Daher ist das andre Verfahren, wie es als erstes
Muster Plato und nach seinem Vorgange auch Cicero beobachtet, um
vieles vorzüglicher. Die Redenden in Platos Dialogen sind sämmtlich
wirkliche, mehr oder minder bedeutende Personen seiner Zeit, Persönlichkeiten
von gegebenem Character und bereits bekannten Grundansichten.
Da hat er nun den grossen Vortheil, dass er ihren Character
und ihre Stellung in der geistigen Welt nicht erst durch ihre
Reden darzulegen und zu entwickeln braucht, sondern dass er sie
als bekannt voraussetzt, sie gleich aus dieser ihrer Stellung und ihrem
Character heraus kann reden lassen. Er darf den Dialog handhaben
wie ein Epiker, der seine Personen auch nur ihrem Character gemäss
reden lässt, nicht wie ein Romanschreiber, der durch Gespräche seine
Personen erst muss zu characterisieren suchen. Aber doch ist er es,
der sie reden lässt: wenn auch die Redenden selbst keine fingierten
Personen sind, so sind sicherlich doch diese ihre Gespräche, wenigstens
in dieser Gestalt fingiert, ebenso fingiert als jene Gespräche von
Lessing und Herder und Solger. Denn es ist ausgemacht, dass Plato
namentlich seinem Socrates Vieles in den Mund legt, was nicht socratisch,
sondern nur platonisch ist. Er legt aber seine platonische Weisheit
mit derselben Freiheit und demselben Rechte dem Socrates in
den Mund, womit ihn Aristophanes in den Wolken allerhand Thorheiten
in Wort und That begehn lässt. Beide brauchten ein repräsentierendes
Individuum, Aristophanes für die Philosophiererei, Plato
für die Philosophie: beide nahmen dazu einen und denselben und
fassten und gestalteten ihn jeder von seinem Standpuncte aus und für
seine Zwecke. Uebrigens soll die Briefform wie die des Dialogs
immer bloss zur Umkleidung dienen: der Gang der Abhandlung muss
in ihnen der gleiche, muss ebenso dreitheilig eingerichtet sein, wie
das vorher ist angegeben worden. Man darf die Art, wie man sich
wohl gewöhnlich bespricht oder Briefe wechselt, nicht so getreu nachahmen,
dass man all die Verwirrungen und Missverständnisse, die
schiefen Fragen und verkehrten Antworten, die da vorzukommen |#f0284 : 271|

pflegen, nun auch in die abhandelnden Briefe und Dialoge hinübernähme:
denn alsdann würden diese Formen dem letzten Zwecke der
Ueberzeugung mehr schaden als nützen. Dergleichen muss natürlich
beseitigt werden, ausser wo es, wie bei Plato, zur Entwickelung hilft,
oder, wie bei Socrates, zur dialectischen Methode gehört, und die
Kunst des Verfassers wird sich besonders darin zeigen, dass der
Dialog, der Briefwechsel vollkommen planmässig geordnet sei, und
man es ihm doch nicht ansehe, dass es vielmehr scheine, als mache
sich das Alles so von selbst, als gehe das Gespräch in leichten, zufälligen
Schritten einen vorher noch gar nicht berechneten Weg. Als
negatives Muster mag O. F. Gruppes Antaeus gelten, ein gegen die
Hegelische Philosophie gerichteter Briefwechsel: hier finden wir nichts
als ein planloses Durcheinander, mitten im Briefwechsel ist das gesetzte
Ziel schon mehrere Mal erreicht, und mehrere Mal wird wieder von
vorn angefangen: es herrscht in diesem fingierten Briefwechsel, der
doch auf ein bestimmtes Resultat hinarbeitet, beinahe noch mehr vergessliche
und unaufmerksame Nachlässigkeit, als sonst wohl in einem
wirklich geführten Briefwechsel herrscht, wenn er mit Verstand geführt
wird.


Soviel von der ersten Art der lehrenden Prosa; nunmehr haben
wir noch die rednerische Prosa zu besprechen.


Mit der Betrachtung der rednerischen Prosa gelangen wir zu
demjenigen Abschnitte der Rhetorik, der insbesondre für sich den
Namen der Rhetorik ansprechen darf, insofern Rhetorik eigentlich
die Theorie der Beredsamkeit bezeichnet. Da wir gegen die gewohnte
Weise Alles ausschliessen, was der Stilistik angehört, so wird für
uns dieser Abschnitt, obwohl immer noch umfangreich genug, kürzer
ausfallen, als sonst die Rhetoriken zu sein pflegen.


Der Unterschied der rednerischen Prosa von der abhandelnden
ist bereits kurz bezeichnet worden: die abhandelnde sucht ihren lehrhaften
Zweck zu erreichen durch blosse Ueberzeugung, die rednerische
braucht nach der Ueberzeugung auch noch die Ueberredung. Die
Abhandlung verbleibt daher bei der blossen Wirksamkeit des Verstandes
und der Einwirkung auf den Verstand; von den anderen Kräften
darf etwa nur noch die Erinnerung in ihr thätig sein und auch diese
nur in so fern, als die Abhandlung zuweilen ihre eigentliche Natur
ablegt und in die Erzählung oder Beschreibung übergeht. Die Rede
hat freilich als nächstes Ziel auch nur den Verstand: aber sie fügt zu
der Gewalt der verständigen Ueberzeugung immer noch diess, dass
sie auch die Einbildung in Anspruch nimmt und namentlich mit ihrer
Hilfe auch auf das Gefühl einwirkt, und zwar insofern auf diesem der |#f0285 : 272|

Wille beruht. Der Grund ist der, dass jegliche Rede ausser jenem
unmittelbar in ihr selbst liegenden Zwecke der Belehrung noch einen
zweiten über ihre unmittelbare Wirkung hinaus liegenden hat: es
genügt ihr nicht daran, eine verständige Einsicht der Zuhörer zu
bewirken und zu befestigen, sie bezweckt demnächst auch, dass sich
dieser gewonnenen Einsicht gemäss der Wille der Zuhörer thatsächlich
äussere: hinter der ersten unmittelbaren Wirkung, dem Wissen, zielt
sie immer noch auf eine zweite mittelbare, das Wollen und Handeln.
Und in so fern könnte man die Rede allenfalls von der übrigen Prosa
absondern und sie dieser und der Poesie gegenüberstellen in der Weise,
dass, während die Poesie auf das Schöne, die übrige Prosa auf das
Wahre zielt, die Rede zum letzten Zwecke das Gute hat. Damit hätte
denn auch diese dritte Aufgabe des Menschen ihren sprachlichen Ausdruck
und ihre Erfüllung durch das Wort gefunden. Unthunlich ist
das nur, weil die Rede doch auch nur Prosa, keine von Poesie und
Prosa verschiedene dritte Form ist. Diesen practischen, thatsächlichen
Zweck hat aber eine Rede immer nur darum und deshalb, weil sie
auch aus einem thatsächlichen Grunde und Anlass hervorgeht: das
Factum, das noch in der Zukunft liegt als eines, dessen Wollen erst
betrieben wird, steht immer in causalem Zusammenhang mit einer
bereits vergangenen oder noch gegenwärtigen, factischen Wirklichkeit.
Und so hat jede Rede nach beiden Seiten hin, vor sich und hinter
sich, eine factische und practische Beziehung. Solch eine vorwärts und
rückwärts gehende Beziehung und solch ein doppeltes Ziel, das theoretische
für den Verstand, das practische für den Willen des Hörers, hat
jegliche Rede, sobald sie eine rechte Rede, eine Rede dem Wesen nach
ist, und nicht bloss der Form und dem Scheine nach. Wir können
das Alles am besten des Nähern ausführen, wenn wir gleich hier die
verschiedenen Arten der Rede unterscheiden, die zu unterscheiden
sind. Da giebt es erst im Allgemeinen den Gegensatz zwischen
weltlicher und geistlicher Beredsamkeit; die weltliche ist aber entweder
eine politische oder eine gerichtliche. Somit ergeben sich die
drei Arten der politischen, der gerichtlichen und der geistlichen Beredsamkeit.



Die politischen Reden heissen bei den Theoretikern des Alterthums
berathschlagende (γένος συμβουλευτικόν, genus deliberativum). Diese
Art der Beredsamkeit, und eigentlich auch die gerichtliche, kann sich
immer nur bei solchen Völkern ausbilden, denen eine freie Oeffentlichkeit
des Staatslebens vergönnt ist, in Republiken und in constitutionellen
Monarchien. Wir werden also die Muster politischer Redekunst
namentlich bei den Griechen und für die neuere Zeit am frühesten in |#f0286 : 273|

England und etwa in Frankreich zu suchen haben. Jede solche Rede
hat also zuerst einen äusseren Anstoss und Anlass in einer eben geschehenen
Thatsache oder in einer noch vorliegenden Wirklichkeit. Es
hat sich z. B. Philipp von Macedonien als Eroberer Uebergriffe erlaubt,
wodurch Athen in seiner freien Existenz gefährdet ist; oder es ist
dadurch, dass die volkreichsten und blühendsten Städte Englands gar
nicht im Parlament repräsentiert sind, ein bedrohliches Missverhältniss
innerhalb der englischen Verfassung eingetreten. Nun treten Demosthenes
und Lord Russel vor dem versammelten Volke auf und entwickeln
die politischen Grundsätze, welche bei diesem Anstoss in Betracht kommen:
aber sie haben es nicht bloss auf diese Theoreme abgesehen, sie
wollen Athen und England nicht bloss von deren Wahrheit überzeugen,
sondern sie wollen ihr Volk auch bewegen, dieselben ins Werk zu
setzen, jene Theoreme auch practisch zu machen, nicht bloss zu wissen,
sondern auch demgemäss zu wollen und zu handeln; die Athener
sollen sich zum Schutze ihrer Freiheit waffnen, die Volksvertretung
Englands soll reformiert werden: kurz, sie fügen zu der Ueberzeugung
noch die Ueberredung: erst damit wird ihr Vortrag zu einer Rede,
ohne sie wäre er eine blosse Abhandlung. Und so wie in diesen Beispielen
ist jegliche politische Rede immer nur eine Erörterung von
Grundsätzen der Staatsweisheit auf einen thatsächlichen Anlass und zu
einem thatsächlichen Zwecke.


Die gerichtliche Rede (γένος δικανικόν, genus judiciale) hat in
derselben practischen Doppelbeziehung die Wahrheiten des Rechts, die
rechtlichen Grundsätze darzulegen und zu behaupten. Sie klagt entweder
an oder sie vertheidigt. In beiden Fällen ist der thatsächliche
Anlass eine Rechtsverletzung: denn auch eine unbegründete Anklage,
gegen die sich nun die Vertheidigung richtet, ist eine Rechtsverletzung.
Der vertheidigende oder anklagende Redner will nun nicht bloss jene
Rechtssätze erkannt und anerkannt, sondern auch angewandt haben,
es soll sich daraus in der Wirklichkeit eine Wiederherstellung der
gestörten Rechtsverhältnisse ergeben, Freigebung des unschuldig Angeklagten,
Bestrafung des Schuldigen. Ich brauche kaum zu erinnern,
dass sich von den antiken Mustern der gerichtlichen Beredsamkeit die
Mehrzahl in der römischen Litteratur, bei diesem Volke des Rechtes
vorfindet.


Von geistlicher Beredsamkeit weiss das antike Heidenthum nichts;
aber sie ist nicht grade dem Christenthum, sie ist überhaupt den monotheistischen
Religionen eigen, auch dem Judenthum und dem Mohamedanismus;
sie hat sich aber, getragen durch den Gehalt des religiösen
Bekenntnisses und durch die anderweitige Bildung, in der christlichen |#f0287 : 274|

Welt zur höchsten Stufe der Vervollkommnung erhoben. Hier finden
wir auch schon frühzeitig und immer wieder ihre Theorie, die Homiletik.
Die älteste Homiletik ist in den vier Büchern de doctrina christiana
von Aurelius Augustinus (354─430) enthalten. Man macht
einen Unterschied zwischen Predigten und Casualreden (Gelegenheitspredigten):
danach könnte es scheinen, als wenn die geistliche Beredsamkeit
zur Darstellung ihrer, der religiösen Wahrheiten nicht grade
immer eines vorliegenden factischen Anlasses, einer Gelegenheit bedürfe,
in der Art, wie die gerichtliche und die politische sich immer an einen
solchen anlehnen: allerdings haben auch nur die Casualreden einen
Anlass, der in ganz gleicher Weise der geschichtlichen Wirklichkeit
angehört, z. B. den Tod eines Gemeindegliedes, einen Sieg, eine
gesegnete Ernte oder etwa eine Predigerversammlung u. dgl. Indessen
auch den im engeren Sinne sogenannten Predigten fehlt der äussere
Anlass und Anstoss nicht, sie knüpfen sich auch an etwas historisch
Gegebenes, nur freilich an etwas historisch Gegebenes von ganz anderer
Art als jene weltlichen Reden, nämlich an das Wort Gottes. Hier ist
also der Anlass keine bloss einmal eingetretene Thatsache, es sind
keine grade jetzt nur vorliegenden Umstände, sondern eine in unveränderlichem
Bestande fortdauernde Wirklichkeit, wie denn auch nach
der strengeren Ordnung der katholischen und der ihr folgenden lutherischen
Kirche mit jedem neuen Kirchenjahr derselbe Kreislauf derselben
biblischen Texte, der sogenannten Perikopen, wiederkehrt. In
gleicher Weise unterscheidet sich auch der practische Zweck der geistlichen
Beredsamkeit von dem practischen Zwecke der weltlichen. Der
gerichtliche Redner und der politische haben, wie ihr Anlass ein momentaner
ist, so auch immer nur eine momentane und vereinzelte Wirkung
im Auge; die Thatsachen, die sie bezwecken, sind Thatsachen der
äusseren Welt und können deswegen auch immer nur einmal grade
so zur Erscheinung kommen: die Aussendung der athenischen Flotte,
die Freisprechung des Roscius von Ameria sind die Sache eines
Momentes. Und jede neue Rede geht auf Herbeiführung neuer so
vergänglicher Facta aus. Anders die geistliche Beredsamkeit. Indem
hier der Redner auf Anlass des göttlichen Wortes die Wahrheiten der
Religion verkündigt, ist seine Absicht nicht, die Zuhörer zu einer vorübergehenden
äusseren Handlung zu bewegen; wie hier der Anlass ein
beständig fortdauernder ist, so liegt auch die bezweckte Wirkung nicht
in den Schranken des Momentes und der sinnlichen Aussenwelt, sondern
es ist die nirgend von Raum und Zeit abgegrenzte, über das
Erdenleben hinausgreifende Erbauung des Reiches Gottes. Also auch
hier ein practischer Zweck, zu dessen Herbeiführung die blosse Ueberzeugung |#f0288 : 275|

nicht ausreichen würde, für den auch der Wille muss angeregt
werden; auch hier eine Thatsache, nur keine momentan vergängliche;
auch hier eine Wirklichkeit, nur keine mit Auge und Ohr wahrnehmbare.
Und jeder Prediger will in jeder neuen Predigt keinen
anderen Zweck, als immer wieder diesen selben.


Ausser diesen drei Arten von Reden, den politischen, den gerichtlichen
und den geistlichen, gab es schon im Alterthum und giebt es
namentlich in der neueren Zeit noch mancherlei Reden anderer Art, die
sich alle unter dem altherkömmlichen Namen des genus demonstrativum
(γένος ἐπιδεικτικόν) vereinigen lassen: dieser Name sagt so wenig
Bestimmtes aus, dass er zugleich sehr Vieles aussagen kann. Die
alten Rhetoriker belegen aber mit diesem Namen insbesondere die
Lobreden, Reden, die bestimmt sind, die Verdienste eines Lebenden
oder Todten zu verherrlichen, daher auch die Benennung genus laudatorium
(λόγος πανηγυρικός), womit zunächst eine in der allgemeinen
Volksversammlung (πανήγυρις) gehaltene Festrede, dann aber auch und
vorzugsweise eine Lobrede bezeichnet wird. Wir haben aus dem Alterthum
z. B. einen solchen Panegyricus vom jüngern Plinius, eine auf
Trajan im Senat gehaltene Lobrede, bei Trajans Lebzeiten und in
dessen Anwesenheit, deshalb auch in beständiger Anrede an Trajan
selbst gerichtet. Aus neuerer Zeit gehören dahin z. B. Engels noch
bei Friedrichs des Grossen Lebzeiten verfasste Lobrede auf diesen,
sodann die von Göthe am 18. Februar 1813 in der Freimauerloge zu
Weimar gehaltene Gedächtnissrede Zu brüderlichem Andenken Wielands
(LB. 3, 2, 647); dahin auch die schon früher (S. 263) genannten academischen
Eloges der Franzosen. Indessen ob und inwiefern dergleichen
Reden eigentlich noch der Name von Reden gebühre, ist schon früher
angedeutet worden. Alle Reden dieser Art haben zuletzt mit den
eigentlichen Reden nur noch die Form gemein, und auch diese nur in
unvollkommener Weise, da ihnen zu viel von dem rechten Wesen der
Rede gebricht. Ihr Anlass ist häufig gar keine rechte Thatsächlichkeit,
weder eine momentane, noch eine beständig fortdauernde; einen practischen
Zweck haben sie auch nicht, da es keine allgemeinen Wahrheiten
sind, die hier sollen dargestellt und auf einen bestimmten Fall
angewendet werden. Sondern ein Panegyricus ist von Anfang bis zu
Ende eben weiter nichts als eine Characteristik, also eine historisch
didactische Darstellung, die aber an der characterisierten Person nur
die löblichen Seiten betrachtet und die tadelnswerthen überkleidet; um
jedoch diess zu können, müssen Verstand und Erinnerung noch die
Phantasie und die Sentimentalität zu Hilfe rufen, und damit ist es
denn dem Panegyricus erleichtert, seiner Beschreibung den Anschein |#f0289 : 276|

einer Rede zu geben. Ein Panegyricus der neueren Zeit jedoch macht
von den übrigen eine bemerkenswerthe Ausnahme, die academische
Lobrede Johannes von Müllers auf Friedrich den Grossen (De la gloire
de Frédéric II.; deutsch von Göthe: LB. 3, 2, 597). Allerdings geht
auch sie auf Characteristik aus, aber nicht ohne einen gewissen
thatsächlichen Anlass und nicht ohne practischen Zweck, wie beide für
eigentliche Reden gefordert werden. Der thatsächliche Anlass ist der
in der Berliner Academie beständig fortdauernde Ruhm jenes Königs,
wie ja dieselbe noch gehalten ist, alljährlich dessen Gedächtnisstag
zu feiern; der practische Zweck lag in den waltenden Zeitumständen:
die Rede ist gehalten im Jahre 1807, als die preussische Monarchie
vernichtet zu sein schien: da galt es denn, durch das Bild jenes
Ruhmes sowohl die Preussen selber zu trösten und zu ermuthigen, als
auch den Uebermuth des Siegers zu dämpfen und seine Grossmuth zu
gewinnen. Bei der Verdeutschung mag man noch besonders bewundern,
wie es Göthe gelungen sei, sich den Eigenthümlichkeiten des
Müllerischen Stiles anzuschmiegen.


Wenn die Lobreden eigentlich Characteristiken, also wesentlich
historisch sind, nur umkleidet mit dem Schmucke der Rhetorik, so
sind eine andere Art Reden, die wir auch ganz wohl noch zu dem
genus demonstrativum rechnen dürfen, häufig weiter nichts als Abhandlungen.
Es sind das die Schulreden, Reden bei academischen und
Schulfeierlichkeiten, deren die neuere Zeit viele auch über Gegenstände
nicht historischer Art besitzt: das Alterthum kannte dergleichen noch
gar nicht. Als Beispiele erwähne ich hier bloss Herders Schulrede
von der Annehmlichkeit, Nützlichkeit und Nothwendigkeit der Geographie
(LB. 3, 2, 485) und Schillers academische Antrittsrede vom Jahre
1789: „Was heisst und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“
Im Grunde sind das nur Abhandlungen über wissenschaftliche
Themata, verständig überzeugende, ohne rechte rückwärts
und vorwärts deutende factische Bezüglichkeit, denen es aber deshalb
möglich war obenhin den Anschein von Reden zu geben, da die Rede
in der ganzen Art und Weise ihres Baues so viel Uebereinstimmendes
hat mit dem Bau einer Abhandlung, wie dieser früher ist beschrieben
worden.


Wir sprechen jetzt vom Bau der Rede. Wohlgeordnete Abhandlungen
bestehn, wie wir gesehen haben (S. 267), jedesmal aus drei Theilen,
dem Eingange, der eigentlichen Abhandlung und dem Beschluss. Die
Rede nun, da ihr unmittelbarer und in ihr selbst liegender Zweck
auch die Ueberzeugung ist, muss sich, um diesen Zweck zu erlangen,
ebenso gliedern und ordnen, wie eine Abhandlung geordnet ist, auch |#f0290 : 277|

dreitheilig. Aber es ist bei der Rede ein äusserer Anlass, der zur
Betrachtung und Erörterung der behandelten Wahrheiten getrieben
hat, und es kommt bei ihr zu dem unmittelbaren theoretischen Zwecke
der Ueberzeugung noch ein mittelbar practischer: es soll, wenn die
Rede vorüber, nicht bloss etwas gewusst, es soll auch etwas gewollt
und gethan werden; sie zielt nicht bloss auf das Wahre, sondern
darüber hinaus auch noch auf das Gute. Um diess Resultat herbeizuführen,
bedarf es nun nächst der Einwirkung auf den Verstand noch
der Einwirkung auf den Willen, nächst der Ueberzeugung noch der
Ueberredung, diess Wort natürlich nicht in dem gemeinen Sinne genommen,
sondern in dem höheren, den ihm die wissenschaftliche Sprache
gegeben hat, wo auch die reinste und ehrenhafteste Einwirkung auf
einen fremden Willen so genannt wird. Um aber auf den Willen einzuwirken
und ihn zu bestimmen, müssen Einbildung und Gefühl angeregt
werden: demnach bleibt der dreitheilige Bau der Abhandlung
zwar auch die Grundlage für den Bau der Rede, aber die practischen
Beziehungen und die Einmischung von Gefühl und Einbildung geben
dem Gebäude, das über jener Grundlage errichtet wird, die vielgliedrigste
Mannigfaltigkeit. Der factische Anlass will auch, und dieser
natürlich gleich zu Anfange im ersten Theile, angegeben sein, der
practische Zweck verlangt seinen stärksten Ausdruck natürlich im
letzten, im dritten; und so drängt sich Alles, was die Rede vor der
Abhandlung voraus hat, in den ersten und in den dritten Theil, an
den Anfang und an das Ende, und nur der mittlere Theil bleibt allgemein
betrachtet in der Rede so beschaffen, wie er es in der Abhandlung
ist: Kern und Mitte bildet auch hier die auf den Verstand berechnete
Wirksamkeit des Verstandes, bildet die Abhandlung im engeren
Sinne, die zur Ueberzeugung führen soll; wenn auch dieser Theil von
der Einbildung und dem Gefühl gefärbt wird, so ist das eben eher
nur eine Färbung, damit er im Aeusseren nicht gar zu sehr absteche
von den anderen Theilen: sein Wesen aber ist rein verständig.


Bei solchem Verhältnisse der Rede zur Abhandlung zerfällt zwar
auch jene in drei Glieder, die wie die der Abhandlung benannt werden,
nämlich in Eingang, Ausführung oder Abhandlung und Beschluss,
oder lateinisch exordium oder expositio, disputatio und conclusio.
Aber in das Exordium gehört hier neben der Exposition der Wahrheiten,
welche sollen behandelt werden, noch die Angabe des factischen
Anlasses, und zugleich wird hier der erste Versuch gemacht, auf
den Willen einzuwirken; und in der conclusio kommt zu der verständigen
Zusammenfassung des bis dahin Disputierten noch die Beziehung
auf den practischen Zweck und deswegen auch ein wiederholter und |#f0291 : 278|

nun noch stärkerer Anlauf auf den Willen der Zuhörer. Daher zerfallen
denn exordium und conclusio wieder in mehrere untergeordnete
Glieder. Und diese Mehrgliedrigkeit des ersten und des dritten Theiles
ist für viele Rhetoriker ein Grund, bei der Rede ganz und gar nicht
von einer dreitheiligen Einrichtung zu sprechen, sondern eine grössere
Reihe von Theilen vollkommen coordiniert neben einander zu stellen,
deren dann die einen vier, die anderen sechs, ja manche Lehrer der
geistlichen Redekunst, der Homiletik, sieben zählen. Wo man vier
Theile unterscheidet, heissen sie: Eingang, Exposition, Argumentation
und Beschluss; wo sechs, Eingang, Exposition, Erklärung, Beweisführung,
pathetischer Theil, Beschluss; die sieben Theile, welche die
Homiletik aufstellt, sind: Gebet, Eingang, Uebergang, Thema, Eintheilung,
Ausführung, Beschluss. Diese vier, sechs, sieben Theile
lassen sich aber alle sehr wohl auf die von der Abhandlung gegebene
dreitheilige Grundlage zurückführen, und man thut es mit dem grössten
Nutzen und muss es thun: wir haben früher gesehen, welche organische
Nothwendigkeit bei der Abhandlung sie besitze. Wir rechnen
demnach zum Exordium von den vier Theilen und ebenso von den
sechs Eingang und Exposition, von den sieben der Homiletiker Gebet,
Eingang, Uebergang, Thema und Eintheilung; mit der disputatio fallen
zusammen von den vier Theilen die Argumentation, von den sechs die
Erklärung und Beweisführung, von den sieben die Ausführung; mit der
conclusio endlich von den vier Theilen der Beschluss, von den sechs der
pathetische Theil und der Beschluss, von den sieben der Beschluss.


Indem wir jetzt zur näheren Betrachtung der drei Theile der
Rede und ihrer Unterabtheilungen übergehn, haben wir noch die
allgemeine Bemerkung vorauszuschicken, dass zwar die Theorie der
Rhetoriker diese Theile von einander sondere, und dass auch der
Redner, wenn er die Rede entwirft, diese Gliederung ins Auge fassen
müsse, dass jedoch bei der Ausführung Alles darauf ankomme, die
Haupttheile sowohl als die Unterabtheilungen so eng und innig als
möglich mit einander zu verketten und zu verschmelzen. Darauf kommt
hier, in einer Rede, noch viel mehr an, als das bereits in einer Abhandlung
der Fall ist; denn den lebendigen practischen Zwecken, welche
jegliche Rede hat, ist wahrlich schlecht damit gedient, wenn der
Zuhörer statt eines belebten und beseelten Leibes das starre Gerippe
eines Schemas mit nach Hause nimmt. Zwar bleibt ihm alsdann der
Gedankengang des Ganzen Schritt für Schritt erinnerlicher, und er
weiss sich leichter über das, was er gehört hat, eine verständige
Rechenschaft zu geben: aber eben eine verständige Rechenschaft; sein
Verstand ist dann mehr in Anspruch genommen als für den wesentlichen |#f0292 : 279|

Zweck der Rede taugt, neben der Belehrung und durch dieselbe
auch auf den Willen einzuwirken. Gleichwohl lässt sich, wie einmal
die Sachen stehn, jene enge Verkettung beinahe nur noch von der
weltlichen Beredsamkeit fordern: denn in der geistlichen ist es durch
Rücksicht auf die alleräusserlichste Bequemlichkeit des Predigers und
der Gemeinde zu einer weitverbreiteten Uebung geworden, besonders
in der lutherischen Kirche, dass nach Vollendung des ersten Theiles
gradezu innegehalten und aller Zusammenhang durch eine wirkliche
Pause, durch den Gesang der Gemeinde unterbrochen werde. Dagegen
kann nun, wo das einmal üblich ist, der geistliche Redner nichts
mehr machen: aber er soll, was er hier verfehlen muss, wenigstens
anderswo zu vergüten suchen, soll dann wenigstens anderswo die
Uebergänge von Theil zu Theil, von Glied zu Glied desto leichter
und unmerklicher, desto mehr innerlich, desto weniger äusserlich
bilden.


Der erste Theil, das Exordium. Die Bestimmung des Einganges
ist, wie Cicero (z. B. de inventione 1, 15, 20) und andere Rhetoriker
des Alterthums lehren, den Zuhörer wohlwollend, aufmerksam und
gelehrig zu machen: exordium est ut auditorem habeas benevolum
attentum docilem. Wir können uns vollkommen an diese Definition
halten, und wir wollen ihr mehr bindende Aufmerksamkeit schenken,
als das wohl sonst bei den neueren Rhetorikern der Fall ist. Einmal
ist auf die Reihenfolge der Adjectiva zu achten: sie sind weder so
gleichbedeutend, noch stehn sie einander in ihrem Sinne so fern, dass
es gleichgiltig sein könnte, wie man sie ordnet. Ihre Anordnung
enthält vielmehr einen causalen Fortschritt: die benevolentia bewirkt
die attentio, und die attentio hat zur Folge die docilitas. Demgemäss
richtet sich denn auch das Exordium in eben diesem Stufengange auf
das genannte dreifache Ziel: es sucht zuerst Wohlwollen zu gewinnen,
dann erweckt es Aufmerksamkeit, dann endlich nimmt es die Gelehrigkeit
in Anspruch. Sodann ist auch anzuerkennen, wie jene Definition
Zweck und Wesen des Exordiums vollständig erschöpfe; sie
berücksichtigt das Verhältniss, in welches sich der auftretende Redner
zu seiner Zuhörerschaft begiebt; sie berücksichtigt die im Exordium
geforderte Rückdeutung auf den Anlass und die Hinweisung auf den
bevorstehenden theoretischen Inhalt und den practischen Zweck der
Rede, sie berücksichtigt das Zusammenwirken der drei Seelenkräfte,
des Gefühls, der Einbildung, des Verstandes; sie berücksichtigt mit
Einem Worte die Mischung des allgemeinen lehrhaften Elementes mit
dem besonderen rednerischen, durch welche das Exordium einer Rede
sich von dem einer Abhandlung unterscheidet.

|#f0293 : 280|


Das ist nun Alles genauer zu erörtern. Es ist angemessen, dass
die Rede sich gleich von vorn herein als solche ankündige, dass sie
schon beim ersten Anfange ihren eigenthümlichen Character behaupte
und bewähre, also dass sie gleich mit einer Einwirkung auf den Willen,
mit Ueberredung anhebe. Nun ist es aber nicht möglich, schon
jetzt den Willen auf das bestimmte Ziel hinzulenken, das jenseits der
Rede liegt, schon jetzt den Zuhörer zu überreden, dass er etwas
thue: er ist ja noch gar nicht belehrt, was geschehen ist, wie kann
man ihm da schon sagen, was geschehen solle? Er ist über die
ganze Sache noch zu gar keiner theoretischen Ueberzeugung gelangt:
wie kann man da jetzt schon einen practischen Entschluss von ihm
fordern? Diese eigentliche, volle Ueberredung muss daher nothwendiger
Weise verspart werden auf den dritten Theil, wo die factische
und wo die practische Belehrung bereits abgethan und zur Genüge
ausgeführt sind. Gleichwohl soll das Exordium mit Ueberredung
beginnen. Das geht nun unter solchen Umständen nur in der Weise,
dass der Redner die Willfährigkeit der Zuhörer statt auf den beabsichtigten
Zweck auf sich selbst hinleite, auf sich den Redner, der
den Zweck beabsichtigt; dass er die Zuhörer zwar noch nicht jenem
Zwecke, sondern nur noch sich selbst geneigt und wohlwollend zu
machen suche. Und damit ist denn auch für die eigentliche, volle
Ueberredung schon genug gewonnen: ist der Zuhörer dem Redner
einmal geneigt, begleitet er die Worte dessen, der ihn überreden
will, von Anfang an mit persönlichem Wohlwollen, so ist er damit auch
schon halb für die Sache gewonnen, und das Wohlwollen für die Person
wird sich unvermerkt in ein Wohlwollen für deren Zwecke verwandeln.
Es beginnt also das Exordium und die ganze Rede damit, ut auditorem
habeas benevolum. Man nennt deshalb diess Anfangsglied auch captatio
benevolentiae;
auch werden zuweilen die Benennungen Exordium
und Eingang ziemlich ungeschickt auf diese eine Unterabtheilung eingeschränkt.
Man könnte dieselbe auch den subjectiven Theil nennen:
denn es handelt sich hier nur noch um die Stellung des redenden
Subjectes zu der hörenden Versammlung, nicht aber um die factischen
und practischen und theoretischen Objecte seines Vortrages. Wie aber
kann nun der Redner sich das Wohlwollen der Zuhörerschaft erwerben?
Indem er das Gefühl derselben auf wohlthuende Weise berührt durch
Bescheidenheit, was ihn selbst betrifft, und durch Freundlichkeit gegen
die Hörer; Beides fliesst in der Regel zusammen: je nachdrücklicher
der Redner seine eigene Unzulänglichkeit bekennt, je mehr er sich
selber von dem Rechte nimmt, sich als Lehrer über die Andern zu
erheben, desto gewinnender ist das für diese Andern; desto mehr fühlen |#f0294 : 281|

sich diese Zuhörer, die doch eigentlich unter dem Redner stehn,
neben demselben; desto eher werden sie sich also geneigt finden lassen,
seine Zwecke auch zu den ihrigen zu machen. Doch davon später
noch einmal und mehr.


Wenn nun durch die captatio benevolentiae die Ueberredung eingeleitet
ist, so ist es an der Zeit, dass auch die Belehrung ihren
Anfang nehme, dass der Redner, nachdem er den subjectiven Theil
abgethan, nun auch zu den Objecten übergehe. Denn die Belehrung hat
jetzt noch zwei Objecte vor sich, eines, das der Eingang der Rede voraus
hat vor dem Eingang der Abhandlung, und eines, das beide mit einander
theilen: jenes ist der factische Anlass, der vor der Rede liegt, dieses die
theoretische Wahrheit, welche in dem mittleren Haupttheile, in der disputatio
ausführlich soll abgehandelt werden, also ein factisches und ein
theoretisches, ein mehr historisches und ein mehr eigentlich didactisches
Object. Welches soll nun der Redner zuerst berühren? Am besten zuerst
den factischen, den thatsächlichen Anlass. Und das aus mehreren Gründen,
wovon der einfachste dieser ist, dass derjenige Punct, an welchen
die ganze bevorstehende Erörterung soll angeknüpft werden, doch
erst muss gegeben und festgesetzt sein, ehe man daran etwas knüpfen
kann. Es wird damit aber noch zweierlei gewonnen. Einmal dass
die Rede nun auch auf der zweiten Stufe des Einganges noch eben
da verharrt, wohin sie sich auf der ersten gestellt hatte, auf dem
eigentlichen Grund und Boden der Rede: auf der ersten wandte sie
sich durch das Gefühl an den Willen, was die Abhandlung nicht thut;
auf der zweiten schaut sie nun durch die Einbildung rückwärts in
die Vergangenheit nach thatsächlichen Motiven, was die Abhandlung
wiederum nicht thut; so dass nun erst auf der dritten und letzten
Stufe des Einganges, auf derjenigen, die zu dem zweiten Haupttheile
überführt, die Rede mit der Abhandlung zusammentrifft. Sodann hat
diese Anordnung noch einen anderen Vortheil. In der captatio benevolentiae
hatte sich der Redner neben, ja er hatte sich vielleicht unter
die Zuhörer gestellt, bloss um sie günstig zu stimmen: diess Verhältniss
kann aber nicht bestehn bleiben, es kehrt sich um, sowie
das rein abhandelnde Element der Rede hervortritt; sobald der Redner
zu belehren beginnt zum Behufe der Ueberzeugung, alsobald macht
er auch darauf Anspruch, über den Zuhörern zu stehn. So ganz plötzlich
kann aber von dem einen Standpuncte zum andern nicht übergesprungen
werden: es muss zwischen jene passive Rolle und diese
sehr active etwas gleichsam Neutrales mitten hinein gelegt werden.
Und das ist eben die Berichterstattung über den der Rede vorangegangenen
Anlass; an ihr haben beide, Redner und Zuhörer, gewissermassen |#f0295 : 282|

gleich viel Antheil und Recht; wenn auch der Redner der
Berichterstattende und der Zuhörer in so fern auch schon hier der
Belehrte ist, so führt das doch auf keiner von beiden Seiten eine
Ueberordnung oder Unterordnung mit sich. Es ist also aus diesen
Gründen und zu diesen Zwecken das zweite Glied des Exordiums die
narratio facti, und es wird mit ihr die zweite Wirkung, die Cicero
von dem Exordium fordert, die attentio, das nächste Ergebniss der
benevolentia erreicht, und um so gewisser erreicht, als die Aufmerksamkeit
nicht bloss ins Unbestimmte hinein aufgefordert, sondern gleich
in thätigen Anspruch genommen und befriedigt wird.


Nun endlich kann der Redner zu der dritten und letzten Stufe
aufsteigen, die ihm zugleich den Uebergang bildet zu dem zweiten
Haupttheil, zu der disputatio. Sie bildet aber dazu den Uebergang,
weil auch sie schon sich dem Verstande zuwendet, weil sie selber
gleich der disputatio rein didactischer Natur ist, nur dass die Puncte,
um welche sich die disputatio drehen soll, hier eben nur noch als
Puncte gegeben, und die Grenzen, innerhalb deren die disputatio sich
bewegen soll, hier nur noch als unerfüllte Linien gezogen und entworfen
werden. Somit entspricht diess dritte Glied des rednerischen
Exordiums für sich allein dem gesammten ganzen Exordium einer
Abhandlung. Es verkündigt gleich diesem zum ersten Male, welche
Grundsätze, welche allgemeinen Wahrheiten sollen abgehandelt werden,
und weist gleich diesem auf ein Theoretisches hin, das in der rechten
Ausführlichkeit erst noch bevorsteht. Aber diese hier angekündigten
allgemeinen Sätze haben, und das gebricht dem Exordium der Abhandlung,
ihre Veranlassung in einer historischen Wirklichkeit; dieses
theoretische dritte Glied ist das Ergebniss des factischen zweiten; das
theoretisch lehrhafte Object, das wir hier haben, ist nur das geistige
und abstracte Gegenbild zu dem thatsächlich historischen des zweiten
Gliedes. Also hier beginnt die eigentliche Lehre: nach dem neutralen
Zwischengliede der narratio facti fängt nun der Redner selber an, in
activer Weise ein Recht auszuüben und die thätigste Wirksamkeit zu
entfalten. Er kann es aber auch: denn der Zuhörer, nachdem er auf
der ersten Stufe benevolus geworden, und sich auf der zweiten attentus
erwiesen hat, wird nun in der nothwendigen weiteren Folge docilis,
und der Redner beschäftigt und lenkt auch alsbald diese Gelehrigkeit,
indem er ihr zeigt, worauf es von nun an ankommen werde, und auf
welchem Wege er sie noch länger in Anspruch zu nehmen gedenke.
Die umfassende Benennung dieses dritten Theiles ist expositio. Die
expositio kann aber auch wieder zweigliedrig geschehen, sie kann
zuerst den Hauptgedanken einheitlich darlegen, der sich aus jenem |#f0296 : 283|

factischen Anlass giebt, und der als Thema (Hauptsatz) die Grundlage
der nachfolgenden disputatio bilden soll, sodann aber die einzelnen
Theile bezeichnen, in welche sich derselbe zerlegen, die verschiedenen
Standpuncte, von denen aus sich derselbe betrachten lasse und auch
im weiteren Verlaufe solle betrachtet werden: in diesem Falle heisst
das erste einheitlich darlegende Glied die propositio, das die Theile
des Themas und der disputatio angebende die partitio.


Also, um das bisher Besprochene noch einmal kurz zusammenzufassen
und weiter zu verfolgen, exordium est ut auditorem habeas
benevolum, attentum et docilem; es besteht aus der captatio benevolentiae,
der narratio facti, der expositio; die captatio spricht zum
Gefühl, die narratio zur Einbildung, die expositio zum Verstande der
Zuhörer. Wenn daher ältere Rhetoriker von der ganzen Rede sagen:
conciliat, permovet, docet, so passt das ganz besonders auf die drei
Glieder des Exordiums: captatio conciliat, narratio permovet, expositio
docet. Aber was schon vorher als Hauptregel ist aufgestellt worden,
diese Glieder dürfen nicht auseinander fallen, sie müssen organisch
mit einander verwachsen sein. Daraus folgt dann, dass keins von
ihnen ausschliesslich nur eine jener drei Wirkungen, der benevolentia,
der attentio und der docilitas, hervorbringen, und dass das Gefühl
und die Einbildung und der Verstand nicht ausschliesslich nur in je
einem ihre Stelle finden dürfen; sondern das erste Glied darf sich
nur vorzugsweise an die benevolentia des Gefühls, das zweite nur
vorzugsweise an die attentio der Einbildung, das dritte nur vorzugsweise
an die docilitas des Verstandes wenden; daneben dann immer
noch die anderen Kräfte spielen zu lassen ist keinesweges verwehrt,
ja vortheilhaft und in so fern erforderlich. Daher haben denn einige
Regeln, die jetzt noch sollen gegeben werden, zwar ihren nächsten
Bezug auf je eines der drei Glieder, aber auch ihre allgemeine Anwendbarkeit
auf alle drei. Zuerst muss das Gefühl nicht zu leidenschaftlich
angeregt werden. Denn man erwäge, dass ihm noch im dritten Haupttheile
eine Anregung bevorsteht, und zwar hier zu dem Zwecke, dass
der Wille zu einem nachhaltigen Entschlusse, so und so zu handeln,
gelange; die Gefühlsanregungen des Exordiums bezwecken keine so
bedeutende Wirkung, es ist dabei nur auf Wohlwollen für den Redner
abgesehen: überspannt man das Gefühl also hier schon, so ist das
Mittel stärker als die zunächst beabsichtigte Wirkung, und kommt es
dann zum dritten Theile, so ist das Gefühl abgespannt, unempfänglich
gegen jede nachdrückliche Einwirkung, unfähig zu jeder kräftigen
Willensäusserung. Dasselbe gilt und aus demselben Grunde in Bezug
auf die Einbildungskraft. Sie wird vorzugsweise bei der narratio facti |#f0297 : 284|

in Anspruch genommen werden: aber man nehme sie nicht zu sehr
in Anspruch: denn auch sie soll noch einmal und um vieles lebhafter
und kräftiger angeregt werden können im dritten Haupttheil, wenn
es gilt, der Ueberredung den letzten, vollsten Nachdruck zu geben.
Je einfacher also und je ruhiger die narratio facti gehalten ist, desto
besser für die ganze Rede. Die Anforderung endlich der Deutlichkeit
und Verständlichkeit, die namentlich an das dritte Glied, an die
expositio, zu richten ist, versteht sich nun hier ganz von selbst, wo
es nicht bloss gilt zu belehren, sondern noch insbesondere eine nachfolgende
ausgeführtere Belehrung in der Kürze einzuleiten und vorzubereiten
und einen vorläufigen übersichtlichen Grundriss zu geben.
Es ist mithin im Allgemeinen von jedem rednerischen Exordium zu
fordern, dass es ruhig, einfach, verständlich sei, oder um es negativ
auszudrücken, dass es den Zuhörer weder auf Seite des Gefühls und
der Einbildungskraft überreize, noch auf Seiten des Verstandes verwirre
und im Unklaren lasse. Aber darum darf es doch nicht alltäglich
und trivial sein; und wenn schon jene Vorschrift im Allgemeinen
für alle Reden gilt, so werden doch je nach Beschaffenheit des Anlasses
oder Themas oder Zweckes die einen mehr, die anderen weniger Ruhe
und Einfachheit verlangen, und es ist deshalb fehlerhaft, gewisse
Formeln der Auffassung und Darstellung für alle Reden gleichmässig
stereotyp festzuhalten, wie z. B. unter zehn deutschen Reden vielleicht
neun mit einem Wenn anfangen, weil man meint, nicht besser bescheiden
sein zu können, als wenn man sich bedingungsweise ausdrückt.


Zu dieser Regel der Ruhe, Einfachheit und Verständlichkeit möge
hier noch eine andere gefügt werden, die eine ebenso unbestrittene
allgemeine Gültigkeit besitzt, bei der aber auch jeder einzelne Fall
erst über das Mehr oder Minder entscheiden muss: der geringe Umfang.
Ausgedehnter als der Eingang einer Abhandlung wird freilich der
Eingang einer Rede stäts sein können, da er ja neben der expositio
die dem Eingang einer Abhandlung entspricht, noch zwei andere Glieder
in sich enthält. Gleichwohl ist es immer nur ein vorbereitender
Eingang, der sich als solcher dem eigentlichen Kern und Gehalt der
Rede, der disputatio, auch in seiner äusseren Ausdehnung unterordnen
muss, der die geistigen und physischen Kräfte des Redners und des
Zuhörers nicht schon erschöpfen darf, noch ehe es zur eigentlichen
Sache kommt. Der Eingang ist freilich einer von den drei Theilen
der Rede, aber darum darf er doch nicht den dritten Theil derselben
einnehmen.


Bisher haben wir das Bild des Exordiums ganz im Allgemeinen
entworfen, ohne irgendwie und irgendwo besonders Rücksicht zu nehmen |#f0298 : 285|

auf die verschiedenen Arten der Beredsamkeit, auf die geistliche
und auf die weltliche. Es finden aber innerhalb jenes allgemeinen Grundrisses
zwischen diesen beiden nicht unbeträchtliche Unterschiede statt,
ja die geistliche Beredsamkeit selbst folgt in verschiedenen Ländern
verschiedenen Methoden des Entwurfes, und wir sind dadurch genöthigt,
die verschiedenartige Anwendung jener allgemeinen Vorschriften
noch nach diesen beiden Richtungen hin ins Besondere zu verfolgen,
namentlich aber die geistliche Beredsamkeit näher ins Auge zu fassen.


Von einer captatio benevolentiae im eigentlichen und vollen Sinne
des Wortes kann im Grunde nur bei der weltlichen Beredsamkeit
gesprochen werden, und auch hier bei der gerichtlichen weniger als
bei der politischen. Die Persönlichkeit des Redners kommt nur dann
in rechten Betracht, und Wohlwollen oder Widerwille der Zuhörerschaft
gegen dieselbe ist nur dann von entscheidender Bedeutung,
wenn es sich um Fragen der Staatsweisheit handelt, bei denen es
auf das Für oder Wider der Parteien ankommt. Wenn sich da ein
Einzelner zum Wortführer aufwirft, muss ihm freilich Alles daran
gelegen sein, denjenigen unter seinen Zuhörern, die bei der politischen
Gegenpartei stehn, wenigstens für diesen Fall die Ungunst und Unfreundlichkeit
zu benehmen, die sie gegen ihn sonst empfinden mögen. Nur
wo er einen solchen Widerstand der Gesinnung nicht zu fürchten hat,
oder wo er ihn getrost übersehen und verachten darf, da darf auch
der politische Redner die captatio benevolentiae ganz bei Seite lassen
und seinen Vortrag gleich mit dem vollen objectiven Gewicht der
narratio facti beginnen. Das wird aber immer nur ausnahmsweise
vorkommen; Beispiele bieten hiefür Ciceros erste und zweite Rede
gegen Catilina. Bei gerichtlichen Reden ist die Persönlichkeit des
Redners nur dann von gleichem Belange wie bei politischen, wenn
er auch hier einen Widerwillen, namentlich aus politischer Parteisucht
fürchten muss, wenn er dem Einflusse politischer Gesinnungen auf
die Entscheidung nicht politischer Rechtshändel vorzubeugen hat.
Cicero macht häufig aus diesem Grunde von der captatio benevolentiae
Gebrauch. In den meisten Fällen gerichtlicher Beredsamkeit kann
aber dieser Theil des Exordiums nicht den Zweck haben, eine feindselige
Stimmung in eine geneigte Stimmung zu verwandeln, sondern
eben nur den, die Zuhörerschaft geneigt zu machen, geneigt zur Aufmerksamkeit
auf die narratio facti, geneigt zur Gelehrigkeit für die
expositio und die disputatio. Da genügen denn vollkommen einige
Worte der Bescheidenheit und der freundlichen Anerkennung; und
zwar einer wirklich bescheidenen Bescheidenheit: ein gerichtlicher
Redner, der sich selbst gar zu tief herabsetzt und so den Zuhörern |#f0299 : 286|

übertrieben schmeichelt, schadet damit nur sich und seiner Sache:
denn man sieht den Schmeicheleien gleich die Unwahrheit an und darf
argwöhnen, er wolle bestechen statt zu überreden, oder man erkennt
doch, dass die Bescheidenheit nur ein Deckmantel der Eitelkeit ist:
dann wird denn aus der captatio benevolentiae leicht eine captatio
malevolentiae, und es kann sein, dass Cicero hauptsächlich darum,
weil er sich in solcher übermässigen und eiteln Bescheidenheit gefiel,
so viele Processe verloren hat.


Wie aber ist es nun mit der captatio benevolentiae in einer geistlichen
Rede, in einer Predigt oder in einer Homilie? Es leuchtet von
sich selber ein, dass hier wenigstens im Allgemeinen an eine captatio
benevolentiae im Sinne der weltlichen Beredsamkeit ganz und gar
nicht könne gedacht werden. Einzelne Fälle mögen eine Ausnahme
machen, namentlich unter den Casualreden z. B. die Antrittspredigt
eines neu berufenen Geistlichen. Sonst aber ist die Stellung, welche
der Geistliche als beständiger Verkündiger des beständigen göttlichen
Wortes gegenüber seiner Gemeinde einnimmt, von solcher Art, dass
bei der ganzen rednerischen Handlung seine Persönlichkeit von dem
allergeringsten Belang ist: er darf keinen Widerwillen gegen sich
voraussetzen, und ist ein solcher vorhanden, so werden ihm alle captationes
wenig helfen; er darf auch nicht auf ein besondres persönliches
Wohlwollen ausgehn: denn er führt weder seine Sache noch die
irgend einer Partei. So kommt denn hier die captatio benevolentiae
nur darauf hinaus, dass der Geistliche es im Exordium bloss zu vermeiden
hat, Uebelwollen zu erregen; es bedarf hier keiner ausdrücklichen
Bescheidenheit, er soll sich nur vor Unbescheidenheit, vor geistlich
stolzer Ueberhebung hüten; er darf seiner Zuhörerschaft auch nicht
von ferne schmeicheln, er soll sie aber ebenso wenig zurückstossen,
er soll vielmehr durch den Zuspruch der Liebe sie zu gewinnen und
festzuhalten suchen: das ist für ihn die einzig rechte captatio benevolentiae,
jede andere wäre seines hohen Amtes unwürdig. Natürlich
muss dann dieser Zuruf seine Gestalt und Wendung jedesmal erhalten
nach Massgabe des Inhalts der ganzen gesammten Rede.


Was hier über die captatio benevolentiae der geistlichen Reden
ist bemerkt worden, findet jedoch seine Anwendung nur dann, wenn
auch in ihnen, so wie das in den weltlichen Reden der Gebrauch ist,
die narratio facti die zweite Stufe des Eingangs bildet, d. h. wenn
die Verlesung des biblischen Textes in die Mitte des Eingangs fällt.
Aber das ist keineswegs beständig so und überall so. Es ist daneben
noch eine andere Uebung in Gültigkeit, z. B. grade hier zu Lande,
nämlich dass man gleich den ersten Beginn der Predigt mit der |#f0300 : 287|

narratio facti macht, d. h. gleich an dem Anfang vor allem Andern
den biblischen Text verliest. Bei dieser Einrichtung fällt dann nothwendiger
Weise Alles fort, was sich als captatio benevolentiae betrachten
liesse, und man kann ja dessen auch ganz wohl entbehren, da
diejenige captatio benevolentiae, welche dem Prediger allein gestattet
ist, sich doch im Grunde nicht auf das Exordium beschränken dürfte,
sondern sich über die ganze Predigt hin ausdehnen muss. Diess erste
Glied des Exordiums fällt dann also fort, und die Predigt beginnt
gleich mit dem sonstigen zweiten, gleich damit, dass das Factum, d. h.
hier der Text, mitgetheilt wird, und unmittelbar hieranf folgt sofort
das sonstige dritte Glied, die expositio, wovon wir jetzt noch zu
sprechen haben.


Die Bestimmung der expositio und ihr Verhältniss zur narratio
facti ist, die theoretische Wahrheit, auf die der factische Anlass hinführt,
und deren ausführliche Behandlung in dem zweiten Haupttheil
der Rede bevorsteht, zuerst aufzustellen und allenfalls noch anzukündigen,
in welcher Gliederung diese Behandlung vor sich gehen solle.
Der factische Anlass für den Prediger ist aber das Wort Gottes: aus
diesem, aus der zuvor verlesenen Textesstelle hat er den darin enthaltenen
lehrhaften Satz, die darin gefundene religiöse Wahrheit kurz
und deutlich zu entwickeln und mit verständlichen, bestimmt abgrenzenden
Worten als das Thema, den Hauptsatz seiner Predigt hinzustellen.
Diess Verhältniss des Themas zu dem Texte als des Späteren
zu einem Früheren, des abgeleiteten Resultates zu einem gegebenen
factischen Grunde ist überall dasselbe, gleichviel ob der Prediger
einer wirklich vorgeschriebenen Pericope folgt, oder ob er den Text
selbst erst für ein Thema gewählt hat, das er abhandeln will oder
soll: denn auch hier, wo in der Wirklichkeit das Thema früher gegeben
oder gefunden ist als der entsprechende Text, muss dennoch bei der
Ausführung das Thema sich dem Text in gebührender Weise unterordnen
und nur als das lehrhafte Ergebniss desselben erscheinen.
Ja selbst in solchen Predigten, die sich an gar keine bestimmte einzelne
Textesstelle anschliessen, deren Exordium also auch gar keine
narratio facti hat (und von dieser Art sind namentlich viele Predigten
aus den ersten Jahrhunderten der christlichen Kirche), selbst in solchen
gleichsam textlosen Predigten darf man dennoch das abgehandelte
Thema ebenfalls nur als den lehrhaften Widerschein einer oder mehrerer
Textesstellen betrachten, nur dass diese unausgesprochen geblieben
sind, weil das Wort Gottes ganz in dem Bewusstsein der Gemeinde
lebte. Aber dergleichen Predigten sind jetzt kaum mehr gebräuchlich,
und wir wollen bei dem Wenigen, was noch über das Verhältniss des |#f0301 : 288|

Themas zum Texte zu bemerken ist, nur solche Predigten ins Auge
fassen, die von einer einzelnen ausgesprochenen, verlesenen Bibelstelle
ausgehn. Man hat hier zu unterscheiden zwischen historischen Texten
und Lehrtexten, zwischen solchen Bibelstellen, die erzählen, und solchen,
die selber schon lehrhaften Inhaltes sind. Die historischen Texte können
dann wieder von zwiefacher Art sein. Entweder sind sie rein
historisch, oder sie sind didactisch historisch; rein historisch z. B. ein
Abschnitt aus dem Leben Jesu, didactisch historisch eines seiner Gleichnisse.
Wenn der Text selber schon auf diese Art neben dem historischen
Element ein didactisches enthält, so enthält er auch selber schon
das Thema in sich; in diesem Falle hat das Auffinden desselben keine
Schwierigkeit für den Prediger, und es wird deshalb die expositio
leicht und einfach vor sich gehn können. Ist dagegen der Text rein
historisch, so ist das Auffinden des Themas, d. h. der darin ausgedrückten
religiösen Idee, erst eine Sache der Meditation, und es ist
hier für den Prediger die Schwierigkeit vorhanden, einmal den historischen
Text in richtiger Weise didactisch aufzufassen, und dann den
Zuhörer von der narratio facti zur expositio auf einem solchen Uebergange
zu führen und das Thema selbst in solcher Weise hinzustellen,
dass kein Zweifel bleibt über die Richtigkeit und Nothwendigkeit grade
dieser Auslegung, dass der Hauptsatz, das Thema, leicht und wie
von selbst aus dem Text herzufliessen scheint. Wenn endlich der
Text selber schon ein rein didactischer, ein sogenannter Lehrtext ist,
also z. B. eine Epistelstelle, so wird der Prediger mit ihm ganz wie
mit einem historisch didactischen verfahren können, sobald nämlich
dieser Lehrtext nur Einen wesentlichen Gedanken enthält. Enthält
er aber deren mehrere, so wird es auch da in den meisten Fällen
möglich sein, diese mehreren Gedanken um einen Hauptgedanken zu
vereinigen, dieselben in ein Hauptthema zusammenzufassen. Und
mit dieser Entwickelung des Einen aus dem Mehrfachen hat dann die
expositio zu beginnen. Nun giebt es aber sowohl historische Texte
als Lehrtexte, deren Concentrierung auf ein einziges Hauptthema entweder
unmöglich ist oder wenigstens zu schwierig für eine Predigt,
die ja lebendig erbauen soll. Und hier sind wir zu einem Puncte
gelangt, auf welchem wir die allgemeine Art der Predigt in zwei
besondere Unterarten sich theilen sehen, Predigt und Homilie: beides
vollständig willkürliche Beschränkungen und Festsetzungen. Predigt insbesondere
nennt man eine solche geistliche Rede, deren Exordium
nach dem bisher besprochenen Schematismus gebaut ist, in der also
aus dem Text ein einziges einheitliches Thema abgeleitet und diess
sodann in dem zweiten Haupttheil erörtert wird. Homilie dagegen |#f0302 : 289|

heisst nach dem einmal angenommenen Sprachgebrauch die geistliche
Rede, wenn der Text eine ausgedehntere Mannigfaltigkeit besitzt und
deshalb nicht auf eben solche Art in Einen Hauptgedanken concentriert
wird, sondern der Redner sich begnügt, dem Gange seines Textes
Schritt für Schritt zu folgen und einen Gedanken desselben nach dem
andern zu besprechen. Dabei mag der Redner sich selbst sehr wohl
eines leitenden Hauptgedankens bewusst sein, er mag auch aus diesem
Bewusstsein heraus den ganzen Gang der vereinzelten Betrachtungen
ordnen und lenken und leiten, aber er spricht jenen Einen
Gedanken nicht aus, weil damit auch sogleich der gewöhnliche systematische
Bau der Predigt gefordert wäre. Natürlich ist bei dieser
Auffassung des Textes, also für die Homilie, keine eigentliche expositio
möglich, sondern es wird hier von der narratio facti gleich zur disputatio,
von dem Texte gleich zur Ausführung übergegangen, und auch
die Ausführung wird hier, wo es sich nicht um die Erklärung Eines
Gedankens handelt, eine ganz andere sein als sonst, als in eigentlichen
Predigten.


Es kann aber, wie schon früher (S. 283) ist bemerkt worden, die
expositio wieder in zwei untergeordnete Glieder zerfallen, in die propositio
und in die partitio. In diesem Falle ist die expositio noch weit
absichtlicher und deutlicher bloss die voranlaufende Ankündigung des
zweiten Haupttheiles; sie erscheint damit gleichsam als ein blosses
Inhaltsverzeichniss desselben. Die weltliche Redekunst weiss von einer
solchen Partition nur wenig; man wird in ihr nur seltene Beispiele
davon finden, und so gedenken auch die Rhetoriker des Alterthums
derselben nicht oft als eines oratorischen Erfordernisses.1 Dagegen in
unserer geistlichen Redekunst ist sie zu einer so weit verbreiteten Uebung
geworden, Prediger und Gemeinde haben sich fast überall so daran
gewöhnt, dass man sie hier beinahe als ein Gesetz betrachten muss,
dem die Praxis sich zu unterwerfen und dessen Nutzen und Nothwendigkeit
die Theorie aufzusuchen habe. Allerdings lässt sich auch
Manches wenigstens zur Rechtfertigung dieses Gebrauches sagen.
Quintilian (Institut. orator. 4, 5) macht geltend, wenn die einzelnen
Theile schon im voraus aufgestellt und bezeichnet seien, so erhalte
das den Zuhörer während der Ausführung bei Kräften, weil er die
einzelnen Abgrenzungen wisse, „grade wie einem Reisenden die Meilensteine

1
Eigentlich und ausdrücklich spricht davon mit Bezug auf gerichtliche Reden
Cicero de invent. 1, 22. Recte habita in causa partitio (ganze Exposition) illustrem
et perspicuam totam efficit orationem. Eius partes duae sunt, quarum utraque
magnopere ad aperiendam causam et ad constituendam pertinet controversiam etc.
|#f0303 : 290|

viel von der Ermüdung benehmen. Denn es thut wohl, das
Mass der bereits überstandenen Arbeit zu kennen, und es ermahnt,
auch das Uebrige kräftig durchzusetzen, wenn man weiss, wie viel
noch bevorsteht. Denn nichts darf lang erscheinen, wobei feststeht,
was das Letzte sei.“ Nicht grade diess wollen wir zur Rechtfertigung
anführen: denn das Zählen der Meilensteine kann mitunter auch höchst
langweilig werden. Ueberhaupt soll ja das Anhören einer Rede keine
Arbeit sein, die man über sich nimmt, und bei der es wohlthut, unter
fortwährendem Zählen und Berechnen das Ende immer näher heranrücken
zu sehen. Sondern, was man hauptsächlich zu Gunsten der
Partition sagen kann, ist Folgendes, was Quintilian selbst noch am
eben angeführten Orte so ausdrückt: Id efficit, ut clariora fiant, quae
dicuntur, rebus velut ex turba extractis et in conspectu judicum (die
Worte beziehen sich auf gerichtliche Reden) positis. Also indem sie
die Hauptpuncte der Ausführung schon zuvor heraushebt, macht sie
die ganze Ausführung selbst übersichtlicher, macht sie es dem Zuhörer
leichter, den verständigen Anschauungen des Redners zu folgen und
die ausführliche Belehrung in der richtigen Ordnung und Gliederung
in sich aufzunehmen. Indessen, was damit auf der einen Seite für
den Verstand und dessen Ueberzeugung gewonnen wird, geht auf der
anderen leichtlich wieder verloren für die Ueberredung, für die lebendige
Einwirkung auf den Willen. Freilich ist die Ausführung Sache
des Verstandes; aber darum soll ihr die Beziehung auf das Gefühl
nicht ganz genommen werden: diess geschieht jedoch nur zu leicht,
wenn man ihr von vorn herein das Gepräge eines nackten, kalten
und trockenen Schematismus aufdrückt. Und nur zu häufig glauben
sich die Prediger durch die Partition im Exordium berechtigt, ja verpflichtet,
dieselbe Partition auch im zweiten Haupttheil wieder anzubringen,
in der Weise, dass sie auch hier die einzelnen Theile abgerissen
und ohne alle Vermittelung durch überleitende Gedanken und
Worte hinter einander aufstellen wie einzelne Paragraphen. Darüber
verschwindet dann alle zusammenhaltende Einheit, und von einem geistigen
Wachsthum der Gedanken, von einem ununterbrochenen Arbeiten
nach dem Ziele hin bleibt kaum eine Spur mehr. Indessen die
Partition als Schluss des Einganges ist einmal Sitte, und es mag sein,
dass es hin und wieder die Gemeinde störend berühren würde, wenn
der Prediger sich eine Abweichung davon erlaubte. Da thut er dann
aber wohl, wenn er wenigstens zweierlei nicht aus dem Auge verliert:
erstens, er fasse die Partition auf keinen Fall gar zu registerartig
ab, sondern gebe ihr eine solche Haltung und suche sie mit der Proposition
so zu verschmelzen, dass beide wieder in ein einziges rednerisch |#f0304 : 291|

belebtes Ganze zusammenfliessen, dass eine gewisse Theilnahme
des Gefühls und der Einbildungskraft auch hier nicht zurückgewiesen
werde. Und zweitens, er führe diese paragraphierte Eintheilung keinesfalls
aus dem Exordium mit in die disputatio hinüber; hier überlasse
er es dem Zuhörer, sich das Erstens, Zweitens, Drittens aus
eigener Verständigkeit am rechten Orte selber zu sagen, ohne dass
der Redner mit einer Unterbrechung des lebhaften Fortschrittes es ihm
vorsage und vorrechne. Dann wird doch durch die Ausführung wieder
gut gemacht, was durch die Partition vielleicht ist verfehlt worden.


Jetzt ist noch von einem Bestandtheile des Eingangs geistlicher
Reden zu sprechen, der in der früher (S. 278) erwähnten siebentheiligen
Gliederung, welche die Homiletik gewöhnlich der Predigt beilegt, die
erste Stelle einnimmt, das Gebet. Die Sitte, den allerersten Eingang
einer öffentlichen Redehandlung mit einem Gebet zu machen, welches
sich auf den Anlass derselben und auf ihren Inhalt bezog, und in welchem
sich der Redner von obenher Segen zu seinem Vorhaben erflehte,
diese Sitte war auch den Rednern des unchristlichen Alterthums keineswegs
fremd, wenn schon sich in den erhaltenen Denkmälern die
Beispiele nicht mehr so gar häufig nachweisen lassen. Zwei mögen
hier ausgezeichnet werden: als Beispiel aus der rednerischen Litteratur
der Griechen des Demosthenes Rede pro corona, aus der der Römer
der Panegyricus des jüngern Plinius; dieser, weil zugleich Zeugniss
für die weiter ausgedehnte Verbreitung jener Sitte. Die Lobrede auf
Trajan beginnt nämlich also: Bene ac sapienter, patres conscripti,
maiores instituerunt ut rerum agendarum ita dicendi initium a precationibus
capere, quod nihil rite, nihil providenter homines sine deorum
immortalium ope consilio honore auspicarentur. Und so noch weiter.
Darauf folgt erst das Gebet selber: Quo magis aptum piumque est
te, Juppiter optime maxime, antea conditorem, nunc conservatorem
imperii nostri, precari, ut mihi digna consule, digna senatu, digna
principe contingat oratio, utque omnibus, quae dicentur a me, libertas
fides veritas constet, tantumque a specie adulationis absit gratiarum
actio mea, quantum abest a necessitate. Was mithin bei den Rednern
des Alterthums ein gar nicht selten beobachteter Gebrauch war, das
hat sich in der eigenthümlichen Redekunst der Christen, wie auch
natürlich, zu einer unwandelbaren, gesetzlich festen Sitte erhoben, wie
denn auch Augustinus (De doctrina christiana 4, § 32) mit einem Wortspiel
es vorschreibt: „Sit orator antequam dictor;“ und es wird kaum
eine Predigt gehalten, ohne dem Worte die Weihe des Gebetes zu
geben, eines Gebetes um göttlichen Beistand so für den Prediger wie
für die hörende Gemeinde, natürlich jedesmal mit specieller Beziehung |#f0305 : 292|

auf das grade vorliegende Thema, eines Gebetes, das also verschieden
ist von dem, welches bereits die Liturgie vorschreibt, und welches sich
bei jeder kirchlichen Versammlung wörtlich wiederholt. Aber in Rücksicht
auf die Stelle des Einganges, an welche diess Gebet zu verlegen
sei, herrscht keine durchgreifend gleichmässige Uebung: man bringt es
bald an den Anfang, bald an das Ende des Exordiums; die Homiletik
pflegt, wie vorher von Neuem ist erwähnt worden, das Erstere vorzuschreiben.
Es lassen sich für das Eine wie das Andere, und
auch gegen das Eine und das Andere mehrfache Gründe anführen.
Für die Stellung des Gebetes gleich an den ersten Anfang des
Exordiums, also zuvörderst an die Spitze der ganzen Predigt, spricht
einmal, dass dieser Ort derjenigen Bedeutung, die ein solches
Gebet haben soll, am meisten angemessen erscheint: denn es ist
ja ein eigentliches Weihegebet, eine Bitte um Segen zu einem
Werke, das man beginne: da gehört es natürlich auch am besten an
den wirklichen Beginn, an den Anfang des Einganges, nicht an dessen
Ende. Sodann lässt sich kein schöneres Mittel denken, um die captatio
benevolentiae, die dem Prediger sonst beinahe ganz benommen ist,
nicht nur beizubehalten, sondern ihr auch noch eine höhere, echt christliche
Wendung zu geben. Der weltliche Redner sucht Gunst für seine
Person und Wohlwollen für seine Zwecke bei der menschlichen Zuhörerschaft:
dem geistlichen Redner könnte dafür das Gebet eine captatio
benevolentiae sein, aber eine an Gott gerichtete, eine captatio benevolentiae
divinae. Aber es hat auch seine Vortheile, wenn man den
Eingang mit dem Gebete beschliesst: auf jeden Fall jedoch mehr
äusserliche Vortheile: dieselbe hohe Bedeutung wie ganz zu Anfang
besitzt das Gebet hier auf keinen Fall. Die Vortheile sind diese.
Einmal, dass nur so das jedesmalige besondere Gebet kann deutlich
geschieden und unterschieden werden von dem, welches der Liturgie
gemäss bei allen Gottesdiensten unverändert wiederkehrt. Sodann
kann man am Ende des Einganges dem Gebete mehr ausdrückliche und
verständliche Beziehung auf das Thema der Predigt geben: denn nun
ist diess bereits aus den Worten des Bibeltextes abgeleitet, es ist
exponiert, es ist proponiert und partiert worden; die Gemeinde weiss
also bereits, warum es sich handle, und sie versteht die Bezüge
darauf. Das weiss sie am Anfange aber noch nicht, und deshalb wird
der Prediger, wenn er das Gebet an den Anfang stellt, sehr oft zwischen
den zwei Uebeln schweben, entweder das Gebet ganz allgemein
und beziehungslos zu halten, oder aber ihm Beziehungen zu geben,
die noch Niemand richtig auffasst und würdigt. Noch ein Vortheil,
den das Beschliessen mit dem Gebete hätte, wäre der, dass damit |#f0306 : 293|

dem Redner ein schickliches Mittel gegeben scheint, um die Rede, die
sich in der Exposition und gar mit der Proposition und Partition etwas
gar zu tief zur blossen Verständigkeit herabgelassen hatte, durch die
Lebhaftigkeit der Empfindung wieder in die Höhe zu führen. Aber
eben diess lässt sich auch grade gegen eine solche Stellung geltend
machen. Der Uebergang von der kühlen Verständigkeit der Partition
zu der warmen Gemüthlichkeit des Gebetes ist ein gar zu plötzlicher
und schwerlich irgendwie zu vermitteln: das Gebet steht abgerissen
und recht wie im Gegensatz und wie verloren da; darum ist auch
bei dieser Stellung der ziemlich stereotype Anfang des Gebetes ein
adversatives Aber: Du aber, u. s. f. Ebenso wird auch in den wenigsten
Fällen die Anschauung und die Darstellungsweise des Gebetes
recht passen zu dem nachfolgenden zweiten Haupttheil, der Ausführung;
so dass nun zwischen dem ersten und zweiten Haupttheil jede
rechte Vermittelung mangelt, zwischen beiden gleichsam abgeschnitten
wird. Man sieht, es lässt sich für beiderlei Anordnungen diess und
jenes sagen, für die zweite, für die Stellung ans Ende aber weniger
Triftiges als gegen dieselbe. Das Beste ist es offenbar, sich je nach
Umständen bald für das Eine, bald für das Andere zu entscheiden:
denn die Art des Themas und der Ausführung wird sich bald zu dem
Einen, bald zu dem Anderen besser schicken. Natürlich sollte dann
aber auch freigestellt sein, an welcher Stelle des Eingangs der Prediger
den Text verlesen wolle: wenn er mit dem Gebet beginnt, so
wird der Text in die Mitte fallen; wenn er aber mit dem Gebete
schliesst, so kommt von selbst der Text ganz an den Anfang. Eins
bedingt das Andere.


So viel wäre über Bestimmung und Einrichtung des ersten Theiles
der Rede, über Eingang oder Exordium zu bemerken gewesen. Wir
haben uns länger dabei aufgehalten, als diess bei den zweien noch
übrigen der Fall sein wird: über diese werden wir schneller hingehn
können. Aber diese Ausführlichkeit war nöthig bei der ganzen Bedeutung,
welche das Exordium besitzt, und bei der Stellung, welche es den
nachfolgenden Theilen gegenüber einnimmt. Es bildet die Grundlage
des gesammten Gebäudes der Rede; in so fern muss auf seinen Bau im
Ganzen und im Einzelnen die meiste voraussichtliche Aufmerksamkeit
verwendet werden. Nur wenn das Exordium mit Sorgfalt eingerichtet
ist, gewinnt auch die ganze Rede eine feste und sichere Haltung; es
trägt dieselbe, es spiegelt sich in seinen beschränkten Grenzen deren
ganzes Bild ab. Denn wenn der zweite Haupttheil vorzüglich der
Ueberzeugung, und der dritte vorzüglich der Ueberredung gewidmet
ist, so vereinigen sich in dem Exordium beide Zwecke; wenn im zweiten |#f0307 : 294|

Theile der Verstand, im dritten Einbildung und Gefühl vorwalten, so
wirken im Exordium alle drei Kräfte neben einander. Es ist demnach
mit Vielem, was über das Exordium gesagt worden, inclusive zugleich
von der ganzen Rede gehandelt, so dass wir uns von nun an ganz
wohl kürzer fassen können. Auch gehn in den beiden andern Theilen
die weltliche und die geistliche Redekunst, wenn schon beträchtlich
genug, nicht in so mannigfacher Weise auseinander, wie das im Exordium
stattfindet.


Der zweite Theil, die disputatio. Die weltliche Redekunst liebt
es vom ersten zum zweiten Theile fast unmerklich und mit freier Leichtigkeit
überzugehn, so dass der Schluss des ersten und der Anfang
des zweiten ganz wohl in Einen Satz zusammenfliessen können. Die
geistliche Redekunst pflegt den Abschnitt nicht bloss durch die ihr
eigenthümliche Einrichtung des Eingangs, sondern hie und da sogar
durch eine Pause nach demselben zu bezeichnen, durch ein wirkliches
Innehalten, das bald von kürzerer, bald von längerer Dauer ist; nach
einer in Deutschland weit verbreiteten Uebung unterbricht hier sogar
die Gemeinde den Gang der Predigt durch ihren Gesang. Mithin
weicht die geistliche Redekunst schon beim ersten Beginn der disputatio
von der weltlichen ab, und ebenso pflegt sie denn auch in der
ganzen weiteren Behandlung derselben ihren eigenen Weg einzuschlagen,
der leider auch hier oft der minder künstlerische ist. Wir sehen
dabei ganz ab von der Homilie, die gar kein irgendwie systematisches
Verfahren beobachtet, die nach der Verlesung des Textes alsbald übergeht
zu einer blossen erbaulichen Auslegung desselben und die Reihe
der darin enthaltenen vereinzelten Gedanken in ihrer Vereinzelung
verfolgt, ohne sie ausdrücklich und ausgesprochener Massen unter einen
gemeinsamen Hauptgedanken zusammenzufassen. Wir sehen von der
Homilie ab und sprechen, wo wir ferner noch die geistliche Redekunst
mit der weltlichen vergleichen, nur von der Predigt im engeren Sinne
des Wortes.


Die Bestimmung des zweiten Haupttheils ist in geistlichen oder
in weltlichen Reden überall die gleiche: die verschiedenen Benennungen,
welche die Rhetorik diesem Theile giebt, sprechen sie jede ziemlich
genügend aus. Er heisst die disputatio: denn es wird hier die aufgestellte
Wahrheit darum so erschöpfend durchgesprochen, weil der
Redner sie zu behaupten und zu verfechten hat entweder gegen eine
wirklich und ausdrücklich entgegengesetzte, ja ihm feindselige Meinung,
wie das in der weltlichen Redekunst gewöhnlich der Fall ist,
oder weil er, wie die geistlichen Redner, allem Zweifel an der Wahrheit
und aller Verneinung derselben wenigstens vorbeugen muss. Es |#f0308 : 295|

ist ein Zwiegespräch mit einem wirklich vorhandenen oder einem bloss
vorausgesetzten Gegner, nur dass dessen Zwischenfragen und Zwischenantworten
fortfallen; ein hin und her wandernder Kampf verschiedenartiger
Gedanken, in welchem zuletzt die Gedanken des Redners das
Feld behaupten. Natürlich aber wird dieser Kampf nur da ein wirklich
streithaftes Ansehen gewinnen dürfen, wo auch auf einen wirklichen
Gegner gezielt wird, also nur in der weltlichen Redekunst,
nicht aber in der geistlichen, es müsste denn auch ihr einmal durch
die Umstände eine eigentliche Polemik geboten sein. Auf Deutsch
nennt man den zweiten Haupttheil auch die Ausführung, in der Homiletik
der gewöhnliche Ausdruck; dieser hat zwar nicht dieselbe lebendige
Anschaulichkeit, trifft nicht so ganz wie jener lateinische, ist
aber immerhin bezeichnend genug, da er die Art, wie das Thema
hier gehandhabt wird, gegenüberstellt derjenigen Art, wie es kurz
vorher in der Exposition ist vorgelegt worden, der Kürze und Präcision,
womit das dort geschah. Endlich sagt man auch Abhandlung, und
dieser Name könnte in so fern den Vorzug verdienen, als er auf das
Verhältniss zwischen der Rede und der sonst sogenannten Abhandlung
hindeutet, welches grade in diesem Theile besonders klar vor Augen tritt.
Denn, wie das schon früherhin (S. 276) ist ausgeführt worden, die Rede
stimmt in Allem, was in ihr der verständigen Didaxis dient, mit der
Abhandlung überein; von den drei Haupttheilen der Rede ist aber
dieser mittlere der einzige, der bei dem Zwecke der verständigen
Didaxis, bei der Ueberzeugung, stehn bleibt, während in den ersten,
und gar in den dritten Theil auch der Zweck der Ueberredung eingreift.
Indessen, wenn auch dieser zweite Theil an und für sich
betrachtet nur auf die Ueberzeugung der Zuhörer ausgeht, so ist er
immer doch Theil einer Rede, d. h. eines Vortrages, der in seiner
Gesammtheit Ueberzeugung und Ueberredung beabsichtigt; es darf
also der Redner, wenn er auch im zweiten Theil den Zweck der
Ueberredung nicht eigentlich und ausdrücklich verfolgt, ihn dennoch
auch hier nie ganz aus den Augen verlieren, seine Lehren müssen
immer wenigstens in Beziehung darauf stehn und in beständiger Rücksicht
darauf gefasst und vorgetragen werden; es muss, damit dieser
zweite Theil nicht gar zu fremdartig in blosser kalter Verständigkeit
mitten hinein trete zwischen die Ausflüsse des Gefühls und der Einbildung
im ersten und im dritten Theil, es muss auch hier die Darstellung
von Gefühl und Einbildung gefärbt sein und nicht bloss vereinzelt
und allzu leicht und oberflächlich. Namentlich ist diese Anforderung
an den geistlichen Redner zu stellen: den weltlichen Redner,
besonders den gerichtlichen, kann wohl die Beschaffenheit des factischen |#f0309 : 296|

Anlasses und des theoretischen Gegenstandes öfters nöthigen, in der
disputatio wo möglich alle Empfindung und Phantasie zu beseitigen,
er kann mitunter gezwungen sein, sich in der baarsten Verständigkeit
zu halten. Nicht so der geistliche, der Prediger. Sein factischer Anlass
ist überall derselbe, das Wort Gottes, und ebenso hat er überall denselben
practischen Zweck, die Erbauung. Deshalb muss er diesem zweiten
Theile einen fortdauernden Bezug geben auf den Grund und Boden,
in welchem die Erbauung lediglich beruht, auf das Gemüth des Menschen.
Ein Prediger, der diess vergisst, mag immerhin seine Zuhörer
theoretisch belehren über allerhand religiöse oder moralische Wahrheiten,
aber practisch macht er sie ihnen nicht; er hält ihnen wohl
Vorträge aus der Dogmatik oder der Ethik, aber ein lebendiges
Christenthum pflanzt er nicht. Jedoch, nicht zu vergessen, ebenso
verfehlt ist es auf der anderen Seite, den hier zunächst vorliegenden
Zweck der Belehrung und Ueberzeugung ganz bei Seite zu setzen und
bloss zum Gemüthe, nicht aber mit Bezug auf das Gemüth zum Verstande
zu sprechen: auch das ist nicht recht; solchen Predigten mangelt
eigentlich der ganze zweite Theil, und, was ein noch viel grösserer
Fehler ist, sie üben nichts viel Besseres als eine Ueberredung in dem
gemeinen üblen Sinne des Wortes, während ihnen doch nur eine
Ueberredung in dem höheren wissenschaftlichen Sinne gestattet ist,
d. h. eine mit der Ueberzeugung verschwisterte und auf Ueberzeugung
begründete Einwirkung auf den Willen.


Was sonst noch über Wesen und Bestimmung der disputatio zu
bemerken ist, wird sich am besten beibringen lassen, wenn wir zugleich
über die Einrichtung, über die Theilung und Gliederung derselben
das Nöthige sagen.


Die weltliche Redekunst pflegt diesen zweiten Haupttheil der
Rede nicht selten wieder in zwei untergeordnete Abtheilungen zerfallen
zu lassen, in die Erklärung und die Beweisführung. Die Erklärung
besteht in der weiteren Erörterung und Auseinandersetzung des in
der Exposition nur kurz vorgelegten theoretischen Satzes, in der
erschöpfenden Entwickelung der Begriffe, die derselbe enthält, oder
der einzelnen Gedanken, die er als der Hauptgedanke unter sich
befasst, kurz in einer Analyse des Themas. Diese Erklärung kann
für sich schon hinreichend sein, um die Aufgabe der Disputation
zu erfüllen; sie kann hinreichend sein, um den Verstand der Zuhörer
zu einem Zugeständnisse der aufgestellten Sätze zu nöthigen, und kann
so die Ueberzeugung schon ganz unmittelbar herbeiführen. Reicht sie
aber nicht dazu hin, und namentlich sind es die gerichtlichen Reden,
in welchen die blosse Erklärung für jenen Zweck noch nicht genügt, |#f0310 : 297|

so wird ihr als zweite Abtheilung noch die Beweisführung oder Argumentation
beigegeben. Beweise können die Ueberzeugung natürlich
nur auf mittelbarem Wege hervorbringen: denn zuerst muss die Beweisführung
für sich selbst die Zustimmung des Hörers erhalten, eh er
auch den für den Hauptsatz daraus hervorgehenden Schlussfolgerungen
beistimmen kann. Die Beweise sind bekanntlich entweder apriorische
oder aposteriorische, sie werden entweder bloss aus begrifflichen Abstractionen
heraus oder aus der Erfahrung geführt; die alten Rhetoriker
gebrauchen dafür mit Aristoteles die griechischen Benennungen
ἐνθύμημα und ἐπαγωγή, mit Cicero die lateinischen ratiocinatio und
inductio. Erfahrungsbeweise sind aber dem Redner jedesmal dienlicher
als die abstracteren Begriffsbeweise, sowohl deswegen, weil sie eher
jedem Zuhörer einleuchten, als auch, weil ihre Anlehnung an eine
gegebene Wirklichkeit ihnen mehr Anschaulichkeit und Leben giebt,
und es dem Redner möglich macht, seiner Darstellung die ansprechende
Farbe der Phantasie und einen Bezug auf das Gemüth der Zuhörer
zu verleihen: Vorzüge, die den nackten und kalten apriorischen Beweisen
eben nicht eigen sind. Es ist daher ein grosser Vortheil für den
weltlichen Redner, namentlich aber für den gerichtlichen, dass er
häufig, ja gewöhnlich schon durch seinen factischen Anlass genöthigt
ist, sich besonders auf Erfahrungsbeweise zu stützen. Vorher ist von
der Beweisführung gesagt worden, sie werde der Erklärung noch als
zweites Glied beigegeben: aber keineswegs folgen immer diese beiden
Glieder eins hinter dem andern; häufig genug werden sie in einander
verschränkt, die Beweisführung wird in die Erklärung verflochten,
ja umgekehrt die Erklärung als das minder Hervortretende in die
Beweisführung. Daher kommt es auch, dass manche alte Rhetoriker
wohl den ganzen zweiten Haupttheil, ohne auf die Möglichkeit
einer zweigliedrigen Einrichtung zu achten, die argumentatio genannt
haben.


Welches Verfahren nun aber der Redner beobachten möge, möge
er die Beweisführung von der Erklärung trennen oder eine mit der
andern verweben, immer wird es der Rede und ihren Zwecken zum
Vortheile gereichen, wenn er von den schwächeren Beweisen zu immer
stärkeren aufsteigt und mit den allerstärksten schliesst. Diese Reihenfolge
wäre schon dann die beste, wenn der ganze Vortrag mit dem
zweiten Theile abgethan wäre: denn bei der successiven Natur jeder
sprachlichen Mittheilung darf man immer auf einige Vergesslichkeit
rechnen und darf annehmen, dass die Nachwirkung des ersten Gedankens
schon beinahe erloschen sei, wenn es zum letzten kommt: dieser
Gefahr darf man aber nicht grade den allerwichtigsten, nicht grade |#f0311 : 298|

den stärksten und hauptsächlichsten Beweis aussetzen; eher darf man
die minder bedeutenden einer möglichen Vergessenheit und Wirkungslosigkeit
preisgeben. Nun ist aber die Rede mit der Beweisführung
noch nicht einmal abgethan: sondern es kommt darauf noch der dritte
Haupttheil, grade derjenige, wo auf Gefühl und Einbildung mit der
meisten Kraft soll eingewirkt, wo sogar eine gewisse Leidenschaftlichkeit
soll angeregt werden. Diese Beschaffenheit der conclusio wäre
aber durch nichts vorbereitet, und es wäre kein Uebergang zur conclusio
vorhanden, wenn der unmittelbar davor liegende Schluss des
zweiten Theiles grade von dem mattesten Beweise gebildet, wenn
also hier von dem Zuhörer der geringste Grad geistiger Regsamkeit
gefordert würde. Steht dagegen zunächst vor der conclusio der
stärkste Beweis, so ist dadurch die mitwirkende Theilnahme des
Zuhörers schon auf jene Höhe versetzt, welche die conclusio von ihr
verlangt.


Nun noch Einiges von der Einrichtung des zweiten Haupttheiles
in geistlichen Reden. Hier kommt die Zerlegung in zwei untergeordnete
Abtheilungen, eine erklärende und eine beweisende, kaum jemals
vor. Dem weltlichen Redner, dem gerichtlichen, für den die Argumentation
etwas so Hochwichtiges ist, kann eine solche Sonderung in vielen
Fällen nur dienlich sein: denn offenbar wirken die einzelnen Beweise
am nachdrücklichsten, und auch jener steigernde Gang ihrer Anordnung
hat das meiste Gewicht, wenn sie, ohne Unterbrechung durch Gedanken
anderer Art, Schlag auf Schlag einer unmittelbar auf den andern
folgen. Nicht so ist es in der Predigt. Der ganzen Natur der Predigt
nach, da sowohl ihr factischer Anlass ein wesentlich anderer ist als
auch ihr practischer Zweck, behauptet in ihr die Argumentation kein
so breites Feld, und diese selber ist hier auch in den meisten Stücken
eine andere. Die Argumente, die dem geistlichen Redner vorzugsweise
zustehn, lassen sich weder apriorisch noch aposteriorisch nennen, Beides
wird in ihnen zusammenfliessen: denn seine besten Beweise rühren ja
immer her aus der Autorität der göttlichen Offenbarung, aus der heiligen
Schrift, worauf bereits Augustin (De doctrina christiana 4, § 8) hinweist:
„Quod dixerit suis verbis, probet ex illis (scripturis divinis), et qui
propriis verbis minor erat, magnorum testimonio quodammodo crescat.“
Solche Schriftbeweise nun mögen immerhin, allgemein menschlich betrachtet,
häufig auch nur apriorische sein: für den Christen sind es aposteriorische
Erfahrungsbeweise, da sie für ihn eine volle historische Urkundlichkeit
besitzen. Eine solche Argumentation wird aber noch leichter
mit in die eigentliche Erklärung hinein verfliessen, als das jemals in
einer weltlichen Rede möglich ist: denn das Thema, welchem die |#f0312 : 299|

Erklärung gewidmet ist, hat ja der Prediger auch wieder nur aus der
heiligen Schrift geschöpft. Somit ist hier nicht nur der Nutzen, sondern
gewöhnlich selbst die Möglichkeit jener zweitheiligen Ausführung
fortgenommen; dafür gilt aber nach alter Uebung eine andere Theilung,
die wiederum der weltlichen Redekunst meist fremd ist. Nämlich die
Theilung nach Massgabe der Partition am Schluss des Einganges, die
Einrichtung, nach welcher der zweite Haupttheil in ebenso viel untergeordnete
und gesonderte Stücke zerfällt, als es verschiedene Standpuncte
giebt, von denen aus das Thema kann betrachtet werden, oder
verschiedene Gedanken, in die sich der angegebene Hauptgedanke
zerlegen lässt. Geht die Erklärung leicht und unter den gehörigen Vermittelungen
von einem Standpuncte zum andern, von einem Gedanken
zum andern über, so ist daran nichts auszusetzen, der künstlerischen
Darstellung ist ihre Genüge geschehen, und es bleibt möglich, die Einheit
des Themas, des Hauptgedankens immer noch vollständig zu
behaupten. Aber nur zu häufig lassen geistliche Redner diese einzelnen
Glieder oder vielmehr nun Stücke ganz aus einander brechen,
heben bei jedem wie von vorn an, zählen sogar, damit die Theilung
recht in die Ohren falle, ein Erstens, Zweitens, Drittens: damit ist
dann freilich gewonnen, dass der Zuhörer nach jener Vergleichung
Quintilians bei jedem neuen Meilenstein berechnen kann, wie das
Ende immer näher heranrücke, aber auch weiter nichts als diess;
verloren ist dagegen alle Kunst der Darstellung, alle zusammenhaltende
Einheit: denn der Redner hat ja selbst den lebendigen Zusammenhang
aufgehoben, durch den allein die untergeordneten Gedanken als organische
Glieder des Einen Hauptgedankens erscheinen können. Welchen
Zweck aber und welch einen rechten Erfolg kann noch eine Predigt
haben, wenn es nicht eine ganze und einheitliche Wahrheit ist, von
der sie überzeugt?


Der dritte Theil, die conclusio. Den dritten und letzten Haupttheil
der Rede bildet die conclusio, der Beschluss. Die conclusio der
Rede liegt dem Exordium derselben ebenso parallel gegenüber, wie
die conclusio der Abhandlung dem Exordium dieser. In der Abhandlung
führt der Beschluss nach Vollendung des Kreislaufes auf den
gleichen Punct zurück, von dem der Verfasser im Exordium ausgegangen
war; was in dem Exordium der Abhandlung einheitlich war
vorgelegt worden, um sodann in analytischer Vereinzelung besprochen,
eben abgehandelt zu werden, das fasst die conclusio wiederum synthetisch,
einheitlich zusammen. Das gleiche Verhältniss finden wir
auch bei der Rede. Auch hier zum Beschluss eine Rückkehr zum
Thema, auch hier eine synthetische Einigung. Aber in der Abhandlung |#f0313 : 300|

hat diese Einrichtung des Beschlusses lediglich den Zweck, die
Ueberzeugung zur Vollendung zu bringen; es spricht da also immer
wieder und immer noch der Verstand zum Verstande. Anders verhält
sichs nun mit der Rede und deren conclusio. Hier hat die den Kreis
abschliessende Synthesis nicht bloss der Ueberzeugung zu dienen,
sondern auch der Ueberredung und beiden in ihrer engsten Vereinigung:
denn die Rede will eben jetzt enden, sie nähert sich dem Zeitpunct,
in welchem, nach der Absicht des Redners, sich die gewonnene
Ueberzeugung practisch bethätigen soll: da gilt es aus der Einwirkung
auf den Verstand nun endlich auch die vollste und nachdrücklichste
Einwirkung auf den Willen zu entwickeln; diess geschieht aber, indem
von Seiten der Einbildung her das Gefühl angeregt wird. Mithin zeigen
sich am Beschluss der Rede der Verstand, die Einbildung, das Gefühl
ebenso alle drei zusammen in ihrer Thätigkeit, wie das ihm gegenüber
schon im Eingange der Fall gewesen war; mitten inne aber
zwischen beiden liegt der verständige Haupttheil der Rede, die Ausführung.
Und wie sich jener dreifachen Wirksamkeit gemäss das
Exordium dreigliedrig gestaltet, so auch die conclusio. Im Exordium
unterschieden wir die captatio benevolentiae, die narratio facti, die
expositio; die captatio nahm das Gefühl in Anspruch (conciliavit), die
narratio die Einbildung (permovit), die expositio den Verstand (docuit).
So zerfällt nun auch die conclusio in drei Unterabtheilungen: die
Recapitulation, den pathetischen Theil und den eigentlichen Beschluss.
Hier wirken aber die drei Kräfte in umgekehrter Reihenfolge, und
das ganz natürlich, da die conclusio der Ausführung nachfolgt, wie
das Exordium ihr vorangeht. Es entspricht also die Recapitulation
der Exposition, der pathetische Theil der narratio facti, der Beschluss
der captatio benevolentiae: die Recapitulation ist an den Verstand
(docet), der pathetische Theil an die Einbildung (permovet), der
Beschluss an das Gefühl (conciliat) gerichtet. Diese Gliederung der
conclusio und dieser ihr Parallelismus mit dem Exordium ist nun noch
näher zu betrachten.


Die Recapitulation. Wie die Exposition zunächst und unmittelbar in
die Ausführung hineinleitet, so leitet nun die Recapitulation aus derselben
hinaus; wie in der Exposition die belehrende Sprache des Verstandes
zum ersten Male anklingt, so klingt sie in der Recapitulation zum letzten
Male nach. Aber während die Exposition das einheitliche Thema hinlegt,
damit es analytisch zergliedert werde, so fasst nun die Recapitulation
das analytisch Zergliederte wieder einheitlich, synthetisch zusammen;
sie enthält in wenigen Gedanken und kurzen Worten das Resultat,
das sich aus der ganzen ausführlichen und weitläuftigen disputatio |#f0314 : 301|

für die Ueberzeugung ergiebt; sie spricht aus, was bei jenem Zwiegespräche
streitender Gedanken zuletzt ist erkriegt und ersiegt worden:
diess ersiegte Resultat ist aber eben wiederum das Thema, wie
es schon drüben in der Exposition aufgestellt war, vielleicht auch wieder
in derselben Mehrtheiligkeit untergeordneter Gedanken und verschiedener
Standpuncte, wie sie in der Partition waren angegeben
worden. Auf diess Letztere geht eigentlich auch allein die Benennung
recapitulatio, d. h. Wiederholung der einzelnen capitula, der hauptsächlichen
Puncte. Es ist also mit der Recapitulation das Werk des
Verstandes abgethan; bei diesem Gliede der Rede heisst es zum letzten
Male docet, wie bei der Exposition zum ersten Male; was des
Zweckes der Ueberzeugung wegen geschehen konnte, ist nun geschehen
und beendet.


Nun der pathetische Theil, welcher der narratio facti symmetrisch
correspondierend gegenüber liegt. Die narratio facti deutete zurück
auf den thatsächlichen Anlass der ganzen rednerischen Handlung und
nahm, indem sie diesen berichtete, die Einbildung in Anspruch (permovit).
An eben diese wendet sich auch der pathetische Theil, auch
er permovet, aber, da er eben ein Theil des Beschlusses ist, so deutet
er über diesen hinaus und vorwärts auf den practischen Zweck der
Rede, der sich zu jenem factischen Anlass verhält wie die Wirkung
zur Ursache. Diesen practischen Zweck legt hier der Redner den
Zuhörern ans Herz, er fordert sie auf, der gewonnenen Ueberzeugung
gemäss zu wollen und zu handeln. Da es aber eben nur noch ein
Zweck ist, da es also jetzt nur gilt, den Willen für eine noch zukünftige
Wirklichkeit zu bestimmen, so wird von der Einbildung eine viel
grössere und wirksamere Thätigkeit gefordert als dort in der narratio
facti, wo es etwas bereits in die Wirklichkeit Eingetretenes bloss zu
berichten gab, wo vielleicht bloss die Erinnerung in Anspruch genommen
ward. Hier hat sie dagegen eine nur noch gewünschte Wirklichkeit
auszumalen, und mit Hilfe der Phantasie so lebhaft auszumalen,
dass der Zuhörer dadurch in eine Aufregung der Empfindung versetzt
wird, die ihn zu der bezweckten Willensäusserung hintreiben muss.
Von dieser mit den Schöpfungen der Einbildungskraft unmittelbar verbundenen
Aufregung des Gefühls pflegt man nun das zweite Glied der
conclusio eben den pathetischen Theil zu nennen: ein Ausdruck, an
dem man sich schon mannigfach gestossen hat, aber eigentlich ohne
rechte Noth. Man hat nämlich geglaubt, bei dem Worte pathetisch
an unser deutsches Wort Leidenschaft und zwar in seinem gewöhnlichen
übeln Sinne denken zu müssen, und nun eingewendet, der
Redner dürfe für seinen Zweck keine Unterstützung bei den Leidenschaften |#f0315 : 302|

seiner Zuhörer suchen; keinem Redner sei das gestattet und
gar dem geistlichen am allerwenigsten. Diese Einwendung entspringt
aus einer mehrfach unrichtigen Voraussetzung. Denn einmal nöthigt
uns nichts, das griechische Wort pathetisch mit leidenschaftlich zu verdeutschen.
Den Griechen heisst auch jede vorübergehende Empfindung,
auch jede nur momentane Erregung und Stimmung des Gefühles, kurz
Alles, was die Lateiner affectus und auch wir Affect nennen, πάθος:
auch das Mitleid ist ein πάθος, auch die Begeisterung. Solche πάθη
aber selbst auszudrücken und in den Zuhörern sie zu erwecken, das
wird man doch wohl dem Redner nicht verwehren: denn was bliebe
dem gerichtlichen Redner, wenn man ihm das πάθος des Mitleids und
dergleichen, was dem politischen, wenn man ihm das πάθος der vaterländischen,
was endlich dem geistlichen, wenn man ihm das πάθος
der religiösen Begeisterung benehmen wollte? Und selbst wenn man
an die Stelle des griechischen Wortes pathetisch das deutsche leidenschaftlich
setzte, so wäre dieser Ausdruck nicht gradezu verwerflich;
man könnte ihn nur missverstehn, wenn man ihn missverstehn wollte.
Dass der Redner keine gemeinen und niedrigen Leidenschaften anregen
soll, versteht sich, ohne dass die Rhetorik davon handelt, schon aus
der Sittenlehre und versteht sich schon von selbst um des letzten
Zweckes aller Beredsamkeit willen, der ja das Gute ist; aber es giebt
auch höhere, sogenannte edle Leidenschaften, wie z. B. die Liebe, wie
unter Umständen auch der Hass. Und auf dergleichen Leidenschaften
wird jeder Redner, der geistliche wie der weltliche, hinarbeiten dürfen,
auf Liebe zu Gott und dem Nächsten, auf Hass gegen die Sünde
u. s. w. Der griechische Name pathetisch ist jedoch vorzuziehen, deswegen
weil πάθος beides in sich begreift, den vorübergehenden Affect
des Gefühls und die andauernde Leidenschaft des Gemüthes, während
wir zwischen diesen beiden einen Unterschied machen, wenigstens die
Sprache der Wissenschaft. Im pathetischen Theil kann es aber sowohl
auf blossen Affect als auch auf Leidenschaft abgesehen sein.


Endlich der Beschluss. Mit diesem letzten Gliede der conclusio
und der ganzen Rede gelangt der Redner ebendahin, wo er dieselbe
mit dem ersten Gliede des Exordiums oder Einganges, zugleich dem
ersten der ganzen Rede, begonnen hatte; der Beschluss im engeren
Sinne des Wortes entspricht der captatio benevolentiae, die man ja
auch vorzugsweise den Eingang nennt. Beide richten sich an das Gefühl;
aber es bestehn zwischen beiden diejenigen Unterschiede, welche durch
die verschiedene Stellung, die sie in der Rede einnehmen, geboten
sind. Im ersten Gliede des Exordiums darf der Redner das Gefühl
und somit den Willen seiner Zuhörer noch nicht direct für den beabsichtigten |#f0316 : 303|

practischen Zweck zu gewinnen suchen: denn sie kennen
noch nicht weder den factischen Anlass, noch die theoretische Belehrung,
aus denen beiden erst jener Zweck sich als nothwendig gefordertes
Resultat ergeben soll. Er muss sich da also vor der Hand
noch darauf einschränken, sie nur sich, nur noch seiner Persönlichkeit
geneigt zu stimmen: mittelbarer Weise führt das dann auch zu
Wohlwollen für seinen Zweck. Bei dieser Bedeutung der captatio
benevolentiae kann auch dort die Einwirkung auf das Gefühl der
Zuhörer immer nur eine mässige sein. Anders ist es nun in dem ihr
entsprechenden Beschluss. Hier ist nun schon Alles vorausgegangen,
was die Rede thun und geben kann: die Zuhörer kennen den factischen
Anlass, sie sind ausführlich über die daran angeknüpften Theoreme
belehrt, soeben ist ihnen auch in dem zunächst vorangegangenen
Gliede, in dem pathetischen Theile, der practische Zweck dargestellt
und vermittelst der Einbildung ihr Gefühl, ihr Gemüth in Pathos versetzt
worden, in Affect, in Leidenschaft: nun bleibt dem Redner nur
noch diess Eine übrig, dass er sich unmittelbar an das so erregte
Gefühl des Zuhörers wende und ihm in der Sprache des Gefühls die
geforderte Willensäusserung dringlich und angelegen mache. Ist auch
diess noch geschehen, so ist der Beschluss des Beschlusses und mit
ihm die ganze Rede vollendet.


In dieser Weise, bei der Unterscheidung von Recapitulation, pathetischem
Theil und Beschluss, ist denn auch der dritte Haupttheil der
Rede dreigliedrig, ganz entsprechend der gewöhnlichen Einrichtung
des ersten. Und in der That giebt es, namentlich in der weltlichen
Redekunst, Beispiele genug, die zu dieser Beschreibung stimmen, aus
denen dieselbe eben auch entnommen ist. Natürlich jedoch fallen diese
drei Glieder in einer guten Rede nicht auseinander, sondern eins ist
mit dem andern auf das Engste und Innigste verwachsen, was freilich
überall in der Rede gefordert wird, aber nirgend so deutlich im Wesen
der Sache selbst begründet ist als hier. Im Exordium sondern sich
die drei Unterabtheilungen weit mehr: das ist da auch ganz am Platze:
da wendet sich die rednerische Thätigkeit noch ohne eine fester begründete
Einigung hinter einander nach ganz verschiedenen Richtungen, auf
den practischen Zweck in der captatio, auf den factischen Anlass in
der narratio facti, auf den theoretischen Zweck in der expositio. In
der conclusio dagegen treffen all diese dort noch getrennten Linien
als in ihrem gemeinsamen Endpuncte zusammen: Alles zielt hier auf
den einen practischen Zweck ab und dient der Aufforderung und
Bestimmung des Willens. Den Kern der conclusio bildet demgemäss
der pathetische Theil, der hier dem Verstande das Wort abnimmt und |#f0317 : 304|

es dort dem Gefühle giebt und so in Ausführlichkeit und Lebhaftigkeit
sich nach beiden Seiten hin ausbreitet und der ganzen conclusio einen
pathetischen, einen leidenschaftlichen oder affectvollen Character verleiht.
Daher kann man die Anforderung, welche die alten Rhetoriker
an das Ganze einer Rede stellen, sie solle conciliare, docere, permovere,
so vertheilen, dass das permovere auf die conclusio, den dritten
Haupttheil kommt, wie das conciliare auf das Exordium und das docere
auf die disputatio. Oft aber sprechen die Rhetoriker überhaupt nur
von einem Beschlusse ohne weiter gehende Unterabtheilungen, und die
gewöhnliche Homiletik, die das Exordium gar fünffach zergliedert,
fasst dagegen den Beschluss ganz einfach und ungetheilt auf. Denn
allerdings fliessen in einer guten Rede jene drei Glieder so in einander,
dass man sie leicht für eins und einig halten kann.


Und nicht bloss das: oft fehlt auch wirklich und gradezu das
erste Glied: die Recapitulation verschmilzt nicht bloss mit den nachfolgenden,
sondern mangelt gänzlich. Allerdings ist auch die Recapitulation
unter mancherlei Umständen leicht zu entbehren. Eine Homilie
kann sie begreiflicher Weise gar nicht haben: denn einer solchen liegt
kein einiges Thema zu Grunde, da vermag also die conclusio nach
der Analyse der Ausführung nichts einheitlich zusammenzufassen. In
Predigten aber kann der letzte untergeordnete Gedanke der Ausführung
oder der Standpunct, von dem aus da das Thema zuletzt ist betrachtet
worden, bei aller Vereinzelung doch so bedeutsam und gewichtig sein,
es kann auch der Zusammenhang der einzelnen Unterabtheilungen eine
so leichte Uebersichtlichkeit besitzen, dass eine Recapitulation nicht
bloss unnöthig, sondern sogar durch ihre Müssigkeit störend wäre,
und es zweckdienlicher erscheinen muss, den pathetischen Theil gleich
an die letzten kräftigen Worte der Ausführung anzuknüpfen. Ebenso
ist es denn auch in der weltlichen Redekunst. Im Allgemeinen wird
hier freilich die Recapitulation seltener zu entbehren sein, weil hier
auch die Ausführung in der Regel verwickelter ist als in der geistlichen
Redekunst, und deshalb legen auch die alten Rhetoriker auf
diese Forderung ein ziemliches Gewicht; Cicero und Andere schreiben
die Recapitulation ausdrücklich vor. Gleichwohl finden sich bei Cicero
selbst und bei anderen Rednern Beispiele genug, wo auch sie die
Recapitulation ganz haben fallen lassen. Sie ist aber am leichtesten
in dem Fall zu entbehren, wo die disputatio in eine Climax der
Beweisführung ausgelaufen ist, wo die Ausführung mit dem bedeutsamsten,
mit dem folgereichsten der Argumente geendet hat. Da darf
dann allerdings nicht wohl noch eine Recapitulation hintendrein kommen,
da wäre sie nur ein hemmender Rückschritt: da muss gleich |#f0318 : 305|

zum vollen Pathos, da muss vom Gipfel der Ueberzeugung zum Gipfel
der Ueberredung hinübergeschritten werden.


Das dritte Glied der conclusio, der letzte volle Beschluss, erweitert
oder wendet sich gern in derselben Weise wie das ihm entsprechende
erste Glied des Exordiums, die captatio benevolentiae. Wir
haben früherhin (S. 291) gesehen, dass dem weltlichen Redner des Alterthums
die Sitte nicht fremd war, die Rede mit einem Weihegebete zu
eröffnen, eine Sitte, die natürlich in der kirchlichen Redekunst noch
festere Wurzel gefasst hat. Diesem Eröffnungsgebete entspricht nun,
obschon minder häufig gebraucht, das Schlussgebet. Demosthenes, wie
er seine Rede pro corona mit einem Gebete beginnt, macht auch den
Schluss derselben mit einem Gebete; Cicero endigt seine erste Catilinarische
Rede wenigstens so. Und so kann es auch dem geistlichen
Redner in vielen Fällen gut und schicklich erscheinen, sich zum Schlusse
der ganzen Predigt ebenso an Gott zu wenden, betend, dass er dem
vollbrachten Werke seinen Segen verleihe, wie vorher ist gebetet worden,
dass er das Beginnende segne. Und grade wie der Prediger im
Anfangsgebete, als in einer höheren captatio benevolentiae, sich selbst
dem Herrn empfohlen hat, so kann er nun zum Schlusse, wo es gilt,
auf den Willen der Zuhörer einzuwirken, Gott gleichsam zur Hilfe
rufen und seinen Händen das Herz dieser anempfehlen, damit er den
Willen stärke und leite. Aber, wie gesagt, diese Erweiterung und
Umgestaltung des Beschlusses ist keinesweges gesetzlicher Gebrauch,
und es mag auch sein, dass sie nicht überall gleich gut an ihrem
Orte wäre. In solchen Dingen muss der Geistliche die Umstände
beachten und der jedesmaligen Eingebung folgen. Augustinus freilich
sagt, auch am Schlusse solle der tractator beten wie zu Anfange.


Es erscheint zweckdienlich, alles über die Rede Bemerkte in eine
schematische Tabelle zusammenzufassen und so den symmetrischen Bau
einer wohlgebauten Rede zu veranschaulichen.

|#f0319 : 306|
Exordium. Disputatio. Conclusio.
conciliat docet permovet
(Gebet.) Captat. benev. Narrat. facti. Expositio. Erklärung. Beweisführung. Recapitulatio. Pathet. Theil. Schluss. (Gebet.)
Gefühl Einbildung Verstand Verstand Verstand Einbildung Gefühl
(Gefühl, Einbildung)
conciliat permovet docet docet docet permovet conciliat
(conciliat, permovet)
pract. Zweck fact. Anlass theoret. Zweck theoret. Zweck pract. Zweck pract. Zweck
(Redner) (Zuhörer)
synthetisch analytisch. synthetisch
Proposit. Partit. Partit. Proposit.
|#f0320 : 307|


Hiemit ist das Bild der Rede zu Ende geführt: wir wollen aber
noch auf dem Wege einer Vergleichung einige Schlussbemerkungen
anstellen über das Wesen der Rede im Allgemeinen, über deren Bedeutung
und Einrichtung; auf dem Wege einer Vergleichung, die bisher
schon wiederholendlich ist angedeutet worden, indem wir den Ausdruck
rednerische Handlung gebrauchten: wir wollen die Rede vergleichen
mit dem Drama. Eine solche Parallele ist schon dadurch
motiviert und gleichsam gefordert, dass Drama und Rede, jedes auf
seinem Gebiete, der Gipfelpunct der Darstellung durch die Sprache
ist, das Drama für die Poesie, die Rede für die Prosa. Sie bezeichnen
aber an beiden Orten den Gipfel der Vollendung deshalb, weil sich
in ihnen die sonst getrennten Arten der Anschauung und Darstellung
wieder vereinigt haben, im Drama die Epik und die Lyrik, in der
Rede die Erzählung, die das prosaische Gegenbild des Epos, und die
Belehrung, die das prosaische Gegenbild der Lyrik ist. Zwar ist die
Rede ihrem hauptsächlichen Inhalte nach lehrhaft, und das Didactische
behauptet in ihr ein grösseres Uebergewicht als die Lyrik im Drama;
daher wir auch die rednerische Prosa mit unter die didactische geordnet
haben: gleichwohl ist das Element der Erzählung von ihr nicht ausgeschlossen:
schon der Anfang einer jeden Rede ist erzählender Art:
denn jegliche Rede lehnt sich an einen historisch gegebenen, factischen
Anlass und geht von der Berichterstattung darüber aus. Und auch
im weiteren Verlaufe nimmt die Rede fort und fort einzelne erzählende
Bestandtheile in sich auf: so bei der Argumentation, so wieder im
pathetischen Theil. Auf diese Art wirken in der Rede Einbildung
und Verstand beinahe ebenso zusammen, wie im Drama Einbildung
und Gefühl. Aber auch eben das Gefühl liegt, wie sich uns zur
Genüge gezeigt hat, innerhalb des Bereiches der Rede; ja ihre ganze
und letzte Vollendung findet sie erst in einer Einwirkung auf das
Gefühl, insofern die Bestimmung des Willens muss vermittelt werden
durch Gefühlsanregung. Ebenso bildet Einwirkung auf das Gefühl
das letzte Ende jeder dramatischen Dichtung; jedes Drama führt die
religiösen und sittlichen Empfindungen durch den Widerspruch und
Zwiespalt hindurch zur Versöhnung und zum Frieden.


Indessen der Parallelismus der Rede und des Dramas bleibt nicht
so bloss beim Allgemeinen stehn; er lässt sich noch weiter und besser
in Einzelheiten hinein verfolgen.


Jedes Drama verlangt für den Verlauf seiner Handlung eine dreitheilige
Gliederung; es muss zerfallen in die Exposition, die Verwickelung
und die Auflösung. Von diesen drei Gliedern sind die beiden
ersten wesentlich analytischer Natur, das dritte synthetisch. Die |#f0321 : 308|

Exposition bringt zuerst die verschiedenen Personen und deren Interessen
auf den Schauplatz, die Verwickelung zeigt diese Interessen in ihrem
Streit, die Auflösung aber schlägt den ganzen Kampf nieder durch
den Sieg und den Frieden der Idee. Dasselbe Verhältniss besteht
auch zwischen den drei Gliedern einer Rede, dem Exordium, der
disputatio und der conclusio. Auch das Exordium der Rede dient ja
hauptsächlich, um die Ausführung exponierend zu begründen; die Ausführung
selbst ist durch und durch analytisch; darauf, in der conclusio,
folgt die synthetische Einigung. Namentlich aber ist es der
zweite Theil, die Ausführung oder die disputatio, in welchem der dramatische
Character der Rede besonders deutlich vor Augen tritt, und es
ist darauf schon früher (S. 294) hingedeutet worden, als wir den Namen
disputatio in nähere Erwägung zogen. Auch hier haben wir einen
Kampf, aber nicht von Personen, sondern von Gedanken, nicht von
persönlichen Interessen, sondern von theoretischen Sätzen, und die
ganze Handlung stellt sich zwar nicht eigentlich dialogisch, aber doch
monologisch, monodramatisch, also immerhin in dramatischer Art dar.
Es spricht nur der Redner; diejenigen, deren Gedanken und Grundsätze
er mit den seinigen bekämpft oder berichtigt, die Gegenpartei,
die Zuhörer schweigen ohne dialogisch einzureden: er selber führt an
ihrer Stelle das Wort, und aus dem, was er sagt, ergänzen sich die
Fragen und die Antworten der Andern. Diess Verhältniss des Redners
zu seinen Zuhörern begründet namentlich auch für diesen zweiten Haupttheil
der Rede die Anforderung, dass Alles, was gesagt wird, in lebendiger
Bezüglichkeit auf die gegenwärtige Zuhörerschaft stehe: eine
Anforderung, die aber grade hier gewöhnlich verletzt wird; ganz häufig
wenden sich die Redner erst im Beschluss an ihre Zuhörerschaft, während
sie die vorhergehende Ausführung oder „Abhandlung“ so beziehungslos
gestalten, als wäre sie eben eine Abhandlung im sonstigen
Sinne des Wortes. Aber es ist auch schon hier die Sache des Redners,
seine Zuhörer unausgesetzt und lebhaft Theil nehmen zu lassen
und sie gleichsam fragend und antwortend in sein einseitiges Zwiegespräch
hineinzuziehen.


Also die Rede das prosaische Gegenbild des Dramas. Wenn man
diese Vergleichung ins Auge fasst, bekommt ein bekannter Vers aus
Göthes Faust (1, 1) seinen guten Bezug und verliert den Stachel des
Hohns, der eigentlich allerdings in ihm liegen soll:


„Ein Comödiant kann einen Pfarrer lehren.“
|#f0322 : E309|

STILISTIK. |#f0323 : E310|
|#f0324 : E311|


Wir wollen nicht wiederholen, was früher (S. 235) über die gewöhnliche
unklare Vermischung von Rhetorik und Stilistik ist gesagt worden.
Aber an Eine Bemerkung darf doch vielleicht wieder erinnert
werden, welche sich uns schon aufgedrängt hat, als wir die Poetik zu
besprechen anfiengen. Der Zweck einer Poetik, einer Rhetorik kann
niemals der sein, den, der sie studiert oder ein Lehrbuch liest, zu einem
Dichter, einem Redner zu machen. Ist das Bestreben dessen, der sie
lehrt oder ein Lehrbuch schreibt, vernünftig und gewissenhaft, so geht
er nur darauf aus, die Poesie und die prosaische Litteratur, wie sie
vor uns liegt, auf die Gesetze hin zu betrachten, die in ihnen walten,
diese Gesetze zur Anschauung zu bringen und dadurch das Verständniss
zu erleichtern, den Genuss zu erhöhen, das Urtheil zu schärfen
und zu befestigen. Ist dann unter den Lesern oder Hörern Jemand,
dem Gott Dichter- oder Rednergabe verliehen hat, dem werden dann
freilich jene Lehren doppelt zu gute kommen, er wird auch practischen
Nutzen davon haben: einen solchen wird der Poetiker, der Rhetoriker
weiter ausbilden; aber Jemanden zum Dichter oder Redner machen,
der es nicht schon ist, das kann weder er, noch sonst ein Mensch.
So ist es denn auch mit der Stilistik. Zwar hat sie es nicht mit so
innerlichen Dingen zu thun, wie die Poetik und die Rhetorik: ihr
Gegenstand ist die Oberfläche der sprachlichen Darstellung, nicht
die Idee, nicht der Stoff, sondern lediglich die Form, die Wahl der
Worte, der Bau der Sätze. Und solche Aeusserlichkeiten, dürfte man
meinen, wären wohl zu lehren, damit sie erlernt würden. Indessen
der Stil ist doch keine bloss mechanische Handfertigkeit: die sprachlichen
Formen, von denen die Stilistik zu handeln hat, sind in der
nothwendigsten Weise durch Stoff und Idee bedingt; der Stil ist keine
todte Maske, die über den Inhalt gedeckt wird, sondern er ist die
lebensvolle Gebärde des Angesichts, zu welcher Fleisch und Bein sich
in der Weise gestalten, wie die Seele von innen heraus wirkt; er ist
freilich nur eine Einkleidung des Inhaltes, nur ein Gewand, aber der
Faltenwurf des Gewandes ist hervorgebracht durch die Stellung der
Glieder, die das Gewand verhüllt, und den Gliedern hat wiederum
nur die Seele grade diese Bewegung und Stellung gegeben. Und so
darf man denn beim Vortrage der Stilistik nichts Andres verheissen |#f0325 : 312|

und nichts Andres verlangen als beim Vortrage der Poetik und der
Rhetorik. Auch hier kann der Zweck nur eine theoretische Erörterung
des objectiv Vorliegenden sein; auch der Stilistiker kann nichts weiter
im Auge haben, als einen verständig bewussten Genuss zu erwecken
und das Urtheil zu bilden; practisch förderlich kann er nur dem sein
wollen, der zu dem Reichthum an schönen Ideen selber auch Sinn für
schöne Form besitzt; für jeden Andern haben alle Regeln nur einen negativen
Werth, er wird sie nur in so fern in Anwendung bringen können,
als er daraus sieht, was er lassen, nicht aber, was er thun solle.


Nach diesen wenigen einleitenden Worten können wir nunmehr
zur Sache selbst übergehn.


I. VOM STIL IM ALLGEMEINEN.


Bekanntlich bedeutet das Wort Stil im Griechischen, von woher
es zu den Lateinern und durch diese zu uns gelangt ist, einen gleichmässig
lang gestreckten, mehr langen als dicken Körper: στῦλος ist
sowohl ein hölzerner Pfahl als eine steinerne Säule, als endlich ein
metallener Griffel zum Schreiben und Zeichnen: es fällt eben dem
Begriffe nach und auch etymologisch zusammen mit unserm Worte
Stiel. Hauptsächlich in der letzteren Bedeutung von Griffel haben es
sich die Lateiner angeeignet: sie haben, da ihrer Sprache der Laut
des v fehlte, daraus stilus gemacht. Bei ihnen, nicht aber schon bei
den Griechen, sind von dieser eigentlichen Bedeutung noch andre
uneigentliche abgeleitet worden, und es wird stilus genannt erstens,
was wir auch uneigentlicher Weise noch mit dem Ausdrucke Hand
und die Lateiner sonst mit dem Worte manus bezeichnen, die Art
und Weise, die Schriftzüge zu gestalten, zweitens noch uneigentlicher,
noch bildlicher die Art und Weise, seine Gedanken in Worte zu kleiden.
So schon bei Terenz1, bei Cicero2 u. a. Also ganz wie wir
von einer gewandten Feder oder in Bezug auf die Kunst der Malerei
von einem zarten Pinsel, von dem Pinsel des Apelles sprechen. In
diesem letztern, figürlichen Sinne gebrauchen nun auch wir das Wort
Styl, oder, da wir es zunächst von den Römern entlehnt haben, Stil;
aber wir haben da seine Anwendung noch weiter ausgedehnt, weiter
als in dem eigentlichen Sinne begründet ist. Ueberall in dem ganzen

1
Andr. prol. 12 (Menandri Andria et Perinthia) dissimili oratione sunt factae
ac stilo (= oratione et scriptura Phorm. prol. 5).
2
Brut. 26, 100 unus sonus est totius orationis et stilus (ibid. 25, 96).
|#f0326 : 313|

weiten Gebiete aller Kunst, auch der bildlichen, auch der Musik,
nennen wir es Stil, wo sich in der äusseren Darstellung eine innere
Eigenthümlichkeit durch characteristische Merkmale deutlich ausspricht:
wir sprechen also z. B. auch von einem romanischen Stil in der Baukunst,
von einem Stile Rafaels und Sebastian Bachs; ja die Künstler
sagen ganz im Allgemeinen, ohne irgend eine nähere Bestimmung
z. B. von einem Gefässe, es habe Stil, wenn dasselbe zweckmässig
und schön und zugleich in irgendwie eigenthümlicher Weise gestaltet
ist. Insbesondre aber gebrauchen auch wir das Wort Stil in Bezug
auf sprachliche Darstellung, sei das nun prosaische oder poetische;
synonym damit ist der Ausdruck Schreibart; synonym, aber nicht
gleichbedeutend: man kann in allen Fällen Stil sagen, aber nicht in
allen Schreibart. Von einer Abhandlung kann man sowohl Stil als
Schreibart gebrauchen: von einem Lied, einer Predigt nur Stil, nicht
Schreibart, selbst wenn Lied und Predigt auch geschrieben vor einem
liegen und bloss gelesen, nicht gesungen, nicht gesprochen werden;
für die Reproduction und die Beurtheilung nimmt man sie doch immer
als gesungen und gesprochen. Sollen wir nun den Begriff des Wortes
Stil in dieser seiner besonderen Beziehung auf die sprachliche Darstellung
noch näher definieren, so wird das ungefähr in folgender
Weise geschehen können: Stil ist die Art und Weise der Darstellung
durch die Sprache, wie sie bedingt ist theils durch die geistige
Eigenthümlichkeit der Darstellenden, theils durch Inhalt und Zweck
des Dargestellten. Diese Definition ist weder zu weit noch zu eng.
Sie ist weit genug, dass all die verschiedenen Anwendungen, die man
innerhalb der Litteratur von dem Worte Stil macht und durchaus
billiger Weise macht, sich damit wohl vereinigen lassen, dass es also
ganz wohl zu ihr stimmt, wenn man von einem dramatischen Stil
und von dem dramatischen Stil der Griechen und dann wieder von
dem Stil des Aeschylus spricht. Sie ist aber auch nicht so weit wie
eine ziemlich verbreitete, die zwischen Stil und Schreibart einen ganz
willkürlichen Unterschied festsetzt und zu diesem Endzweck in den
Begriff des Stils Dinge aufnimmt, die eigentlich der Poetik und Rhetorik,
ja der Logik zugehören: Stil ist nach dieser unterscheidenden
Definition die Art und Weise, wie man zur Erreichung eines bestimmten
Zweckes seine Gedanken bildet, ordnet und darstellt; Schreibart
dagegen die Art und Weise, wie man die Worte, als blosse hörbare
Ausdrücke genommen, wählt und zusammenstellt, geht also nur auf
das Verhältniss, in welchem der Vortrag zu den Anforderungen des Wohlklangs
und allenfalls noch des Periodenbaus steht. Damit aber ist dem
Stil mehr und der Schreibart weniger gegeben, als ihnen gebührt.

|#f0327 : 314|


In unsrer vorher aufgestellten Definition, die ihre Bewährung am
besten im weiteren Verlaufe unsrer Betrachtung finden wird, ist gesagt
worden, die Art und Weise der Darstellung sei theils bedingt durch
die geistige Eigenthümlichkeit des Darstellenden, theils durch Inhalt und
Zweck des Dargestellten, d. h. um es mit andern Worten und kürzer
auszudrücken, der Stil hat eine subjective, er hat eine objective Seite.
Nehmen wir also z. B. die schon früher (S. 276) erwähnte Schulrede von
Herder über die Geographie, so ist der Stil, die Art und Weise der sprachlichen
Darstellung, einmal objectiv bedingt durch Inhalt und Zweck;
durch den Inhalt, d. h. erstlich durch die thematische Idee, die Nützlichkeit
und Annehmlichkeit der geographischen Studien, und zweitens
durch den Stoff, durch das ganze Gedankenmaterial, das jene Eine
Idee um sich versammelt; durch den Zweck, insofern darauf ausgegangen
wird, die Zuhörer, und grade diese, nämlich Schüler und
Lehrer und Schulfreunde, von Seiten des Gemüthes für die Anerkennung
und Bethätigung jener Idee zu gewinnen, und insofern um dieses
Zweckes willen jene Gedanken sich zu einer Rede und namentlich
zu einer Schulrede gestaltet haben. Objectiv betrachtet hat also das
Ganze den Stil einer Schulrede über die Geographie. Indessen das
theilt diese Rede mit jeder andern, die über das gleiche Thema vor
eben einer solchen Zuhörerschaft etwa ist gehalten worden oder gehalten
werden kann. Was sie von diesen unterscheidet, was sie zu einer
Rede Herders macht, das ist nun die subjective Seite des Stils, das
ist die Art und Weise, in der nur Herder, weil er grade diesen Geist
und diese Bildung besass und in dieser Zeit lebte, seinen Gedanken
Worte gab, seine Art und Weise, die Gedanken einzukleiden und zu
schmücken, die Worte zu ordnen, zu trennen, zu verbinden.


Natürlich gehören beide Seiten immer und nothwendig zusammen,
sie fallen nicht getrennt und trennbar aus einander, denn es ist ja
damit Eines und dasselbe, die äussere sprachliche Form nur von verschiedenen
Standpuncten her betrachtet; es kann auch in einer gut
und gesund abgefassten Schrift nicht bloss das Eine oder bloss das
Andre vorhanden sein: eine Schrift, die nur objectiven Stil hat (leider
giebt es solcher nur zu viel) macht, wenn man sie überhaupt lesen
mag, zum mindesten denselben unangenehmen Eindruck, den überall
die Characterlosigkeit macht. Es muss Beides da sein, Beides in der
rechten organischen Vereinigung, und bald mehr von dem Einen, bald
mehr von dem Andern. Diess Mehr oder Minder ist jedesmal bedingt durch
den Inhalt, dadurch, ob auch dieser von subjectiver oder von objectiver
Natur ist: lediglich davon hängt die grössere oder geringere Subjectivität
oder Objectivität der äusseren Darstellung, des Stiles ab. |#f0328 : 315|

Beim Epiker, dessen Sache schon in der Anschauung die grösste
Objectivität ist, der Idee und Stoff nicht aus sich heraus holt, sondern
lediglich in sich aufnimmt, wird man es nur löblich finden, wenn auch
in der Darstellung, im Stil die subjective Seite bis auf ein Minimum
zusammenschwindet: denn sie könnte sich doch nur dann in breiterer
Ausdehnung zeigen, wenn er schon in der Anschauung ungebührlich
subjectiv gewesen wäre. Dagegen wird man den Lyriker nicht tadeln,
an dessen Liedern man den allgemeinen Stil aller Lyrik, also die
objective Seite kaum gewahrt neben den Eigenthümlichkeiten grade
seiner Lyrik: je individueller, je mehr seinem eigenen und innersten
Gemüthe angehörig, d. h. je wahrhafter lyrisch seine Anschauungen
sind, desto individueller, desto subjectiver wird er sie auch äusserlich
darstellen dürfen und nur so darstellen können. Aber die Kunst, hier
Mass und Grenze zu halten, ist nur wenigen Auserwählten gegeben,
im Stil nur weniger Schriftsteller zeigt sich das rechte natürliche
und künstlerische Verhältniss zwischen Subjectivität und Objectivität.
Die grosse Masse streift an Characterlosigkeit; Andre aber werden,
sei es durch Eitelkeit, sei es durch eine Lebendigkeit des Geistes,
die sie selbst nicht zu bemeistern vermögen, in das entgegengesetzte
Extrem hineingetrieben, wo ihre Subjectivität unverhältnissmässig überwiegt.
Einen so fehlerhaft gemischten Stil nennt man Manier, grade
wie man auch in den bildenden Künsten von Manier spricht, sobald
z. B. auf einem Gemälde in Composition und Zeichnung Dinge entgegentreten,
die nicht im dargestellten Gegenstande selbst begründet,
sondern ihm fremdartig sind und nur aus der Laune und Willkür
und Angewöhnung des Künstlers ihren Ursprung genommen haben.
Es haben also z. B. Manier, d. h. es ordnen das Object ihrem Subjecte
unter, wo sie doch eher ihr Subject dem Objecte unterordnen
sollten, unter den Griechen Aeschylus, über dessen Manier schon Aristophanes
in den Fröschen spottet, gegenüber dem wahrhaften Stil
des Sophocles und der Characterlosigkeit in der Darstellungsweise
des Euripides; unter den Lateinern Tacitus, unter den deutschen Dichtern
des Mittelalters Wolfram von Eschenbach, unter den Prosaisten
der neuern Zeit Johannes von Müller und Jean Paul. Ich habe geflissentlich
solche genannt, bei denen die Manier nur eine Folge der übermächtigen
geistigen Kraft des Schriftstellers ist und eine ihm selbst
zum grössten Theile unbewusste Folge, solche Schriftsteller, die in
anderer Beziehung mit unter die ersten aller Zeiten gehören, und die,
jeder in seinem Fach, leichtlich die ersten von Allen sein würden,
wenn sie sich eben von diesem Vorwurfe der Manier hätten frei zu
halten gewusst. Eigene und eigentliche Manier ist sogar ein Merkmal |#f0329 : 316|

ausserordentlicher Autoren: solche, die auf einer tieferen Stufe stehn,
bringen es gar nicht so weit: ihre geistige Eigenthümlichkeit ist zu
geringfügig, als dass sie in der Darstellung so überwiegen und sich
so besonders könnte geltend machen; haben solche eine Manier, so
ist es eher die durch Nachahmung angeeignete anderer grösserer Geister,
also nicht ihre Manier. Da wird dann freilich die Manier ein
doppelter Fehler: denn wenn sie bei dem Original auch nur möglich
geworden war durch eine Verrückung des rechten Organismus, so war
sie doch immerhin aus einem Organismus hervorgegangen: in der
Nachahmung aber sinkt die Manier zu einer rein mechanischen Handhabung
herab, zu einer blossen Aeusserlichkeit, ohne einen tiefer im
Innern liegenden Kern. Der Stil Johannes von Müllers, der bei aller
Wärme des Gemüthes doch spröde und herbe ist, mag in seinen
Werken mitunter beschwerlich werden und stören, da er nicht grade
durch den gegebenen Stoff bedingt, da er eben Manier ist und die
bezweckte Anschaulichkeit oft mehr beeinträchtigt als befördert: aber
er ist, wenn man bloss die subjective Seite ins Auge fasst und dieser
gebührend Rechnung trägt, der ungezwungene, nothwendige Ausdruck
eines von den Historikern der alten Welt genährten und unter den
Chronisten der Heimath und des Mittelalters aufgewachsenen Geistes.
Kommen nun aber die Nachahmer Johannes von Müllers, die wegen
ihrer künstlerischen oder sonstigen Characterlosigkeit sich keinen eigenen
Stil, geschweige denn eine eigene Manier bilden können, kommen
z. B. Zschokke und der König Ludwig von Bayern und machen die
laconischen Sentenzen Johannes von Müllers, seine kurz abgeschnittenen
Periodenglieder, seine Inversionen, seine alterthümlichen Wendungen
und dergleichen nach, so sieht man eben nur gleichsam ein
Wesen, das die Gebärden eines Menschen nachbildet, aber sie ungeschickt
nachbildet, weil es sich dabei keines Grundes und Zweckes
bewusst ist, und sie haben, wie es in Wallensteins Lager heisst,
ihrem Anführer nur sein Räuspern und Spucken abgelernt.


Die subjective Seite des Stils ist es, von der Buffons bekannter
Ausspruch gilt: „Der Stil ist der Mensch, le style c'est l'homme.“ Sie
ist die besondere Physiognomie, durch welche sich ein Dichter, ein
Historiker bei aller Familienähnlichkeit von den übrigen Dichtern und
Historikern seiner Zeit und seines Volkes und seiner Art unterscheidet.
Auf sie wird also auch die grammatische und die ästhetische Kritik
vor Allem aus ihr Auge zu richten haben, wo es die Beurtheilung
eines einzelnen Autors oder die Vergleichung und Unterscheidung mehrerer
unter einander gilt, und sie richtig erkannt zu haben, wird ein
um so grösseres Verdienst sein, je objectiver ein Werk seiner Natur |#f0330 : 317|

nach ist, je mehr also die stilistischen Aeusserungen der Subjectivität
in den Hintergrund gerückt werden. Man kann z. B. nicht sagen,
es gehöre ein stumpfes Auge dazu, um in der Iliade und im Nibelungenlied
nicht zu erkennen, dass diese Dichtungen von einer Mehrheit
verschiedener, auch stilistisch verschiedener Verfasser herrühren;
denn die einzelnen Verfasser waren alle so gute, d. h. so objective
Epiker, dass die subjective Seite ihres Stils sich einem gewöhnlichen
Blicke allerdings verbergen muss. Aber wohl kann man und muss man
das scharfe Auge Wolfs und Lachmanns rühmen, dass sie trotz dem die
stilistischen Subjectivitäten herausgefunden und auch daraus die ursprüngliche
Vielgliedrigkeit dieser Heldengedichte erkannt und bewiesen haben.


In dieser Weise ist das Subjective im Stil Gegenstand der Kritik
einzelner Schriften und Schriftsteller: die Stilistik aber kann sich
natürlich nicht darauf einlassen: ihre Sache ist das Auffinden und
Erörtern allgemeiner Gesetze, derjenigen Gesetze, denen die sprachliche
Darstellung nicht bloss eines Schriftstellers, ja nicht einmal bloss
eines Volkes und eines Zeitalters, sondern aller Schriftsteller aller Völker
und Zeiten unterliegt: diese allgemeinen Gesetze aber liegen auf
der objectiven Seite, liegen da, wo der Stil nicht durch die wechselnde
geistige Persönlichkeit des einzelnen Darstellenden, sondern durch
etwas überall Gleichartiges, durch Inhalt und Zweck des Dargestellten
bedingt ist; sie beziehen sich auf die Wirkung von Motiven, die jeder
Einzelne mit allen übrigen theilt. Wir werden mithin im weiteren
Verlaufe unsrer Betrachtung immer nur gelegentlich auf diese oder
jene stilistische Subjectivität zu sprechen kommen, eigentlich aber
und im Wesentlichen kann immer nur das Objective am Stil der Gegenstand
unsrer Besprechungen sein.


Um aber gleich hier einige neue Seitenblicke solcher Art zu
eröffnen, mag es gestattet sein, aus Jean Pauls Vorschule der Aesthetik
(2. Aufl. S. 601) einen Abschnitt (§ 76) hervorzuheben, wo er den individuellen
Stil einer Reihe von Schriftstellern selbst wieder in seinem individuellen
Stil kurz characterisiert; es mag diess als Muster dienen, wie
man dergleichen anzufassen habe. Cicero hat in seiner Schrift de oratore
eben eine solche Stelle (3, 7─9), eine Characteristik griechischer
und römischer Redner und seiner selbst: sicherlich kühler und verständiger
als Jean Paul; ob aber in so treffender Anschaulichkeit wie
Jean Paul, dürfte man billig bezweifeln.


Auf der objectiven Seite betrachtet, auf derjenigen, die uns von
nun an allein noch berührt, ist also der Stil, ist die Art und Weise
der sprachlichen Darstellung bedingt durch Inhalt und Zweck des
Dargestellten. Inhalt und Zweck können aber verschiedenartig sein, |#f0331 : 318|

je nachdem diese oder jene Seelenkraft bei der Schöpfung des Inhaltes
vorzugsweise thätig gewesen ist, und demgemäss auch bei der Rückschöpfung,
diesem einzigen Zwecke aller Darstellung, in Anspruch
genommen wird. Es sind nun aber drei Kräfte, die hier in Betracht
kommen: Verstand, Einbildung, Gefühl. Entweder sind es die Erfahrungen
und Urtheile des Verstandes oder die Anschauungen der Einbildung
oder endlich die Regungen des Gefühls, die sowohl den Inhalt
des Dargestellten ausmachen, als auch mit der Darstellung der Zweck
verbunden ist, dass jenes verständige Wissen, jene Bilder der Phantasie,
jene Bewegungen des Gemüthes in gleicher Weise nun auch
in dem Hörer oder Leser erweckt und hervorgerufen und in seiner
Seele ebenso sollen reproduciert werden, als sie dem producierenden
Schriftsteller innegewohnt haben. Daraus ergiebt sich uns zuvörderst
eine dreifache Unterscheidung zwischen einem Stil des Verstandes,
einem Stil der Einbildung und einem Stil des Gefühles. Damit ist
aber nur noch bezeichnet, welche Seelenkraft jedesmal hier in dem
Schriftsteller und dort in dem Leser thätig sei, nicht aber welches
denn nun die Art und Weise der zwischen beiden mitten inne liegenden
Darstellung, was der Character des Stiles sei, der jedesmal
gefordert werde, um zwischen Schöpfung und Rückschöpfung zu vermitteln.
Auch in dieser Rücksicht ergeben sich die Unterscheidungen
und Benennungen leicht und von selbst. Wo Schöpfungen des Verstandes
dargestellt werden zum Behufe verständiger Reproduction, da
wird von der Darstellung scharfe Bestimmtheit und leichte Fasslichkeit,
wird mit Einem Worte Deutlichkeit gefordert. Wo Schöpfung
und Reproduction das Werk der Einbildung sind, d. h. jener Seelenkraft,
welche die Idee unter den Formen der gegebenen Wirklichkeit
anschaut, da gehört sich für den Stil eine dem entsprechende Sinnlichkeit
und Lebendigkeit, da muss die Darstellung anschaulich sein.
Wo endlich die Empfindsamkeit oder die Gemüthlichkeit des Schaffenden
auf den Reproducierenden einwirken, wo sich die leichteren oder
gewichtigeren Regungen der Freude oder der Trauer in der Seele
des letzteren wiederspiegeln sollen, da muss auch die Darstellung,
welche jene Einwirkung vermittelt, das Gepräge des bewegten Gefühles
tragen, sie muss leidenschaftlich sein. Mithin hätten wir drei Hauptgattungen
und drei characteristische Haupteigenschaften des Stils:
den Stil des Verstandes, dessen Eigenschaft die Deutlichkeit, den
Stil der Einbildung, dessen Eigenschaft die Anschaulichkeit, den Stil
des Gefühles, dessen Eigenschaft die Leidenschaftlichkeit ist.


Hier wirft sich die Frage auf, wie solch eine dreigliedrige Eintheilung
der Gattungen und Eigenschaften des Stils sich vereinigen lasse |#f0332 : 319|

mit der früher gemachten nur zweigliedrigen Eintheilung aller sprachlichen
Darstellung in Poesie und Prosa. Es geschieht das leicht auf
folgende Weise. Der Grund und Boden, der Anfang und auch der
letzte Ausgang aller Poesie ist die Einbildung, Sache der Poesie ist
die Anschauung der Idee unter Formen der gegebenen Wirklichkeit.
Diesen Character ganz ausschliesslich trägt nur die älteste Gattung
aller Poesie, die Epik; und ebenso ist sinnlich lebendige Anschaulichkeit
für die Einbildungskraft wiederum das Wesentliche und Hauptsächliche
auf der höchsten Stufe, zu welcher die Poesie gelangen kann,
nämlich im Drama. Es ist mithin der Stil der Poesie im Allgemeinen
und insbesondere der Epik und des Dramas eben jener Stil der Einbildung,
jene vorher genannte anschauliche Art und Weise der Darstellung.
Auf der anderen Seite, der Poesie gegenüber, liegt die Prosa,
diese in ihrem eigentlichen Wesen ebenso unsinnlich und abstract, als
sich die Poesie in lauter concreter Sinnlichkeit bewegt; sie geht auf
das Wahre, wenn die Poesie auf das Schöne gerichtet ist; sie will
dem Verstande neues Wissen zuführen, ihr erster und letzter Zweck
ist zu belehren. Lehrhaftigkeit, das ist ihr allgemeiner Character, wenn
schon dann eine näher gehende Eintheilung wieder zu unterscheiden
hat zwischen lehrender Prosa im engern Sinne und erzählender. Da
also die Prosa die Form der verständigen Belehrung ist, so nimmt
sie als Lehre und als Erzählung für sich den Stil des Verstandes,
nimmt die deutliche Darstellung in Anspruch.


Aber mit der Epik und dem Drama ist das Gebiet der Poesie
noch nicht ausgefüllt, und ebensowenig das Gebiet der Prosa mit der
Lehre und der Erzählung. Es bleibt hier und dort noch eine Gattung
übrig, und diesen beiden überzähligen Gattungen der Poesie und der
Prosa fällt dann die dritte Gattung des Stiles zu, der leidenschaftliche
Stil des Gefühles. Es ist diess von den Gattungen der Poesie die
Lyrik, von den Gattungen der Prosa die Rede. In der Lyrik ist die
Poesie über die sonst gewohnten Schranken ihres Bereiches hinausgegangen:
sie hat sich frei gemacht von der gegebenen äusseren Wirklichkeit;
hier holt der Dichter den Stoff, der seine Idee verkörpere,
aus seinem eigenen Gemüthe: es sind die Regungen, die Leidenschaften
seines Innern, die der lyrische Dichter darstellt. Und wie somit
die Lyrik zur übrigen Poesie sich verhält, ebenso verhält sich auf
der anderen Seite die Rede zur übrigen Prosa. Zwar ist es das nächste
Geschäft des Redners wie andrer Prosaiker, seine Hörer zu belehren:
auch er hat wie der abhandelnde Didactiker die Wahrheit eines aufgestellten
Satzes überzeugend durchzuführen: aber diese Belehrung ist
ihm nicht der eigentliche und letzte Zweck, sie ist für ihn vielmehr |#f0333 : 320|

nur Mittel zum Zwecke: er überzeugt nur, um zu überreden: das Ziel,
wonach er mit all seinen Lehren hinsteuert, ist nur die Erregung des
Gefühles und durch diese und mit derselben die Bestimmung des Willens.
Erweckung des Gefühles ist mithin die Sache sowohl des Redners,
als die des Lyrikers. So kann denn der Stil, der diesen beiden
eigen ist, kein anderer sein als der Stil des Gefühles, die leidenschaftliche
Art und Weise der Darstellung.


Ganz gleichbedeutend mit der von uns getroffenen Unterscheidung
ist eine andere aus dem griechischen und römischen Alterthume entlehnte,
die auch in den modernen Lehrbüchern der Rhetorik und
Stilistik gäng und gäbe geblieben ist: die Unterscheidung eines niederen,
eines mittleren und eines höheren Stils. Aber diesen Ausdrücken
niederer, mittlerer, höherer Stil gebricht die Beziehung auf
den jedesmaligen Inhalt und Zweck des Dargestellten, und zugleich
setzen sie unter den drei Stilgattungen eine Rangordnung fest, die
doch gar nicht so vorhanden ist: denn jede Gattung ist an ihrem
Orte so viel werth als die anderen an den ihrigen. Es unterscheiden
also die Griechen drei χαρακτῆρας oder ἰδέας oder πλάσματα τῆς
λέξεως, die Lateiner drei genera oder formas oder figuras dicendi;
davon heisst das eine, das unterste, genus dicendi submissum oder
auch mit anderen Benennungen, die jedoch weniger feste Kunstausdrücke
zu sein scheinen als jeweilige Andeutungen und Umschreibungen
jenes ersten Namens, subtile, tenue, acutum; bei den Griechen χαρακτὴρ
λιτός (schlicht), ἀφελής (schmucklos), ἰσχνός (dürr, dünn): das
andere genus medium, mediocre, mixtum; χαρακτὴρ μέσος, μικτός,
ἀνθηρός (blühend): das dritte genus sublime, auch amplum, ornatum,
grave, copiosum;
griechisch χαρακτὴρ ὑψηλός, auch μεγαλοπρεπής
(prachtvoll) und eher tadelnd ἁδρός (schwülstig, grosssprecherisch).
Vergl. namentlich Ciceros Orator 23─28. Quintilian 12, 10. Jedoch
wohl zu merken, wenn die Alten von einem genus submissum, medium,
sublime sprechen, meinen sie damit eigentlich immer nur drei verschiedene
Arten einer und derselben Gattung sprachlicher Darstellung,
sie wollen damit nur drei verschiedene Arten rednerischer Prosa
bezeichnen, nicht aber mit dem genus submissum die Prosa, mit dem
genus medium die Poesie, mit dem genus sublime die rednerische
Prosa und die lyrische Poesie. Erst die Neueren haben sich bei der
ihnen eigenthümlichen Vermischung von Rhetorik und Stilistik veranlasst
gesehen, jene Unterscheidung weiter auszudehnen und zu übertragen,
so dass sie, jedoch ohne klare systematische Ueberlegung
und Durchführung, unter genus submissum alle Prosa mit Ausnahme
der rednerischen, unter genus medium alle Poesie auch mit Einschluss |#f0334 : 321|

der lyrischen, unter genus sublime bloss die rednerische Prosa zu
verstehn pflegen. Wir wollen jene antike und diese moderne Auffassung
dahin vereinigen und berichtigen, dass wir einmal das genus
submissum dem deutlichen Stil des Verstandes, das medium dem
anschaulichen Stil der Einbildung, das sublime dem leidenschaftlichen
Stil des Gefühls gleich setzen, so dass dieses letztere rednerische
Prosa und lyrische Poesie in sich begreift; dann aber wollen wir innerhalb
jeder dieser drei Gattungen noch einmal dieselbe dreigliedrige Unterscheidung
in eine niedere, eine mittlere und eine höhere Art vornehmen.


Also erste Gattung, der niedere Stil, die deutliche Darstellung des
Verstandes, befassend alle Prosa mit Ausschluss der rednerischen; niedere
Art: die lehrende Prosa: mittlere Art: die beschreibende; höhere
Art: die erzählende. In der lehrenden Prosa macht den Anfang die
reinste Verständigkeit; die erzählende nähert sich schon der zweiten
Gattung, der anschaulichen Darstellung der Einbildung: darum ist sie
die höhere Art; die beschreibende die mittlere: in der Beschreibung
fliessen Lehre und Erzählung zusammen.


Zweite Gattung, der mittlere Stil, die anschauliche Darstellung
der Einbildung, befassend alle Poesie mit Ausschluss der lyrischen;
niedere Art: das komische Drama, das noch hart an der Grenze der
verständigen Darstellung liegt, da sein hauptsächliches Element der
Widerspruch des Verstandes mit der Wirklichkeit ist; mittlere Art:
die Epik, die reine Anschauungen der Einbildung gewährt; höhere
Art: das tragische Drama, der Uebergang zur dritten Gattung, zu der
leidenschaftlichen Darstellung des Gefühls: denn die Tragödie zeigt
ja das Gefühl in Widerspruch mit der Wirklichkeit.


Dritte Gattung, der höhere Stil, die leidenschaftliche Darstellung
des Gefühls, befassend die lyrische Poesie und die rednerische Prosa.
Innerhalb beider besteht wieder dieselbe untergeordnete Dreigliedrigkeit:
in die niedere Art der Lyrik gehört namentlich die Elegie, die
sich noch auf eine angeschaute Wirklichkeit begründet; mittlere Art:
das sogenannte Lied, das sich schon losmacht von derselben; höhere
Art: die Ode, die sich begeistert über die Wirklichkeit erhebt. So
auch innerhalb der Rede, nur dass man da nicht die einzelnen Arten
mit so bestimmten Namen unterscheiden kann, man müsste denn etwa,
was sich auch ungefähr durchführen liesse, die Homilie als die niedere,
die weltliche Rede als die mittlere, die Predigt als die höhere
Art betrachten wollen.


Es mag hier noch bemerkt werden, dass eine solche Unterscheidung
höherer, mittlerer und niederer Lyrik, grade auch mit diesen
adjectivischen Benennungen, schon dem deutschen Mittelalter bekannt |#f0335 : 322|

war. Walther von der Vogelweide sagt einmal (S. 60 Wack.): „Ich
traf dâ her vil rehte drîer slahte sanc, den hôhen und den nidern
und den mittelswanc, daʒ mir die rederîchen iegeslîches sagten danc.“
Dante aber, in seiner Schrift de vulgari eloquio, unterscheidet für
alle Poesie überhaupt drei Gattungen des Stiles, den komischen, den
elegischen, den tragischen, entsprechend dem niederen, dem mittleren,
dem höheren; sein grosses allegorisch lehrendes Gedicht nannte er
Commedia, weil es nach seiner eigenen Ansicht und Stilistik dieser
Gattung angehörte; eine „göttliche“ Comödie machte daraus erst die
Bewunderung der Folgezeit.


Bei dieser dreimal dreigliedrigen Eintheilung in Gattungen und
Arten zeigt es sich, dass jedesmal die erste und die dritte vermittelnd
und überleitend an der Grenze zweier Gattungen liegen, dass also die
höhere Art der verständigen Darstellung, die historische Prosa, und
die niedere Art des Stils der Einbildung, die komische Poesie, hier
und dort den Uebergang bilden von der einen zur andern Gattung,
insofern die historische Prosa gewissermassen schon die Einbildung in
Anspruch nimmt, und die komische Poesie wesentlich auch von Wirksamkeit
des Verstandes erfüllt ist. Ebenso weist von dem Gebiete
der Einbildung die höhere Art dieses Stils, die tragische Poesie,
schon vorwärts hin nach dem Gebiete des Gefühls, und von dem
Gebiete des Gefühls deuten wiederum die beiden niederen Arten,
die Elegie zurück auf den Stil der Einbildung und die Homilie auf
den des Verstandes.


Aus diesem vorwärts und rückwärts gerichteten Uebergreifen
ergiebt es sich, dass die Stilistik mit ihren Gesetzen und Regeln
unmöglich eine Gattung ganz scharf und entschieden von der andern
absondern könne, dass vielmehr Vieles, was sie z. B. von dem Stil
der Einbildung sagt, auch von dem des Gefühles gelten werde, und
umgekehrt. Einschränkende und ausschliessende Gültigkeit werden
die characteristischen Regeln jeder Gattung immer nur für diejenige
Art besitzen, die in keinem solchen Grenzverhältniss zu einer andern
Gattung steht. Es werden also die Regeln des verständigen Stils ihre
volle, unverkürzte Anwendung nur auf die lehrende Prosa finden; die
Regeln des Stiles der Einbildung nur auf die epische Poesie, die
Regeln endlich der leidenschaftlichen Darstellung nur auf das Lied
und die Ode, auf die weltliche Rede und die Predigt. Und auch so
stehn die drei Gattungen des Stils keinesweges in dem vollen Verhältniss
einer gegenseitigen Ausschliessung. Es darf zwar kein characteristisches
Merkmal der lyrischen Poesie sich vorfinden in epischen
Gedichten, und ebenso kein characteristisches Merkmal der epischen |#f0336 : 323|

Poesie sich in der didactischen Prosa vorfinden: aber wohl haben in
umgekehrter, aufsteigender Reihenfolge die Regeln der didactischen
Prosa ihre Bedeutung auch noch für die epische Poesie, und die Regeln
der epischen Poesie äussern sich auch noch auf dem Gebiete der
Lyrik. Solch ein Verhältniss ist auch ganz natürlich, da der Verstand
an epischen Schöpfungen immer noch seinen Antheil hat, und da die
lyrische Poesie hervorgegangen ist aus der epischen. Und so ist in
den Umfang der zweiten Gattung zugleich die erste, in den Umfang
der dritten zugleich die erste und die zweite mit einbegriffen. Die
verständige prosaische Darstellung ist nur durch sich selbst bedingt;
der Stil der Einbildung aber unterliegt neben seinen eigenen Gesetzen
auch noch den Gesetzen des prosaischen Stils, und beiderlei Gesetze
zugleich stellen sich endlich auf dem Gebiete der dritten Gattung,
dem des leidenschaftlichen Stils, neben diejenigen, welche hier ihre
besondere Geltung haben. Natürlich ist diese sich fortpflanzende Wirksamkeit
immer nur eine untergeordnete, und namentlich machen sich
die Regeln des Prosastiles in der poetischen Darstellung mehr nur
von ihrer negativen Seite bemerkbar, mehr insofern sie verbieten, als
insofern sie fordern, wie ja überhaupt an den Schöpfungen der Poesie
der Verstand nur einen negativen Antheil hat, keinen positiven.


So viel war nöthig im Allgemeinen und einleitungsweise zu bemerken.
Wir gehn von hier an zur näheren Besprechung der einzelnen
drei Hauptgattungen über; da wird denn auch Manches, was bisher
nur konnte angedeutet werden, seine auch beweisende und deutlicher
machende Erörterung finden.


II. VOM STIL IM BESONDERN.

1. DER STIL DES VERSTANDES.


Wir haben es hier, allgemein betrachtet und ausgedrückt, mit
dem Prosastile zu thun. Bei den Griechen hiess alle und jede Prosa
ψιλὸς λόγος, die nackte, kahle Rede, d. i. entweder s. v. a. die unumwundene,
ungeschmückte, oder auch s. v. a. die leichtgewaffnete, die
nicht mit den schweren Waffen der Hopliten kämpft: für letztere
Erklärung spricht der Umstand, dass neben ψιλὸς λόγος die Prosa
auch πεζὸς λόγος heisst, die zu Fuss gehende, im Gegensatze der |#f0337 : 324|

gleichsam schnell und zierlich reitenden Poesie; es giebt aber auch
innerhalb der Poesie selbst einen πεζὸς λόγος, es wird z. B. die Darstellungsweise
der Comödie so genannt, gegenüber der hochtrabenden
Tragödie. Dieselbe Doppeldeutung hat der diesem griechischen Ausdrucke
nachgebildete lateinische oratio pedestris, sermo pedestris: er
gilt nicht bloss von der Prosa, Horaz gebraucht ihn auch vom Stil
der Comödie und von dem der Satire: sermo pedestris Ars poet. v. 95;
Musa pedestris Sat. 2, 6, 17. Uebrigens ist diese lateinische Benennung
den Römern selbst gar nicht so geläufig gewesen als den Neulateinern:
das sieht man aus einer Stelle Quintilians (10, 1, 81), wo er das Wort
nur gebraucht, indem er es zugleich als Uebersetzung bezeichnet und
auf das griechische Originalwort hinweist: „Multum (Plato) supra prosam
orationem et quam pedestrem Graeci vocant surgit.“ Prosa oratio,
eben diess ist der im Lateinischen gebräuchliche Name. Prosa, d. h.
prorsa, proversa, bezeichnet die Rede als die vorwärtsgehende, im
Gegensatz zur oratio vorsa, der poetischen Rede, welche in rhythmischer
Gliederung sich umwendet und gleichsam in sich selbst zurückkehrt.
Daneben wird die Prosa auch oratio soluta genannt, die entbundene,
die ungebunden freie (verba soluta modis Ovid. Trist. 4,
10, 24), im Gegensatz zur oratio alligata metris. Wir sagen Prosa
oder ungebundene Rede. Vgl. S. 238.


Also mit dem Stil der Prosa haben wir es hier zu thun, jedoch
nur insofern er die Form der verständigen Darstellung ist. Es gehören
somit nicht alle Prosaschriften hieher, sondern nur solche, deren
Inhalt ein wesentlich verständiger, deren Zweck ein lehrhafter ist.
Da ist demnach mancherlei von der Betrachtung auszuschliessen.
Zunächst und vor allem Andern die rednerische Prosa; denn deren
letzter und eigentlicher Zweck liegt nicht im Verstande, vielmehr im
Gemüth und im Willen der Zuhörer. Wenn auch der Redner um des
verständigen Elementes seiner Darstellung willen sich der prosaischen
Form bedienen muss, so darf diese doch nicht die gewöhnliche, bloss
verständige Prosa bleiben: die Einbildung und namentlich das Gefühl
wirken auf deren Gestaltung ein: seine Prosa ist die leidenschaftliche,
und als solche haben wir sie erst späterhin zu betrachten, wenn wir
zur dritten Gattung des Stils, zu der leidenschaftlichen Darstellungsweise
gelangen. Auszuschliessen ist ferner die Prosa des Romans,
nicht als besondere Gattung gleich der rednerischen Prosa, sondern
als eine Zwitterart zwischen prosaischer und poetischer Darstellung,
als blosse Abart und Ausartung der epischen Poesie. Der Roman hat
mit dem Epos Inhalt und Zweck gemein; er schöpft aus der Einbildung
und für die Einbildung; mit der Prosa theilt er nur die äussere |#f0338 : 325|

Form. Zwar ist nicht in Abrede zu stellen, und wir haben das an seinem
Orte (S. 250) dargethan, dass diese äussere Form des Romans mannigfach
schon auf den Inhalt zurückwirke: wir haben gesehn, wie schon
da dem Verfasser eines Romans bloss eben der prosaischen Form
wegen Manches gestattet wird, was dem eigentlichen Epiker verwehrt
ist. Aber natürlich noch viel bedeutender ist der Einfluss, den umgekehrt
das Wesen, den der dichterische Inhalt und Zweck auf die äussere Form
ausüben, und so hat der Romanschreiber rücksichtlich seiner Darstellungsweise
viel vor den übrigen Prosaikern voraus. Nur die Forderungen
des Wohlklangs, des poetischen Rhythmus fallen weg, sonst aber
liegt der Stil des Romans dicht neben dem des Epos und ist gleich
diesem durch die schaffende und wiederschaffende Einbildungskraft
bedingt. Wir werden also vom Stil des Romans erst bei der zweiten
Hauptgattung, bei der anschaulichen Darstellungsweise der Einbildungskraft
zu handeln haben. Auszuschliessen sind endlich, und
auch wiederum nur als Zwitterarten, die lehrhaften Briefe und Gespräche,
diejenigen lehrhaften Darstellungen, die zwar auch, ihrem didactischen
Zwecke gemäss, die Form der Prosa wählen, die aber, was die ganze
sonstige Gestaltung des Stoffes betrifft, sich an die dramatische Poesie
anlehnen, in denen der verständige Inhalt nicht einfach abgehandelt,
sondern mit der Lebendigkeit eines dramatischen Zwiegespräches entwickelt
wird. Hier liegt allerdings das Poetische weit mehr auf Seiten
der äussern Gestalt als des eigentlichen innern Gehaltes, dennoch
kann und darf die Einwirkung davon auf den Stil nicht ausbleiben,
und es gebührt diesem ziemlich dieselbe bewegte Anschaulichkeit als
dem Stil des Dramas. Wir haben ja auch vorher von Quintilian vernommen:
multum Plato supra prosam orationem et quam pedestrem
Graeci vocant surgit, Plato in seinen Dialogen. Deshalb kann auch
vom Stil der lehrhaften Dialoge und Briefe wiederum erst bei der
zweiten Gattung, bei der anschaulichen Darstellungsweise die Rede sein.


Was bleibt uns nun noch nach diesen mehrfachen und nicht
unbedeutenden Ausschliessungen übrig? Der Character der Prosa ist
das Lehrhafte, die Mittheilung von Wahrheiten, die der Verstand sich
angeeignet hat, zu dem Behufe, dass sie auch dem Verstande des
Lesers oder Hörers eigen werden. Diese Wahrheiten können nun
entweder in dem Gebiete der sinnlichen oder in dem der geistigen
Wirklichkeit liegen; das Merkmal der sinnlichen Wirklichkeit ist die
Bewegung, der geistigen das Verharren, der sinnlichen die Vergänglichkeit,
der geistigen die Stätigkeit. Bemächtigt sich nun der Verstand
durch die Erfahrung solcher Wahrheiten, die der bewegten sinnlichen
Wirklichkeit angehören, und wird das so Gewonnene durch die |#f0339 : 326|

Sprache mitgetheilt, so ist das Erzählung; werden aber Wahrheiten
der stätigen geistigen Wirklichkeit, in deren Besitz der Verstand
zumeist durch das Urtheil gelangt, zum Gegenstande der Mittheilung
gemacht, so ist das Lehre im engeren Sinne des Wortes. Es kann
aber die äussere, sinnliche Wirklichkeit auch, indem man von dem
Wechsel der Erscheinungen absieht, für den Augenblick ruhig festgehalten
und in dieser Ruhe zum Gegenstande der Darstellung und
der Mittheilung gemacht werden: eine solche Darstellung und Mittheilung
ist dann Beschreibung. Es ist mithin die prosaische Darstellung
entweder Erzählung oder Lehre oder Beschreibung. Und diese drei
Arten, die didactische, die historische, die beschreibende Prosa, sind
es, die nach Abzug der Rede, des Romans, des Dialoges, des Briefes
noch übrig bleiben als die einzelnen Arten der rein und eigentlich
verständigen Prosa. Es zeigt sich aber die Verständigkeit am reinsten
bei der Lehre, in der Abhandlung und im Lehrbuch: hier hat bei
der Production wie bei der Reproduction lediglich der Verstand zu
schaffen, eine andere Seelenkraft kommt nicht in Betracht. Die erzählende
Prosa dagegen streift schon etwas über die reine Verständigkeit
hinaus: wie ihr Gebiet die bewegte sinnliche Welt ist, so stellt sich
hier dem Verstande schon die Einbildungskraft zur Seite. Und eben
diese entbehrt dann auch niemals gänzlich des Antheils an der Beschreibung:
denn auch deren Gegenstand ist die sinnliche Aussenwelt, nur
diessmal die ruhige, nicht historisch bewegte; wäre dieser eine Unterschied
nicht, so würden Beschreibung und Erzählung ganz zusammenfallen:
so aber legt sich die Beschreibung mitten hinein zwischen Lehre
und Erzählung, doch näher an die letztere. Aus all diesem ergiebt
sich denn, wie diese drei Arten der Prosa in Bezug auf jene fortschreitende
Gliederung, von der vorher die Rede war, anzuordnen
seien. Die niedere Art wird die didactische Prosa bilden: hier gilt
ohne weiteres nur die Deutlichkeit; die mittlere Art aber bildet die
Beschreibung, und die höhere die Erzählung: denn hier, und namentlich
in der Erzählung macht sich auch schon in etwas die Anschaulichkeit
geltend, der Character der zweiten Gattung des Stils.


Der allgemeine Character dieser ersten Gattung, die bezeichnende
Eigenschaft, welche von jeder lehrenden oder beschreibenden oder
erzählenden Prosa zu fordern ist, sobald ihre äussere Form dem Inhalt
und dem Zweck entsprechen soll, ist Deutlichkeit, die sowohl zeigt,
dass der Verstand des Darstellenden sich des dargestellten Gegenstandes
vollkommen bemächtigt habe, als sie es auch dem reproducierenden
Verstande des Lesers möglich macht, sich desselben in der
gleichen Weise zu bemächtigen. Manche Rhetoriker häufen, um die |#f0340 : 327|

Sache tiefer zu erschöpfen, einige Synonyma und sagen, es sei vom
niedern Stil zu verlangen: Klarheit, Deutlichkeit und Bestimmtheit.
Diese drei Begriffe verhalten sich aber zu einander nur wie verschiedene
Grade eines und desselben Begriffes. Klarheit ist der erste Grad
der Erkenntniss, wo man sich der Vorstellung nicht bloss im Ganzen,
sondern bereits auch in ihren Theilen bewusst wird. Deutlich wird
sodann der Begriff, wenn wir wesentliche Merkmale anzugeben wissen,
wodurch er sich von andern ungleichartigen unterscheidet. Bestimmt
endlich, wenn wir auch die Nebenmerkmale so ins Auge fassen und
vor Augen stellen, dass dieser Begriff nicht mit ähnlichen kann verwechselt
werden. Bei diesem Verhältnisse der drei Worte wird es
kein grosser Fehler sein, wenn wir der Kürze wegen bloss das mitten
inne liegende, die Deutlichkeit festhalten, den Grad, der die Klarheit
bereits in sich enthält und auch den höhern Grad, die Bestimmtheit
ganz wohl in sich aufnehmen mag.


Also Deutlichkeit wird gefordert, und zwar sowohl in der Wahl
der einzelnen Worte und ihrer Formen, als in der Anordnung und
Verknüpfung derselben. Das haben wir nun des Näheren und Genaueren
auszuführen. Es können dafür einige Worte Ciceros (de oratore 3, 13)
als Inhaltsangabe und gleichsam als Motto dienen. Wir haben hier
nämlich zu erörtern, „quibus rebus assequi possimus, ut ea, quae dicamus,
intelligantur: latine scilicet dicendo, verbis usitatis ac proprie
demonstrantibus ea, quae significari ac declarari volemus, sine ambiguo
verbo aut sermone, non nimis longa continuatione verborum, non valde
productis iis, quae similitudinis causa ex aliis rebus transferuntur, non
discerptis sententiis, non praeposteris temporibus, non confusis personis,
non perturbato ordine.“


Wir sprechen zuerst von der Deutlichkeit der Darstellung, insofern
sie beruht und sich zeigt in der Wahl der Worte und ihrer
Formen.


Hier gilt nun als vorderste und allgemeinste Regel die Regel der
Reinheit und der Richtigkeit. „Sermo purus erit et latinus“, sagt
Cicero (Orat. 23) von der niederen Art der Rede, also eben dieser
Stilgattung. Rein nennt man den Ausdruck, wenn er sich nur an
solche Worte und Redensarten hält, die grade dieser bestimmten
Sprache wirklich angehören und grade in der Zeit des Schreibenden
selbst, und zwar bei dem gebildeten Theile der Nation üblich und
gültig sind; richtig, wenn er die Gesetze der Sprache in Betreff der
Wortbildung und Wortbiegung beobachtet. Man sieht, die Forderung
der Reinheit geht auf die lexicalische, die der Richtigkeit auf die
grammatische Seite der Sprache, beide gehören aber so nah zusammen |#f0341 : 328|

und fallen so leicht in einander, wie Wörterbuch und Grammatik.
Es kann z. B. ein Ausdruck dadurch gegen die Sprachreinheit verstossen,
dass er veraltet ist; das Veraltete kann aber sehr wohl nur
darin bestehn, dass er nicht gebildet ist nach der Weise der jetzigen
Sprache. Es wird aber zum Behufe der Deutlichkeit Reinheit und
Richtigkeit im Ausdruck gefordert, weil nichts so sehr von vorn herein
das Verstehn erschwert, ja sogar vorübergehend unmöglich macht und
aufhebt, als wenn Worte und Wendungen vorkommen, die entweder
einer gänzlich fremden, unverständlichen Sprache angehören, oder
obgleich der heimischen Sprache, doch einem Zeitalter oder einem
Dialect derselben, in welchem sie ebenfalls für uns nichts viel Besseres
als eine fremde ist, oder wenn die Worte auf eine Art flectiert werden,
die gradezu unerhört und unmöglich ist, oder wenigstens an
diesem Orte falsch und dadurch das Verständniss irre leitend. Diese
erste Regel der Reinheit und Richtigkeit ist in sich durchaus negativer
Natur, und wir können sie deshalb nur abhandeln, indem wir von
den verschiedenen Verstössen reden, die gegen sie möglich sind. Die
alten Rhetoriker und Grammatiker theilten diese Fehler und Verstösse
in zwei Classen: Barbarismen und Solöcismen. Sie unterscheiden sich
so, dass der Barbarismus, d. h. Fremdartigkeit, gegen die Reinheit
der Sprache fehlt, der Solöcismus (von Soli, einer Stadt in Cilicien,
deren Einwohner ein sehr verdorbenes Griechisch sollen gesprochen
haben) allgemein betrachtet gegen die Richtigkeit derselben. So haben
die Alten selbst den Begriff des einen und des anderen Wortes aufgefasst
und bestimmt: es mag in dieser Beziehung namentlich auf
Quintilian (1, 5) verwiesen werden. Barbarismen sind nach der Auseinandersetzung
Quintilians und Anderer solche Fehler, die in einzelnen
Worten für sich betrachtet liegen, nämlich die Einmischung fremdartiger
Worte, die einer ganz anderen Sprache angehören, die sprachwidrige
Weglassung nothwendiger oder die sprachwidrige Hinzusetzung
überflüssiger Buchstaben oder Silben, oder die Vertauschung und Versetzung
von Buchstaben und Silben. Die Solöcismen dagegen zeigen
sich bei Worten, insofern sie mit anderen in Verbindung stehn, also
Unrichtigkeiten im Gebrauch des numerus, des casus, des tempus,
des modus, fehlerhafte Beugungen und Constructionen, sprach- und
gedankenwidrige Ellipsen oder Pleonasmen. Das Gebiet des Solöcismus
erstreckt sich somit doch theilweise noch hinaus über die Unrichtigkeit
der einzelnen Worte und Wortformen an und für sich; es wird
auch Vieles so genannt, womit man sich gegen die Verknüpfung und
Anordnung der Worte verfehlt. Schon dieser Weitläuftigkeit und
Unbestimmtheit wegen, die dem Begriffe des Solöcismus eigen ist, |#f0342 : 329|

thun wir wohl, bei unserer Betrachtung uns nicht an diese antike
Classification zu binden, sondern eine neue zu versuchen, und zwar
eine mehr als zweitheilige. Wir wollen aber dabei mehr die Sprachreinheit
als die Sprachrichtigkeit ins Auge fassen, aus dem einfachen
Grunde, weil wir uns sonst von unserem eigentlichen Gegenstande,
über die Stilistik hinweg in die Grammatik verlieren würden. „Praetereamus,“
sagt Cicero (de orat. 3, 13), „praetereamus igitur praecepta
latine loquendi, quae puerilis doctrina tradit et subtilior cognitio ac
ratio litterarum alit aut consuetudo sermonis quotidiani ac domestici,
libri confirmant et lectio veterum oratorum et poetarum.“ Zudem sind
Fehler gegen die Sprachrichtigkeit überall Fehler, mag man nun lehren
oder beschreiben oder erzählen, und nicht nur in der Prosa,
sondern auch in der Poesie; Fehler gegen die Sprachreinheit aber
können das eine Mal grösser, das andere Mal geringer sein; ja es kann
sich ereignen, dass sie mitunter ganz aufhören, Fehler zu sein. Darum
wollen wir unsere Zeit eher auf Untersuchung der Sprachreinheit verwenden.
Wir unterscheiden vier Arten von Verstössen gegen die
Reinheit des Ausdrucks: den Archaismus, den Provincialismus, den
Barbarismus und den Neologismus.


1) Archaismus nennt man den Gebrauch alter oder veralteter Wörter
und Redensarten und Bildungs- und Biegungsweisen. Also ist es ein
Archaismus, wenn man Worte und Wortformen braucht, die im Fortschritte
der Sprachentwickelung aus dem Wortvorrath der classischen
Schriftsteller und aus der gebildeten Umgangssprache verschwunden sind;
und ebenso ist es ein Archaismus, wenn man ein Wort, das zwar noch
lebt und besteht, das aber seine alte Bedeutung verloren hat, in eben
dieser alten Bedeutung gebraucht. Die Lateiner nennen das verba vetusta,
antiqua, antiquata, obsoleta, exoleta.
Inwiefern die Anwendung
solcher Worte und Formen ein Fehler sei, und wie sehr sie das Auffassen
und Verstehn behindere und die Deutlichkeit beeinträchtige, das ist in
sich selber klar. Hier ist nur noch zu bemerken, dass man bei der Durchführung
dieser negativen Regel einen Unterschied zu machen hat zwischen
der belehrenden Prosa auf der einen und der beschreibenden und
der erzählenden auf der anderen Seite, und dass die Archaismen selbst
von verschiedener Art sind, dass alte Worte, verba vetusta, nicht
ganz das Gleiche sind als alterthümliche und veraltete, verba antiqua
und antiquata oder obsoleta. Verba antiquata, obsoleta, d. h. veraltete
Worte sind ganz und gar erloschene und ausgestorbene, deren sich
Niemand bedienen darf, weil sie Niemand anderer versteht, und deren
man sich auch niemals zu bedienen braucht, weil die Sprache jetzt
einen oder mehrere andre Ausdrücke für den gemeinten Begriff besitzt. |#f0343 : 330|

Dergleichen ist also dem Historiker eben so wohl verwehrt als etwa
dem Philosophen oder dem Naturforscher. Ein schwächerer Grad der
Veraltung ist die Alterthümlichkeit. Alterthümliche Worte, lateinisch
verba antiqua, heissen solche, die nur noch im Begriffe stehn zu veralten,
die bereits selten, die im Allgemeinen auch schon erloschen
und nur noch etwa innerhalb gewisser Kreise, unter besonderen Umständen
gebräuchlich und zulässig sind. Dergleichen sind bei uns mancherlei
Worte und Wortformen der kirchlichen und der Canzleisprache, wie
sie auf dem Grunde von Luthers Bibel sich gebildet hat. Endlich
verba vetusta, alte Worte, sind solche, die mit dem Begriffe zugleich
verschwunden sind, die man also für gewöhnlich nur deswegen nicht
gebraucht, weil die bezeichnete Sache selbst für uns nicht mehr vorhanden
ist, die man aber gleich gebrauchen muss, so wie auch der
Begriff wieder in den Kreis unserer Gedanken gezogen wird. Und in
diesem Falle ist dann der Archaismus kein Fehler. Dergleichen wird
aber, da es sich hier um Auffrischung vergangener Dinge und Ausdrücke
handelt, nur in der historischen und etwa auch in der mit
ihr verwandten beschreibenden Prosa vorkommen; in der didactischen
dagegen nur in so fern, als sie vielleicht einmal in den Bereich der
Geschichtsschreibung hinüberstreift. Als Beispiel mögen die beiden
Worte Krieg und Fehde dienen. Sie sind synonym: gleichwohl wird
z. B. ein Philosoph nicht ohne weiteres Fehde sagen dürfen: es ist
eben ein verbum vetustum, der Begriff ist für uns nicht mehr vorhanden
und darum auch nicht das Wort. Wo dagegen ein Historiker
und wo der historische Jurist Dinge des Mittelalters und grade
diese mittelalterliche Art von Privatkrieg zu behandeln hat, da darf
er nicht nur, da muss er sogar auch die alte Sache mit ihrem alten
Namen belegen: da ist derselbe kein Fehler. Und wie hier, so
ist es auch in hundert anderen Fällen. Weil nun aber die Historiker
durch die Gegenstände, welche ihrer Erzählung vorliegen, so
oft genöthigt werden, verba vetusta anzuwenden, so lassen sie sich,
und da fängt denn der Fehler an, bald unvermerkt, bald freiwillig
und bewusst auch zum Gebrauch von antiquis, ja wohl von eigentlichen
obsoletis verleiten und setzen alterthümliche und veraltete Worte,
wo doch der Begriff kein alter ist, und wo ihnen mehr als Ein noch
jetzt allgemein gangbares und darum verständlicheres Wort zu Gebote
stünde. Dieser Vorwurf trifft zum Theil Johannes von Müller, er
trifft noch mehr die zahlreichen Nachahmer, die er gefunden hat und
täglich noch findet. Da geht denn das wunderlichste Gemisch durcheinander
von ganz mittelalterlichen Worten und von altfränkischen
Worten der Perückenzeit. Da darf z. B. nicht mehr Gelehrsamkeit |#f0344 : 331|

gesagt werden, sondern Gelahrtheit; nicht Wittwe, sondern Wittib;
nicht da und weil, sondern sintemal und dieweil. Indem man so der
ganzen Darstellung alter Dinge den Ton und die Farbe vergangener
Jahrhunderte giebt, glaubt man sie anschaulicher zu machen, als das
mit den gewöhnlichen Worten möglich wäre: es kommt aber hier
zunächst auf Deutlichkeit an, und selbst die Anschaulichkeit wird
wenigstens auf solchem Wege nicht erlangt, wird nicht dadurch erlangt,
dass man Alterthümlichkeiten der verschiedensten Art, von der verschiedensten
Gestalt und Farbe aus allen verflossenen Jahrhunderten
wie in einer Rumpelkammer bunt und verworren durch einander wirft:
dergleichen verwirrt eher die Anschauung, als es dieselbe befördert.


2) Als Provincialismus wird ein Wort zurückgewiesen, wenn es
sich mitten in die allgemein gültige Schriftsprache eindrängen will,
während es doch dieser fremd und nur in der oder jener Mundart
zu Hause ist, nur in der oder jener Provinz verstanden wird. Die
Mundarten sind überall nur ältere Gestaltungen der Sprache, die stehn
geblieben und in diesem Stillstande mehr oder weniger erstarrt und
verarmt sind: viele Provincialismen werden also zugleich noch deshalb
verwerflich sein, weil sie auch Archaismen sind; und umgekehrt.
Dennoch muss man sich wohl vorsehen, ehe man einen Provincialismus
für einen Fehler erklärt. Und das aus doppeltem Grunde.


Einmal nimmt jede Schriftsprache ihren ersten Ursprung innerhalb
der engen Grenzen einer Provinz, jede Schriftsprache ist zuerst nur eine
vereinzelte und abgeschlossene Mundart gewesen, wie alle übrigen,
aber von da an, wo sie eben Schriftsprache wird, erweitern sich diese
ihre Schranken immer mehr und mehr, mit jedem neuen Geschlecht
gewinnt sie an Ausdehnung, die Grenzen werden immer unbestimmter,
fort und fort gehn aus der Sprechweise bald dieser, bald jener andern
Provinz Ausdrücke in sie über, und zuletzt ist sie so zu sagen überall
und nirgend mehr zu Hause, so dass selbst die Mundart, aus der sie
zuerst ihren Ursprung genommen hat, nach und nach zu einem von
ihr verschiedenen blossen Provincialismus herabsinkt. So ist es überall
gewesen; die κοινή der Griechen war nicht mehr der attische, die
Schriftsprache der Italiäner nicht mehr der florentinische Dialect; so
auch in Deutschland. Verfolgt man unsere Schriftsprache bis auf ihre
ersten und äussersten Anfänge zurück, so ist sie freilich eine Mundart
gewesen, die Mundart Obersachsens, d. h. ein Gemisch von Ober-
und Niederdeutsch, worin jedoch das Oberdeutsch überwog. Da sie
aber eben aus solch einem Gemisch hervorgegangen ist, so hat es
um so leichter geschehen können, dass sie in ihrer weiteren Fortentwickelung
sich nun aus dieser, nun aus jener Mundart, nun des oberen, |#f0345 : 332|

nun des niederen Deutschlands bereicherte und neu auffrischte; und
es ist in ihr durch die bedeutenden süddeutschen Schriftsteller der
letzten Periode unserer Litteratur, namentlich durch Göthe und Schiller,
so mancher frühere Provincialismus zum unbestrittenen Bürgerrecht
gelangt, dass man nicht länger von der obersächsischen Mundart und
der Schriftsprache als von einem und demselben Dinge sprechen darf,
sondern nur von einer Schriftsprache und daneben von der obersächsischen
Mundart als einer Mundart. Und so sind jetzt die Grenzen
der Schriftsprache nach allen Seiten hin allen Provincialismen so weit
geöffnet, dass es kaum mehr Grenzen und Provincialismen giebt, und
dass es jedem frei steht, sie auf eben jenem Wege wie Göthe und
Schiller u. s. w. immer fort von Neuem zu bereichern und zu erweitern.
Nur sind doch dabei einige Bedingungen in Acht zu nehmen. Erstlich
muss, wer dergleichen beginnt, ein einigermassen bedeutender Schriftsteller
sein, ein Mann von Autorität, der seine Neuerungen behaupten
und durchsetzen kann, dem es nicht an Nachfolgern fehlt, einer wie
Göthe und Schiller. Sodann ist es nicht gut, wenn jemand seine Provincialismen
in dem Bewusstsein gebraucht, dass sie Provincialismen
seien, und in der Absicht, sie nun in die Schriftsprache einzuführen.
Je unbefangener er vielmehr dabei ist, je mehr ihm solche Dinge
gleichsam unvermerkt entschlüpfen, desto leichter werden sie in der
Schriftsprache Platz fassen, desto weniger werden sich auch andere
dagegen sträuben, desto eher wird dergleichen, auch ganz unvermerkt,
ihm nachgesprochen werden. Ferner müssen es keine überflüssigen
und unzulänglichen Worte sein, die Schriftsprache muss nicht für den
gleichen Begriff schon andere besitzen, die denselben ebenso gut oder
gar besser, bezeichnender, erschöpfender ausdrücken. Und endlich
muss ihr Begriff einem Jeden alsobald einleuchten, sie müssen von
Wurzeln, die auch in der Schriftsprache zu Hause sind, auf eine
Weise gebildet sein, die in Bezug auf den Sinn keinen Zweifel übrig
lässt. Falls nur alle diese Bedingungen beobachtet werden, so ist
der Gebrauch von Provincialismen kein Fehler mehr, sondern eher
dankenswerth und verdienstlich.


Zweitens giebt es Fälle, in denen die Provincialismen nicht bloss in
dieser Weise erlaubt, sondern sogar geboten und unumgänglich nothwendig
werden. Für gar manchen Begriff kann die Schriftsprache kein Wort
besitzen, weil die Sache selbst nicht überall, in dem ganzen grossen
Lande, das die Schriftsprache beherrscht, zu Hause ist: es giebt
z. B. im Süden Gewerbe und Gewerbserzeugnisse, die der Norden
nicht kennt, und im Osten Beschäftigungen und Geräthschaften, von
denen der Westen nichts weiss. Gleichwohl kann ein Schriftsteller |#f0346 : 333|

oft genug in den Fall kommen, von diesen Gewerben und Geräthen
sprechen zu müssen: die Schriftsprache gewährt ihm kein allgemein
gültiges Wort: da bleibt ihm denn nichts Andres übrig, als die Dinge
so zu benennen, wie sie da heissen, wo sie zu Hause sind, d. h. mit
Provincialismen. Und somit ist auch von dieser Seite her den Provincialismen
der Zugang in die Schriftsprache geöffnet, und in alle
drei Arten der Prosa, in die lehrende wie in die beschreibende und
erzählende, und es werden z. B. schweizerische Provincialismen dieser
Art kein Fehler sein in einem technologischen Werke, das vorzüglich
auf die Gewerbthätigkeit der Schweiz gerichtet ist, oder in einem
beschreibenden oder historischen, das die besondre Natur oder Geschichte
der Schweiz zum Gegenstande hat. Diess ist denn auch der
Grund, weshalb die Provincialismen namentlich nicht auszuschliessen
sind aus dem sogenannten Geschäftsstil, d. h. aus dem Stil jener
meistens didactischen, zuweilen aber auch erzählenden und beschreibenden
Schriften, die ihren Anlass in den Verkehrsverhältnissen des
bürgerlichen Lebens haben: denn hier sind gewöhnlich ganz eng örtliche
Beziehungen vorhanden, die jene Freiheit zur Nothwendigkeit
machen.


3) Barbarismus. Im allgemeinen weiteren Sinne und im Gegensatz
zum Solöcismus bezeichnet die Rhetorik mit Barbarismus jeglichen
Verstoss gegen die Reinheit der Sprache. Hier wollen wir darunter
eine besondere, mehr eingeschränkte Art solcher Fehler verstehn:
Verletzung der Reinheit durch Einmischung von Wörtern und Redeweisen
ausländischen Ursprungs, was Quintilian vocabula peregrina oder externa,
formas peregrinas,
Aristoteles ὀνόματα ξένα, φράσεις ξένας, γλώσσας
nennt. Diese Einschränkung verträgt sich auch ganz wohl mit dem
Sinne, den bekanntlich die Worte Barbar und barbarisch eigentlich
und ursprünglich besitzen, ja sie wird davon sogar gefordert. Also
der Gebrauch ausländischer Worte ist auch ein Fehler; denn das Ausländische
ist unverständlich, läuft also dem Haupterforderniss der
Prosa, der Deutlichkeit, zuwider. Indessen wenn irgendwo zwischen
den verschiedenen Arten der Prosa zu unterscheiden ist, um das Mehr
oder Minder der Zulässigkeit und der Unzulässigkeit zu bestimmen,
so ist es hier. Hier kann der gleiche Ausdruck ein Fehler sein, wenn
man erzählt, und kein Fehler mehr, wenn man lehrend abhandelt.
Die eigentlich lehrende Prosa und mit ihr die beschreibende, insofern
auch sie ein didactisches Element in sich enthält, können beide des
Gebrauches undeutscher Kunstausdrücke unmöglich ganz entrathen.
Man hat solche wiederholendlich ganz zu beseitigen versucht: aber all
diese Versuche sind auch missglückt, und man ist immer wieder jetzt |#f0347 : 334|

zu einer grösseren, jetzt zu einer geringeren Anzahl fremder Kunstausdrücke
zurückgekehrt. Wir können einmal den ganzen Gang und
Ursprung, den unsere wissenschaftliche Bildung genommen hat, nicht
ungeschehen machen und die Grundlagen, die sie in Rom und in
Griechenland und in Frankreich hat, nicht aufheben. Und erwägt
man die Sache nur unbefangen, so sieht man alsbald, wie nöthig und
unentbehrlich grade für die Deutlichkeit der Belehrung der Gebrauch
fremder Wörter ist. Die abstracten Dinge und Verhältnisse, mit denen
es die didactische Prosa zu thun hat, verlangen Benennungen, die
mehr blosse Zeichen als wirkliche Namen sind, verlangen blosse
Zeichen, unter denen man den Begriff nach Belieben verengern und
erweitern kann, nicht aber wirkliche Namen, deren Grenzen sich nicht
so willkürlich ausdehnen und zusammenziehen lassen, verlangen nur
gleichsam leere Gefässe, in die der Sprechende Alles hineinlegen kann,
was er will, nicht aber solche, die an sich selber schon gefüllt sind,
und wirkliche Namen sind gefüllte Gefässe. Die meisten deutschen
Benennungen jener abstracten Dinge sind für das, was sie ausdrücken
sollen, immer noch zu concret, sagen bald mehr, als sie sagen sollen,
bald weniger, oder sagen es schief und mit störenden sinnlichen Seitenbeziehungen:
das Alles nur, weil man sich ihres etymologischen
Ursprunges und ihrer anderweitigen, mehr eigentlichen und sinnlichen
Bedeutung immer noch zu deutlich bewusst ist. Nicht so die fremden
Worte: hier fällt diess lebhafte etymologische Bewusstsein fort, und
wir kennen sie in keiner anderen Anwendung als in dieser abstracten.
Nehmen wir z. B. eben das Wort abstract. Behält man diess in seiner
Fremdheit bei, so weiss gleich ein Jeder, was er sich dabei zu denken
habe, eben weil er sich etymologisch genommen nichts mehr
dabei denkt, weil es bloss ein ausgesprochenes Zeichen ist, und weil
es zugleich möglich macht, dass man je nach dem philosophischen
System etwas Anderes dabei denke. Sagt man aber, wie zuerst Leibnitz
hat wollen,1 zu deutsch abgezogen, so muss jeden Unbefangenen die
Willkür verletzen, die man hier der Sprache anthut, und er wird eher
sinnlicher Weise an abgezogene Wasser und abgezogene Thiere denken
als an abstracte Begriffe. Oder ein Beispiel aus der Grammatik: Viele
haben sich schon an den Benennungen Nominativ, Genitiv u. s. w.
gestossen und haben dafür deutsche auf bringen wollen; die Einen haben
Nennfall, Zeugefall, Gebefall u. s. f. gesagt, die Andern erster, zweiter,
dritter Fall
u. s. f., wieder Andere Werfall, Wesfall, Wemfall u. s. f.,
Andere noch anders: aber alle deutschen Namen werden zum mindesten

1
Grimm, Wörterb. 1, 158.
|#f0348 : 335|

ungenügend sein und den Begriff nicht erschöpfen; und die
angeführten sind gradezu unsinnig und lächerlich. Bei den Worten
Genitiv, Dativ u. s. f. denkt Niemand an die Spielerei und den Zufall,
wodurch diese Namen sind veranlasst worden, wenn er nicht daran
denken will: Zeugefall, Gebefall erinnern mit Gewalt daran, und diese
Erinnerung hilft wahrlich nicht zur Deutlichkeit. Erster Fall, zweiter
Fall u. s. f., diese zählenden Ausdrücke heften sich an das, was das
Alleräusserlichste und die zufälligste Nebensache ist; man nennt da
den Accusativ den vierten Fall, und doch würde z. B. einer, der eine
Grammatik der gothischen Sprache schriebe, vielleicht am besten thun,
wenn er den Accusativ zum ersten Fall machte, weil der bei starken
Substantiven den Declinationsstamm in der reinsten Gestalt zeigt. Werfall,
Wesfall u. s. f. ist eine Schraube ohne Ende: denn Wer, Wes
u. s. w. sind ja selber Declinationsformen: da ist dann also Wer der
Werfall, Wes der Wesfall von Wer u. s. f. Und wie hier, so ist's
überall. Dulde man daher in der wissenschaftlichen Kunstsprache die
fremden Worte, die sich einmal festgesetzt haben, dulde man sie ihrer
farblosen und dehnbaren Natur wegen, welche der Deutlichkeit abstracter
Begriffe so förderlich ist. Damit soll jedoch einem masslosen
und nutzlosen Gebrauche derselben keinesweges das Wort geredet
sein: denn wir besitzen auch deutscher Ausdrücke genug, die durch
langherkömmliche Anwendung in abstractem Sinn schon ziemlich ebenso
farblos geworden und beinahe zu ebenso todten Zeichen herabgesunken
sind, wie jene lateinischen und die griechischen Kunstausdrücke: für
deren Begriff kann man der fremden Worte gar wohl entbehren, deswegen,
weil sie selber, etymologisch genommen, für uns nicht viel
Besseres als fremde Worte sind.


Ganz anders verhält sichs mit all dem in der geschichtlichen
Prosa. Die geschichtliche Prosa hat es, so lange sie in ihrem eigentlichen
Gebiete verweilt, immer nur mit der bewegten äusserlichen
Wirklichkeit zu thun, nicht mit der geistigen, wie die didactische.
Und damit ist ihr beinahe jeder Vorwand benommen und jeder Anlass
entzogen, die sinnlich belebten Ausdrücke der heimischen Sprache
gegen die übersinnlichen und bloss zeichenartigen einer fremden zu
vertauschen. Der geschichtlichen Prosa sind Barbarismen nur in so
weit gestattet, als ihr auch Archaismen gestattet sind. Archaismen
werden nicht bloss zugelassen, sondern sogar gefordert, wo sie sich
auf vergangene Zeiten richtet und da auf Begriffe, die mit denselben
vergangen sind. Ebenso ist es mit den Barbarismen. Die Geschichte
und mit ihr dann auch die Beschreibung haben aus Vorzeit und Gegenwart
mancherlei Dinge zu berühren, die über den Gesichtskreis der |#f0349 : 336|

unsrem Volk eigenthümlichen Begriffe und ihrer Namen hinausliegen.
Da muss denn der Geschichtsschreiber mit der fremden Seele auch
das fremde Wort herübernehmen; sei es auch etymologisch unverstanden,
sei es auch gleich jenen Fremdworten der lehrhaften Prosa ein
blosses Zeichen, es wird immer deutlicher sein, als jeder Versuch einer
Verdeutschung, und als gar solche Verdeutschungen, die auf eine
schiefe und irre leitende Weise fremde und einheimische, antike und
moderne Begriffe in Eins zu schmelzen suchen, wie wenn man z. B.
von einem Bürgermeister Kikero spricht, wo der römische Consul
Cicero gemeint ist.


Es hat sich also die lehrhafte Prosa und die beschreibende und
die geschichtliche gar wohl ausländischer, meist lateinischer und griechischer
Worte zu bedienen für solche Begriffe, wofür die einheimische
Sprache entweder gar keine besitzt, oder unzulängliche und dadurch
undeutliche. Wo aber der Deutsche selbst den Begriff und selbst das
Wort dafür hat, verdient diess natürlich der Deutlichkeit wegen den
Vorzug vor jedem fremden. In solchen Fällen verschafft sich auch
die Sprache früher oder später selbst ihr Recht. Bekanntlich gab es
Zeiten, wo es in Deutschland für zierlich galt, seine Rede mit bunten
Fetzen aus den übrigen lebenden Sprachen, namentlich der französischen,
zu behängen, und wo es gelehrte Bildung verrathen sollte,
wenn man mehr lateinische Worte in den Mund nahm als deutsche.
Im elften Jahrhundert sieht man den Mönchen an, dass sie ihre Lateingelehrsamkeit
nicht umsonst haben wollten; ähnlich wieder im dreizehnten
Jahrhundert, wo die Ritter an den Höfen sich gerne französischer
Worte bedienten; endlich im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert
traf Beides zusammen, indem die Gelehrten lateinische, die
Hofleute dagegen vorzugsweise französische Brocken einzustreuen
liebten. Dergleichen ist jetzt so gut als vorüber, und wenn noch
Ueberbleibsel jener unglückseligen Zeiten vorhanden sind, so tilgt jedes
Jahr mehr und mehr davon. Jetzt wird kaum ein Geschichtsschreiber
mehr, der auch Stilist ist, von Armeen sprechen, sondern von Heeren,
und er wird schon lieber Reiterei und Fussvolk sagen als Cavallerie
und Infanterie. Ein ergötzliches Beispiel, wie weit man es früherhin
in der barbarischen Sprachmengerei getrieben, bietet Nicolaus Hieronymus
Gundlings „Academischer Discours über des Freyherrn Samuel
von Pufendorffs Einleitung zu der Historie Der vornehmsten Reiche
und Staaten“ (Frankfurt a/M. 1737). Die Prolegomena zu seinem
Discours hebt Gundling folgendermassen an: „Nicht allein Cicero,
sondern auch alle kluge Leute sagen: Dass die Historia sey Magistra,
Scholaque vitae.
Denn sowohl die Stulti, als Sapientes, können daraus |#f0350 : 337|

profitiren. Diese, weil sie doch niemals so vollkommen, dass sie
nicht noch immer was zu lernen hätten, sonderlich aber ut caveant ab
artificiis stultorum, quae detegit aperitque Historia.
Jene aber können
gar viel aus der Historia lernen. Denn dieselbe ist nichts anders als
eine Praxis der gantzen Philosophie. Die Logic wird practiciret; versatur
enim circa distinguenda verosimilia a verodissimilibus;
Die Moral
stecket darinnen, man lernet allerley Leute und Menschen Gemüther
erkennen; Die Politic ist ohnstreitig auch in der Historie fast am
besten zu lernen; Und dann kommen auch noch Praetensiones, da die
Praxis Juris Gent. kann angebracht werden. Zu dem so ist die Historie,
wenn sie lebhaft vorgetragen wird, plaisirlich, und wie eine veritable
Comödie,
darinnen auch manche Narren agiren“ u. s. f. LB. 3, 1, 1057.
Noch barbarischer ist ein im Jahre 1729 geschriebener Brief, den
Radlof in seinen teutschkundlichen Forschungen und Erheiterungen
für Gebildete 1, 186 (aus der Schrift: Der gelehrte Narr, Freiburg
1729. S. 42 fg.) mitgetheilt hat; er ist freilich erfunden, aber kaum
übertrieben, und auch die lächerlichen Donatschnitzer, die er enthält,
sind ganz in der Ordnung. Der Schreiber dieses Briefes ist „ein
wohlehrsamer Schulhalter und respective Küster zu ... am Rheine,
der eine lange Reihe von Jahren auf Schulen und Hochschulen verunnützet
und seinem Herrn Amtsgenossen buchstäblich zu schreiben
geruht, wie folgt:“


Laus Deo perennis Gloria! Meine willige Officia zuvor, Clarissime Dn.
Frater!
Es ist euer Dominus Pastor bey mir gewesen, und hat mich um einen
bonum Consilium gefragt, ob er noster Schulzens Filia sollte sumere oder non?
Ich habe ihm einen bonum Einschlag gegeben, wie er es sollte facere. Ich habe
auch mit dem Domino Pastore brav discuriret, und er hat gar pulcher gestudiret,
ist auch ein feiner Graecismus, wie ich merke. Da er solus getrunken tres Cantoros
Cerevisia,
erfuhr ich erst recht, wie es ihm in neulichster Spolium ergangen.
Ich habe es nicht wollen credere, dass dich, mein lieber Domine Frater! das Bellum
also valde verderbet; aber jetzo habe ich es erst recht erfahren. Wo ist nun
dein Pecuniam? in Bellum. Hättest du deiner Uxor gefolget, könntest du dein
Pecuniam in Marsupio behalten haben. Wo sind nun deine andern pulchros Res?
auch in Bellum. Mit mir ist es eben so. Meine Res haben einen Namen, und
heissen Nihil. Ich bin ein rechter pauper Nebulo, habe nichts mehr, als wie ich
eo und sto. Meine neuen Vestii, meine Dies Dominicae Pallium, alle meine Indusia,
meine neuen Calcei, darinnen ich fein nach dem Lignum passiren kunnte,
mein Pilius mit dem geflochtenen Hut-inculum, der mich quindecim Grossos
gekostet, alle meine Superbia und Schmuck, meiner Frauen ihre Vestii, meinen
Kindern ihre Vestii sind alle mit port. Unserer magnus Magd, der Magdalenen,
der pauper Mähren, sind auch alle ihre Res weg. Die Vacca mit dem Kalbe, der
Caper mit denen kleinen Ziegen, Porcus magnus et parvus ist omnes allo. ....
In meiner Schola ist nichts mehr totus; die Fenestras sind ex, der Ofen hat wol
ein Schock Oculi; dem Ofen-Forca haben die Regio Servii ein Cornu abgerissen; |#f0351 : 338|

die Vesica ist fort; die Studir-mensa ist grambosuirt; die magna schwarze Tabula,
darauf ich meine Adjuvanten das Core informalia geschrieben, haben sie bemaculare,
und Federn darein gesteckt, siehet aus als der lebendige Diabolus. Mein
Atramentum Dolium, alle meine Penna mit dem Pennal und anderthalb Bogen
Papier haben sie mir gefurraverunt. Es muss certissime ein Gelehrter darunter
gewesen seyn. Mein Cubile hat ein Korporal dehonestrirt. Hoc dicit noster Schulze,
der hat solches gevidit, und müssen leiden. Mein Pecuniam numeratam ist auch
allo. Ach es war solch' schön Geld; es waren lauter Bohemios Grossos, die hatte
ich in meinem Vacca Stabulum, unter dem grossen Lapis verstecket. Dennoch
habens die Bello Servi gefunden. .... Unserm Dominus Pastor ist es auch nicht
viel melius ergangen. Denn alle seine Res seynd port. Sie haben ihm seinen
schönen longam Barbam ausgerauft, und seine formosa Spons, des Schulzens
Filia sehr turbirt. Es ist non alles zu describendi, wie sie mit uns Domus gehalten
haben, welches ich dem Dominus Frater zu avisiren nicht vorbey gekunnt,
und befehle ihn hiernechst göttlicher Protection, verbleibe auch sein lieber treuer
Frater in aeternum etc.,
Jo. Felix Schusterus.1


4) Der Neologismus ist das fehlerhafte Widerspiel des Archaismus.
Beide rühren her von einem Auflehnen gegen die Selbstkräftigkeit der
Sprache; beide entspringen aus dem dünkelhaften Wahn, es stehe
nur bei der Willkür des Einzelnen, die Sprache an seinem Gängelbande
zu leiten, wie und wohin er wolle; nur dass der Archaist sie
zurück, der Neologist gar zu hastig vorwärts schiebt, dass der Archaist
sie wieder auf einen Punct bringen will, den sie längst verlassen hat,
der Neologist aber sie mit Einem Sprunge dahin zu führen denkt, bis
wohin sie doch von Rechts wegen viele Schritte brauchen würde: der
Archaist gleicht dem Reactionär, der Neologist dem Revolutionär.
Allerdings bedarf eine Sprache, wenn sie nicht abstehn und verdorren
soll, eines beständigen frischen Nachwuchses neuer Worte: aber es
muss auch ein wirklicher Nachwuchs sein, das neue Wort muss aus
dem Grund und Boden, muss aus den alten und noch lebendigen
Wurzeln der Sprache heraus durch eine innere Naturnothwendigkeit
getrieben werden: kommt ein neues Wort so zur rechten Zeit und in
der rechten Gestalt, kommt es hervor, weil auch sein Begriff jetzt

1
Zu diesem Schulmeisterbriefe macht Radlof S. 189 folgende Bemerkung:
„Sollten gewisse sehr gelahrte Kanzeleystylisten, und mit ihnen ein nur viertelsteutscher
Zeitungsschreiber, Einem hochangesehenen Publikum vornebeln wollen,
solches aberwitzige Sprachgemengsel, und solches Afterlatein, wie vorgeblich dieser
wohlehrsame Schulhalter, habe niemals ein vernünftiger Teutscher geschrieben, so
würde Verfasser durch unleugbare Beweisstücke darthun, dass eben diese Herren in
unsern Zeitungen alltäglich kein besseres Teutsch schreiben; wodurch sie denn also
die Aechtheit der obigen Urkunde unwidersprechlich bestätigen.“
|#f0352 : 339|

zuerst hervorkommt, oder weil die bisherigen Bezeichnungen dieses
Begriffes in der That nicht mehr bezeichnend sind, dann ist die neue
Schöpfung kein Neologismus, insofern darunter etwas Fehlerhaftes verstanden
wird. Unter solchen Bedingungen sind namentlich durch
Wieland und Lessing (durch sie, nicht von ihnen) zahlreiche neue
Worte in die Sprache gebracht worden, und diese haben sich auch
gehalten, sind so in der Sprache haften geblieben, dass man denken
möchte, sie seien ihr schon seit Jahrhunderten eigen. Beispiel hiefür
das Wort empfindsam, das jetzt ganz alltäglich gäng und gäbe, aber
wenig mehr als hundert Jahre alt ist: zuerst gebrauchte es 1768 auf
Lessings Rath, wiewohl mit Schüchternheit und entschuldigend, Bode,
der Uebersetzer von Yoricks Sentimental Journey von Lorenz Sterne
(vgl. Bodens Vorrede p. III und XXI und Grimms Deutsches Wörterbuch
3, 431). Aber man bedurfte es, die Sache kam selber ziemlich
neu auf, und da es sprachgemäss gebildet war, so ist es auch
verblieben.


Aber wohl ist der Neologismus ein Fehler gegen die Reinheit und
gegen die Deutlichkeit, wenn man der Sprache ein neues Wort aufdrängen
will, dessen sie gar nicht bedarf, weil sie schon andre hinreichend
deutliche besitzt, oder weil gar der Begriff für gewöhnlich
nicht vorhanden ist, oder wenn man es ihr überhaupt in verkehrter
Weise aufdrängen will. Solche willkürliche Erfindungen richten sich
auch selbst, schlagen nicht Wurzel, halten sich nicht, sterben alsbald
wieder ab, gleichen Reisern, die ein spielendes Kind in den Boden
steckt, um daraus einen Garten zu bauen, über Nacht aber verwelkt
das Alles wieder. Es zeigt sich aber dieser verkehrte Neologismus
besonders als Purismus, als ein Kämpfen gegen den Barbarismus, als
ein Ausrotten fremder Worte und Ersetzen derselben durch deutsche,
aber erst zu diesem Behufe neu gebildete. In dieser puristischen Richtung,
die wir theilweise schon berührt haben (S. 334), hat sich der Neologismus
namentlich zweimal in Deutschland geltend gemacht, nach der
Mitte des siebzehnten und zu Anfange dieses neunzehnten Jahrhunderts.
Beidemal entsprang der Purismus aus einer übertreibenden Reaction
gegen die herrschende Ausländerei, und es wurde nicht bloss gegen
die eigentlichen Fremdworte gewüthet, sondern auch gegen solche,
die schon längst durch allerlei Umgestaltungen zu deutschen geworden
waren. So namentlich im siebzehnten Jahrhundert: man stiess sich
nicht bloss an den Worten Lieutenant, Natur, Minute, und sagte dafür
Waltmann, Zeugemutter, Zeitblick, sondern auch Fenster, Pabst musste
noch für fremd gelten und sich eine Vertauschung gegen Tageleuchter,
Grosserzvater gefallen lassen; ja sogar Eigennamen der antiken Mythologie, |#f0353 : 340|

ohne welche die Dichter nicht glaubten bestehn zu können,
wurden damals in allem Ernste verdeutscht und hässlich verunstaltet:
aus Pallas machte man Kluginne, aus Diana Weidinne, aus Juno
Himmelinne, aus Venus Lustinne, aus Pomona Obstinne u. s. f. Der
leitende Anführer bei solchen Verkehrtheiten war Filip von Zesen
(1619─1689). Ganz so weit sind nun freilich die Puristen der
neueren Zeit, als deren Vorfechter Joh. Heinrich Campe (1746─1818),
der Bearbeiter des Robinsons und eines eigenen Wörterbuches, nicht
gegangen. Aber sie haben es doch auch verkehrt genug getrieben.
Es giebt, abgesehen von den philosophischen und grammatischen und
naturwissenschaftlichen Kunstausdrücken, noch sonst fremde Worte die
Menge, die man ganz wohl belassen kann, weil sie eigentlich ausserhalb
der lebendigen Sprache liegen und nur in eng eingeschränkten
Kreisen gebraucht werden: indessen auch solche wurden verdeutscht,
z. B. statt Alumnus hiess es jetzt Pflegling. Andere mochten und
mögen wohl der Verdeutschung werth und fähig sein, aber wenigstens
die man versuchte, brachten gleich die Lächerlichkeit mit auf die Welt,
wie wenn man Lectüre mit Leserei verdeutschte, Lieutenant bei der
Gardecavallerie mit Stellhalter bei der Leibwachgaulerei, Dilettant auf
dem Fortepiano mit Vergnügling auf dem Starkschwachtastenrührbrett,
und wie die eintönigen Worte auf ─ling und ─ei (selbst eine fremde
Endung) sonst noch heissen mögen. Hätten diese Stürmer noch zugewartet,
so wäre vielleicht dieses und jenes fremde Wort nach und
nach von selbst verschwunden, das uns nun verbleibt, weil man jeder
Verdeutschung mit spöttischem Argwohn entgegenkommt.


So viel vom Archaismus, Provincialismus, Barbarismus und Neologismus,
als den viererlei Verstössen gegen die erste Regel des prosaischen
Stils, welche zum Behufe der Deutlichkeit, als seines characteristischen
Erfordernisses, Reinheit und Richtigkeit der Sprache verlangt.
Jetzt wenden wir uns zu einer zweiten Regel.


Bei der Regel der Reinheit und Richtigkeit werden die Worte
lediglich an und für sich selbst betrachtet, ohne dass man dabei auf
die Bedeutung Rücksicht nimmt, welche dieselben für das Ganze des
Gedankens haben, und auf das Verhältniss, in welchem diese Worte,
diese Begriffe zu den übrigen Begriffen und Worten des Satzes stehn,
dem sie angehören. Ein falsch gebildetes Wort, ein provinzieller Ausdruck,
sind fehlerhaft und unverständlich auch ausserhalb aller weiter
gehenden Beziehung auf Satz und Gedanken. Nun sind aber die Worte
eben noch in dieser Beziehung aufzufassen. Und da gilt denn, damit
auch von der Seite her Deutlichkeit erreicht werde, die Regel der
Angemessenheit, die Regel, welche verlangt, dass erstens jedes Wort |#f0354 : 341|

auf das Bestimmteste grade nur den Begriff bezeichne, welchen die
Gesammtheit des Gedankens fordert, zweitens, dass die Wechselbeziehung
und das Verhältniss der einzelnen Theile des Gedankens klar
und scharf ausgeprägt seien, dass also einmal jedes Wort der gemeinten
Vorstellung, sodann jedes Wort allen übrigen neben ihm entspreche
und angemessen sei.


Wir werden auch diese Regel fast nur in der Weise abhandeln
können, dass wir von den verschiedenen Fehlern, durch welche sie
verletzt wird, sprechen. Bestimmte Eigennamen haben die wenigsten
dieser Fehler; sie gehören, wie das schon früherhin ist bemerkt worden,
mit in das weitschichtige Fach der sogenannten Solöcismen, wie
die alte Rhetorik sagt.


Hier ist der erste und bedeutendste Fehler die Uneigentlichkeit,
die umschreibende Bildlichkeit der Worte, oder um diesen besonderen
Punct, da es angeht, noch positiv zu fassen: die Angemessenheit wird
vor allen Dingen darin bestehn, dass die Begriffe in ihrer eigentlichsten
Benennung vorgelegt werden, „in propriis usitatisque verbis,“ Cicero
orat. 24. Man nenne also jede Sache, wie sie wirklich heisst, ohne
die Gewöhnlichkeit des Ausdruckes durch Schmuck und Umschreibung
zu verdecken, ohne etwa das Abstracte durch eine bildliche Sprachweise
sinnlich zu beleben: dergleichen ist der Poesie und ist der
rednerischen Prosa zu überlassen; diese haben sich an die Einbildung
und das Gefühl zu wenden: da bedarf es solcher Veredlung und
Belebung; die Prosa dagegen, namentlich die lehrhafte, hat es nur
mit dem Verstande zu thun, und da ist ihre Aufgabe Deutlichkeit:
zu dieser Aufgabe passt aber die uneigentliche Ausdrucksweise nicht:
für die Einbildung dient sie freilich zur Anschaulichkeit, für den Verstand
dagegen stellt sie die Begriffe in ein unsicheres Halbdunkel, das
ihm nicht zusagt. Dasselbe, was dort ganz angemessen ist, erscheint
hier unpasslich und fehlerhaft. Der Redner wird also z. B. ganz wohl
sagen dürfen: „Das innere Auge bevölkert Welttheile und hebt Länder
aus dem Sumpfe;“ der abhandelnde Prosaist muss dasselbe etwa so
ausdrücken: „Der Einbildungskraft erscheinen Welttheile bevölkert und
ganze Länder dem Sumpfe abgewonnen.“ Die Versinnlichung des Ausdruckes
kann unter Umständen gradezu lächerlich ausfallen. Wir sagen
z. B. Lehrstuhl für academisches Lehramt, sagen ein Amt niederlegen,
ohne an die eigentliche Bedeutung von niederlegen mehr zu denken.
Lächerlich aber ist es, wenn einmal die Augsburger Allgemeine Zeitung
(1859. S. 1796) berichtet: „Dr. Strauss hat seinen Lehrstuhl wegen
vorgerückten Alters niedergelegt.“ Denn diese Verbindung nöthigt
sowohl Lehrstuhl als niederlegen wieder in seiner eigentlichen, sinnlichen |#f0355 : 342|

Bedeutung zu verstehn. Auch aus diesem Grunde ist die Verdeutschung
abstracter Fremdworte bedenklich: denn, wie schon bemerkt
worden, jedes dafür neu erfundene deutsche Wort wird noch zu concret
sein, wird noch zu sehr nach blosser Sinnbildlichkeit aussehen, wird
zu viel Uneigentlichkeit besitzen, als dass es sich recht mit dem
Character der lehrhaften Prosa vertrüge. Freilich beruhen alle
abstracten, auch die abstracten deutschen Worte ursprünglich auf rein
sinnlichen Anschauungen; aber für die Prosa sind sie doch erst recht
tauglich geworden, seitdem man diese Sinnlichkeit nicht mehr an ihnen
gewahrt, seit sie nicht mehr bildlich und uneigentlich, sondern die
recht eigentlichen Ausdrücke zu sein scheinen. Soll man aber in Bezug
auf Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit der Ausdrücke etwa einen Unterschied
machen zwischen den drei Arten der Prosa, so möchte es der
historischen noch am ehesten gestattet sein, die unbelebten und unanschaulichen
abstracten Ausdrücke gegen anschaulichere, sinnbildliche
concreta zu vertauschen: aber auch nur ihr, ihr als der Grenznachbarin
der Poesie, der Epik.


Ein zweiter Fehler ist die Katachrese (κατάχρησις), d. h. Missbrauch.
Der Anlass für ihn liegt darin, dass die ursprünglich nur
bildlichen Ausdrücke, sowie sie einmal erst recht in Umlauf gekommen
sind, sich immer mehr und mehr abschleifen und entfärben, bis
man zuletzt kaum mehr auf ihre frühere sinnliche Bedeutung achtet.
Es ist nämlich eine Katachrese, wenn man einen bildlichen Ausdruck
in einer Verbindung mit anderen Worten anwendet, die nicht zu dem
Bilde stimmen, ja die demselben vielleicht widersprechen und es durch
unharmonische, neue Bildlichkeiten aufheben. Zwar macht sich die
Prosa nichts aus Bildern, und sie duldet sie eigentlich erst dann, wenn
sie zu blossen Rahmen geworden sind; aber sie will dieselben auch so
nicht missbraucht und misshandelt wissen. Eine Katachrese ist es,
wenn z. B. Adelung in seinem Werke „Ueber den deutschen Stil“
sagt: „Daher erscheint in einem heftigen Affecte so Vieles abgebrochen;
daher fehlen hier die gewöhnlichen Verbindungswörter, und dort werden
sie wieder gehäuft, wo nämlich ein Schimmer des Verstandes den
raschen Gang der Ideen aufhalten und ein besonderes Gewicht auf
diese oder jene legen will.“ Oder an einer anderen Stelle: „Das
Kriechende findet nur dann statt, wenn der Ton unter den Horizont
der jedesmaligen Absicht hinabsinkt.“


Sodann drittens. Alle Sprachen besitzen sogenannte verba oder
vocabula solennia, Redensarten, die sich für gewisse Vorstellungen
festgesetzt haben und da entweder nur vorzugsweise gelten oder ganz
ausschliesslich und allein. Mögen nun dergleichen Festsetzungen ihren |#f0356 : 343|

guten Grund haben, oder mögen sie auf blossen Zufälligkeiten und
einem Eigensinn des Sprachgebrauches beruhen, immer ist es Pflicht,
sie zu beobachten; jede Verletzung derselben ist eine den Leser störende
und irre leitende, die Verständlichkeit schmälernde Unpasslichkeit und
Unangemessenheit. So verhält es sich z. B. mit den beiden Worten
Kopf und Haupt; es sind synonyma: Haupt, der edlere, dichterische
Ausdruck, Kopf der gewöhnliche, prosaische; für die Prosa unterscheiden
sie sich so, dass Haupt, als das ältere, seine eigentlich sinnliche
Bedeutung meist eingebüsst und eine übertragene, unsinnliche
Bedeutung angenommen hat: so spricht man von dem Haupte einer
Partei, nicht von ihrem Kopfe, ebenso in der Redensart die Feinde
aufs Haupt schlagen: auch hier hat sich die bildliche Anschauung
zu einer blossen Phrase abgeschliffen. Gleichwohl sagt man wieder:
er hat einen guten, fähigen, klaren Kopf, den Kopf verlieren, er
ist nicht auf den Kopf gefallen; hier ist etwas durchaus Unsinnliches
gemeint, dennoch sagt man nicht Haupt, sondern Kopf. Es
ist eben ein vocabulum solenne: diess bestätigt auch der Gebrauch,
die Menschen nach Köpfen, das Vieh dagegen nach Häuptern zu
zählen.


Viertens streitet auch gegen die Regel der Angemessenheit und
somit gegen das allgemeine Gesetz der Deutlichkeit die Amphibolie,
ἀμφιβολία oder ambiguitas, die Zweideutigkeit oder Vieldeutigkeit der
Ausdrücke. Sie entsteht, indem man ein Wort, das verschiedene, ja
entgegengesetzte Bedeutungen in sich vereinigt, so gebraucht, dass
aus dem Zusammenhange nicht klar wird, welche der Bedeutungen
man zu verstehn habe, sondern dem Gegebenen nach jede Auffassung
gleich richtig ist: z. B. verfolgen, welches bald feindlich nachgehn,
bald angelegentlich betreiben, übersehen, welches bald überschauen,
überblicken, bald vernachlässigen bedeutet. Also wäre es durchaus
zweideutig zu sagen: „Du sollst die Wahrheit stets verfolgen und
auch bei der Verwaltung mannigfaltiger Berufsgeschäfte Alles zu übersehen
suchen.“ Die Amphibolie ist nur dann kein Fehler, wenn man
ein Wortspiel, einen Witz, oder, wie das bei den Orakeln des Alterthums
der Fall war, eine neckende und täuschende Räthselhaftigkeit
beabsichtigt.


Ein fünfter Fehler gegen die Angemessenheit ist es, wenn ein
Wort zu allgemein ist für den gemeinten Begriff, wenn es vielleicht
einen Gattungsbegriff bezeichnet, und doch ein Artbegriff zu bezeichnen
war. Am häufigsten ist dieser Verstoss, wo von Abstracten die Rede
ist. Beispiel: „Die Tugend fordert, dass wir uns über die wahre
Wohlfahrt unserer Nebenmenschen freuen;“ hier ist das Wort Tugend |#f0357 : 344|

viel zu allgemein; statt dessen sollte eine besondere Art der Tugend,
etwa die Nächstenliebe, genannt sein.


Eine sechste Unangemessenheit ist es, wenn man Worte, die ihrem
Begriffe nach verwandt, vielleicht nah verwandt, aber doch in dieser
oder jener Beziehung wieder unterschieden sind, wenn man also
synonyma ohne weiteres eins für das andere gebraucht: ein Fehler,
der sich auch am häufigsten da ereignet, wo er auch am gefährlichsten
ist, wo er der Deutlichkeit den meisten Schaden thut, in
der lehrhaften Prosa: denn natürlich wird man nichts so leicht verwechseln
als synonyme abstracta. Es bedarf diess keiner weiteren
Ausführung und keiner Beispiele.


Eine siebente Unangemessenheit ist der Pleonasmus; er entsteht,
wenn man einen Begriff, der schon in einem andern enthalten ist,
noch für sich besonders bezeichnet. Beispiele: alter Greis, armer
Bettler, tapferer Held, etwas noch einmal wiederholen, ich beschränke
mich nur darauf, nicht länger mehr, weiter fortfahren, etwas gewöhnlich
zu thun pflegen, los lösen, voll füllen. Ebenso ist es ein Pleonasmus,
wenn Platen (LB. 2, 1717, 18) sagt: „Der Väter sonst'gen
Ruhm.“ Eine solche Häufung stört die Deutlichkeit, indem sie ermüdet,
und äfft den Verstand, der mit jedem neuen Worte auch einen neuen
Begriff erwartet und dafür mit dem neuen Worte auf den alten Fleck
zurückgeschoben wird.


Nah verwandt ist dem Pleonasmus ein achter Fehler, die Tautologie.
Nur wird hier nicht neben dem weiteren Begriff noch der mehr
besondere eigens und einzeln hingestellt, sondern es wird gradezu ein
und derselbe Begriff zwei- oder mehrmal wiederholt: z. B. „Nur wenigen
gelingt es, sich die allgemeine Liebe und Achtung aller Menschen
zu erwerben;“ ferner: einzig und allein, ehe und bevor, sintemal und
alldieweil, einander gegenseitig, so also, nur allein, bereits schon,
wieder zurück, mein Hut, den ich gekauft habe. Vgl. LB. 2, 1725, 29:
„Wenn lallenden Tons sie zu stammeln begann die gestotterte Phrase
der Unkunst.“


Ein neunter Fehler endlich, der mit dem achten beinahe ganz
zusammenfällt und ohne sonderlichen Schaden auch mit zu diesem
kann gezählt werden, ist die Anhäufung von Synonymen. Freilich
sagen Synonymen, genau betrachtet, niemals ganz dasselbe aus, das
eine wird immer mehr, das andere weniger von dem gemeinten
Begriffe, das eine wird ihn von dieser, das andere von jener Seite
zeigen, und in so fern wird auch die Anhäufung von Synonymen niemals
eine wirkliche Tautologie sein. Gleichwohl giebt es synonyma,
zwischen denen die Grenzen so unvermerkt laufen, dass auch eine |#f0358 : 345|

Häufung derselben kaum mehr von der Tautologie zu sondern ist; und
sicherlich stellt man in den meisten Fällen nicht deswegen viele synonyma
neben einander, weil sie Verschiedenes, sondern eben deswegen,
weil sie das Gleiche aussagen, also tautologisch sind. Am häufigsten
werden geistliche Reden mit Tautologien gestreckt: z. B. „Es ist das
Zeichen eines wahren, echten und aufrichtigen Verehrers der Religion,
wenn ihm jede Gelegenheit, religiöse Empfindungen und Gefühle in
seinem Innern anzuregen, zu erwecken, lebendig und wirksam zu
machen, lieb, werth und theuer ist.“


Bisher haben wir immer nur noch von der Wahl der Worte
gehandelt, inwiefern sich darin die characteristische Eigenschaft des
prosaischen Stils, die Deutlichkeit, als leitendes Gesetz wirksam zeige;
mit der Wahl der Worte ist aber die sprachliche Darstellung noch
nicht abgethan: es gehört dazu noch die Anordnung und Verknüpfung
derselben, die Organisierung der einzelnen Worte zum Satz und zur
Periode. Diess also läge jetzt noch unserer Betrachtung vor. Indessen
wollen wir wenigstens auf die Erörterung des Satzbaues weiter keine
Zeit verwenden und zwar aus demselben Grunde, aus dem wir früherhin
auch das Erforderniss der Sprachrichtigkeit nur genannt haben,
um sogleich weiter zu gehn: wir würden damit aus der Stilistik in
die gewöhnliche Grammatik hineingerathen, da ja den Satzbau schon
die Syntax abhandelt. Wir richten deshalb unsere Aufmerksamkeit
nur auf den Periodenbau.


Das griechische Wort περίοδος bezeichnet ursprünglich und in
seiner sinnlichen Bedeutung einen Umlauf, einen Kreislauf, eine Linie,
bei deren Zurücklegung man zuletzt wieder bei demselben Puncte
anlangt, wovon man früher ausgegangen ist. In übertragenem Sinne,
in der Sprache der Rhetoren und Grammatiker heisst daher Periode
ein Satz, der durch Nebensätze unterbrochen zuletzt wieder in sich
selbst zurückkehrt. Das Wort wird jedoch nicht nur in so eingeschränkter
Bedeutung gebraucht: denn es macht keinen Unterschied,
ob der Nebensatz vor oder in oder hinter dem Hauptsatze steht. Einige
nennen deshalb jeden erweiterten Satz eine Periode. Andere hinwiederum
bezeichnen mit diesem Namen nur solche Verbindungen,
die aus einem Vordersatz und einem Nachsatz bestehn. Diess ist
aber ganz willkürlich. Unpractisch und unhistorisch ist es dagegen,
wenn man überhaupt jeden Satz eine Periode nennt, mag er nun einfach
oder zusammengesetzt sein. Wir bleiben daher am besten beim
alt überlieferten Sinne; nur ist der Begriff zu eng gefasst, wenn unter
Periode bloss die Verbindung von Hauptsatz und Nebensatz verstanden
wird. Auch die verbundenen Sätze sind Perioden zu nennen; denn |#f0359 : 346|

häufig genug werden zwei Hauptsätze so mit einander verbunden, dass
der eine den logischen Werth eines Nebensatzes hat. Wir nennen es
mithin eine Periode, wenn sich eine Mehrheit einzelner Sätze grammaticalisch
zu einem Ganzen vereinigt. Einfach heisst die Periode, wenn
sie aus zwei Hauptsätzen oder aus einem Hauptsatz und einem Nebensatz
besteht; zusammengesetzt, wenn mehrere Hauptsätze unter einander
oder mehrere Nebensätze mit einem Hauptsatze verknüpft sind.


Von einer Periode ist zweierlei zu verlangen: einmal, mit Rücksicht
auf den Inhalt, Ueberschaulichkeit des Gedankens; sodann, mit
Rücksicht auf die äussere, sprachliche Gestaltung, Wohlklang im
Ganzen der Worte und in der Stellung und Verbindung der Satzglieder.



Es wird Ueberschaulichkeit verlangt, damit der Leser alle Glieder
in ihrer Bedeutsamkeit erkenne, damit er sehe, welche Glieder eine
höhere, welche eine geringere, welche gleiche Bedeutung haben. Dieser
Zweck wird durch zwei Hauptmittel erreicht, erstens durch die
Hervorhebung eines einzelnen Gliedes der Periode, als des Gipfelpunctes,
und zweitens durch das Ebenmass der Glieder, wo es keiner
Hervorhebung bedarf.


Was der Sprechende hervorhebt, kann schon an sich selbst,
logisch betrachtet, der Hervorhebung werth sein, so dass sich die
grammatische Hervorhebung von selbst versteht: so ist z. B. bei
einem Causalsatze die Wirkung das Vorzüglichere und wird deshalb
als Hauptsatz hervorgehoben. Oder aber der Sprechende legt subjectiv
einem an und für sich weniger wichtigen Satze eine höhere Bedeutung
bei1: in einem Conditionalsatze z. B. kann für den Sprechenden
die Bedingung die Hauptsache sein; er wird deshalb einen Hauptsatz
in der Form der Frage daraus bilden. Meistens jedoch werden
in der reinen Prosa die subjectiven Gründe mit den objectiven, logischen
zusammen fallen. Die Hervorhebung aber kann auf dreierlei
Weise bewerkstelligt werden, entweder durch die Form des Hauptgliedes,
oder durch die Stellung desselben andern Gliedern gegenüber,
oder endlich durch die Verknüpfung mit den andern Gliedern.


a) Das hauptsächliche Mittel der Hervorhebung durch die Form
besteht darin, dass Glieder des Gedankens, die eigentlich als Nebensätze
erscheinen sollten, zu selbständigen Hauptsätzen erhoben werden,
dass also z. B. bedingende Sätze nicht mit wenn, causale nicht mit da
oder weil gebildet werden, sondern dass man der Bedingung die Form

1
Z. B. um ein Bild verständlicher zu machen, gestaltet er eine Vergleichung
zu einem eigenen Satze, statt sie in einen Nebensatz mit wie zu bringen.
|#f0360 : 347|

der Frage oder des Befehles giebt und den causalen Satz mit denn
beginnt. In allen dergleichen Fällen findet also eine formelle Erhebung
von Nebengedanken zu Hauptgedanken, von untergeordneten Nebensätzen
zu selbständigen Hauptsätzen statt.


Nun können aber auch Gedanken und Sätze, die schon für sich
selbständig und Hauptsätze sind, durch die Form, die man ihnen giebt,
noch mehr und zu noch höherer Würde und Bedeutung hervorgehoben
werden. Indessen die verschiedenen Mittel, welche diesem Zwecke dienen,
gehören fast ausschliesslich den beiden höheren Stilarten an, dem
poetischen und namentlich dem lyrisch-rhetorischen Stil; diese noch
höhere Hervorhebung tritt gewöhnlich erst da ein, wo es Anschaulichkeit,
und noch mehr, wo es Leidenschaftlichkeit gilt: die Prosa,
deren alleinige Aufgabe es ist, die Gedanken in verständiger Deutlichkeit
zu entfalten, enthält sich sowohl der Sache als der dazu dienenden
Mittel. Nur ein einziges derselben erscheint hier schon zulässig.
Es ist diess der Gebrauch, eine Behauptung in Form einer Frage
auszudrücken: dadurch wird der Hörer oder Leser angeredet und so
mit in die Autorschaft hereingezogen, er soll auch Ja oder Nein sagen,
und der Gedanke erhält auf diese Weise zwei Autoren. Und zwar
giebt man einer positiven Behauptung die Form einer negativen Frage,
einer Frage, die also zu gleicher Zeit einen Zweifel ausspricht und
diesen Zweifel selbst schon durch die Verneinung wieder aufhebt:
z. B. „Ist es nicht eben die Gleichheit der Menschen, worauf das
Wesen des christlichen Glaubens beruht?“ (Jacobi.) Dem entsprechend
werden negative Behauptungen verstärkt, wenn man ihnen die Form
einer positiven, keine Verneinung enthaltenden Frage giebt, und in
dieser Weise den Gedanken als zweifelhaft oder ungewiss hinstellt:
z. B. „Wer kann die Sonnen des Himmels zählen?“ In beiden Beispielen
wird der Gedanke viel mehr hervorgehoben, als wenn man ohne
fragende Form einfach sagte: Es ist die Gleichheit der Menschen,
worauf das Wesen des christlichen Glaubens beruht, oder: Niemand
kann die Sonnen des Himmels zählen. Wie gesagt, ausser diesem
Mittel der weiteren Hervorhebung selbständiger Gedanken kommt
kaum noch ein derartiges in der Prosa vor; von den übrigen werden
wir also erst späterhin zu handeln haben.


b) Nun die Hervorhebung durch die Stellung. Hier können
wir die Hervorhebung einzelner Begriffe und Worte und die Hervorhebung
ganzer Gedanken und Periodentheile parallel neben einander
stellen. Was die Hervorhebung einzelner Begriffe und Worte durch
die Stellung betrifft, so führt eigentlich schon jede, auch die leichteste
Veränderung des gewöhnlichen Satzbaues eine solche Hervorhebung |#f0361 : 348|

und Auszeichnung mit sich. Denn unsere Wortstellung steht so fest
und beruht auf so guten logischen Principien, dass jede Abweichung
von ihr auffallen muss, und man bei jeder Abweichung triftige Gründe
voraussetzt. Das hauptsächlichste Mittel aber zur Hervorhebung einzelner
Begriffe und die gebräuchlichste Art der Umstellung einzelner
Worte ist bekanntlich die sogenannte Hauptinversion, bei welcher dem
ausgezeichneten Worte die erste Stelle im Satze gegeben wird, und
dann das Verbum und dann erst das Subject folgt, während sonst
das Subject den Satz beginnt. Von der Hauptinversion, welche den
ganzen Satz in sich selbst umstellt und umwendet, ist die Nebeninversion
zu unterscheiden, wo bloss zwei einzelne Worte ihre Stellung
vertauschen. Ein Beispiel der Hauptinversion: „Gottes sollst du niemals
vergessen.“


Ganz das gleiche Verfahren zeigt sich nun auch, wo nicht ein
einzelner Begriff, sondern ein ganzes Periodenglied, wo ein Nebensatz
hervorzuheben ist. Auch hier bedient man sich zu diesem Zwecke
einer Hauptinversion, d. h. man macht den Nebensatz, der eigentlich
als Zwischensatz sollte eingeschaltet werden oder folgen sollte, zum
Vordersatz, stellt ihn vor den Hauptsatz, dem er doch untergeordnet
ist. Adverbialsätze, z. B. causale, bedingende und dergleichen, sollten
eigentlich hinter dem Verbum des Hauptsatzes stehn: aber gewöhnlich
stehn sie nicht da, sondern man bringt sie durch eine Hauptinversion
vor den ganzen Hauptsatz, beginnt die Periode mit dem da oder weil
oder wenn und verleiht so dem Grunde oder der Bedingung mehr
Nachdruck. Und so beruht überall der Gebrauch von Vordersatz und
Nachsatz lediglich auf dem Streben, dem Nebensatze mehr Bedeutung
zu gewähren und ihn durch die Stellung mehr hervorzuheben.


Noch eine eigenthümliche Art, durch die Stellung das Gewicht
des Satzes zu verstärken, ist die Parenthese. Sie besteht in der Einschaltung
eines selbständigen Satzes, ja einer Periode in einen anderen
Satz und ist somit von dem Zwischensatz wohl zu unterscheiden.
Ein Gedanke, der in solcher Weise einen andern unterbricht, der den
Gang eines andern für einige Zeit still stellt, um dafür sich geltend
zu machen, kündigt sich natürlich als gewichtig und bedeutsam an:
daraus erhellt, dass man die Paranthese nur selten anwenden dürfe:
in den meisten Fällen wird sie freilich nur angewendet aus Ungeschick,
sich anders auszudrücken. Beispiel: „Auf das Unendliche (das fühlt
jeder, der sich selbst versteht) ist bei uns Alles gerichtet.“


Endlich kann noch die Stellung einzelner Worte und ganzer
Periodenglieder in der Weise zur Hervorhebung dienen, dass coordinierte
Begriffe in der Klimax, in der Steigerung aufgeführt werden, |#f0362 : 349|

so dass man mit dem minder Bedeutenden anhebt, mit dem mehr
Bedeutenden fortfährt und mit dem Bedeutsamsten schliesst. Die Aufmerksamkeit
nimmt bei einer Reihe coordinierter Begriffe oder Worte
von sich selber ab: schlösse man da mit dem minder Wichtigen, so
bliebe es vielleicht unbeachtet, und das Wichtigere geriethe vielleicht
auch in Vergessenheit: man beginnt also besser mit dem Unwichtigsten
und hält dann die Aufmerksamkeit rege durch die Steigerung
der Bedeutsamkeit. Beispiel: „Wir nähern uns dem Tode mit jedem
Schritt, mit jedem Athemzug, mit jedem Augenblick.“


c) Die verschiedenen Wege, durch die Art der Verknüpfung hervorzuheben,
ergeben sich zum Theil schon aus dem, was vorher über die
Hervorhebung durch die Form ist bemerkt worden. Untergeordnete
Gedanken also, die eigentlich die Form von Nebensätzen haben und
auch als solche mit dem Hauptsatze sollten verknüpft werden, hebt
man hervor, indem man ihnen die Form von Hauptsätzen giebt und
sie nun auch demgemäss mit der übrigen Periode verknüpft, indem
man also z. B. einen causalen Satz nicht als untergeordneten Nebensatz
mit da oder weil, einen concessiven nicht mit obgleich anfängt, sondern
als zweiten selbständigen Hauptsatz mit denn, mit aber. Hier
geschieht also die Hervorhebung zu gleicher Zeit durch beide Mittel,
durch die Form und durch die Verknüpfung.


Nun können aber auch noch verbundene Sätze, die schon an und
für sich jeder ein selbständiger Hauptsatz sind, durch die Art der
Verknüpfung hervorgehoben werden. Da gilt denn, allgemein betrachtet,
ein doppeltes Verfahren. Entweder die erforderlichen Bindewörter
werden ausgelassen oder angehäuft. Bei den sogenannten uneigentlichen
Bindewörtern, die einen Gegensatz oder eine Begründung einführen,
wie aber, sondern, denn u. s. f. gilt nur die Auslassung, nicht
die Anhäufung. Bei der Auslassung bleibt natürlich die logische Beziehung,
aber sie tritt nicht so hervor, und die beiden Glieder des
Gedankens stehn selbständiger da. Z. B. die Worte Ev. Joh. 5, 22
οὐδὲ γὰρ ὁ πατὴρ κρίνει οὐδένα, ἀλλὰ τὴν κρίσιν πᾶσαν δέδωκε τῷ
υἱῷ übersetzt Luther: „denn der Vater richtet niemand, sondern alles
Gericht hat er dem Sohn gegeben.“ Aeltere Verdeutschungen aber
lassen das sondern, das sed der Vulgata weg, wodurch der zweite
Gedanke stärker hervortritt: der fater ne uberteilet niemannin: er gab
daʒ urteil al demo sune (Notk. Ps. 80, 5. 85, 16). Anders verhält es
sich mit den eigentlichen Bindewörtern und, oder, noch, welche den
Fortgang von Gedanken zu Gedanken bezeichnen. Bei den trennenden
und verneinenden oder und noch ist ihrer ganzen Bedeutung
wegen die Auslassung nicht möglich und die Häufung gar nichts Ungebräuchliches: |#f0363 : 350|

es ist vielmehr Gesetz, dass oder und noch bei jedem
neuen Gliede einer längeren Reihe von Verbindungen auch aufs neue
wiederholt werden. Somit bliebe nur noch von und zu reden. In
einer längeren Reihe von Verbindungen wird und nur zwischen den
zwei letzten Gliedern gesetzt; es kann aber auch hier weggelassen
werden. Indessen fällt und nur fort unter Bedingungen und zu
Zwecken, die der Prosa fremd sind, die lediglich der Poesie und
dem rednerischen Stil angehören, nur zu Zwecken der Anschaulichkeit
und aus Motiven der Leidenschaftlichkeit. Es gilt also für die Prosa
die Regel, dass sie wohl der uneigentlichen Bindewörter entbehren
könne, weil sie eben als uneigentliche entbehrlich sind, nicht aber
die eigentlichen, die grade das Bedürfniss der Verständlichkeit und
Deutlichkeit schon zu den ältesten Zeiten in die Sprache eingeführt
hat. Das Asyndeton, denn so nennt man die Weglassung des Bindewortes,
fällt daher nur der Poesie und der Rede zu. Das gleiche
gilt vom Gegentheil, von der Anhäufung des Bindewortes und, dem
Polysyndeton. Man bedient sich desselben nur um der lebendigsten
sinnlichen Anschaulichkeit willen, einer so lebendigen, wie selbst in
der erzählenden Prosa nicht am Platze ist, geschweige denn in der
didactischen. Wir werden also auch vom Polysyndeton wie vom
Asyndeton, erst später zu reden haben. Es war aber hier bereits
darauf hinzudeuten, da grade dieses Puncte sind, an denen gar zu
gern und zu leicht die abhandelnde Prosa sich in die rednerische,
und die erzählende sich in die poetische Darstellung verirrt.


Das erste Hauptmittel, um die prosaische Ueberschaulichkeit zu
gewinnen, war die Hervorhebung: daran reiht sich als zweites das
Ebenmass. Wo keine Hervorhebung bezweckt wird und bezweckt werden
darf, ist dann auch danach zu streben, dass Alles in der Periode
geordnet und regelrecht zugehe, dass sich kein Glied irgendwie vordränge,
dass Alles an seinem gebührenden Orte stehe, dass sich Wort
auf Wort und Glied auf Glied angemessen beziehe, dass ein gegenseitiges
Anpassen und Anschliessen stattfinde, dass sich die Mannigfaltigkeit der
Begriffe und Gedanken zu einem harmonischen Ganzen vereinige, kurz,
dass in allen Stücken ein Ebenmass gehalten werde. Wir können die
verschiedenen Anforderungen, die sich in dieser Beziehung aufstellen
lassen, wieder unter die drei Gesichtspuncte vertheilen, von denen wir
die Hervorhebung betrachtet haben: Ebenmass in der Form der einzelnen
Satzglieder, in der Stellung und in der Verknüpfung.


a) Für das Ebenmass in der Form gilt die allgemeine Regel: Sätze,
die ihrem Inhalte nach gleiche Würde haben, sucht man auch in der
grammatischen Form so gleich als möglich zu gestalten. Bei Hauptsätzen |#f0364 : 351|

wird das namentlich dann zu beachten sein, wenn die Gedanken
selber schon in einem gewissen Verhältniss des Parallelismus stehn:
alsdann wird auch die Form durchaus gleichmässig gestaltet. Beispiel:
„So ruht der Acker, damit er desto reicher trage; so erstirbt der Baum
im Winter, damit er im Frühling neu sprosse und treibe“ (Herder).
Falsch wäre es, wenn man im zweiten Gliede dieser Periode statt so
etwa auf diese Art, und statt damit ein auf dass setzen wollte.


Vielfältiger kommt jene Regel in Betracht, wo es sich um die
Gestaltung beigeordneter Nebensätze handelt, d. h. solcher Nebensätze,
die sich in gleichen Beziehungen unter einem gemeinsamen Hauptsatz
vereinigen, selbst aber keiner vom andern abhangen. Solche beigeordnete
Nebensätze müssen in ihrer Form das vollkommenste Ebenmass
halten. Daher ist es fehlerhaft, wenn, was häufig vorkommt,
von zwei gleichmässig untergeordneten Gedankengliedern nur das eine
als Nebensatz, das andere aber als selbständiger Hauptsatz gebildet
wird: z. B. „Ein König gleicht einem Meer, von dem man sich entfernen
muss, wenn es stürmt; wenn es aber ruhig ist, fischt man
Perlen daraus“ (statt: aus dem man aber Perlen fischt, wenn es ruhig
ist). Ebenso verstösst es gegen die Regel, wenn von zwei Satzgliedern
das eine zum Nebensatz erweitert wird, das andere aber unerweitert
im Hauptsatze steht: z. B. „Es ist Spanien ein langer, von
aussen und innen ungestörter Frieden und der jungen Königin, auf
die jetzt alle Hoffnungen gerichtet sind, zu wünschen, dass sie einsichtsvoll
und glücklich ihre Rathgeber wähle“ (Quandt, Reise durch
Spanien 121). Oder: „Der Wucherer findet den Schlaf nicht vor
Gewissensbissen und weil er für seine Schätze fürchtet.“ Beispiele
aus Luthers Bibelübersetzung: Alles Volk sahe den Donner und Blitz,
und den Ton der Posaune und den Berg rauchen, 2. Mos. 20, 18
(Accusativ und accusativus cum infinitivo). Siehe, ich sehe den Himmel
offen, und des Menschen Sohn zur Rechten Gottes stehn,
Apostelgesch. 7, 55.


Indessen wenn man nun auch mehrere gleichmässig untergeordnete
Gedankenglieder alle als Nebensätze gestaltet, so kann man immer
noch darin fehlen, dass man diesen nicht die gehörig übereinstimmende
Form giebt. Die ältere Sprache freilich war, was solche regelrechte
Gleichförmigkeit der beigeordneten Nebensätze betrifft, bei
weitem nicht so ängstlich als die neuere, und das gewiss nicht zu
ihrem Nachtheil. Diess gilt namentlich von beigeordneten Bedingungssätzen:
mit wenn eingeleitete Nebensätze coordinierte man früher
unbedenklich mit solchen, welche die Form der Frage oder der Behauptung
haben: z. B. „Ist aber der Ochs vorhin stössig gewesen, und |#f0365 : 352|

seinem Herrn ist angesagt, und er ihn nicht verwahret hat, und tödtet
darüber einen Mann oder Weib, so soll man den Ochsen steinigen,
und sein Herr soll sterben,“ 2. Mos. 21, 29. Oder: „Werdet ihr euch
aber von mir hinten abwenden, und nicht halten meine Gebote und
Rechte, die ich euch vorgelegt habe, und hingehet und anderen Göttern
dienet und sie anbetet, so werde ich Israel ausrotten von dem Lande,“
1. Könige 9, 6. Die neuere Sprache aber ist darin einmal sehr streng
geworden, und wir dürfen die Regeln, so hemmend sie auch in vielen
Fällen sein mögen, nicht mehr wohl bei Seite setzen. So darf man
denn auch vollständige und zu Appositionen verkürzte Nebensätze einander
nicht beiordnen: entweder sind beide vollständig oder beide
verkürzt zu bilden. Es ist z. B. nicht erlaubt zu sagen: „Dem Könige
war von seiner Gattin ein Kind hinterlassen, so schön, so sanft wie
sie, und in welchem er sich wieder aufleben sah.“ Ebenso unrichtig
ist es, zwei Substantivsätze zu coordinieren, von denen der eine mit
dass gebildet ist, der andere bloss die conjunctivische Form der indirecten
Rede hat. Ferner darf von zwei beigeordneten Adjectivsätzen
nicht der eine mit welcher, der andere mit der eingeleitet werden.
Und diese Anforderung ist wohl nicht so ganz äusserlich; es ist wohl
nicht bloss der verschiedene Laut, der die beiden Ausdrucksarten
mit der und mit welcher verschieden erscheinen lässt, sondern wohl
noch ein Ueberrest von dem etymologischen und lexicalischen Unterschiede
beider Wörter, die sich zu einander verhalten wie qui zu
qualis; diess Bewusstsein wird stärker angeregt, sobald beide Worte
neben einander stehn.


Während also für coordinierte Sätze Gleichheit der Form als
Regel gilt, wird als natürlicher Gegensatz die Verschiedenheit der
Form beobachtet, wo mehrere Nebensätze einer dem anderen untergeordnet
sind. Hier lässt sich wieder eine Parallele ziehen zwischen
der Behandlung einzelner Worte und ganzer Sätze. Auch gleiche
Wortformen ordnet man nicht gern eine der anderen unter: natürlich,
da es schwer fällt, wenn die Wortformen gleich sind, dennoch die
Verschiedenheit der Beziehung zu erkennen; man lässt z. B. nicht
gern einen Genitiv von einem andern abhangen, namentlich nicht,
wenn die Genitive von gleicher Flexionsart, gleichem numerus und
gleichem genus sind. Als Beispiel kann hier der bekannte Ausdruck
eines Exegeten dienen: „Das Verführerische des Genusses der Frucht
des Baumes der Erkenntniss des Guten und des Bösen verleitete
Adam und Eva zum ersten Sündenfall.“ Ebenso falsch und übellautend
ist folgendes Beispiel: „Der Präsident des Ministerrathes brachte folgenden
Trinkspruch aus: Auf das Wohl der Armee, des Stolzes des |#f0366 : 353|

Thrones und des Vaterlandes, der Stütze der Charte und der Gesetze
der Franzosen, der Wächterin des Friedens, des Unterpfandes des
Sieges unserer Waffen.“ Vgl. Offenbar. Joh. 19, 15; 5 Mos. 31, 25. 26.
Bei solcher Ausdrucksweise spinnt sich der Gedanke einseitig in einer
einzigen Richtung, in einer langen Reihe immer neuer Unterordnungen
fort, so dass es nachher ein langer Weg ist und ein weiter Zwischenraum,
über den man nach der übrigen Masse des Satzes zurückspringen
muss; ausserdem ist damit durch die Häufung des s und r ein störender
Misslaut verbunden. Bis ins sechzehnte Jahrhundert wusste man diesem
Uebelstande mehrfacher genitivischer Bekleidung durch eine eigenthümliche
Wortstellung zu begegnen: man fieng mit dem entferntesten Genitiv
an und schloss mit dem regierenden Substantiv, so dass man mit dem
letzten Worte der Reihe wieder in den Verband des Satzes eintrat.
Z. B. „Daʒ nieman dâ enrêrte der kinde bluotes einen trahen,“ Konrad
v. Würzburg Silv. 1081. Noch bei Luther findet sich diese Wortstellung:
„Zeuch in Mesopotamien zu Bethuels, deiner Mutter Vaters Haus“,
1 Mos. 28, 2. „Sie nahmen auch mit sich Lot, Abrams Bruders Sohn“,
1 Mos. 14, 12. „Da kam des Hohenpriesters Mägde eine“ Marc. 14, 66.


Das Gleiche gilt auch von Infinitiven mit zu, die ja meistentheils
genitivische Verhältnisse ausdrücken; es ist nicht gut, einen vom andern
abhangen zu lassen. Und auch sonst vermeidet man die Unterordnung
gleicher präpositioneller Bekleidungen. Es ist mithin fehlerhaft,
wenn in einer Reisebeschreibung gesagt wird: „Wir stiessen auf zwei
auf den Wallfischfang ausgehende Schiffe; den 19. kamen die zwei
Wallfischfänger mit ihren mit Fischen beladenen Schiffen zurück.“
Auch die bekannte Cabinetsordre des Königs Ernst August von
Hannover verstösst gegen die Regel, wenn es darin heisst: „Die bei
dem Curatorio der, Unserm Herzen so theuern, Universität Göttingen
von sieben bei derselben angestellten Professoren: Dahlmann, Albrecht,
Jacob Grimm, Wilhelm Grimm, Gervinus, Ewald und Weber gegen
das, von Uns unterm 1. Nov. d. J. erlassene Patent eingereichte Protestationsschrift
vom 18. Nov. ist Uns vorgelegt worden.“ Noch schlimmer
steht es mit folgendem Satze: „Man hat es in Preussen, nach
Art. 1 der zu beleuchtenden Instruction, für zweckmässig erachtet,
vorläufig („bis auf Weiteres“ heisst es im Gesetz) ein permanentes,
in drei Vereine zur Beurtheilung von ─ an Schriftstellern und Verlegern
─ an Componisten von musikalischen Werken ─ endlich an
Urhebern von Werken der bildenden Kunst ─ verübten Rechtskränkungen
zerfallendes Sachverständigencollegium zur Begutachtung aller
in der ganzen Monarchie vorkommenden Fälle in der Hauptstadt niederzusetzen.“


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Wie bei einzelnen Worten, so gilt nun das Gesetz der Formveränderung
auch bei einer stufenweise immer tiefer steigenden
Unterordnung ganzer Sätze; Formgleichheit ist auch hier ein Fehler:
jeder untergeordnete Satz soll, wenn auch gleichartig, doch anders
gebaut sein als der ihm zunächst übergeordnete. Wenn also z. B.
ein indirect angeführter Gedanke von einem gleichfalls indirecten Satze
abhängig ist, so wird man den einen mit dem blossen Conjunctiv,
den andern mit dass bilden. Richtig sagt daher Forster: „Man sollte
denken, es verstünde sich von selbst, dass die Fähigkeit zu geniessen
auch eine Bestimmung dazu mit in sich schliesse.“ Fehlerhaft ist
dagegen der folgende Satz Wilh. von Humboldts: „Ich habe mich
bemüht zu zeigen, dass der Character der vollkommen gebildeten
Sprachen dadurch bestimmt wird, dass die Natur ihres Baues beweist,
dass es dem Geist nicht bloss auf den Inhalt, sondern vorzüglich auf
die Form der Gedanken ankommt.“


Wie hier bei Substantivsätzen, ebenso wird auch bei Adjectivsätzen
verfahren: von zwei einander untergeordneten Sätzen dieser
Art wird der obere mit welcher, der untere mit der eingeleitet oder
umgekehrt: z. B. „Wer kann die Zahl der Jahre berechnen, welche
die zahllosen Sonnen, die wir durch die Räume des Himmels verbreitet
sehen, bereits vollendet haben.“ Weicht man von dieser Regel
ab, so kann der Fehler leicht zum Unsinn werden, namentlich wenn
beide Relativpronomen auch noch im gleichen Casus stehn, wie in
der folgenden Zeitungsanzeige: „Ein Bedienter, der lange Zeit treu
und redlich einem Herrn gedient, der aber nun gestorben ist, sucht
ein anderweitiges Unterkommen.“


Auch bei gleichartigen Adverbialsätzen wird die Unterordnung
und Abstufung durch verschiedene, natürlich aber synonyme Fügewörter
oder sonst durch den Wechsel der Form bezeichnet; von zwei einander
untergeordneten Conditionalsätzen leitet man den einen mit wenn,
den andern mit falls ein, oder man braucht etwa auch die Form der
Frage oder des Befehls. So sagt z. B. Lessing: „Es ist immer rührend,
wenn auch der schwache abgelebte Nestor sich dem ausfordernden
Hector stellen will, falls kein jüngerer und stärkerer Grieche
mit ihm anzubinden sich getraut.“ Fienge hier der zweite Bedingungssatz
auch mit wenn an, so wäre die Ueberschaulichkeit gestört.
Fehlerhaft sagt also Jacobi: „Ich kann dir deine Frage beantworten,
wenn du glauben willst, dass ich es gut mit dir meine, wenn ich
dir einige unangenehme Wahrheiten sage.“ Hier war abzuwechseln
und das zweite wenn gegen indem zu vertauschen.

|#f0368 : 355|


Aber das Streben nach Formveränderung geht noch weiter. Nicht
bloss die Anhäufung gleicher Wendungen wird vermieden, sondern
sogar eine zu grosse Menge bloss ähnlicher. Es wird undeutlich,
sobald man mehrere gleiche präpositionelle Bekleidungen eine der
andern unterordnet; aber auch undeutlich, sobald überhaupt zu viele
präpositionelle Bekleidungen wiederkehren, wenn auch die Präpositionen
nicht die gleichen sind: diese Art der Bekleidung ist immer zu ähnlich,
und auch das verwirrt und stört. Beispiel: „Das Oel aus den
Oliven von den Bergen bei Aix in der Provence ist besonders fein.“
Oder noch fehlerhafter: „Am Donnerstag den 9. Mai fuhren der König
und die Königin von Griechenland nebst ihrem Gefolge in vier Vierspännern
vom Palais durch die Strassen der Stadt auf der neuen
trefflich ausgeführten Chaussée durch den Olivenwald über Daphni
und Eleusis durch das baumreiche Gebirge von Kontoura nach
Eleutherä.“


Ferner ist es, wie bemerkt, undeutlich, gleichartige Nebensätze
in gleicher Form einen dem andern zu subordinieren; aber man vermeidet
überhaupt eine zu grosse Reihe von Nebensätzen, deren je
einer sich dem andern immer wieder im Verhältniss der Unterordnung
anschliesst, sollte auch die Form wechseln und auch die Art der Verknüpfung
verschieden sein. Beispiel: „Kaum hatten sich die Römer
eine Strecke vom Lager entfernt, als der Angriff der Germanen mit
dem grössten Ungestüm begann, welcher, von stätem Ungewitter
begleitet, bis an den sinkenden Abend dauerte, wo die Römer abermals
eine lichte Stelle erreichten, auf welcher sich eine kleine
Anhöhe erhob, die eine römische Heeresabtheilung besetzte, welche
dabei unzählige Leute verlor.“ Hier haben wir zwar lauter verschiedene
Arten der Unterordnung; aber schon das immerfort wiederkehrende
Verhältniss der Unterordnung macht ein Glied der Periode dem
andern zu ähnlich und hebt durch diese Einförmigkeit in der Entwickelung
des Gedankens die rechte Ueberschaulichkeit desselben auf.


b) Wir wenden uns nun zur Besprechung des Ebenmasses in der
Stellung, fassen aber hier nur die Nebensätze ins Auge, und zwar
zunächst in ihrem Verhältnisse zu den Sätzen, denen sie untergeordnet
sind, sodann im Verhältniss zu andern beigeordneten und endlich im
Verhältniss zu andern weder über- noch beigeordneten Nebensätzen.


Unterordnung der Nebensätze unter andere Sätze. Adjectivsätze
und solche Substantivsätze, die nicht die Stelle des Subjects einnehmen,
pflegen in den übergeordneten Satz als Zwischensätze eingeschaltet
zu werden, indem sie dicht beim bekleideten Worte stehn:
z. B. „Die gewöhnliche Beschuldigung, dass in den Zeiten des Faustrechtes |#f0369 : 356|

alle andern Rechte verletzt und verdunkelt werden, ist sicherlich
falsch“ (Joh. v. Müller). Doch trennt man wohl auch dergleichen
Erweiterungen von dem Worte, auf das sie sich beziehen, und lässt
den Nebensatz erst hinter dem Hauptsatze folgen: z. B. „Wo ist die
Kraft, die mit dem Geiste verglichen werden könnte, der diesen
Körper beseelt?“ (Schiller). Diese Stellung erhält der Nebensatz
besonders dann, wenn nach ihm nur ein kleiner Theil des Hauptsatzes,
vielleicht nur ein einsilbiges Wort übrig bliebe. Hier lässt
man des Ebenmasses und auch des Wohlklanges wegen lieber den
ganzen Hauptsatz beisammen. Es ist mithin nicht gut, wenn Wieland
sagt: „Die Christen standen allen Verführern, welche den Geist ihres
Meisters zu heucheln und die Stimme des guten Hirten nachzuäffen
wussten, bloss.“


Zu weit aber darf der Nebensatz auch nicht von dem bezüglichen
Worte des Hauptsatzes abliegen; besonders wenn andere Worte dazwischen
treten, auf die man ihn nun fälschlicher Weise beziehen könnte,
wie das in den folgenden Beispielen der Fall ist: „Nû nam der zwelver
iegeslich zwelf tûsent ritter zuo sich, die ich dâ vor hân genant“,
Strickers Karl 51b. „Der Maler N. malt Bildnisse zu den billigsten
Preisen, die in jeder Beziehung als gelungen dürfen bezeichnet werden.“
Namentlich dürfen zu Appositionen verkürzte Adjectiv- und Adverbialsätze
nicht zu weit von ihrem Substantiv abliegen, und an die
Spitze des Hauptsatzes dürfen sie nur dann gestellt werden, wenn sie
das Subject mit demselben gemein haben. Mithin ist es nicht richtig
zu sagen: „Tiefgebeugt von dem unerbittlichen Schicksal, entriss mir
der Tod meinen geliebten Mann“ (statt: verlor ich durch den Tod u. s. w.).
Oder: „Noch betrübt über das Hinscheiden unserer Schwester, raubte
uns der Tod abermals unsern Bruder“ (statt: Während wir noch betrübt
waren u. s. w.).


Noch zweierlei ist über die Zwischensätze zu bemerken: sie dürfen
nicht zu lang sein, und es dürfen ihrer nicht zu viele in einander
geschoben werden. Lange Zwischensätze sind überall ein Uebel: je
länger ein Zwischensatz sich ausdehnt, desto ferner tritt der Inhalt
und Zusammenhang des übergeordneten Satzes, und zuletzt verliert
man ganz den leitenden Faden. Wo aber dieser Uebelstand nicht zu
vermeiden ist, und dergleichen kommt oft genug vor, da kann man
die Deutlichkeit am besten dadurch retten, dass man, sobald der
Zwischensatz abgethan ist, den übergeordneten Satz entweder wirklich
von Neuem beginnt, oder doch mit einer kurzen Rückdeutung auf das
bereits Dagewesene fortsetzt. Ein althochdeutsches Beispiel und
zugleich einen Beleg für den Barbarismus des elften Jahrhunderts bietet |#f0370 : 357|

Willirams Erklärung des Hohen Liedes 33, 26: „Ih gescaffo daʒ die
keisere unte die cuningâ unte andere werltvurston die nu sizzent in
demo hêrstuole, unte sie wider dir superbiunt mit liste unte mit grimme
alse die pardi unte die lewon, daʒ sie adorabunt vestigia pedum
tuorum.“ Was dann ferner die Einschaltung von Nebensätzen in Nebensätzen
anbelangt, so muss man sich besonders hüten, den zweiten
Nebensatz gleich hinter dem Fügeworte des ihm übergeordneten ersten
einzuschalten: es muss jedesmal wenigstens auch schon das Subject
da gewesen sein, damit man doch einigermassen etwas von dem Inhalt
des oberen Nebensatzes in Händen habe und dadurch befähigt sei,
das Verhältniss beider Sätze zu einander aufzufassen und zu beurtheilen.
Es ist also falsch, wenn Wilh. von Humboldt sagt: „Es genügt,
wenn, da der Geist immer unbewusst danach verfährt, er für jeden
einzelnen Theil einen solchen Ausdruck findet, der ihn wieder einen
andern mit richtiger Bestimmtheit auffassen lässt,“ eine Periode, die
gegen die Regel fehlt, welche sie selber ausspricht. Bei einer solchen
Behandlung der Nebensätze wird die Periode ungefüge und unverständlich,
und es ist beständiger Anlass gegeben zu sogenannten
Anacoluthien, zu fehlerhaften Constructionsveränderungen. So ist es
z. B. ein gewöhnlicher Fehler, Nebensätze, welche durch einen temporalen,
causalen oder conditionalen Zwischensatz unterbrochen sind,
nachher so weiter zu führen, als wären sie selbst unabhängige Hauptsätze.
Z. B. „Klopstock hat sich gewisse Gegenstände der Religion
so eingedrückt, dass, wenn er im Laufe der Erzählung oder der
Betrachtung auf sie geräth, so verweilt er dabei und bricht in Empfindungen
aus, die bei dem Leser nicht genug vorbereitet sind.“ Aehnliche
Beispiele in Luthers Bibelübersetzung: 1 Kön. 9, 8; 2 Kön. 4, 10;
18, 21; Jes. 36, 6; Luc. 16, 26; Joh. 11, 22. 31; Röm. 3, 19; Hebr. 13, 23.
In der alten Sprache kommen dergleichen steife Satzgebäude nicht
vor: entweder erlaubte man sich eben noch Anacoluthien, man beschloss
den Satz anders, als er begonnen war, z. B. „Sô werdent dîne doctores
quasi botri vineae, wante sie iro auditores, die sie zêrist ziehent mit
lacte historiae, sô sie ieht robustiores sensibus werdent, sô trenchent
sie se mit vino mysteriorum“, Williram 65, 4; oder man pflegte da
den zweiten Nebensatz voranzustellen, z. B. „Tô kebôt er, sie nerûmdin
Ravenna êr demo tagedinge daʒ er in legeta, daʒ man sie under ougôn
zeichendi“ (im Antlitz brandmarken sollte), Boeth. 23.


Die Einschaltung von Nebensätzen in Nebensätzen ist besonders
dann ein Uebelstand, wenn sie stufenweise immer weiter schreitet,
wenn in den eingeschalteten wieder einer eingeschaltet wird u. s. f.,
so dass man zuerst eine Reihe von lauter Satzanfängen, dann eine |#f0371 : 358|

zweite Reihe von lauter Satzschlüssen hat, und die Periode aussieht,
wie ein Pack Schachteln, von denen eine in der anderen steckt. Beispiel
jene Bekanntmachung einer preussischen Behörde: „Der, der den,
der den den 25. August noch stehenden Laternenpfahl umgeworfen
hat, kennt, ist ersucht, ihn gehörigen Orts anzuzeigen.“ Oder: „Die
Gesetze der Schwere, wie sie Newton und andere grosse Astronomen,
welche dadurch einen Ruhm, der bis in die Ewigkeit dauern wird,
erlangt haben, aufstellten, sind jetzt allgemein bekannt.“ Der gleiche
Fehler kommt schon innerhalb einfacher Sätze vor, bei einzelnen
Worten, indem man gleichartige Bekleidungen eine der andern u. s. f.
unterordnet und je eine in die andere hineinschiebt; z. B.: „Man meldet
noch die Verhaftung von zwanzig jungen Leuten, die eingestanden,
dass sie zu einem von einem vor einem Monat getödteten Diener des
Herrn von Mesnard befehligten Haufen gehört hätten.“


Ebenmass in der Stellung beigeordneter Satzglieder und Nebensätze.
Einander beigeordnete einzelne Satzglieder werden der Regel
nach neben einander gehalten, eine Regel, die wenigstens in der
Prosa nicht darf ausser Acht gelassen werden. Ein auffallendes Beispiel
von Verletzung dieser Regel bietet eine Periode Wilh. von Humboldts,
wo das eine Prädicat in die Mitte zwischen mehrfache Subjecte
gestellt ist: „Durch einzelne Bilder der Phantasie den Geist auf einen
hohen und weitumschauenden Standpunct zu führen, ist die schöne
Bestimmung des Dichters, vermittelst durchgängiger Begrenzung seines
Stoffes eine unbegrenzte und unendliche Wirkung hervorzubringen,
durch Ein Individuum einer Idee Genüge zu leisten, und von Einem
Puncte aus eine ganze Welt von Erscheinungen zu eröffnen.“ Wie
mit einzelnen Satzgliedern, so verhält es sich auch mit ganzen beigeordneten
Nebensätzen. Sie müssen immer neben einander stehn,
entweder vor oder nach dem Hauptsatze oder in denselben eingeschaltet;
sie dürfen nie durch ihn getrennt werden. Eine merkenswerthe Freiheit
der alten Sprache ist es, Perioden, die aus einem zusammengesetzten
Vordersatz und einem Nachsatz bestehn, so zu bauen, dass
der Nachsatz mitten inne zwischen die beiden Theile des Vordersatzes
eingeschoben wird. Dergleichen findet sich noch bei Luther: „Nun ich
alt bin, soll ich noch Wollust pflegen, und mein Herr auch alt ist“,
1 Mos. 18, 12. „Und der noch nicht ist, ist besser, denn alle beide,
und des Bösen nicht inne wird, das unter der Sonne geschieht“, Pred.
Salom. 4, 3.


Ebenmass in der Stellung ungleichartiger Nebensätze. Nebensätze,
die nicht in derselben Beziehung zum Hauptsatze stehn, die also nicht
einander beigeordnet, die aber auch nicht einer dem andern untergeordnet |#f0372 : 359|

sind, dürfen nicht neben einander gestellt, sondern diese
müssen durch den Satz, der ihnen übergeordnet ist, oder durch ein
Stück desselben getrennt werden. Mit Recht sagt also Wieland:
„Immer wird viel Behutsamkeit von Nöthen sein, damit wir den Menschen,
indem wir ihnen Gutes zu thun glauben, nicht Schaden zufügen,
wenn unsere Arznei noch schlimmere Wirkungen thut, als das
Uebel ist, dem wir abhelfen wollen.“ Falsch ist es dagegen zu sagen:
„Wird der Geist sichs nicht mit der frohesten Zuversicht sagen, dass
er sich unversehrt und frei in die höhern Verbindungen hinüber retten
wird, deren Mitglied er schon ist, sobald ihn der Tod von der Erde
vertreibt?“ Hier sollte der Adjectivsatz (deren Mitglied er schon ist)
unmittelbar dem Worte angereiht werden, zu dem er gehört.


c) Das rechte Ebenmass in der Verknüpfung der Periodenglieder
wird dadurch erreicht, dass man ein Hauptgesetz beobachtet, nämlich
diess, die Verknüpfung nicht bloss nach dem Inhalt, sondern auch
nach der Form der bezüglichen Sätze und Satztheile zu gestalten:
richtet man sich bloss nach dem Inhalt, so wird man leicht und oft
gegen die Grammatik, gegen die Regel der Richtigkeit verstossen;
richtet man sich nach der Form, so ist damit, weil ja die Form den
Inhalt in sich schliesst, meistens zugleich auf den Inhalt Rücksicht
genommen, und man kann nicht wohl fehlen.


Wir wollen hier wiederum die Beziehung von Satz auf Satz mit
der von Wort auf Wort zusammenstellen.


Was zuerst diese betrifft, so gilt es jenem allgemeinen Gesetze
gemäss für einen Fehler, wenigstens jetzt und in der ausgebildeten
Schriftsprache für einen Fehler, auf ein Wort hinzudeuten, das selber
gar nicht vorkommt, sondern nur implicite in einem andern enthalten
ist, einem andern davon abgeleiteten oder damit zusammengesetzten.
Dergleichen Fehler finden wir jedoch bei den besten Schriftstellern
der ältern wie der neuern Zeit. So sagt z. B. Schiller: „Tilly erschien
in der Mitte des Winters an der Spitze von 20000 Mann vor Frankfurt
a/O., wo er sich mit dem Ueberrest der Schaumburgischen Truppen
vereinigte. Er übergab diesem Feldherrn die Vertheidigung Frankfurts
mit einer hinlänglich starken Besatzung.“ „Niowiht ne ist hârlôs
noh zanelôs âne daʒ siu haben solta unde aber ne hât“, Aristot. Org. 336.


So darf man denn auch keinem zusammengesetzten Substantiv
eine Bekleidung beigeben, die nur auf den ersten Theil dieser Zusammensetzung
geht. Dagegen fehlt namentlich die Sprache des gewöhnlichen
Lebens; aber auch die ältere Zeit bietet Beispiele: „dirre geladen
wagenman“, Glosse zum Sachsenspiegel 2, 59; „schone wiphurre“ LB.
14, 215, 26. Unrichtige Bekleidungen eines zusammengesetzten Substantivs |#f0373 : 360|

mit einem Genitiv sind z. B. die Todesnachricht Napoleons,
ein Beförderungsmittel guter Sitten, Sittengemälde der Völker, Reinigungsdienst
der Strassen, Zeichenlösung der Hunde (Basler Kantonsblatt),
das wirksamste Verlängerungsmittel des menschlichen Lebens
(Titel eines Buches von Zwierlein, Frankfurt 1817). Falsch sind ferner
folgende präpositionell vermittelte Bekleidungen: Reisegelegenheit nach
Zürich, Vorbereitungszeit auf die Ewigkeit; Pflichterfüllung gegen das
Vaterland, Reisebeschreibung während der Ferien, Eisenbahnconcession
bis Basel, Reisetagebuch durch Deutschland, Reiselust nach Riesenheim
(Chamisso, LB. 2, 1660, 10), Russlands und Deutschlands Befreiungskriege
von der Franzosenherrschaft (Titel eines Buches von
Venturini, Leipzig 1816). Am häufigsten und bei der noch grösseren
Unmittelbarkeit der Verbindung noch auffälliger sind adjectivische
Bekleidungen zusammengesetzter Substantiva wie: wohlriechender Wasserfabricant,
beinerner Knopfmacher (Basler Kantonsblatt), gedörrter
Obsthändler, zahlreicher Familienvater, schwarze Hühnereier (Kreutzwalds
und Löwes Estnische Märchen S. 34), ausgestopfte Thierhändlerin,
aufgelöste Klosterjungfrauen, höchst gefährliche Reisebeschreibung
zu Wasser und zu Land, billige Verkaufsanzeige, verwahrloste
Kinderanstalt, gegenseitige Hilfsgesellschaft, reitende Artilleriecaserne,
todtgeborene Kindersärge, weisser Sclavenmarkt, Taverniers vierzehnjährige
Reisebeschreibung, aetherische Oelfabriken, roher Seidenhändler,
harte Strafanwendung (Augsb. Allgemeine Zeitung), toller Hundsbiss,
alter Weibersommer, Lieder für arme Kinderanstalten (Knapp),
kurzer Aufenthaltsort, goldenes Hochzeitsgeschenk, spanische Schuldinhaber,
unverzinsliche Vorschusscasse, physikalischer Instrumentenmacher,
wollener Strumpfweber, fortschreitendes Bewegungsprincip,
körperlicher Bildungsunterricht, rothe Schneckenbrühe, kleines Kindergeschrei,
kleine Fingerspitze, französische Pensionsanzeige, gezogenes
Geschützsystem, indianische Feigenhecke, gegenseitige Versicherungsgesellschaft
gegen den Hagel, rother Weintrinker, wilder Schweinskopf,
schwarze Kaffetasse, bittre Mandelseife, blödsinniger Kinderarzt
u. s. w. Einiges, was ganz und gar derselben Art ist, ist so üblich
geworden, dass wir uns daran nicht mehr stossen, sondern alle Welt
es gebraucht, als wäre nun das in vollkommener Ordnung: z. B.
Deutsche Sprachlehre, griechische Litteraturgeschichte, bairische Bierbrauerei,
königlich bayerische Oberaufschlagsamt-Controleurs-Wittwe,
schwarzer und rother Adlerorden, Verein für ältere Geschichtskunde,
Lebensbeschreibung Karls des Grossen, Stundenverzeichniss des Gymnasiums,
grober Sünder u. s. w. Man sieht, was die Gewohnheit
macht.

|#f0374 : 361|


Eben jenes Gesetzes wegen ist endlich auch Rücksicht zu nehmen
auf Geschlecht und Zahl der Worte: man darf auf ein Neutrum wieder
nur in neutraler, auf einen Singular wieder nur in singularischer
Form zurückdeuten. Zuweilen widerstreitet aber doch die grammatische
Form zu sehr der Wirklichkeit und dem concreten Begriff: da
gewinnt denn im weiteren Gange der Rede das natürliche Geschlecht
alsbald auch das Uebergewicht, wenigstens wo man nicht gar zu
pedantisch sprechen will. Es werden also z. B. Weib, Fräulein, Mädchen,
Frauenzimmer, Kind, Väterchen, Mütterchen im weiteren Verlaufe
als feminina oder masculina verstanden und dem entsprechend
persönliche Singulare von collectivem Sinn als Plurale. Z. B. „Die
Menge, die dich zerstreuen, werden so viele sein als ein dünner Staub“,
Jes. 29, 5. „Dô sand ein rât nâch im, und muotetent im an in ze
sagen“ u. s. w. Justinger 78. „Eine falsche Zunge hasset, der ihn strafet“
Sprüche 26, 28. „Ein Mädchen schön und wunderbar. Sie war nicht
in dem Thal geboren“ (Schiller). Dergleichen Veränderungen von genus
und numerus nennt die griechische Grammatik synesis (d. h. Zusammentreffen,
Zusammenfliessen), die lateinische constructio ad sensum.


Eben jenes Grundgesetz nun und eben solche Freiheiten in der
Beobachtung desselben walten auch bei der Verknüpfung ganzer Sätze.
Namentlich kommen hier die zusammengezogenen Sätze in Betracht.
Verbundene, nämlich durch eigentliche Bindewörter verbundene Sätze
können nur dann zusammengezogen werden, d. h. es ist nur dann
erlaubt, den Begriff oder die Begriffe, die sie mit einander gemein
haben, bloss einmal auszusprechen, sobald diese Begriffe nicht nur
dem Inhalte, sondern auch der grammatischen Form nach mit einander
übereinstimmen und so in beiden Beziehungen wirklich beidemal
dieselben sind. Es genügt z. B. nicht, dass in zwei verbundenen
Sätzen der Begriff Herr bloss dem Inhalte nach vorhanden sei: er
muss auch, wenn auf diesem Puncte die Zusammenziehung vor sich gehn
soll, in beiden Sätzen gleiche Form haben, in beiden Subject oder in
beiden Object sein. Man darf also nicht sagen: „Das erst ist die vollkommene
Freiheit, einen Herrn weder zu haben noch zu sein“ (statt:
weder einen Herrn zu haben, noch ein Herr zu sein). Es darf aber
auch nicht umgekehrter Weise zwar die Form beidemal die gleiche,
aber der Inhalt ein verschiedener sein, wie z. B. in folgenden Perioden:
„Den älteren Sohn hatte der Fürst verloren und nur den jüngeren
noch am Leben.“ „Der Spaziergang erstreckt sich der ganzen Länge
des Seeufers nach, nimmt aber schon um vier Uhr ein Ende.“


Ungenauigkeiten kommen namentlich bei der Zusammenziehung
verbundener Nebensätze vor. In der älteren Sprache findet sich dergleichen |#f0375 : 362|

von aller Art, aber auch die neuere, selbst in der Feder der
besten Schriftsteller, ist nicht frei davon. Wenn z. B. zwei Nebensätze
gleiches Fügewort haben, dieses aber in verschiedenem Casus steht,
so sollte es eigentlich beidemal ausgesprochen werden. Göthe setzt
in diesem Falle das Fügewort nur einmal, nur im Beginn des ersten
Nebensatzes, z. B. „Dieses Anerbieten, das ich für kein leeres Compliment
halten durfte und für mich höchst schmeichelhaft war, lehnte
ich jedoch dankbarlichst ab.“


Ein anderer häufiger Fehler ist der, dass man von zwei verbundenen
Adjectivsätzen den zweiten nicht mit dem Fügewort, dem pronomen
relativum, einleitet, sondern statt dessen ein pronomen personale
oder demonstrativum einschaltet. Beispiel: „Die Gesellschaft ward
unterwegs von Seeräubern überfallen, die sie anfangs zwar nach einem
kurzen Gefechte zurücktrieben (Synesis), bei dem zweiten Anfalle
aber von ihnen überwunden wurden“ (statt: von denen sie aber u. s. w.),
Fischer, Geschichte des t. Handels 1, 259. Oder: „Hier lag ein Dorf,
dessen Namen ich zwar nicht kannte, mich aber wohl erinnerte schon
früher in demselben gewesen zu sein“ (statt: in dem ich mich aber
u. s. w.). „Um der Sünde willen Jerobeams, die er that und damit
Israel sündigen machte“, 1 Könige 15, 30.


Noch ärger ist es, wenn der zweite Nebensatz eigentlich dem
ersten untergeordnet sein sollte, aber doch mit demselben zusammengezogen
und nur das Fügewort dieses ersten ausgesprochen wird, als
ob sie einander beigeordnet wären und das Fügewort gemein hätten.
So z. B.: „Hier befand sich der Käfig des Vogels, in welchem dieser
die Nacht zuzubringen pflegte, bei Tage aber frei nach Nahrung umherflog“
(statt: während er bei Tage u. s. w.).


So viel von der Ueberschaulichkeit; wir haben nur die wichtigsten
Regeln besprochen und die, gegen welche am häufigsten gefehlt wird.


Nächst der Ueberschaulichkeit, die theils durch Hervorhebung
einzelner, theils durch Ebenmass aller Glieder bezweckt und hervorgebracht
wird, verlangt man von einer Periode auch noch Wohlklang;
es stellt sich damit neben jene mehr materiellen Forderungen noch
eine ganz und gar formelle.


Wohlklang wird aber gleich der Ueberschaulichkeit gefordert, um
der letzten und hauptsächlichen Aufgabe willen, die jede prosaische
Darstellung zu erfüllen hat, um der verständigen Deutlichkeit willen,
und um die Ueberschaulichkeit zu unterstützen. Denn die Sinne haben
auf die Seele, der sie das äusserlich Wahrgenommene und Empfundene
mittheilen, eine so entschiedene Einwirkung, und Lust oder Unlust
der Sinne befördern oder stören so sehr die Seelenthätigkeit, dass |#f0376 : 363|

auch eine sprachliche Darstellung, welche dem Gehör wohlgethan hat,
leichter verstanden, leichter überschaut, leichter reproduciert wird als
eine, die das Gehör durch Missklang verletzt.


Also auch Wohlklang wird von einer Periode gefordert, und auch
dieser nur um der Deutlichkeit willen. Dabei sind aber Wohlklang
und Wohllaut nicht zu verwechseln. Der Wohllaut beruht auf der
Wahl und der Mischung der einzelnen Vocale und Consonanten; darauf,
dass stärkere und schwächere, hellere und dunklere Vocale, härtere und
weichere, schwerere und leichtere Consonanten mit einander abwechseln;
dass sich nicht derselbe Laut zu viel Mal hinter einander wiederhole,
ausser wo es etwa ausdrückliche und wohlbegründete Absicht ist und
dergleichen. Indessen das sind Dinge, die den Bau der Periode gar
nichts angehn, sondern die nur bei der Wahl der einzelnen Ausdrücke
und zum Theil auch nur für den dichterischen Stil in Betracht kommen;
überhaupt aber möchte es schwer sein, und gradezu verwegen
wäre es, darüber umfassende Regeln geben zu wollen: denn wer
könnte dabei all die Besonderheiten der Sprechenden und der besprochenen
Gegenstände vorsehen, auf die doch nothwendig müsste Rücksicht
genommen werden? Will man hier eine Regel geben, so ist es
etwa nur diese ganz allgemeine: Denke richtig und gieb jedem Begriff
den angemessenen Ausdruck: es liegt in der Sprache eine solche
Nothwendigkeit der Form, eine so innige Beziehung zwischen Form
und Inhalt, dass alsdann die Worte sowohl für sich als in ihrer Verbindung
mit andern grade den rechten Laut und Wohllaut haben
werden.


Vom Wohllaut also, der auf der Wahl und Anordnung der einzelnen
Vocale und Consonanten beruht, ist nicht weiter zu reden,
sondern vom Wohlklang.


Der Grund des Wohlklangs aber liegt in einer anderen Seite der
sprachlichen Gestaltung, im Ton, im Accent; nicht in den Lauten,
sondern in der Betonung, welche sie begleitet; nicht in irgend einem
Wechsel vocalischer und consonantischer Laute, sondern in dem Wechsel
höherer und tieferer Töne, also in der rhythmischen Gliederung der
Accente. Und das geht wirklich die Periode in ihrer Gesammtheit,
geht wirklich den Bau derselben an und unterliegt auch sehr wohl
einer Berechnung und Bestimmung durch feste Regeln.


Der Grundrythmus der deutschen Sprache ist der trochäische, er
besteht in dem Wechsel von betonten und unbetonten, von hochtonigen
und tieftonigen Silben, von Hebungen und Senkungen: das Wort rathen
z. B. enthält eine betonte und eine unbetonte Silbe, rathsam eine
stärker und eine schwächer betonte, eine hochtonige und eine tieftonige. |#f0377 : 364|

Diess Verhältniss ist natürlich, weil es eine Grundregel der deutschen
Sprache ist, dass auf die erste Silbe eines Wortes der höhere oder
der einzige Ton fällt; hievon machen nur Composita eine Ausnahme.
Den einzelnen Worten können wir nun auch hier wieder die Sätze
parallel gegenüber stellen. Wie die einzelnen Worte trochäisch sind,
so ist auch der Rhythmus des einfachen Satzes und der Periode ein
trochäischer: auch der Satz beginnt mit einem gehobenen Gliede und
endigt mit einem gesenkten; er kann mithin als ein einziger Trochäus
aufgefasst werden. Dieser trochäische Rhythmus zeigt sich schon bei
dem einfachsten Satze. Jeder Satz beginnt, wenn er die gewöhnliche
Wortfolge hat, mit dem würdigsten Worte, dem Subject und dem
Verb, und schliesst mit dem minder bedeutenden. In dem Satze:
„Gott lenkt die Welt“ bilden das Subject und das Verb die Hebung,
das Object die Senkung. Wenn aber ein anderes Glied als das
Subject den Hauptton hat und die höchste Würde anspricht, so
darf das Subject nicht an der Spitze des Satzes bleiben, es tritt eine
Hauptinversion ein, wodurch wiederum der trochäische Rhythmus hergestellt
wird: z. B. „Also hat Gott die Welt geliebt“; hier ruht auf dem
ersten Worte der Hochton; der Schluss des Satzes ist tieftonig. Eine
Ausnahme von dieser allgemein gültigen Regel machen bloss die
Fragesätze: hier ist der Rhythmus des Satzes ein iambischer, die
Stimme erhebt sich am Ende desselben um anzuzeigen, dass der
Gedanke unvollständig sei; die Senkung soll erst durch die Antwort
hinzugefügt werden. Abgesehen von dieser einen Ausnahme liegt die
Senkung immer am Schlusse des Satzes. Es ist daher ein Fehler
nicht bloss gegen die Ueberschaulichkeit, sondern auch gegen den
Rhythmus, wenn man, wie wir schon früher (S. 356) gesehen haben, einen
Satz durch Zwischensätze unterbricht, dass nur ein kleiner Theil übrig
bleibt: z. B. „Welche Verantwortung ladet man sich auf, wenn man
die Einsicht der Oberen zu unverdienten Nachlässen, womit nach einer
nothwendigen Folge Andere wieder beschwert werden, verleitet.“ Das
letzte Wort erhält auf diese Weise einen höhern Ton, als ihm eigentlich
zukommt, und der Rhythmus des Satzes wird jambisch.


Die allgemeine Regel vom trochäischen Rhythmus spiegelt sich
auch in der Gestaltung einzelner Satzglieder zurück: höher betonte
Glieder treten vor die tiefer betonten. Das Substantiv z. B. ist wichtiger
als das zu seiner Bekleidung dienende Adjectiv. Nun setzt freilich
die heutige Sprache das Adjectiv vor das Substantiv, so dass
jambischer Rhythmus entsteht; die alte Sprache verfuhr umgekehrt,
sie setzte das Adjectiv gern hinter das Substantiv, ein Gebrauch, der
in der dichterischen Sprache auch jetzt noch häufig genug ist. Umgekehrt |#f0378 : 365|

verhält es sich mit der genitivischen Bekleidung eines Substantivums:
während jetzt der Genitiv seinen Platz meist hinter dem bekleideten,
regierenden Substantiv hat, stellte ihn die ältere Sprache
vorzugsweise vor dasselbe, wie diess noch in vielen Zusammensetzungen
zu sehen ist, z. B. Freundesdienst, Kindespflicht, Liebeslied,
Andachtsbuch.


Besonders deutlich zeigt sich das Streben nach trochäischem
Rhythmus da, wo mehrere von einander abhangende Verbalformen
einen Satz beschliessen. Nach der strengen Wortfolge sollte man
also z. B. sagen: „Der Fromme glaubt nicht, dass ihn Gott verderben
lassen wollen werde.“ Zwischen den vier letzten Worten ist aber kein
trochäisches Verhältniss mehr, sie bilden vielmehr einen Päon primus
(_ ‿ ‿ ‿). Wie nun dieser Fuss auch da, wo es auf rhythmische
Zusammenstellung von Silben ankommt, im Deutschen wegen der
Aufeinanderfolge von drei unbetonten Silben unmöglich ist, so duldet
man auch nicht jenen Päon von Worten, sondern man stellt sie so
um, dass der Satz trochäischen Schluss erhält und sagt: „Der Fromme
glaubt nicht, dass ihn Gott werde wollen verderben lassen.“


Von der rhythmischen Gestaltung des Satzes im Allgemeinen unterscheidet
sich wesentlich die rhythmische Anordnung der einzelnen Silben.
Diese gehört zur Technik der Poesie, wo schöne Form verlangt
wird. In der deutschen Poesie überwiegt bei weitem der jambische
Rhythmus, und es beruht hierauf eben auch die Verschiedenheit von
der Prosa. Diese, als der unmittelbare Ausdruck des Verstandes,
bleibt bei dem trochäischen Rhythmus stehn, und in demselben Grade,
als die Poesie das Widerspiel gegen die Prosa zu halten trachtet, wird
in dieser Alles vermieden, was in die poetischen Rhythmen hinüberspielen
könnte. Aber auch der trochäische Rhythmus darf in der Prosa
nur im Ganzen und Grossen vorkommen, und es gilt als ein Fehler,
wenn in einem Satze Silbe für Silbe Hebung und Senkung mit einander
wechseln, wenn die einzelnen Worte Trochäen bilden, wie etwa
in folgendem Satze: „Wenn wir immer glücklich und zufrieden leben
wollen, müssen wir vor allen Dingen nicht so viel bedürfen.“ Oder
bei Wieland: „Die Streitigkeiten mussten unvermerkt den Geist der
Liebe, der Eintracht ersticken, der aus allen Gemeinden einen einzigen
Leib, deren Seele Christus wäre, hätte machen sollen.“


Nicht minder falsch ist es, wenn die Prosa in dactylischen Rhythmus
verfällt: z. B. „Grünende Matten und blühende Bäume wechseln,
so weit man das Auge sendet;“ oder wenn man in Jamben hinein
geräth, was da besonders häufig ist, wo man sich aus der Abhandlung
in das Gebiet der Rede oder aus der Erzählung in das der Poesie |#f0379 : 366|

verliert. Dergleichen findet sich nicht selten in Schleiermachers Monologen,
bei Achim von Arnim und namentlich in Gessners Idyllen.


Aus rhythmischen Gründen sind auch die mehrmaligen Wiederholungen
ähnlicher Wendungen zu vermeiden; sie erzeugen leicht einen
widrigen Gleichklang. Insbesondere gilt diess von der Anhäufung
mehrerer Genitive, von der Construction eines Infinitivs mit zu hinter
einem Infinitiv mit zu, von der Einschaltung eines Zwischensatzes in
einen andern Zwischensatz. Auch mehrere gleichgebaute Hauptsätze
auf einander folgen zu lassen, ist ein Fehler, weil dadurch der gleiche
syntactische Rhythmus wiederholt wird. Eine Ausnahme hiervon ist
nur dann gestattet, wenn ein innerer Parallelismus der Sätze stattfindet,
namentlich wenn die Gedanken eine Klimax bilden. Mit vollem
Recht sagt daher Lessing: „Einen elenden Dichter tadelt man gar nicht,
mit einem mittelmässigen verfährt man gelinde, gegen einen grossen
ist man unerbittlich.“ Wo aber kein derartiges Verhältniss waltet, vermeidet
man die Gleichmässigkeit: man lässt lieber eine materielle
Steigerung eintreten und giebt dem letzten Theil eine grössere Ausdehnung:
z. B. „Der Dichter soll zwar die Einbildungskraft anregen,
aber nicht so, dass er die Vernunft zerrütte; er soll den Witz schärfen,
aber nicht so, dass die geselligen Tugenden leiden; er soll die Liebe
besingen, aber nicht so, dass wir ihren Ausschweifungen oder gar
ihren natürlichen Ausartungen Beifall zollen.“


Es fragt sich nun, wie sich die im Vorhergehenden besprochene
Regel auf Vordersatz und Nachsatz anwenden lasse. Vordersatz und
Nachsatz einer Periode werden als Hebung und Senkung gesprochen;
im erstern steigt die Stimme, im letztern fällt sie, sinkt sie herab.
Und das mit vollem Rechte. Der Nebensatz ist der Auszeichnung und
Hervorhebung wegen vorangestellt und trägt darum auch den Hauptton,
während der Hauptsatz die Senkung bildet. Dieses Verhältniss
erklärt sich durch Vergleichung mit den zusammengesetzten Substantiven:
da bildet der zweite Bestandtheil die Grundlage des Ganzen;
der erste Theil aber, der jenen nur näher bestimmen hilft, trägt den
Hochton, z. B. Kirchthurm. So erhält denn auch der Nebensatz, der
durch eine Hauptinversion zum Vordersatz geworden ist, den stärkern
Ton, während der Nachsatz in die Senkung fällt. In diesem Verhältniss
findet auch das Gesetz seine Erklärung, dass man Nachsätze nicht
gern aus mehreren an einander gereihten Gliedern bestehn lässt; denn
es ist unschön, wenn die Senkung einer Periode aus mehreren Theilen
besteht, so dass sich gleichsam ein dactylischer Rhythmus ergiebt.
Darum ist folgende Periode von Fr. H. Jacobi nicht mustergiltig: „Wenn
sich der Andrang übler Laune dir verkündigt, wenn die Miene, die |#f0380 : 367|

Bewegungen eine feindliche Stimmung des Gemüthes verrathen wollen,
wenn sich eine Neigung zu beleidigen und zu kränken der Seele
bemächtigt, so gewinne es dann wenigstens über dich, die Scene, die
dich umgiebt, in Gedanken zu verändern; lege die Personen, die du
verletzen möchtest, in das Grab, wo du nichts mehr gut machen
kannst.“ So fehlerhaft es ist, mehrere gleich gesenkte Sätze neben
einander zu stellen, so tadellos ist es dagegen, wenn von den mehreren
Gliedern des Nachsatzes je eines einem Gliede des Vordersatzes
parallel läuft: in diesem Falle sind gewissermassen zwei Perioden in
einander geschoben. Beispiel: „Wenn wir auch Alles betrachtet haben,
was die Natur uns zeigt, wenn wir auch Alles genossen haben, was
sie uns darbietet, wenn wir auch Alles geleistet haben, was in ihrem
Gebiete sich thun lässt, unser Durst nach Erkenntniss ist noch lange
nicht gestillt, wir sehnen uns nach mehr Wahrheit und Licht, unser
Wunsch nach Wohlsein ist noch lange nicht befriedigt; wir schmachten
nach einem höhern Genuss; unserm Triebe nach Vollkommenheit ist
noch lange nicht Genüge geschehen; er kennt ein höchstes Ziel, er
strebt nach unendlichem Fortschritt“ (Reinhard). In solchen Perioden
besteht der Nachsatz nicht aus mehreren zusammengehörigen Senkungen,
sondern je einer Hebung des Vordersatzes stellt sich eine Senkung des
Nachsatzes gegenüber. Gegen Perioden mit mehrgliedrigem Vordersatze
ist nichts einzuwenden, wie denn auch eine mehrfache Hebung keine
Bedenken erregt, wie eine mehrfache Senkung; der Rhythmus einer
solchen Periode entspricht dann dem Antibacchius (_ _ ‿) oder dem
Epitritus quartus (_ _ _ ‿). Auch hiefür ein Beispiel von Jacobi:
„Dass mein Geist das Unendliche denkt, dass er in diesem Gedanken
eine Seligkeit fühlt, die weit über alle irdische Grösse hinausgeht,
dass eben diese Seligkeit, wenn ich ihren Quellen nachspüre, mit der
Reue über das Verschwinden des sinnlich Grossen so eng zusammenhängt,
alles das beweist, dass nicht die eng begrenzte Welt die Heimath
meines Geistes ist.“ Auf solche Weise gewinnt nun freilich der
Vordersatz durch die Mehrzahl seiner Glieder ein starkes Uebergewicht
über den Nachsatz; er würde denselben ganz erdrücken, wenn man
diesen nicht durch den Inhalt, durch die Kraft des Gedankens stärkte:
ja grade die Kürze des Nachsatzes kann zur Verstärkung des Gedankens
und zur Ausgleichung des Uebergewichtes dienen. Vgl. LB. 2,
762, 10─33. Fehlt es dem Nachsatze an einem solchen Gegengewichte
durch die Inhaltsschwere des Gedankens, so kann er sich dem mehrgliedrigen
Vordersatze gegenüber nur durch die Masse, den Reichthum
an Worten und Nebensätzen u. s. f. behaupten. Beispiel: „Ist Jemand
in einer löblichen Freiheit, umgeben von schönen und edeln Gegenständen, |#f0381 : 368|

im Umgang mit guten Menschen aufgewachsen, haben ihn
seine Meister das gelehrt, was er zuerst wissen musste, um das
Uebrige leichter zu begreifen, hat er gelernt, was er nie zu verlernen
braucht, wurden seine ersten Hoffnungen so getrübt, dass er das Gute
kräftig, leicht und bequem vollbringen kann, ohne sich irgend etwas
abgewöhnen zu müssen: so wird dieser Mensch ein reineres, vollkommeneres
und glücklicheres Leben führen als ein Anderer, der seine
ersten Jugendkräfte im Widerstand gegen den Irrthum zugesetzt hat.“


Wenn endlich die Glieder einer Periode nicht im Verhältniss von
Vordersatz und Nachsatz stehn, wenn sie einander beigeordnet sind,
so kann von jenem rhythmischen Gesetze nicht die Rede sein. Bei
der Verbindung von Hauptsätzen durch und, oder u. s. f. bildet jedes
Glied der Periode ein rhythmisches Ganzes für sich: z. B. „Wünsche
können ohne Kraft und ohne Talente sein: aber nie sind Kraft und
Talente ohne Wünsche.“ Hier bildet die Periode einen Ditrochäus
(_ ‿ _ ‿), jedes Glied derselben hat eine Hebung und eine Senkung.
Bei so gestalteten Perioden fallen denn auch für den zweiten Theil
die Beschränkungen weg, die sonst für den Nachsatz gelten: hier
erregt die Mehrgliedrigkeit keinerlei Bedenken: z. B. „Gott ist die
Liebe; also können wir ihm uns und unser Schicksal ruhig übergeben;
also dürfen wir nicht ängstlich für die Zukunft sorgen.“


2. DER STIL DER EINBILDUNG.


Wir gelangen nunmehr zu der zweiten Gattung des Stils, die
wir im Anschluss an einen altüberlieferten Sprachgebrauch auch den
mittleren Stil nennen mögen. Die bisher besprochene erste Gattung,
der niedere Stil, dient den Mittheilungen des Verstandes, deren Gegenstand
die Wahrheit, deren Zweck die Belehrung ist: demgemäss ist
die characteristische Eigenschaft des niederen Stils die Deutlichkeit,
Deutlichkeit sowohl in der Wahl der Worte als in deren Anordnung;
diese verständige Deutlichkeit zum Behuf der Belehrung duldet keine
anderen Worte als die eigentlichsten, seien das auch zugleich die
unsinnlichsten, und keinen anderen Rhythmus als den, welcher der
Sprache von Natur eigenthümlich ist, und auch diesen nur im Verhältniss
der Worte zu Worten, der Satzglieder zu Satzgliedern, nicht
aber der Silben zu Silben.


Bei der zweiten Stilgattung treten uns ganz andere Zwecke und
Mittel entgegen, ganz andere Merkmale und Forderungen. Hier liegt
als Gegenstand nicht unmittelbar das Wahre vor, sondern das Schöne, |#f0382 : 369|

das Wahre nur in so fern, als es zugleich und zu allervorderst schön
ist. Des Schönen kann sich aber die Seele nur bemächtigen, indem
sie es unter den Formen der sinnlichen Wirklichkeit anschaut; wogegen
das Wahre von diesen Grenzen nicht eingeschlossen ist. Die Seelenkraft
nun, die sich thätig zeigt, wo es das Gebiet der sinnlichen Wirklichkeit
gilt, ist die Einbildung, die Einbildung in ihren zwei sich
beständig durchkreuzenden und hilfreich ergänzenden Richtungen, der
Phantasie und der Erinnerung: als Erinnerung entspricht sie dem Verstande,
insofern er erfährt, als Phantasie, insofern er urtheilt. Es
handelt sich hier also um Darstellung und Mittheilung auf dem Grunde
der Einbildungskraft, um eine Production derselben auf Seiten des Darstellenden,
um eine Reproduction durch eben dieselbe auf Seiten des
Hörers oder Lesers. Diejenige sprachliche Darstellung nun, in welcher
die Einbildung zur Einbildung spricht, heisst Poesie. Es liegt jedoch nicht
die gesammte Poesie in dem Gebiete der Einbildung: an einer Gattung
derselben hat, wie das früherhin (S. 120. 319) ist ausgeführt worden, das
Gefühl vorwaltenden Antheil, an der Lyrik: somit bleiben uns zunächst
für unsere jetzige Betrachtung nur die beiden anderen Hauptgattungen,
das Epos und das Drama, das Epos, welches das Vergangene als
vergangen erzählt, das Drama, welches das Vergangene als gegenwärtig
darstellt. Soll aber diess Vergangene in seiner rechten sinnlichen
Wirklichkeit gestaltet erscheinen und wiedergestaltet werden
können, so muss die Art und Weise der Darstellung anschaulich sein,
und es ist, wie vom prosaischen Stile des Verstandes Deutlichkeit
gefordert wird, das characteristische Erforderniss für den poetischen
Stil der Einbildung die Anschaulichkeit.


Also Anschaulichkeit. Da gelten jedoch eine nähere Bestimmung
und eine Einschränkung. Die Anschaulichkeit ist zwar das characteristische,
ist das wesentliche und hauptsächliche Erforderniss des poetischen
Stils, aber keinesweges das einzige und ausschliessliche. Wenn
die Poesie auch zunächst und hauptsächlich auf der Einbildung beruht,
so hat doch auch der Verstand an ihren Schöpfungen einen gewissen
Antheil, zwar einen untergeordneten und mehr negativen, insofern er
nur ordnet und wehrt und zügelt, aber doch immer einen Antheil.
So nun auch in der Art und Weise der poetischen Darstellung, im
poetischen Stil: Anschaulichkeit für die Einbildung ist freilich die
Hauptsache: aber darum sind die Rechte des Verstandes, ist die
Deutlichkeit nicht ausser Augen zu lassen: sie macht sich immer
noch geltend, wenn schon in zweiter Linie, mehr implicite als
explicite, und bei der einen Art des poetischen Stils mehr als bei
der anderen.

|#f0383 : 370|


Wir haben nämlich schon früher (S. 321) innerhalb dieser mittleren
von den drei Hauptgattungen des Stils wiederum drei Arten unterschieden,
eine niedere, eine mittlere und eine höhere Art. Als niedere
Art haben wir die komische, als mittlere die epische, als höhere die
tragische Poesie hingestellt. Von diesen drei Arten zeigt nur die
mittlere, nur die Epik, das Gesetz der Anschaulichkeit in seiner reinsten
und am mindesten beschränkten Geltung: die Epik ist eine so
unverkümmerte Schöpfung der Einbildungskraft, wie sonst keinerlei
Dichtung, und es werden deshalb die einzelnen Bemerkungen, mit
denen wir jenes allgemeine Gesetz weiterhin zu entwickeln haben,
sich vorzüglich und meistentheils auf die epische Poesie beziehen.
Die komische und die tragische dagegen liegen jede an einer Grenze
des Uebergangs: bei jener übt noch der Verstand, bei dieser schon
das Gefühl einen sehr merkbaren Einfluss sowohl auf die Anschauung
als auf die Art und Weise der Darstellung. Denn in der komischen
Poesie ist die Anschauung von Spott, in der tragischen von Wehmuth
begleitet; in der komischen geräth der Verstand, in der tragischen
das Gefühl mit der Wirklichkeit in Widerspruch. Somit wird denn
auch der Stil der komischen Poesie Vieles in sich aufnehmen müssen,
was sonst dem deutlichen Stil des Verstandes zukommt, und der Stil
der tragischen Poesie Vieles, was sonst dem leidenschaftlichen Stil
der Lyrik eigenthümlich ist, freilich stäts in demselben Masse untergeordnet,
als auch bei der ersten dichterischen Schöpfung selbst Verstand
und Gefühl untergeordnet sind.


Unter diesen dreigliedrigen Stufengang von Komik, Epik und
Tragik, wie er in dem Wesen der Poesie selbst organisch begründet
ist, vertheilen sich dann auch noch einige eigenthümliche Zwitterarten
von Poesie, die entweder auf Seiten der Schöpfung poetisch, auf Seiten
der Darstellung aber prosaisch sind, oder umgekehrt auf Seiten
der Production prosaisch, auf Seiten der Darstellung dagegen poetisch.
Es ist diess einmal der Roman, d. h. das Epos in prosaischer Form,
es sind diess ferner die verschiedenen Arten der didactischen Epik,
d. h. der prosaischen Lehre des Verstandes in epischer Form, es ist das
endlich der lehrhafte Dialog und der lehrhafte Brief, d. h. wiederum
prosaische Lehre auch in prosaischer Form, aber doch nach Art des
Dramas abgefasst. Von diesen drei Zwitterarten mag man den Roman
seitwärts neben das eigentliche Epos stellen: denn er kann, was den
Stil betrifft, beinahe Alles mit diesem theilen, wenn man nur absieht
von der rhythmischen Anordnung der Worte; die lehrhafte Epik
dagegen und der Dialog und der Brief gehören nur zu der niederen
Art des poetischen Stils, die an der Grenze der Prosa liegt, und |#f0384 : 371|

greifen noch um vieles mehr als die komische Poesie rückwärts hinüber
in das Gebiet der blossen verständigen Deutlichkeit.


Wir wollen jetzt jenes allgemeine Gesetz der Anschaulichkeit mit
Rücksicht auf die angedeuteten Einschränkungen des Näheren ausführen.


Anschaulichkeit wird durch zwei einander nah verwandte und in
einander fliessende Mittel erreicht, durch Sinnlichkeit und durch Lebendigkeit
des Ausdrucks: jene gilt für die Wahl der Worte, diese für
die Anordnung derselben.


Was nun zuerst die Sinnlichkeit in der Wahl der Worte betrifft,
so zeigt sich gleich hier der Unterschied der poetischen Darstellung
von der prosaischen auf das Schärfste und Bestimmteste und in den
mannigfaltigsten Beziehungen ausgeprägt. Die Prosa ist durch die
Aufgabe der Deutlichkeit überall auf die zunächst liegenden und auf
die gangbaren Worte angewiesen: sie giebt nirgend einen bildlichen,
nirgend einen uneigentlichen Ausdruck, sondern immer nur den ganz
eigentlich bezeichnenden und unbildlichen: sie lässt daher abstracte Begriffe
auch in der Art und Weise der Darstellung abstract; sie verschmäht
den Barbarismus, den Gebrauch fremder Worte nicht, insoweit er ein
wohlgeeignetes Mittel ist, eben abstracte Begriffe auch recht abstract zu
bezeichnen; sie vermeidet dagegen den Neologismus, da neugeschaffene
Worte gewöhnlich zu viel sinnliche Bildlichkeit besitzen und mithin mehr
die Einbildung als den Verstand ansprechen; sie vermeidet den Archaismus
und den Provincialismus, die Anwendung veralteter und mundartlicher
Wörter, weil diese nicht auf der gewohnten und gebahnten Strasse
der angenommenen Schriftsprache liegen. Das ist Alles anders in der
Poesie. Sie verschmäht das, worauf die Prosa ausgeht, und geht auf
dasselbe aus, was jene verschmäht. Ihr kommt es vor Allem auf das
Concrete an, auf sinnlichen Eindruck, auf sinnliche Fasslichkeit. Wo
sie abstracte Begriffe in sich aufzunehmen hat, werden dieselben auch
gleich durch irgend eine bildliche Wendung versinnlicht, werden sie
durch die Art und Weise der Auffassung und Darstellung zu concreten
gemacht. Alles, was unsinnlich ist, ist ihr auch zuwider: deshalb vermeidet
sie auch die fremden Worte überhaupt, besonders aber wiederum
die, welche abstracte Begriffe ausdrücken. Diese sind ihr doppelt
untauglich, einmal weil es Worte von abstracter Bedeutung, dann
weil sie in der Fremdheit ihrer Laute doch nur todte Zeichen für diese
Bedeutung sind: von intuitiver Perception und dergleichen kann ein
Dichter nicht wohl reden; andere Fremdworte mag sich die Poesie eher
gestatten, aber auch nur, sobald sie irgendwelche Sinnlichkeit und
Bildlichkeit mit sich führen, wie z. B. Legionen der Engel, wo die
Anspielung, die in dem fremden Begriff und Worte liegt, zur Versinnlichung |#f0385 : 372|

der grossen Zahl dient. Aus demselben Grunde, aus dem die
Poesie den Barbarismus verschmäht, aus demselben verschmäht sie auch
den Gebrauch der gar zu gangbaren und alltäglichen Worte: denn auch
diese haben, da ihr Gepräge sich im beständigen Umlauf abgeschliffen
hat, da man sich ihrer ursprünglichen Sinnlichkeit und Bildlichkeit
nicht mehr bewusst ist, auch diese haben nicht mehr jenen sinnlichen
Ausdruck und Eindruck, dessen der poetische Stil bedarf: sie werden
deshalb, wo es angeht, umgetauscht gegen minder gangbare, minder
abgeschliffene, und somit ist für die Poesie im Allgemeinen kein Fehler,
was für die Prosa einer ist, kein Fehler der Archaismus, keiner
der Neologismus, keiner der Provincialismus. Im Allgemeinen: denn
Einschränkungen gelten auch hier. Der Gebrauch provincieller, der
Gebrauch veralteter oder neu erfundener Ausdrücke steht der Poesie
natürlich nur in so fern zu, als er eben dem Zwecke der Sinnlichkeit
entspricht: sonst ist dergleichen hier eben so gut ein Fehler als in der
Prosa. Wenn man mit vielen unserer Dichter Ausdrücke wie Degen
und Recke wieder auffrischt, so ist damit eben nicht sonderlich viel
gewonnen, da die jetzige Zeit mit dergleichen Worten entweder gar
keine Anschauung verbindet oder eine falsche; sondern es müssen
Worte sein, deren Sinn und deren Sinnlichkeit auch auf dem Grunde
der jetzigen Sprache und der Schriftsprache etymologisch sogleich einleuchtet:
wo das nicht der Fall ist, so dienen sie nicht einmal zur
Deutlichkeit, viel weniger zur Anschaulichkeit.


Alles diess, was bisher als characteristische Eigenthümlichkeit des
poetischen Stils gegenüber dem prosaischen ist aufgezählt worden, hat
jedoch seine nächste Beziehung nur auf die mittlere und daran sich
schliessend noch für die höhere Art, nur für die Epik und die Tragik,
nicht aber auf die niedere und nicht auch auf die erwähnten Zwitterarten
von Poesie und Prosa. Der Roman z. B., wenn schon er ein
Epos nur in prosaischer Einkleidung ist, wird sich doch dieser seiner
prosaischen Einkleidung wegen mehr als das Epos vor gar zu ungewohnten
Worten zu hüten haben; der lehrhaften Epik wird man eher
als der reinen, eigentlichen Epik einen leblosen, abstracten Ausdruck
zu Gute halten; die Satire aber, das komische Epos und das komische
Drama, deren Sache der Spott und die Laune ist, bedürfen sogar,
um diesen Widerspruch gegen die Wirklichkeit wahrnehmbar auszudrücken,
häufig namentlich solcher Archaismen, die anderswo befremdlich,
ja fehlerhaft und verletzend wären. Ich erinnere beispielsweise
nur an die Jobsiade, diess komische, und an den Oberon, diess
ernsthaft gemeinte Epos: in der Jobsiade sind all die archaistischen
Wunderlichkeiten ganz prächtig an der Stelle, im Oberon nicht so: |#f0386 : 373|

aber das ist ja eben der grosse Fehler dieser Wielandischen Dichtung,
dass man fort und fort in neuen Zweifel geräth, ob dieses ernsthafte
Epos nicht vielmehr ein komisches sei.


Ganz dasselbe, was vom Archaismus, gilt von der Anwendung
und der Anwendbarkeit der Provincialismen, einzelner Provincialismen.
Es kommt aber auch vor, dass nicht bloss einzelne Provincialismen
eingemischt werden, sondern dass ein Gedicht seinem ganzen Verlaufe
nach, Wort für Wort ein einziger Provincialismus ist, dass es nämlich
ganz und gar in einer provinciellen Mundart abgefasst wird. Es
ist dagegen die practische, aus der Erfahrung hergenommene Einwendung
erlaubt, dass damit die Reproduction auf diese eine Provinz
eingeschränkt wird, wie man z. B. Hebels Gedichte in anderen Theilen
Deutschlands entweder gar nicht oder doch nicht recht versteht und
geniesst und deshalb sogar wiederholendlich ins Hochdeutsche übersetzt.
Und abgesehen hievon laufen Dichter, welche provinciell dichten,
eine zwiefache Gefahr, die sich beide mit Beispielen belegen
liessen. Entweder wird das Provincielle gesucht in Plattheit und
Niedrigkeit der Gedanken, Empfindungen und Worte, und diese Darstellungsweise
wird dann doch auf Gegenstände übertragen, die nicht
gemein und niedrig sind. Oder die Mundart wird über sich selbst
hinausgeschraubt und verfälscht, man gebraucht hochdeutsche Worte,
hochdeutschen Satzbau nebst der ganzen höheren Denk- und Empfindungsweise,
die durch solche Worte und Sätze verlangt wird, so dass
zuletzt nur die Laute mundartlich sind, alles Uebrige aber als ein
mundartlich ausgesprochenes Hochdeutsch erscheint. Diese zwei Klippen
werden nur selten vermieden; ganz vermieden wurden sie vielleicht
nur von Hebel und Usteri, die sich der alemannischen Mundart
bedienten. Sie zeigen aber, was sich auch schon a priori feststellen
liesse, dass die Mundarten nicht auf die höheren Arten der Poesie
anwendbar seien, sondern bloss auf die tiefer liegenden, namentlich
auf die niederen Arten der Epik und besonders auf das eigentliche
Idyll und was sonst idyllischen Character trägt: hier darf die Sprache
des Volkes wohl die angemessenste Kunstform scheinen für die Darstellung
des Volkes selbst in all seinem Denken und Handeln, und
die Laune, die in den niederen Dichtarten zu Hause ist, wird in der
Mundart einen noch viel grösseren Reichthum von Ausdrucksweisen
vorfinden als in der Schriftsprache. Und besitzt ein Dichter, wie
Hebel, nicht bloss Laune, sondern auch den höheren, edleren Humor,
so wird der gemüthliche Zwiespalt, der im Humor liegt, nur noch
viel eindringlicher und tiefer wirken, weil die Höhe und der Adel
in ein so alltägliches Volksgewand gekleidet ist.

|#f0387 : 374|


In Bezug aber auf die Barbarismen innerhalb der poetischen Rede
ist hier eine kleine litterar-historische Abschweifung zu machen. Das
Mittelalter, von den letzten Zeiten der römischen Litteratur, von deren
Verfall an gerechnet, kannte zwei Arten von Barbarismen im poetischen
Stil, zwei Arten, die aber nah zusammengrenzen und sich nicht
selten vereinigen. Beide Arten aber gestattete man sich gewöhnlich
nur da, wo man sie sich wohl gestatten durfte, wo sie sogar förderlich
erscheinen konnten, in komischen, in spöttischen Dichtungen,
zuweilen auch sonst, wiewohl ungehörig genug; aber auch für die
Komik waren beide doch ein etwas zu derbes Mittel, Lachen zu erregen:
daher sind sie denn auch in den letzten Epochen der Litteratur
wieder gänzlich verschwunden. Die eine Art bestand in dem Gebrauch,
bald mehr, bald weniger Worte einer fremden Sprache, ja ganze
Verse einer solchen in die sonst nationale Dichtung einzumischen.
Natürlich war die fremde Sprache nie eine ganz fremde, ganz unverständliche,
sondern eine, deren Kenntniss man wenigstens bei gebildeten
und gelehrten Lesern und Hörern voraussetzen durfte. So
mischt Ausonius (Epistol. 12. Epigram. 28. 32. 40) Scherzes halber
Lateinisch und Griechisch durch einander; so giebt es von Dante eine
ganz ernsthafte Canzone, die aus italiänischen, lateinischen und provenzalischen
Versen besteht, so von Lope de Vega Sonette, wo castilische,
lateinische, portugiesische und italiänische Verse mit einander
abwechseln. So endlich auch schon vom zehnten Jahrhundert an
deutsch-lateinische Gedichte; z. B. ein ernstes historisches Gedicht
des zehnten Jahrhunderts, dessen Verse abwechselnd lateinisch und
deutsch sind: „Nunc almus thero ewigun filius assis thiernun benignus
fautor mihi, thaʒ ig iʒ cosan muoʒi de quodam duce, themo heron Heinriche,
qui cum dignitate thero Beiaro riche bewarode“ u. s. f. LB.
14, 109 (15, 287); ein satirisches Lied, wahrscheinlich für fahrende Schüler,
aus dem zwölften Jahrhundert: „Audientes audiant! diu schande vert al
über daʒ lant“ u. s. w. LB. 14, 218 (15, 396. Carmina buran. 73 fg.); dann
wieder geistliche Lieder, z. B. ein Weihnachtslied, das gewöhnlich
dem Peter von Dresden (gest. 1440) zugeschrieben wird, aber schon
im vierzehnten Jahrhundert bekannt war und bis um das Jahr 1700
auch in protestantischen Gesangbüchern vorkommt: „In dulci jubilo nu
singet und seit fro! aller unser wonne leit in praesepio; sie leuchtet
vor die sonne matris in gremio; qui est a et o, qui est a et o“ LB.
14, 1177 (15, 1357). Endlich begegnet uns die Sprachmischung wieder im
sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert: besonders sind es Trinklieder,
die deutsch-lateinisch abgefasst wurden; Studenten sind wohl die
Dichter derselben, und wandernde Studenten mochten sie auch singen, |#f0388 : 375|

um eine Gabe zu erhalten, vgl. LB. 2, 131. 133. 224. Namentlich sind
von solcher Art die meisten unter den älteren Versuchen, die Hexameter
und Pentameter auch im Deutschen nachzubilden: allerdings
erleichterte man sich die Germanisierung der lateinischen Masse, indem
man dabei zahlreiche lateinische Worte brauchte; ausserdem that man
das auch und zuvörderst aus scherzhafter Absicht, wie nirgend zu
verkennen ist: z. B. die Unterschrift einer Strassburger Handschrift:
„Est pretium mihi krank, cum nihil (statt nil) dabitur nisi habdank.“
Oder: „Pringet humores Baccharach vinum meliores“, wie Fischart im
Gargantua (cap. 24) den medicinischen Denkspruch der Schola Salernitana
verarbeitet: „Gignit et humores melius vinum meliores“ (Regimen
sanitat. v. 47). Anderswo überwiegen in dergleichen Versen die deutschen
Worte; so z. B. wiederum bei Fischart: „Vier ding auss winden
veniunt, so ventre verschwinden (quatuor ex vento veniunt in ventre
retento, regim. sanit. v. 18); dan vinum saure klinglitum machet in
aure“ (ebrietas, frigus tinnitum causat in aure, reg. sanit. v. 234).


Die andere Art des Barbarismus führte diesen Muthwillen noch
um einige Schritte weiter. Nicht bloss fremde Worte und einzelne
Verse in fremder Sprache werden eingemischt, sondern die Worte der
Nationalsprache selbst werden mit ausländischen, z. B. die der deutschen
mit lateinischen Endungen versehen, so dass sie nun nach lateinischer
Weise abgeleitet erscheinen und nach lateinischer Weise decliniert
und conjugiert werden. Die ältesten Scherze der Art finden
wir wiederum bei Ausonius in derselben zwölften Epistel, wo lateinische
Wörter griechisch flectiert werden, z. B. V. 28: „ἔν τε φορῷ
causαῖς τε καὶ ingratαῖσι καθέδραις“ u. dgl. Späterhin taucht diese
Art erst in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts wieder
auf, in Italien und in Frankreich; dort zeichnete sich besonders Teofilo
de' Folenghi oder Folengo aus, oder wie er sich als Dichter zu nennen
pflegte, Merlinus Cocajus (1491─1544), hier Antonius de Arena.
Jener schrieb in latinisiertem Italiänisch, dieser in latinisiertem Französisch
allerlei komische, meist satirische Gedichte. Nun empfieng
diese Stilart auch ihren besondern Namen: nach dem Lieblingsgericht
der Italiäner macaronische Poesie. Noch im sechzehnten Jahrhundert
und so fort bis gegen das Jahr 1700 gab es viel der Art auch in
Deutschland. Fischart verkehrte und übersetzte in solch latinisiertes
Deutsch manche arzneiliche Denksprüche der Schola Salernitana; eines
der ältesten und berühmtesten macaronischen Gedichte ist die 1593
zuerst gedruckte Floia, die in latinisiertem Niederdeutsch abgefasst ist
und folgenden Titel führt: „Floia, cortum versicale, de flois schwartibus,
illis deiriculis, quae omnes fere Minschos, Nonnas, Weibras, |#f0389 : 376|

Jungfras etc. behuppere, et spitzibns suis schnaflis steckere et bitere
solent; autore Gripholdo Knickknackio ex Floilandia.“ Dieses Gedicht,
das einen unbekannten Hamburger zum Verfasser hat, beginnt mit
folgenden Versen: „Angla floosque canam qui wassunt pulvere swarto
Ex watroque simul flectenti et blaside dicko, Multipedes deiri, qui
possunt huppere longe Non aliter quam si flöglos natura dedisset.
Illis sunt equidem, sunt, inquam, corpora kleina, Sed mille erregunt
menschis martrasque plagasque.“ Aus dem achtzehnten Jahrhundert
verdient hier noch ein macaronisches Hochzeitsgedicht hervorgehoben
zu werden: der Titel heisst: „Rhapsodia Versu Heroico-Macaronico ad
Brautsuppam in Nuptiis Butschkio-Denickianis praesentata a Scholae
Dresdensis Petri Alumno.“ Der Anfang lautet: „Lobibus Ehstandum
quis non erheberet hochis Himmlorum Sternis glänzentium ad usque
Gewölbos? und der Schluss: Quod superest, Glasum magnum Weinoque
gefülltum Rhenano laeti in sponsique suaeque salutem Brautae ausstechamus!
De Tischo surgite, Pfeifri! Blasite Trompetas et Kessli
schlagite Paukas!“ Vgl. Litt. Gesch. S. 431. Kl. Schrift. 2, S. 44 fg.


So viel von diesen komischen Ausschweifungen des Barbarismus.
Jetzt wollen wir wieder in den graden Weg unserer Erörterungen
einlenken.


Die Sinnlichkeit, um deren Willen, wie wir gesehen, die Poesie
das Concrete dem Abstracten, das Bildliche dem Eigentlichen, das
Ungewöhnliche dem Gewöhnlichen vorzieht, muss jedoch eine durch
die Einbildung producierbare und reproducierbare sein und darf niemals
dem ersten und obersten Gesetze, dem ersten und letzten Ziele
aller Poesie, darf der Schönheit nicht widerstreiten; mag ein Wort,
mag eine Wendung noch so sinnlich sein, wenn die Sinnlichkeit nicht
innerhalb des Schönen bleibt, und sie nicht für die producierende
und reproducierende Einbildung taugt, so ists gefehlt. Nun ist die
Frage, welche Sinnlichkeit des Ausdruckes der producierenden und
reproducierenden Einbildung zustehe und welche nicht; welche über
die Schönheit hinausgehe, welche bei ihr bleibe. Die Antwort ergiebt
sich aus dem bekannten Unterschiede, den man macht zwischen
höheren und niederen, oder feineren und gröberen Sinnen. Höhere
Sinne sind das Gesicht und das Gehör, niedere Gefühl, Geruch,
Geschmack; Gesicht und Gehör darum höhere, weil sie die objectivere,
die bewusstere Wahrnehmung gewähren, wogegen die Wahrnehmungen
des Gefühls, des Geruchs, des Geschmackes minder rein und immer
mit unfreiwilligen subjectiven Empfindungen verknüpft sind. Gesicht
und Gehör, mit Unterschieden, die wieder zwischen ihnen beiden selbst
bestehn, nehmen Dinge, Thätigkeiten und Eigenschaften wahr; Gefühl, |#f0390 : 377|

Geruch, Geschmack nur Eigenschaften an Dingen. Gesicht und Gehör
nun, als die feineren und bewussteren, stehn auch allein den Eindrücken
des Schönen offen; für die anderen, für die niederen und
gröberen Sinne giebt es nichts Schönes: sie unterscheiden wohl zwischen
hart und weich, zwischen süss und bitter; zwischen schön und unschön
aber nicht. Gesicht und Gehör gehn auch allein in die Einbildung
über: man kann sich in der Stille der Seele ganz wohl einbilden und
man kann träumen, dass man etwas sehe oder höre; Gefühl dagegen
und Geruch und Geschmack bestehn nur in der groben und handgreiflichen
Wirklichkeit, in der Einbildung und im Traume dagegen
nicht, ausser etwa bei einem irgendwie krankhaften Zustande der
Seele oder des Leibes. Mithin giebt es für die Einbildungskraft keine
andere sinnliche Wahrnehmung als die des Sehens und des Hörens,
und wiederum sind es nur das Gesicht und das Gehör, für die es
ein Schönes und ein Unschönes, für die es auch eine Darstellung des
Schönen, eine Kunst giebt, nicht aber z. B. für die Zunge, und es
ist eine der ungeschicktesten Uebersetzungen gewesen, das griechische
αἴσθησις im Französischen mit goût, im Deutschen mit Geschmack
zu übersetzen und so nun von einem guten Geschmack in Kunstwerken
zu sprechen. Aus alle dem ergiebt es sich leicht und einfach, dass
in der poetischen Rede nur diejenige Sinnlichkeit des Ausdruckes
zulässig sei, die auf Gesicht und Gehör sich beruft und diese beiden
Sinne für die Einbildung in Anspruch nimmt, wogegen alle Sinnlichkeit,
die sich an Wahrnehmungen des Gefühls, des Geruches, des
Geschmackes wendet, untauglich ist für die Darstellung des Schönen
und untauglich für die schaffende Thätigkeit der Einbildungskraft.


Eben dieser Unterschied zwischen höheren und niederen Sinnen
ist es auch, auf den sich für die meisten Fälle der Unterschied zurückführen
lässt, den man zwischen edelm und unedelm Ausdruck zu
machen pflegt; ist ein Ausdruck nicht schon deshalb unedel, weil er
vielleicht einer plumpen oder sittlich unsaubern Art des Empfindens
angehört, so wird er es deshalb sein, weil er sich nur auf die niedern
Sinne gründet, die dem Schönen verschlossen sind, und die
nicht in die Einbildung übergehn. Man lehrt z. B., es sei unedel, die
beschneiten und bereiften Bäume überzuckert zu nennen; es ist aber
nicht wohl abzusehen, was hier das Edle und Unedle sollen, Begriffe,
die durchaus ethischer Natur sind; sagt man dagegen, der Ausdruck
sei unpoetisch oder geschmacklos, weil er sich auf den niedern Sinn
des Geschmackes beziehe, so wird man es richtiger aufgefasst haben.
So sei es auch unedel, wenn man von einem Thiere sage, es verrecke,
oder wenn man die Gebeine eines Verstorbenen nicht Gebeine |#f0391 : 378|

nennt, sondern Knochen. Sie sind aber nur darum verwerflich, weil
der Ausdruck verrecken die Vorstellung des Gestankes, der Ausdruck
Knochen auch entweder diese oder doch die des Schmeckens mit
sich führt.


Indessen keine Regel ohne Ausnahme. Mitunter können grade
solche niedrige sinnliche Worte wohl an ihrem Platze sein, und besser
am Platze, als andere es wären. Der herbe Spott, die bittere Ironie
können mitunter dergleichen gradezu fordern, können um die Schärfe
ihres Widerspruches recht herauszukehren, das eigentlichste, niedrigste,
unschönste Wort verlangen. Als Beispiel mögen zwei Gedichte dienen,
eins von Platen, eins von Chamisso, in denen beiden grade die angeführten
Ausdrücke verrecken und Knochen als letztes stärkstes Wort
vorkommen, und die beide viel von der Energie ihrer Bitterkeit verlieren
würden, wenn man diese Ausdrücke gegen sogenannte edlere
vertauschen wollte. Platen schliesst seinen Gesang der Polen mit den
Worten: „Aber einst aus meinen Knochen wird ein Rächer auferstehn“
(vgl. Virgil. Aen. 4, 625 exoriare aliquis nostris ex ossibus ultor);
und Chamisso endigt sein Gedicht „Der Bettler und sein Hund“ mit
folgender Strophe: „Er ward verscharret in stiller Stund; Es folgt'
ihm winselnd nur der Hund. Der hat, wo der Leib die Erde deckt,
Sich hingestreckt, und ist da verreckt“ LB. 2, 1676.


Abgesehen von dergleichen Ausnahmen, die jezuweilen eintreten
mögen, aus denen sich aber keine allgemein gültige Vorschrift ableiten
lässt, abgesehen davon muss die Sinnlichkeit des poetischen Ausdruckes
immer eine Sinnlichkeit für Auge oder Ohr sein. Auf dieselbe
Weise aber, wie Gesicht und Gehör über dem Gefühl, dem Geruch
und dem Geschmack stehn, auf dieselbe Weise steht das Gesicht
wiederum über dem Gehör, aus Gründen, deren vollständige Erörterung
hier zu weit und aus der Stilistik in die Physiologie und Psychologie
führen würde. Das Gesicht nimmt Dinge, Thätigkeiten und
Eigenschaften wahr, das Gehör nur Thätigkeiten und kaum Eigenschaften:
kurz das Gesicht nimmt in der Rangordnung der Sinne den
obersten Platz ein, und erst nach ihm kommt das Gehör. Diesen
Vorrang des Gesichts vor dem Gehör und gar vor den übrigen Sinnen
zeigt schon überall die Sprache darin, dass die meisten Ausdrücke
für sinnliche Wahrnehmungen überhaupt sich zurückleiten auf den
Sinn des Gesichts, von seinen Wahrnehmungen erst auf die der andern
Sinne übertragen sind. So heisst z. B. riechen eigentlich s. v. a. rauchen,
Duft s. v. a. Dunst, Nebel, beides also ursprünglich Wahrnehmungen
des Gesichts. Besonders aber pflegen die Vorstellungen, die
sich auf das Sehen und das Hören begründen, in das gleiche Wort |#f0392 : 379|

zusammenzufliessen, und in der Regel so, dass dabei ursprünglich vom
Sehen ist ausgegangen worden: so gelten z. B. hell und klar und
dunkel erstens von Farben und zweitens von Tönen, und wenn man
von hohen und niedern Tönen spricht, so sind dabei die Töne zuerst
gleichsam sichtbar gedacht worden. Vgl. J. Grimm, Kl. Schrift. 3, 302.


Diese höhere Würde des Gesichtssinnes zeigt sich wie in der
Sprache überhaupt, so nun auch im poetischen Stil. Alle Sinnlichkeit
des Ausdruckes ist, sobald man auf dessen inneren geistigen Gehalt,
auf die Vorstellung selber sieht, die ihm innewohnt, eine Sinnlichkeit
für das Gesicht; eine Sinnlichkeit des Ausdruckes für das Gehör aber
giebt es nur, insofern der äusserliche Klang, insofern bloss die Laute
und die Töne eines Wortes die Einbildungskraft in Anspruch nehmen.
Die Sinnlichkeit für das Gehör beruht also lediglich auf einer Malerei
mit Lauten und Tönen. Wir wollen das Wenige, was in Bezug hierauf
zu bemerken ist, gleich jetzt abthun, um erst dann die Sinnlichkeit
für das Gesicht abzuhandeln, die eine ausgeführtere Betrachtung
erfordert.


Malerische Nachahmung der Naturlaute ist allen Sprachen eigen,
wenn schon nicht, wie z. B. Herder gewollt hat, der erste Grund und
Anfang der menschlichen Sprache überhaupt bloss solche Nachahmung
ist. Worte wie brüllen und rollen, rasseln und prasseln, heulen und
murmeln enthalten allerdings nicht zufällig grade diese Consonanten
und diese Vocale. Abgesehen von solcher in der Sprache selbst schon
gegebenen Lautmalerei kann dieselbe auch mit bewusster Absicht noch
eigens gesucht werden, und in so fern hat dann auch die Stilistik
davon zu reden. Die Dichter verfahren mit den Lauten, auf deren
Darstellung sie ausgehn, in zwiefacher Weise. Entweder ahmen sie
dieselben nicht eigentlich nach, sondern nehmen sie lediglich in ihrer
unveränderten Gestalt selbst in das Gedicht mit herüber, so z. B.
Bürger in der Lenore: „Hurre, hurre, hopp hopp hopp“ und dergleichen.
Das kann man eigentlich nicht billigen: es ist bedenklich, ganze
Zeilen mit Worten auszufüllen, die nichts bedeuten, die sogar eigentlich
gar keine Worte, sondern bloss Laute sind und weiter nichts.
Andre und höher stehende Dichter haben sich dergleichen auch nicht in
den Sinn kommen lassen, ausser etwa im Scherze, wie z. B. Aristophanes
in den Vögeln, wo allerdings Strophen vorkommen, die beinahe ganz
aus τιὸ τιὸ τιοτίξ u. dgl. zusammengesetzt sind (V. 738 fgg.). Oder aber,
und dergleichen kommt mehr oder weniger bei allen Dichtern vor,
die gewählten Worte fügen sich in ihren Lauten und Tönen zu dem
Klange, der in der hörenden Einbildung des Dichters liegt, sie drücken
ausser dem Begriff, den sie enthalten, zugleich den Klang aus, der |#f0393 : 380|

das mit ihnen Dargestellte in der Wirklichkeit begleitet, sie stimmen
dazu in Vocal und Consonant und Accent, ohne jedoch irgendwelche
etymologische Beziehung darauf zu haben. So bei Voss im Siebzigsten
Geburtstage (LB. 2, 901, 33): „Näher und näher Kam das Gekling
und das Klatschen der Peitsch' und der Pferde Getrampel“; oder in
dem bekannten Verse Virgils (Aen. 8, 596): „Quadrupedante putrem
sonitu quatit ungula campum“: es ist nicht bloss der dactylische
Rhythmus, es ist vielmehr die Mischung der Laute k, kl, p, tsch bei
Voss, q p t bei Virgil, die das Getrappel der Pferde malerisch nachahmt,
malerischer und dichterischer als das bei Bürger der Fall ist.
Oder bei Ovid (Metamorph. 6, 376) von quakenden Fröschen: „Quamvis
sint sub aqua, sub aqua maledicere temptant“, wo die Malerei kunstreicher
ist, als wenn er etwa bloss das Wort coaxare oder auf Deutsch
quaken gebraucht hätte: denn coaxare, quaken bezeichnet eben nur
und unmittelbar das Schreien der Frösche selbst, quamvis und aqua
haben aber sonst und für sich gar nichts damit zu thun. Oder endlich
zwei Spassverse des berühmten Taubmann auf die Schwatzhaftigkeit
der Weiber: „Quando conveniunt Maria, Camilla, Sibylla, Sermonem
faciunt et ab hoc et ab hac et ab illa.“ Wir kommen später
noch einmal bei einer anderen Gelegenheit auf diese Lautmalerei
zurück. Vgl. Voc. var. animant. S. 21.


Jetzt ist zu reden von der Sinnlichkeit des Ausdruckes für das
Gesicht, von derjenigen Concretheit und Bildlichkeit der Vorstellungen,
zu deren genügender Auffassung, zu deren Production und Reproduction,
ein inneres, nur in der Einbildung ruhendes Sehen erfordert wird.
Andere Sinne mögen zuweilen auch hineinspielen und die Gesichtswahrnehmung
begleiten: aber sie thun das immer nur in untergeordneter
Stellung, und das Sehen bleibt jedesmal das Hauptsächliche und
Wesentliche. Natürlich haben wir hier diese sinnliche Ausdrucksweise
nur in so fern zu betrachten, als sie innerhalb der dichterischen Rede
an die Stelle der minder sinnlichen oder ganz unsinnlichen tritt, deren
sich unter gleichen Umständen die Prosa bedienen würde; wir sprechen
von derselben nur, insofern sie im Vergleich mit dem prosaischen
Stile die uneigentliche ist.


Da giebt es denn eine grosse Mannigfaltigkeit von Wendungen,
die schon von den griechischen Rhetoren in einzelne Gruppen vertheilt,
und jede mit ihrem besonderen Namen sind belegt worden,
je nach den verschiedenen Mitteln und Wegen, welche die dichterische
Anschauung und Darstellung einschlägt, um einem Ausdruck, um einer
Vorstellung eine über das Gewohnte hinaus belebte Sinnlichkeit zu
verleihen. All diese einzelnen Arten aber werden von den griechischen |#f0394 : 381|

Rhetoren, und nach ihrem Beispiel von den römischen und von den
modernen, wieder unter zwei grosse Hauptclassen vereinigt, werden
theils auf griechisch σχήματα, auf lateinisch figurae, theils τρόποι,
tropi genannt. Ueber die Gründe und Merkmale dieser Unterscheidung
lässt sich jedoch kaum ein einziger weder von den Alten noch
von den Neuen mit rechter Schärfe und Deutlichkeit vernehmen. Man
vergleiche darüber etwa Quintilian 1, 8 und 9, 1, der aber auch diesen
Gegenstand weder sich selbst, noch Anderen recht klar zu machen
weiss. Es kommt der Unterschied etwa auf Folgendes hinaus: bei
der Figur bleibt die Vorstellung selbst unverändert, und man giebt
ihr nur durch Umschreibung oder durch Hinzufügung anderer Begriffe
oder durch eine Vergleichung mehr Sinnlichkeit des Ausdruckes; beim
Tropus dagegen wird die zunächst liegende und eigentliche Vorstellung
selbst gegen eine andere vertauscht; die Figur verändert nur
den Ausdruck, nicht aber die Vorstellung: der Tropus die Vorstellung
und mit ihr den Ausdruck; bei der Figur liegt hinter dem uneigentlichen
Ausdruck immer noch der eigentliche, und beide sind durch
ein wirklich Ausgesprochenes oder auch Verschwiegenes gleichwie
mit einander verbunden: beim Tropus aber ist nur der uneigentliche
Ausdruck vorhanden, da ja die Vorstellung selbst uneigentlich
geworden ist. Bei der Figur ist die Vorstellung in sich dieselbe
geblieben und nur äusserlich anders gestaltet; darum der Name σχῆμα:
beim Tropus dagegen haben Vorstellung und Ausdruck beide die
eigentliche Stelle ganz verlassen und sich anderswohin gewendet und
gerichtet; darum der Name τρόπος. Es ist also z. B. eine blosse
Figur, wenn man sagt das blaue Meer, der silberne Bach: die Vorstellung
Meer und Bach bleibt, wird nur mehr versinnlicht durch das
Beiwort blau, silbern; sagt man dagegen anstatt Meer blaues Salz
oder anstatt Bach silbernes Band, so ist es ein Tropus, eine ungewöhnliche,
mehr sinnliche Vorstellung, welche die gewöhnliche, darum
minder sinnliche von ihrem Platze verdrängt. Ein so merklicher Unterschied
mithin allerdings besteht zwischen Tropen und Figuren, sobald
man die Sache im Grossen und Ganzen nimmt, so unbequem wird er
und so unpractisch, sobald man ihn in das Einzelne hinein weiter
ausführen will; oft genug wird man zweifeln, ob eine Ausdrucksweise
figürlich oder tropisch sei. Ein Beispiel dieser Art ist Himmelszelt:
das ganz eigentlich bezeichnende Wort Himmel ist hier noch mit beibehalten,
und in so fern ist es eine Figur; aber der Hauptbegriff
dieser Zusammensetzung ist das uneigentliche bildliche Wort Zelt, in
so fern ist es ein Tropus. Zudem kennt auch die producierende Einbildung
eines rechten Dichters diesen Unterschied nicht: ihr ist im |#f0395 : 382|

Grunde Alles Tropus, nicht blosse Figur, Alles ein innerer organischer
Wandel der Vorstellung, nicht bloss ein äusserer mechanischer des
Ausdruckes. Deshalb haben sich auch mehrere Rhetoriker um diesen
Unterschied gar nicht bekümmert, an ihrer Spitze Cicero, der beides,
Figur und Tropus, nur translatio nennt, Uebertragung. Wir aber wollen
den Unterschied festhalten und zuerst diejenigen sinnlichen Ausdrucksweisen
abhandeln, die man Figuren, dann diejenigen, die man Tropen
nennt, jedoch nicht festhalten, weil die Unterscheidung brauchbar und
richtig sei, sondern eigentlich nur im Sinne einer geschichtlichen
Notiz, um uns zu merken, was sonst Tropus und was Figur ist
genannt worden und gewöhnlich noch so genannt wird.


Ehe wir jedoch die Reihe der Figuren und der Tropen im Einzelnen
betrachten, sind zwei allgemeine Regeln und Bemerkungen
vorauf zu schicken, deren Zweck ist, auf Fehler aufmerksam zu
machen und davor zu warnen, in welche man hiebei nur zu häufig
verfällt.


Der erste Fehler ist die Ueberhäufung des Stils mit bildlichen
und uneigentlichen Wendungen, mit Figuren und Tropen. Sowie sich
Figur auf Figur, Tropus auf Tropus drängt, wird damit der Geist
des Zuhörers oder Lesers unverhältnissmässig in Anspruch genommen
bloss für die Darstellung, bloss für die Gestalt der poetischen Schöpfung,
er behält kaum noch Zeit und Kraft übrig, sich auch auf das Innere, auf
den eigentlichen Gehalt hinzuwenden. Und selbst an der blossen Aeusserlichkeit
kann die Einbildungskraft so keine rechte Freude gewinnen, und
gar dem Verstande wird die ihm stäts noch gebührende Mitwirkung
erschwert und verkürzt. Denn führt man durch eine Reihe von Gedanken
eine ebenso lange Reihe von zusammenhangenden und gleichmässigen
Bildlichkeiten durch, so ermattet die Einbildungskraft zuletzt in der Anschauung,
und dem Verstande wird es leicht je mehr und mehr unklar,
was denn eigentlich gemeint sei; wechselt man aber mit den Bildlichkeiten,
und bringt jeder neue Gedanke auch eine neue, von den früheren
ganz verschiedene, so wird die Einbildung zerstreut und in sich selbst zersplittert,
und für den Verstand erwächst nun erst die rechte Undeutlichkeit.
In dem unablässigen Hin- und Herwerfen erreicht die eine wie
die andere Kraft keine ruhige, feste, sichere Auffassung weder des
Einzelnen noch des Ganzen. So einleuchtend dieser Fehler des Uebermasses
der Bildlichkeiten ist, so sehr er die einheitliche Production
und Reproduction des Dargestellten beeinträchtigt, so häufig ist er
dennoch, häufig gewesen und noch heut zu Tage. Es können ihn
allerlei Umstände veranlassen. Bei den Einen ist er genau betrachtet
nur die Folge des stilistischen Bewusstseins, womit sie ihre Darstellung |#f0396 : 383|

figürlich und tropisch verzieren.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Metapher als sprachimmanentes Phänomen. Rhetorikbezug vorhanden. Sie wissen: was ich jetzt schreibe,
ist eine Synecdoche

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Abgrenzung Synekdoche als Parallelkategorie. Metapher als sprachimmanentes Phänomen. Rhetorikbezug vorhanden. , und diess eine Metonymie

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Metapher als sprachimmanentes Phänomen. Rhetorikbezug vorhanden. , und diess eine Metapher,
und da ist es denn zu natürlich, dass ihnen diese ihre Gelehrsamkeit
einen übeln Streich spielt. So ist es namentlich mit den meisten
römischen Dichtern, auch denen des sogenannten goldenen Zeitalters,

[Annotation] Textebene Primärliteratur, negatives Beispiel exemplarisch. Nennung. Quellenangabe Personengruppe. Rhetorikbezug vorhanden. Anmerkung: Quellenangabe Personengruppe: Die römischen Dichter des goldenen Zeitalters
z. B. auch mit Virgil

[Annotation] Textebene Primärliteratur, negatives Beispiel exemplarisch. Nennung. Quellenangabe Person nn. Rhetorikbezug vorhanden. Anmerkung: Quellenangabe Person Virgil . Die Philologen gewahren zwar diesen Fehler
gewöhnlich nicht, oder wollen wenigstens nicht zugeben, dass es ein
Fehler sei; und diese Verblendung ist bei ihnen ebenso natürlich, als
es bei ihren Autoren der Fehler ist: denn grade wie es diesen von
der Rhetorenschule her eine Freude war,

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Metapher als sprachimmanentes Phänomen. Rhetorikbezug vorhanden. den Vers mit einer Synecdoche

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Abgrenzung Personifikation als Parallelkategorie. Metapher als sprachimmanentes Phänomen. Rhetorikbezug vorhanden.
zu beginnen und mit einer Metonymie

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Abgrenzung Metonymie als Parallelkategorie. Metapher als sprachimmanentes Phänomen. Rhetorikbezug vorhanden. zu schliessen und mitten
hinein noch eine Metapher zu setzen, grade so ist es nun auch den
modernen Auslegern eine gar grosse Freude, die Synecdoche

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Abgrenzung Synekdoche als Parallelkategorie. Metapher als sprachimmanentes Phänomen. Rhetorikbezug vorhanden. , die
Metonymie

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Abgrenzung Metonymie als Parallelkategorie. Rhetorikbezug vorhanden. , die Metapher zu erkennen und zu erklären. Wie bei
jenen lateinischen Dichtern, ebenso und nach ihrem Muster auch bei
den meisten deutschen Dichtern des siebzehnten Jahrhunderts. Auch
hier eine endlose Fülle von Figürlichkeiten, und auch hier nur als
Folge von Pedanterei und Gelehrtthuerei.

[Annotation] Textebene Primärliteratur, negatives Beispiel exemplarisch. Nennung. Quellenangabe Personengruppe. Rhetorikbezug vorhanden. Anmerkung: Quelle: die deutschen Dicher des siebzehnten Jahrhunderts Und nicht bloss die Dichter
waren damals in dieser Unart befangen: sie ergriff auch die Prosa,
ja sogar die Umgangssprache des gewöhnlichen Lebens, und hier war
es ein doppelter und dreifacher Fehler. Eine ergötzliche Probe davon
und ergötzlicher Spott darüber findet sich in einem dialogischen Tractat
von Joh. Balthasar Schupp, Der teutsche Lehrmeister, LB. 3, 1,
764─767 (wo zugleich auch der unnütze Purismus spöttisch gemacht
wird).

[Annotation] Textebene Sekundärliteratur, positiv aufgreifende Bewertung. Nennung. Quellenangabe Person Aeschylus. Quellenangabe Werk nn. Metapher als sprachimmanentes Phänomen. Rhetorikbezug vorhanden. Anmerkung: Schupp, der teutsche Lehrmeister, Unterscheidung prosaisch-poetisch???


Bei andern liegt der Grund und Anlass tiefer, und die Ueberfülle
des bildlichen Schmuckes rührt davon her, dass die Einbildung sich
dem Verstande untergeordnet, oder aber davon, dass sie dem Verstande
nicht Recht genug eingeräumt hat. So z. B. Jean Paul. Seine
Schriften strotzen von bildlichen Wendungen: aber diese sind beinahe
alle nicht sowohl Erzeugnisse der Einbildung als des Witzes; nicht
der Einbildung, sonst würden sie wohl um der Anschaulichkeit willen
seltener sein, sondern des Witzes, der überall das Gleiche herausfindet,
unbekümmert darum, ob es auch der Einbildung möglich sei,
ihm überall hin zu folgen.

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. Nennung. Quellenangabe Person nn. Rhetorikbezug vorhanden. Anmerkung: Jean Paul, Überfülle als negative Bewertung? Oder ein mittelhochdeutscher Dichter,
Wolfram von Eschenbach. Auch hier Uneigentlichkeit und Bildlichkeit
im Uebermass; auch hier dieselbe, in vielen Fällen wenigstens,
ein Ergebniss des hin und her fahrenden Witzes, noch öfter aber und
gewöhnlich der ungezügelten Einbildung selbst, die kühn und beweglich
und unterstützt von einer Sprachgewalt und Sprachgewandtheit,
wie sie nur wenigen Dichtern verliehen ist, nach allen Seiten hin in |#f0397 : 384|

das Gebiet der sinnlichen Anschauungen greift.

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. Nennung. Quellenangabe Person nn. Metapher als vorsprachliches Phänomen. Anmerkung: Wird Wolfram von Eschenbach bewertet? Werden kognitive/semantische Aspekte der Metapher thematisiert? Oder endlich, um
noch ein drittes Beispiel zu nennen, Tacitus. Obgleich ein Historiker,
obgleich also ein Prosaiker, hat Tacitus dennoch nicht die eigentliche
Darstellungsweise, die sonst für die Geschichtsschreibung characteristisch
ist und von ihr gefordert wird: er drückt vielmehr wo möglich
Alles uneigentlich oder doch ungewöhnlich aus, es ist bei ihm beinahe
Alles Figur oder Tropus oder grenzt doch an das eine und das
andere. Aber hier hängt an dieser Art des Stils kein Schulstaub:
hier ist sie das nothwendige Ergebniss des fortdauernden Kampfes
zwischen einer Einbildungskraft, die Alles mit poetischer Energie sinnlich
anschaut, und einem schneidend scharfen Verstande, einem vom
tiefsten Ingrimm erregten sittlichen Gefühl, eines Kampfes, wobei all
jene Anschaulichkeiten zu keiner einheitlichen Ruhe und Objectivität
gelangen können.

[Annotation] Textebene Primärliteratur, positives Beispiel. Nennung. Quellenangabe Person nn. Rhetorikbezug vorhanden. Anmerkung: Rhetorikbezug bei Tacitus? Tacitus Stil ist der Widerschein des in ihm ungelösten
Gegensatzes zwischen Dichter und Politiker: eine Seite stört
die andere in der Ausbildung der rechten Form: eben deswegen ist
sein Stil, wie der Wolframs, wie der Jean Pauls, Manier. Vgl. S. 315.


Der zweite Fehler, von dem wir zu sprechen haben, hängt mit
dem ersten nah zusammen und ist, wo er vorkommt, gewöhnlich nur
eine Folge desselben: es ist die Katachrese, κατάχρησις, zu deutsch
Missbrauch, d. h. die Anwendnng ganz verschiedener Bildlichkeiten
innerhalb eines und desselben Gedankens, so dass im ersten Worte
die Einbildung rechts, im zweiten links hin gezogen wird.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Abgrenzung Synekdoche als Parallelkategorie. Z. B. „Lass
nicht des Neides Zügel umnebeln deinen Geist.“ Zügel des Neides
und den Geist umnebeln, jedwedes für sich ist ein ganz gutes, anschaulich
passendes Bild: aber in dieser Weise vereinigen lassen sie sich
nicht, da es Anschauungen von der bestimmtesten Verschiedenheit
sind.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene exemplarisch. Abgrenzung Synekdoche als Parallelkategorie. Wir haben von der Katachrese schon bei der Erörterung des prosaischen
Stils gehandelt (S. 342): schon da zeigte sie sich als ein Fehler.
War sie es aber dort schon, wo man gar nicht gewohnt ist, die
Worte so sinnlich aufzufassen, war sie es dort schon, bloss weil sie
die etymologische Erinnerung an die frühere, mehr sinnliche Bedeutung
der Worte verletzt, so ist sie natürlich ein noch viel grösserer Fehler
in der Sprache der Poesie, wo jeder bildliche Ausdruck Anspruch
macht an die lebendigste Sinnlichkeit, wo der Zügel des Neides der
Einbildungskraft als ein wirklicher Zügel, der umnebelte Geist ihr
als wirklich in Nebel eingehüllt erscheinen soll. Dass aber solche
Katachresen sich da am häufigsten einstellen müssen, wo man zugleich
den ersten Fehler des Uebermasses und der Ueberhäufung begeht,
das leuchtet von selber ein. Wer im Gebrauche der Bilder überhaupt
Mass hält, der wird auch Acht darauf haben, dass sie zu einander |#f0398 : 385|

passen; wer aber, sei es aus Pedanterei oder aus Ueberfülle der
Phantasie oder aus welchem Grunde sonst, Bild auf Bild häuft, den
wird auch die Pedanterei immer nur auf das Einzelne achten lassen,
und die Phantasie wird ihm die Klüfte verbergen, die ein Bild vom
andern trennen.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Abgrenzung Synekdoche als Parallelkategorie. Anmerkung: Katachrese als parallelkategorie Auch für diesen Fehler giebt es bei den römischen
Schriftstellern viele Beispiele; so bei Virgil am Anfang des sechsten
Buches der Aeneis V. 4─8: „Obvertunt pelago proras; tum dente tenaci
Ancora fundabat navis, et litora curvae Praetexunt puppes. Juvenum
manus emicat ardens Litus in Hesperium; quaerit pars semina flammae
Abstrusa in venis silicis, pars densa ferarum Tecta rapit silvas
inventaque flumina monstrat.“

[Annotation] Textebene Primärliteratur, negatives Beispiel exemplarisch. Explizites Zitat unverändert. Quellenangabe Person nn. Quellenangabe Werk nn. Abgrenzung Synekdoche als Parallelkategorie. Anmerkung: Quelle Virgil, Aeneis V. 4-8, Anfang des sechsten Buches Virgil Aeneis V. 4-8


Und nun zur Betrachtung erst der Figuren, dann der Tropen.
Die Figuren stehn also auf der niederen Stufe der Versinnlichung,
insofern sie nicht die gewöhnliche Vorstellung selbst, sondern nur
deren gewöhnlichen und gleich bei der Hand liegenden Ausdruck
gegen einen entfernteren, minder gewöhnlichen vertauschen; die Vorstellung
bleibt die gleiche, der gewählte Ausdruck giebt ihr nur ein
grösseres Mass von sinnlicher Anschaulichkeit.


Von allen Figuren die geläufigste, mit der wir deshalb den
Anfang der Reihe machen wollen, ist die Versinnlichung und Veranschaulichung
eines substantivischen Begriffes durch ein schmückendes
Beiwort,
ein sogenanntes Epitheton ornans, dass man also z. B. nicht
von einer Hütte spricht, sondern von einer niederen Hütte, und nicht
von einem Dache dieser niederen Hütte, sondern von einem bemoosten
Dache, und nicht von einem Landmann in derselben, sondern von
einem zufriedenen Landmann. Diese Epitheta bezeichnen entweder
allgemein gültige, den Substantiven ein für alle Mal und unter allen
Umständen anhangende oder doch zukommende Eigenschaften, sind
also stehende epische Beiwörter der Personen und Dinge; oder ihre
Begründung und Gültigkeit liegt erst in den grade waltenden Umständen,
sie hangen den Substantiven nur an, insofern sie grade hier und
grade so erscheinen und wirken: zu jener Art gehört die niedere
Hütte, der zufriedene Landmann, zu dieser dagegen das bemooste
Dach, weil dieses Beiwort bloss gelegentlich beigelegt ist. Die Epitheta
ornantia sind aller Poesie aller Völker und Zeiten geläufig, und
das ist auch ganz natürlich bei der grossen Einfachheit. Aber der
Gebrauch wird auch oft genug übertrieben: es giebt Dichter, die kaum
mehr ein Substantiv setzen können ohne ein Epitheton: da läuft denn
auch manches Müssige mit unter, mancher Pleonasmus, wie alter
Greis, und diese gleichmässig fortlaufende Reihe von Substantiv und
Adjectiv, Substantiv und Adjectiv hat für die Einbildung und sogar |#f0399 : 386|

für das Ohr bald etwas höchst Ermüdendes und Langweiliges. Der
Ueberfluss solcher Epitheta characterisiert wie die lateinischen Dichter,
so die deutschen des siebzehnten und aus der ersten Hälfte des achtzehnten
Jahrhunderts; der gebräuchliche Vers, der Alexandriner, verleitete
dazu: es machte sich wie von selbst, dass man vor die Cäsur
ein solches Wortpaar setzte und hinter die Cäsur wieder eins. So
selbst bei den besten Dichtern jener Zeit, z. B. bei Albrecht von Haller
(LB. 2, 631, 30─633, 8). Dass es in der That hauptsächlich die Noth
gewesen sei, die zu einer solchen eintönigen Häufung von Epithetis
getrieben habe, die Noth, den langen Vers zu füllen und den rechten
Abschnitt zu gewinnen, das verräth ein Zeitgenosse Hallers, der selber
auch genug Alexandriner geschrieben hat, K. Fr. Drollinger, in seinem
Spottgedicht auf den Alexandriner (Ueber die Tyrannei der deutschen
Dichtkunst: LB. 2, 582).


Eine andere Figur, die in dem Wesen aller Sprache vielleicht
noch tiefer begründet ist, deren Anwendung sich auch bis tief in die
alltägliche Rede hinein erstreckt, ist die Umschreibung, περίφρασις.
Umschreibung entsteht dann, wenn man eine Person oder Sache oder
eine Thätigkeit nicht bei ihrem gewöhnlichen, einfachen Namen nennt,
sondern sie statt dessen weitläuftiger durch eine oder mehrere characteristische
Eigenschaften oder Wirkungen oder dergleichen bezeichnet;
wenn man z. B. statt Wein sagt „das schäumende Blut des Weinstockes.“
Bescheiden eingeschränkt kann diese Weitläuftigkeit allerdings
der sinnlichen Anschauung wesentliche Dienste leisten, und hat
sie ihr auch von jeher geleistet. Misslich aber wird die Umschreibung,
sowie sie über die dem einfachen Ausdruck immer noch
nahe liegende Zweigliedrigkeit hinausgeht. Besonders stark in solchen
weitläuftigen Weitläuftigkeiten ist Ramler, „der deutsche Horaz.“ Stilistiker
seiner Zeit oder seines Geistes haben immer eine grosse Freude
daran gezeigt, wie kunstreich er z. B. die Begriffe Kanone, Eis und
Schlittschuh zu umschreiben wisse. Statt Kanone nämlich sagt er,
indem er dieselbe anredet: „O du, dem glühend Eisen, donnernd
Feuer, Aus offnem Aetnaschlunde flammt, Die frommen Dichter zu
zerschmettern, Ungeheuer, Das aus der Hölle stammt“ (LB. 2, 725);
statt Eis: „der diamantene Schild des Stromes, der alle Pfeile der
Sonne verhöhnt“; statt Schlittschuhe: „Schuhe von Stahl, worin der
Mann der freundlichen Venus (Umschreibung für Vulcan) der Blitze
Geschwindigkeit barg.“ Dergleichen wird dann alles Ernstes als Muster
angeführt und zur Nachahmung empfohlen. Gleichwohl sind solche
gar zu ausgeführte Umschreibungen misslich, deswegen weil sie dem
Gesetze der Deutlichkeit, das ja auch für die Poesie immer noch gilt, |#f0400 : 387|

Eintrag thun und darum auch zur Anschaulichkeit weiter nicht helfen.
In einer Art von Gedichten ist freilich die ausgeführte Umschreibung
wohl an der Stelle, aber nur weil da auch Undeutlichkeit an der Stelle
ist, nämlich in Räthseln. Das Wesen des Räthsels (S. 161) besteht ja
darin, dass man statt des Gegenstandes nur die Merkmale angiebt,
die ihn kennzeichnen, und es nun der Einbildung und dem Witze des
Zuhörers anheimstellt, aus dieser weitläuftigen Umschreibung den einfachen
Begriff herauszufinden. Vergl. LB. 2, 1145. Wo es aber nicht
die Absicht ist, ein Räthsel zu dichten, wo man den Leser nicht mit
den Schwierigkeiten necken will, da ist es ein Fehler, wenn es dennoch
geschieht. Es geschieht aber beinahe jedesmal, wo die Umschreibung
sich in solche Ramlerische Weitläuftigkeiten verliert.


Bei der Umschreibung wird die einfache Grundvorstellung von
der sinnlichen Bildlichkeit umhüllt; bei einer dritten und vierten Figur
treten beide, jedwede selbständig für sich, neben einander. Es sind die
Figuren der Vergleichung und des Gleichnisses. Vergleichung und
Gleichniss, beide gehören nah zusammen, sind aber doch verschieden;
die Vergleichung ist das Kürzere, das Gleichniss das Ausgeführtere;
die Vergleichung deutet nur an, das Gleichniss malt vollständig aus.
Die Vergleichung macht nur mit einem Winke aufmerksam auf etwas,
das in der sinnlichen Wirklichkeit ähnlich ist der vorliegenden minder
sinnlichen Vorstellung. Hart wie Stahl, aber edel wie Gold; klug
wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben: das sind blosse
Vergleichungen. Und so wie hier werden einfache Vergleichungen
sich gewöhnlich da ergeben, wo auch nur einzelne Begriffe zu versinnlichen
sind. Das Gleichniss dagegen stellt nicht den einzelnen
sinnlichen Begriff neben den einzelnen unsinnlichen, sondern das Sinnliche
neben das Sinnliche und eine ganze in sich abgeschlossene
Reihenfolge von Vorstellungen neben die andere; es lässt neben eine
der Wirklichkeit angehörige vollständige Anschauung noch eine andere
gleichfalls der Wirklichkeit entnommene treten, damit jene durch diese
noch anschaulicher werde, als sie es schon für sich allein sein würde.
Bekanntlich ist der Gebrauch solcher Gleichnisse eine Eigenthümlichkeit
des Homerischen Epos und Virgils; weiterhin bei den Römern
finden sich Homerische Gleichnisse auch ausserhalb des Epos in den
Tragödien des Seneca und aus ihm bei Andreas Gryphius; dann auch
in den serbischen Heldenliedern. Häufig sind sie in modernen Heldengedichten,
indem man sie der epischen Poesie unentbehrlich erachtet;
aber man hat diese Regel doch erst aus dem Homer abstrahiert: die
alte, eigentlich nationale Epik der Deutschen und sonst eines neueren
Volkes, mit Ausnahme der Serben, weiss davon nichts. Wie es aber |#f0401 : 388|

zu gehn pflegt, wo man etwas bloss nachahmt, Virgil und die neueren
Dichter übertreiben es darin, und während die Homeriden gewiss
sparsam mit ihren Gleichnissen sind (Häufungen wie II. 2, 455 fgg.
sind selten und erklären sich aus dem Ursprunge des Gedichtes), wird
man bei neueren Epikern recht eigentlich damit überschüttet, und man
kann keine Seite lesen, ohne auf ein Wie zu stossen. Ja in einem
neueren Epos der schweizerischen Litteratur, Die Enkel Winkelrieds
von Tobler, einem sonst nicht unverdienstlichen Werke, kommen zuweilen
unmittelbar hinter einander drei, vier vor (S. 8. 14 fgg.), eine
Uebertreibung, die häufig zur Katachrese führt. Ausserdem fehlt Tobler
und fehlen andere neuere Epiker noch darin, dass sie ihre Gleichnisse
zu weit herholen. Die Naturerscheinungen z. B., die Homer
etwa gelegentlich als Gleichniss braucht, sind Erscheinungen der den
Griechen täglich und überall umgebenden Natur, Ströme, die bergab
stürzen, Kraniche, die durch die Luft ziehen, Steine, die über das
Feld hin verstreut sind: ebenso gut sind nun noch die Toblerischen
Gleichnisse von der Lauine, der Wettertanne u. dgl. Sowie er aber
darüber hinaus geht, sowie er z. B. von wilden Thieren der americanischen
Urwälder spricht, wird es auch fehlerhaft: es sind Gleichnisse,
die von der Darstellung weitab liegen und die Phantasie zerstreuen,
die nur die Gelehrsamkeit producieren, nur die Gelehrsamkeit reproducieren
kann, denen also viel abgeht zu einer allgemein gültigen Anschaulichkeit.
Besondere Beachtung verdient die eigenthümliche Form,
welche die serbische Poesie den Gleichnissen zu geben liebt: zuerst
wird das verglichene Naturbild, vielleicht in Form einer Frage, hingestellt,
dann folgt die Negation des Bildes und die Entgegenstellung
des wirklichen Ereignisses, das erzählt werden soll. Z. B. Talvj
2, 159: „Wuchsen einst zwei Kiefern bei einander, Mitten eine Tanne
schlanken Wipfels. Aber nicht zwei grüne Kiefern warens, War nicht
eine Tanne schlanken Wipfels, Waren Brüder, Söhne eines Leibes,
Zwischen ihnen Jelitza, die Schwester.“ Oder Talvj 1, 201: „Rollt der
Donner? oder bebt die Erde? Nicht der Donner ist es, noch die
Erde, Die Kanonen krachen in der Feste.“ Vgl. Talvj 1, 164; 2, 165.
Durch diese Formgebung erhält das Naturbild eine grössere Selbständigkeit
und Anschaulichkeit, zugleich wird es durch die Frage und
dann die Negation eben als Bild, als unwirklich bezeichnet.


Uebrigens beschäftigt jede Vergleichung und jedes Gleichniss nicht
bloss die Einbildungskraft, sondern zugleich immer den Verstand:
denn eigentlich er ist es ja, seine Thätigkeit im Witz, die uns das
sogenannte tertium comparationis entdecken lässt, d. h. den Punct,
worin die zwei Glieder einer Vergleichung, worin Bild und Gegenbild |#f0402 : 389|

sich ähnlich sind. Bei dieser verständigen Betrachtung zeigt sich aber
jedesmal, dass neben dem Aehnlichen auch wieder manches Verschiedene
sei: daher der Satz „Omne simile claudicat, Jede Vergleichung
hinkt.“ Das ist nicht zu vermeiden, der Dichter kann nur dafür sorgen,
dass es nicht gar zu augenfällig hinke, oder dass gar das tertium
comparationis gänzlich fehle. Besonderen Reiz aber haben solche
Vergleichungen und Gleichnisse, die einen auffallenden Contrast des
Grossen und des Kleinen, des Gewaltigen und des Geringfügigen
enthalten; hier wird entweder der messende und nachrechnende Verstand
überrascht und überwältigt, und es ergiebt sich das Erhabene;
oder er geräth in Widerspruch und verharrt darin, und es ergiebt
sich das Lächerliche: das Erhabene, wenn das zur Vergleichung herbeigezogene
Bild an sich geringfügig, das, womit es verglichen wird,
grossartig ist; das Lächerliche bei umgekehrtem Verhältniss, wenn
die Grundanschauung geringfügig, das Bild aber grossartig ist. Erhaben
ist der Contrast z. B. in dem Homerischen Gleichnisse Il. 12, 433,
wo die unentschieden schwebende Schlacht mit der gleichstehenden
Wage einer Wollenspinnerin zusammengestellt wird; lächerlich dagegen
in Zachariäs Renommisten, wenn das Bier, das bei einem Studentengelage
über den Tisch fliesst, verglichen wird mit dem anschwellenden
und übertretenden Nil (LB. 2, 649).


Fünftens die Anspielung oder Allusio. Sie gehört mit zu der
Vergleichung, doch hat sie die eigenthümliche Beschaffenheit, dass
nur das zur Vergleichung Gezogene ausgesprochen wird, bloss diess
eine, nicht beide Glieder, und dass dieses eine der geschichtlichen
Wirklichkeit angehört: es wird also in einer verkürzten Vergleichung
hingewiesen auf eine historische Person oder Räumlichkeit oder Begebenheit
oder Sitte und dergleichen. Z. B. „Jetzt bin ich über den
Rubico gegangen“, d. h. jetzt habe ich einen entscheidenden Schritt
gethan, wie Cäsar, da er über den Rubico gieng. Anspielungen sind
es ferner, wenn eine Person ein Spartaner, ein Sybarit, ein Epicuräer,
ein Cyniker, ein Attila, ein Vandale, ein Salomon, ein Mentor,
wenn eine böse Frau eine Xanthippe, wenn ein schönes Thal ein
Tempe, ein reizender Ort ein Elysium, wenn eine kurze Antwort
laconisch, ein schwelgerisches Mahl lucullisch genannt wird, oder endlich,
wenn man von Argusaugen, Hiobsgeduld, Tagen von Aranjuez,
Herculischen Arbeiten, Neronischer Grausamkeit u. s. f. spricht.
Bedenklich wird die Anspielung, wenn das Verständniss Gelehrsamkeit
erfordert. Dieser Weg wurde namentlich damals viel betreten,
als unsere Poesie noch bis über die Ohren in der antiken Mythologie
steckte.

|#f0403 : 390|


Die Tropen. Von den Tropen wird, da sie die Vorstellung in
viel höherem Grade versinnlichen als die Figuren, auch die Einbildung
mehr angesprochen, und sie sagen der Poesie noch mehr zu als diese.
Deshalb hat sich diese Ausdrucksweise auch reicher und mannigfaltiger
ausgebildet, und die Reihe der Tropen ist grösser als die der Figuren.
Wir beginnen dieselbe mit der Metonymie (μετωνυμία).


Metonymie heisst eigentlich Umnennung, Vertauschung des Namens:
es wird aber doch nicht bloss der Name, sondern in der That die
Vorstellung selbst wesentlich verändert und deshalb auch der Name.
Es werden nämlich bei der Metonymie Begriffe mit einander vertauscht,
die in einer natürlichen, durch Einbildung und Verstand leicht
findbaren Verbindung mit einander stehn: sie hat ihren Grund in einem
Zusammenhange oder einer Verwandtschaft der Begriffe. Solcher
Zusammenhangs- und Verwandtschaftsverhältnisse giebt es aber eine
grosse Menge. Die wichtigsten sind etwa folgende. Zunächst das
Raumverhältniss: man nennt den Ort statt dessen, was sich darin
befindet; z. B. „Der Wald besingt des Schöpfers Lob“, d. h. die Vögel
im Wald. Jerem. 4, 29: „Alle Städte werden vor dem Geschrei der
Reiter und Schützen fliehen und in die dicken Wälder laufen und in
die Felsen kriechen.“ 1 Mos. 41, 57: „Alle Lande kamen in Aegypten,
zu kaufen bei Joseph.“ Matth. 3, 5: „Da gieng zu ihm hinaus die Stadt
Jerusalem und das ganze jüdische Land und alle Länder an dem
Jordan.“ Sodann das Zeitverhältniss: es wird der Zeitraum gesetzt
statt derer, die darin leben; z. B. „Jahrhunderte harrten vergebens“;
das Vorhergehende statt des unmittelbar Nachfolgenden; man sagt
z. B. die letzte Umarmung und meint die Trennung, die darauf folgt,
ein Tropus, den man auch mit dem besondern Namen μετάληψις,
Nachfolge benennt. Ferner das Stoffverhältniss: man nennt den Stoff
statt dessen, was daraus bereitet ist; z. B. Eisen, Stahl statt Schwert;
Eisen statt Ketten; Fichte, Esche statt Schiff; Esche statt Lanze;
Linde statt Schild. Dann das Causalitätsverhältniss: man nennt die
Ursache statt der Wirkung, z. B. Arbeit der Stiere statt Getreide;
die Wirkung statt der Ursache, z. B. „Die Wolken träufeln Segen“
(statt Regen); „Hütten, um die der Landmann stille Schatten pflanzt“
(statt Bäume); zuweilen wird auch eine Wirkung statt der andern
gesetzt, so z. B. wenn man das Getreide den Schweiss des Landmanns
nennt, da der Schweiss auch nur begleitende Wirkung der
Arbeit ist; der Zweck statt des Werkzeuges, z. B. „Die Straf er zückt
vom Leder,“ d. h. das Schwert, womit er strafen will (Spee, Trutz-
Nachtigall 138). Endlich das Symbolverhältniss: man nennt das Zeichen
statt des Bezeichneten, z. B. Lorbeer statt Ruhm, Sieg; Oelzweig, |#f0404 : 391|

Palme statt Frieden; ebenso Thron, Stuhl, Krone, Scepter, Sprengel.
Eine Art der Metonymie streift nahe an die Allusion, nämlich der
Gebrauch des Beinamens statt der Person oder Sache selbst; z. B.
Stagirit statt Aristoteles, Pelide statt Achilles, Mäonide statt Homer,
Sieger von Marengo statt Napoleon, Themsestadt statt London. Ausserdem
giebt es noch mancherlei andere Metonymien, die sich nicht mit
solcher Bestimmtheit classificieren lassen, z. B. wenn man von Jemanden
sagt, er sei abgebrannt, während doch nur sein Haus verbrannte,
eine Metonymie, die schon die Römer kannten: „Hospes arsit“ Hor.
Sat. 1, 5, 72. „Proximus ardet Ucalegon“ Virg. Aen. 2, 311 (Wenn erst
Ukalegon, dein Nachbar, steht im Rauch, Rachel Sat. 3 im LB. 2, 462).
Die Metonymie ist gut und recht, wenn man sie nicht häuft, und
wenn die Vertauschung so natürlich ist, dass die Möglichkeit derselben
nahe an die Nothwendigkeit grenzt. Aber namentlich beim Symbolverhältniss
und beim Gebrauch der Beinamen wird oft gefehlt und
die Anschaulichkeit der Gelehrsamkeit aufgeopfert.


Einen andern Tropus stellen wir am besten gleich mit der Metonymie
zusammen, weil er gewissermassen die grade Umkehrung desselben
ist: das Wortspiel. Bei der Metonymie werden beide, Vorstellung
und Wort, verändert, aber das Wort mehr als die Vorstellung:
denn die neue Vorstellung verharrt in der allernächsten Beziehung
zu der eigentlichen alten, während das eigentliche und das uneigentliche
Wort, als Worte betrachtet, nichts mit einander gemein haben.
Anders beim Wortspiel: hier wird das gegeben vorliegende Wort als
Wort nur unmerklich verändert, aber mit dieser unmerklichen Veränderung
des Wortes verknüpft sich die merklichste und wesentlichste
Veränderung der Vorstellung: es tritt eine neue Vorstellung ein, die
mit der des veränderten Wortes wenig oder vielleicht nichts mehr
gemein hat; ja es kann das Wort selbst in seiner Form gänzlich
unverändert bleiben und sich dennoch dem Zusammenhange gemäss
plötzlich eine ganz andre und neue Vorstellung damit verbinden.
Bei der Metonymie wird also nur die Vorstellung etwas auf die Seite
hin gerückt, und damit wechselt der Ausdruck; beim Wortspiel rückt
man den Ausdruck etwas auf die Seite, und damit wechselt die Vorstellung.
Diess ist das Wesentliche des Wortspiels; Alles, was sonst
noch darüber kann gesagt werden, leitet sich einfach und von selbst
aus diesem her und bedarf deshalb keiner weiteren Ausführung.
Die griechische Rhetorik nennt das Wortspiel παρονομασία, die lateinische
annominatio; so bei Quintilian an mehreren Stellen (Inst. 9, 3, 66);
auch handelt davon ein Capitel in den Rhetoricis ad Herennium
4, 21, das einige Proben des lateinischen Wortspielwitzes darbietet, |#f0405 : 392|

wie z. B. Veniit a te, antequam Romam venit; Quos homines vincit,
eos ferro statim vincit; Hunc avium dulcedo ducit ad avium; Si lenones
tanquam leones vitasset; Videte, judices, utrum homini navo an
vano credere malitis, u. s. f. In Fällen, wo bloss der Anfangsbuchstabe
verändert wird, ist das Wortspiel zugleich ein Reim; so Vell. Pat.
2, 108: „Maroboduus natione magis quam ratione barbarus“; so ferner
der Ausspruch des Bias bei Gellius Noct. Att. 5, 11: „ἤτοι καλὴν ἄξεις
\̓η αἰσχράν· καὶ εἰ καλήν, ἕξεις κοινήν, εἰ δὲ αἰσχράν, ἕξεις ποινήν.“
Aeschyl. Supplic. v. 826: „ὅδε μάρπτις νάϊος γάϊος.“ Und so ist in den
meisten Fällen, wo Griechen reimen, ein Wortspiel der Anlass dazu;
im Lateinischen und Deutschen dagegen hat der Reim noch anderweitigen
Grund und Sinn. Natürlich hat, da es beim Wortspiel
zugleich auf Aehnlichkeit und auf Verschiedenheit ankommt, auf Aehnlichkeit
des Ausdrucks und auf Verschiedenheit der Vorstellungen, der
Verstand an ihm einen vorwaltenden Antheil, einen grösseren Antheil
als die Einbildung, der Verstand in den beiden nah verwandten Thätigkeiten
des Witzes und des Scharfsinnes. Deshalb ist auch das Wortspiel
vornehmlich und beinahe ausschliesslich zu Hause in der komischen
Poesie, in der Comödie, in der Satire (LB. 2, 1292), im satirischen
Epigramm, im komischen Epos, im komischen Roman und in der
scherzhaften Lyrik, zu Hause da, wo ein Widerspruch des Verstandes
darzustellen ist gegen die von der Einbildung angeschaute Wirklichkeit:
so finden wir es denn in der griechischen Comödie des Aristophanes
wie in der lateinischen des Plautus und in der englischen
Shakspeares, bei Rabelais und Fischart (LB. 3, 1, 471) im komischen
Roman Gargantua, wie bei Abraham a Sancta Clara im satirischen
Roman Judas der Erzschelm und in satirischen Predigten, und bei
Jean Paul. Das ernsthafte Epos dagegen und die tragische Poesie
können das Wortspiel nur so und in so fern in sich aufnehmen, als
sie auch jenen Widerspruch des Verstandes gegen die Einbildung in
sich aufnehmen können, d. h. nur vorübergehend und den höheren
Zwecken des Epos und der Tragödie dienend untergeordnet, nur als
Ausdruck der tragischen Ironie, nicht aber der Laune und des Spottes.
Ein Beispiel der Art aus dem classischen Alterthum, noch eins nach
dem eben angeführten aus den Supplices, findet sich bei Aeschylus
in den Septem V. 830, wo mit Rücksicht auf Polynices diess Wort als
Adjectiv im Sinne von zanksüchtig gebraucht wird; ein Wortspiel,
das Sophocles und Euripides an passlichen Orten wieder aufgenommen
haben, und das als ein Beispiel der Art zu bemerken ist, wo das
Wort selbst gar nicht verändert wird. Beispiele aus der epischen
Poesie der Deutschen sind etwa, wenn in den Nibelungen (Str. 2256 |#f0406 : 393|

Lachm.) Dietrich von Bern, nachdem er alle seine Mannen verloren
hat, im bittersten Schmerze ausruft: „Und sint erstorben alle mîne
man, sô hât mîn got vergeʒʒen, ich armer Dietrîch!“ Hier wird
Dietrich in seiner eigentlichen Bedeutung Dietreich, Volkreich aufgefasst,
und das ist bei dem antithetischen Beiworte arm ein Wortspiel.
Oder wenn in einem anderen Gedicht aus der Dietrichssage, Dietrichs
Flucht betitelt, Dietrich, nachdem er eine Schlacht verloren, durch die
er sein Reich in Bern wieder zu erlangen hoffte, ausruft: „Von Berne
(d. h. der von Bern getrennte) mac wol heiʒen ich, wan ich dâ niht ze
schaffen hân“ (V. 4762). Oder wenn es in der Gudrun Str. 623 heisst:
„Daʒ muote Hartmuoten harte sêre.“ Wie aber gesagt, das Wesen des
ernsthaften Epos und der Tragödie duldet dergleichen nur selten und
unter besonderen Umständen, und deshalb darf man auch zweifeln, ob
Paul Gerhardt (S. 97b. 137a) und Benjamin Schmolck recht daran gethan
haben, dass sie sogar in das geistliche Lied Wortspiele gebracht haben.
Die komische Poesie und Prosa dagegen begünstigt es, und von je lebhafterem
Witz Autoren dieser Art waren, desto mehr haben sie auch
eben diese Seite und diese Form des Witzes herausgekehrt. Als Beispiel
diene ein Abschnitt aus dem eben erwähnten geistlich satirischen
Romane Judas der Erzschelm von Abraham a Sancta Clara, in welchem
Abschnitte unter einer wahren Flut der mannigfaltigsten Wortspiele das
Leben des verlorenen Sohnes erzählt wird (LB. 3, 1, 909). Bekanntlich
sind die Wortspiele in Schillers Capuzinerpredigt zum grössten Theil aus
Abraham a S. Clara entlehnt, die anderen ihm wenigstens nachgebildet,
und grade in diesem Abschnitte finden wir die Originale zu mehreren
Schillerischen.


Drittens die Synecdoche (συνεκδοχή), eigentlich das Mitverstehen.
Die Synecdoche ist im Grunde nur eine Abart der Metonymie: auch hier
findet eine Vertauschung nah zusammenhangender Begriffe statt, aber
unter einem bestimmten Verhältnisse: dem des Theiles zum Ganzen.
Sie beruht also auf einem Umfangsverhältniss, oder, wenn man will,
Theilverhältniss, und es ist eine Synecdoche, so wie man den Theil
für das Ganze, partem pro toto, oder umgekehrt das Ganze für den
Theil setzt. Dieser Theil muss aber unter all den Einzelheiten, die
sich an dem Ganzen unterscheiden lassen, die wichtigste und hauptsächlichste
sein, muss Wesen und Zweck des Ganzen recht eigentlich
characterisieren. Wo er nicht so beschaffen ist, da fehlt der Synecdoche
die rechte Anschaulichkeit. Es steht z. B. ganz einfach der
characteristische Theil für das Ganze, wenn man statt des Schwertes
ort, die Spitze des Schwertes, oder ecke, die Schärfe des Schwertes
setzt oder Schneide oder Heft; statt des Schildes umbo, Buckel, |#f0407 : 394|

oder nach altdeutscher Weise rant (mit Bezug auf den eisernen Rand,
der das Geflecht von Zweigen oder die Bretter zusammenhielt, woraus
der Schild bestand), statt Schiff Kiel oder Mast oder Segel, statt
See Wellen, oder wenn altdeutsche Dichter die deutsche Kaiserkrone
weise nennen nach dem vorzüglichsten Edelstein derselben; und ebenso,
wenn man in der Kriegssprache, die noch theilweise die sinnlich
poetische Färbung des Mittelalters trägt, nicht hundert Reiter sagt,
sondern hundert Pferde, und hundert Helme, hundert Lanzen statt der
mit Helm und Lanze gerüsteten Krieger. Eine recht starke Synecdoche,
bei welcher das totum pro parte steht, wird in der Sanctgallischen
Rhetorik (LB. 14, 135. 15, 313) angeführt: „Porcus per taurum sequitur
vestigia ferri;“ hier bezeichnet porcus die Schweinsborste, taurus
das Rindsleder und unter den vestigia ferri wird metonymisch das mit
der Ahle geborte Loch verstanden (synecdochice de opere sutoris
totum dicitur et pars intelligitur). In anderen synecdochischen Wendungen
lässt sich das Theilverhältniss noch schärfer bezeichnen: es
wird z. B. die Gattung statt der Art gesetzt: so, wenn man Künstler
statt Maler, Sterbliche statt Menschen sagt; oder die Art statt der
Gattung: z. B. „Der Geizige schielt nach harten Thalern (Geld); der
frohe Landmann missgönnt dem Städter seine Bälle (Vergnügungen)
nicht.“ Man geht auch wohl eine Stufe weiter und gebraucht die Art
statt des Individuums, z. B. wenn man Herr sagt statt Gott, König;
oder das Individuum statt der Art, wenn man einen grossen Redner
Cicero, einen weisen Richter Salomo, einen Kunstfreund Mäcen, einen
strengen Sittenrichter Cato, eine der Schwelgerei ergebene Stadt Babel
nennt; eine Art der Synecdoche, die sich mit der Allusion (S. 389)
berührt und oft mit dem besonderen Namen ἀντονομασία, Umnennung,
bezeichnet wird. Endlich wird in synecdochischer Weise nicht selten
die bestimmte Zahl statt der unzähligen Menge gesetzt: z. B. „Tausend
Zungen verkündigen Gottes Lob“; namentlich aber wird der Singular
im Sinne der pluralischen Gesammtheit gebraucht: z. B. „Die Lerche
verkündet den Frühling“; G. Schwab: „Der Indier ist da, der Mohr!
Der Ahnherr hat die Stadt zerstöret: Wer weiss, was uns der Enkel
schwor!“ (LB. 2, 1459).


Der vierte Tropus, nach Quintilian 8, 6 tum frequentissimus, tum
longe pulcherrimus, ist die Metapher; sie trägt den allgemeinsten
Namen von allen: μεταφορά heisst die Uebertragung

[Annotation] Textebene Sekundärliteratur, keine Bewertung. Explizite Paraphrase. Quellenangabe Person Quintilian. Quellenangabe Werk nn. Explikation Metapher als Übertragung., eine Benennung,
die am Ende auf alle figürlichen und tropischen Wendungen passt.

[Annotation] Textebene Sekundärliteratur, keine Bewertung. Explizite Paraphrase. Quellenangabe Person Quintilian. Quellenangabe Werk nn. Explikation Metapher nn als Unterkategorie.
Die griechischen Rhetoren nennen denn auch nicht bloss diesen einen
Tropus, der in specie so heisst, sondern daneben auch alle übrigen
Tropen und Figuren Metaphern,

[Annotation] Textebene Sekundärliteratur, keine Bewertung. Nennung. Quellenangabe Personengruppe. Explikation Metapher nn als Unterkategorie. Anmerkung: Quelle: Die griechischen Rhetoren und Cicero hat den lateinischen |#f0408 : 395|

Namen translatio, womit er Figuren und Tropen insgemein belegt,
sichtlich diesem griechischen μεταφορά nachgebildet.

[Annotation] Textebene Sekundärliteratur, keine Bewertung. Explizite Paraphrase. Quellenangabe Person nn. Explikation Metapher nn als Unterkategorie. Anmerkung: Quelle: Cicero Sofern man
jedoch Metapher in dem auch altgebräuchlichen, mehr beschränkten
Sinne auffasst, der freilich, wenn man das Wort etymologisch nimmt,
rein willkürlich so beschränkt ist, so bezeichnet sie im Gebiete der
Tropen dasselbe, was im Gebiete der Figuren die Vergleichung ist.
Bei der Figur der Vergleichung wird neben die gewöhnliche Vorstellung
und den gewöhnlichen Ausdruck eine andere Vorstellung und
deren Ausdruck gesetzt, die ungewöhnlicher und sinnlicher und dadurch
anschaulicher sind.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Abgrenzung Vergleichung als Parallelkategorie. Beim Tropus der Metapher aber wird die gewöhnliche,
minder sinnliche Vorstellung sammt ihrem Ausdruck gänzlich
unterdrückt und das sinnlichere Gegenbild tritt gradezu an ihre Stelle.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Explikation Metapher als Ersetzung.
Mit Einem Worte also, die Metapher ist eine abgekürzte Vergleichung.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Explikation Metapher als verkürzte Vergleichung.
Während es z. B. nur noch eine Vergleichung ist, so lange man sagt:
er war beständig wie ein Diamant, wo neben den abstracten Begriff
beständig nur vergleichungsweise der sinnliche Begriff Diamant gesetzt
wird:

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene exemplarisch. Abgrenzung Vergleichung als Parallelkategorie. so wird es eine Metapher, sobald man etwa mit Hartmann von
Aue sagt: er war an beständiger Treue ein Diamant

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. Explizites Zitat übersetzt. Quellenangabe Person nn. Quellenannahme Werk. Anmerkung: Hartmann von Aue, angenommenes Werk: Armer Heinrich ; mit dem Verschwinden
des wie tritt die abstracte Vorstellung zurück, und die
sinnliche rückt an ihren Platz.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Explikation Metapher als Ersetzung. Als Beispiel mag hier eine Stelle
aus Hartmanns Armem Heinrich dienen, die neben der eben angeführten
noch eine ganze Reihe von Metaphern enthält. Ritter
Heinrich von Aue wird mit folgenden Worten geschildert: „Er was
ein bluome der jugent, der werlte fröude ein spiegelglas, staeter
triuwe ein adamas, ein ganziu krône der zuht. er was der nôthaften
fluht, ein schilt sîner mâge, der milte ein glîchiu wâge: ime
enwart über noch gebrast. er truoc den arbeitsamen last der êren
über rücke. er was des râtes brücke und sanc vil wol von minnen“

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. Explizites Zitat unverändert. Quellenangabe Person nn. Quellenangabe Werk nn. Explikation Metapher als verkürzte Vergleichung. Abgrenzung Vergleichung als Parallelkategorie. Anmerkung: Quelle:
(LB. 14, 347. 15, 525).


Uebrigens kann der Sitz der Metapher jegliches Wort sein, nicht
bloss ein Substantiv, sondern auch ein Adjectiv und auch ein Verbum:
auf jedem dieser drei Gebiete kann eine abstracte Vorstellung gegen
ihr concretes, eine minder sinnliche gegen ihr mehr sinnliches Gegenbild
vertauscht werden.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Explikation Metapher als Ersetzung. Substantivische Metaphern sind z. B.: Lenz
des Lebens, Rosen der Jugend, Hefe des Volkes, Haupt des Staates,
Stütze des Thrones, Schiff der Wüste, Ross des Meeres

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene exemplarisch. Anmerkung: Explikation: substantivische Metapher ; adjectivische,
wo dann der Tropus der Metapher zusammenzufallen pflegt mit der
Figur des schmückenden Beiwortes: Der silberne Bach, die goldene
Ernte, das sterbende Jahr;

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene exemplarisch. Explikation Metapher als NN. Anmerkung: Explikation: adjektivische Metapher verbale Metaphern sind: Die Schönheit
verblüht, Gewitter lagern sich am Himmel, der Sturmwind heult, das
Schwert dürstet nach Blut.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene exemplarisch. Explikation Metapher als NN. Anmerkung: Explikation: verbale Metapher

|#f0409 : 396|


Die Uebereinstimmung des Tropus der Metapher mit der Figur der
Vergleichung geht aber noch hinaus über den so eben berührten Punct.
Wir haben gesehen (S. 387), dass aus der Vergleichung, so wie man
sie noch weiter, zu einer noch sinnlicheren Anschaulichkeit entwickelt
und ausführt, das Gleichniss hervorgehe: grade so giebt es auch eine
weitere, noch sinnlichere Ausführung der Metapher; man nennt dieselbe
Allegorie, von ἀλληγορέω d. h. etwas anderes sagen, als zu verstehen ist.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Abgrenzung Vergleichung als Parallelkategorie.
Es ist diess wieder eine sehr allgemein gehaltene Benennung und darin
liegt auch der Grund zu mannigfachen Irrthümern, worein alte und
neue Rhetoren bei der Allegorie gerathen sind; selbst Quintilian (8, 6),
der es eine Allegorie nennt, dass

[Annotation] Textebene Sekundärliteratur, keine Bewertung. Textebene Sekundärliteratur, negativ verwerfende Bewertung. Explizite Paraphrase. Quellenangabe Person Quintilian. Quellenangabe Werk nn.Quintilian Institutio Oratoria 8,6 Virgil Eclog. 9 seinen Namen gegen
den Namen Menalcas vertausche.

[Annotation] Textebene Primärliteratur, negatives Beispiel exemplarisch. Explizite Paraphrase. Quellenangabe Person nn. Quellenangabe Werk nn. zitiert nach. Anmerkung: Quelle zitiert nach Quintilian Virgil Eclogues 9 Der Tropus der Allegorie steht
ebenso der Figur des Gleichnisses gegenüber, wie der Tropus der
Metapher der Figur der Vergleichung gegenübersteht. Nämlich die
Allegorie veranschaulicht nicht nur Einen Begriff durch Versinnlichung
desselben, sondern eine ganze, eng zusammengehörige Reihe von
Begriffen, indem sie einen Gegenstand nebst den Eigenschaften, die
ihm anhangen, und den Wirkungen, die er ausübt, in einem fortgeführten,
umfangreicheren, in sich einigen Bilde ausmalt. Ein Beispiel
wird hinreichen, um diess Verhältniss der Allegorie zur Metapher
klar zu machen.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Explikation Metapher als NN. Abgrenzung Vergleichung als Parallelkategorie. Anmerkung: Allegorie als erweiterte Metapher Es wäre also eine blosse Vergleichung, wenn man
sagte: „Die Dichtkunst der Römer war wie eine ausländische Blume.“

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene exemplarisch. Abgrenzung Vergleichung als Parallelkategorie.
Daraus entsteht eine Metapher, wenn man sagt: „Die Dichtkunst war
zu Rom eine ausländische Blume.“

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene exemplarisch. Explikation Metapher als verkürzte Vergleichung. Sobald man nun mit Herder diese
Metapher in folgender Weise noch sinnlicher ausführt: „Die römische
Dichtkunst war aus griechischem Samen in den Garten eines Kaisers
verpflanzt, wo sie als schöne Blume da stand und blühte,“ sobald man
also dem einfachen sinnlichen Begriffe Blume noch die weitere sinnliche
Beziehung auf Samen, auf Garten, auf die Person eines Kaisers,
auf die Thätigkeit des Blühens beifügt, so ergiebt sich die Allegorie.

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. Textebene Primärliteratur, positives Beispiel. Explizites Zitat unverändert. Quellenangabe Person Herder. Explikation Metapher als NN. Anmerkung: Allegorie als erweiterte Metapher
Einen vorwaltenden Hang zur Allegorie hat die morgenländische Dichtkunst:
man begegnet in den poetischen Büchern des Alten Testamentes
zahlreichen Beispielen.

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. Nennung. 1-4-2 Anmerkung: poetische Bücher des alten Testaments Statt vieler möge hier eines angeführt werden,
Psalm 80, 9─17, wo das Volk Israel mit einem Weinstock verglichen
und nun diese Vergleichung eben zur Allegorie ausgeführt wird.

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. Explizite Paraphrase. Quellenangabe Werk nn.Bibel Psalm 80, 9-17 Räthsel
und Allegorie finden sich vereinigt bei Hesekiel 17, 2 fgg.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Nennung. Quellenangabe Werk nn. Bibel Hesekiel 17, 2fgg.


Gewöhnlich verbindet sich mit dem Tropus der Allegorie noch der
der Personification, und dann ist erst die volle poetische Schönheit
erreicht, insofern erst dann sinnliche Anschaulichkeit in ihrer ganzen
Fülle vorhanden ist. Wir handeln demnach gleich auch von diesem
Tropus. Bei der Prosopopöie (προσωποποιία) oder Personification sind |#f0410 : 397|

zwei Stufen zu unterscheiden, je nachdem man das Wort im engeren
oder weiteren Sinne fasst. Im weiteren Sinne sind alle Metaphern, die
zur höheren Versinnlichung lebloser Wesen dienen, Personificationen;
hier überall liegt der Versinnlichung mehr oder minder deutlich eine
persönliche Auffassung zum Grunde.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Explikation Metapher Personifikation als Unterkategorie. Sagt man z. B. der Sturmwind
heult, so wird der Sturmwind als ein die Luft durchfahrendes, dämonisches
Ungethüm (Windsbraut) aufgefasst; und wenn bereits altnordische
Dichter von dem Schwerte sagen, dass es nach Blut dürste,
so hängt das mit ihrem Glauben zusammen, dass ein Schwert dämonisch
beseelt sein könne; daher rührt ja auch die mittelalterliche Sitte
der deutschen und anderer Völker, den Schwertern persönliche Eigennamen
beizulegen. Bei ihnen ist demnach der Ausdruck von dem
dürstenden Schwerte mehr als eine blosse Metapher.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene exemplarisch. Explikation Metapher Personifikation als Unterkategorie. Ebenso ist es
eine Personification, wenn Jeremias 46, 10 von einem Schwerte spricht,
das fressen und von Blut voll und trunken werden wird,

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. Explizite Paraphrase. Quellenangabe Werk nn. Explikation Metapher Personifikation als Unterkategorie.Bibel Jeremias 46, 10 oder wenn
er 47, 6 ausruft: „O du Schwert des Herrn, wann willst du doch aufhören?
Fahre doch in deine Scheide und ruhe und sei still.“

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. 1-2-1-0 1-4-1-0 Explizites Zitat übersetzt. Explikation Metapher Personifikation als Unterkategorie.Bibel Jeremias 47, 6 Ja
zuletzt beruht die ganze Sprachschöpfung auf Prosopopöie; denn dass
sie leblosen Wesen, dass sie abstracten Begriffen ein Geschlecht beilegt,
dass die einen masculina sind, die anderen feminina, kommt
doch nur daher, dass sie gleichsam Personen, gleichsam Männer und
Weiber sind: denn sonst würde die Leblosigkeit und Abstractheit für
dergleichen Worte auch überall die Geschlechtslosigkeit, das Neutrum
gefordert haben. Indessen die Personification in diesem weiteren Verstande
geht die Stilistik nichts an, sondern nur in einem engeren, wo
man es Personification nennt, wenn ein lebloses, namentlich ein abstractes
Ding ungewöhnlicher, vom sonstigen Sprachgebrauch abweichender Weise
als ein beseelt wirkendes, als handelnd, hörend, redend hingestellt, mithin
dem leblosen ein Bewusstsein, dem abstracten eine Körperlichkeit
verliehen wird.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Explikation Metapher Personifikation als Unterkategorie. Solche Personificationen sind allen Dichtern und allen
Zeiten geläufig gewesen: die Götter der Heiden waren meistens nichts
als Personificationen. Beispiele aus neuerer Zeit bieten Hebels Wiese,
wo der Rhein als ein Jüngling, die Wiese als Jungfrau aufgefasst wird,
und der Prinz Zerbino von Tieck, wo im Garten der Poesie der Wald,
die Blumen, der Vogelgesang, ja das Himmelblau redend auftreten
(LB. 2, 1239). Vielleicht aber haben keine Dichter in solchem Grade
von der Personification Gebrauch gemacht als die deutschen und die
romanischen des Mittelalters. Beispiel ein Lied Herzog Heinrichs IV.
von Breslau, wo nach einander der Mai, die Sommerwonne, die Haide,
der Klee, der Wald, die Sonne als Personen angeredet werden und auf
die Anreden antworten (LB. 14, 803. 15, 983). Gewöhnlich wird die Personification |#f0411 : 398|

noch dadurch verstärkt und erhält einen angenehmen Anflug
von Laune, dass man solchen personificierten Dingen und Abstractionen
noch die unter Menschen üblichen Titel giebt, z. B. Frau Minne, Frau
Ehre, Frau Welt, Frau Abenteuer (die romantische Erzählung, LB. 14, 605.
15, 785). Während diese Personificationen ganz häufig vorkommen, sind
andere, wie es die Sache mit sich bringt, seltener: im Renner, einem
Lehrgedichte Hugos von Trimberg vom Jahre 1300, wird z. B. V. 11365
ein kegelschiebender Bauer geschildert, welcher der zu langsam rollenden
Kugel nachruft: „Louf, kugel, vrouwe! zouw dîn (eile), liebiu frou,
nu zouwe!“ Und in einem Liede singt Christian von Hamle (HMS. 1, 112b):
„Her Anger, waʒ ir iuch fröiden muostent nieten dô mîn frowe kom
gegân! ... Erloubet mir, her Grüener Plân, daʒ ich mîne füeʒe setzen
müeʒe dâ mîn frowe hât gegân.“ Auch Walther von der Vogelweide macht
von derartigen Personificationen gern Gebrauch; so Hêr Meie (LB. 14,
395. 15, 575); Frô Unfuoge (d. h. Frau Unkunst, LB. 14, 399. 15, 578);
ja er redet sogar den Almosenstock an, den Pabst Innocenz III. in
Deutschland aufstellte, um Beiträge für einen Kreuzzug zu sammeln:
„Sagt an, hêr Stoc, hât iuch der bâbest her gesendet, daʒ ir in rîchet
und uns Tiutschen ermet unde pfendet? (LB. 14, 406. 15, 584) Durch
diese lebendige Sinnlichkeit der Ausführung hat sich ein früherer Ausleger
Walthers, Gleim, verleiten lassen, den Herrn Stock für einen
wahren Namen zu halten und die Uebersetzung des Gedichtes zu überschreiben:
An Herrn Stock, päbstlichen Legaten in Deutschland.


Gewöhnlich aber, wie schon vorher gesagt, braucht man die
Personification bei der Allegorie und verstärkt die letztere durch die
noch hinzutretende Personification; schon die Allegorie belebt das
Unsinnliche oder minder Sinnliche durch die Aeusserlichkeit und historische
Beweglichkeit, womit sie es umkleidet; noch höheres Leben
erhält sie, wenn diess Aeusserliche gar als eine Person erscheint, in
menschlicher Weise handelnd und leidend. Beispiele allegorischer Personification
sind häufig: vgl. Hesekiel 16, wo Jerusalem als Weib personificiert
erscheint und die ganze Geschichte der Stadt und des Volkes
in der Lebensgeschichte dieses einen Weibes anschaulich concentriert
wird. So ferner die Allegorie, die sich durch Platos Phaedrus hindurchzieht,
indem die Seele des Menschen als ein Wagenlenker mit
zwei Rossen, einem weissen und einem schwarzen, dargestellt wird;
so in Göthes Zueignung seiner Gedichte (LB. 2, 1065) die Allegorie
der Wahrheit; so in Schillers Mädchen aus der Fremde (LB. 2, 1133)
die Allegorie der Dichtkunst; so endlich in einem Gedichte von Tieck,
die Phantasie (LB. 2, 1335), die ausgeführte Allegorie eben der
Phantasie, der Vernunft, der Erinnerung, des Schlafs. Hier überall |#f0412 : 399|

besteht die Allegorie nur dadurch, dass sie zugleich eine Personification
ist.


Auf dem Gipfel aber der möglichen Ausbildung zeigt sich die
personificierende Allegorie dann, wenn mit der Personification eines
abstracten Begriffes noch die Namengebung verbunden ist, die Beilegung
eines bezeichnenden persönlichen Eigennamens; wenn man z. B.
nicht den Neid, die Selbstsucht ohne Weiteres als Person auffasst,
sondern an ihre Stelle einen Herrn Neidhart, einen Herrn Selphart
setzt. Hier haben wir die vollste Personificierung. Auch diese war
besonders im deutschen Mittelalter beliebt und characterisiert jene Zeit
unserer Litteratur. Ein Hauptbeispiel für diese Art der personificierenden
Allegorie ist die Regula Selphardi, eine ascetische Schrift des dreizehnten
Jahrhunderts (LB. 14, 811. 15, 991), worin die Selbstsucht, der Eigenwille,
als ein Kloster aufgefasst wird; der Abt desselben heisst Bruder
Bösewicht, der Prior Anetugent, der Küster Klaffer von der Welt, der
Cantor Bruder Kiverêre (Zänker), das Haupt des Conventes Bruder
Hêrstuol (Thron), die übrigen Conventualen sind Bruder Zornlin, Bruder
Ergelin, Bruder Werre, Bruder Irrsichselben, Bruder Glichesêre,
Bruder Hindersprache, Bruder Itelspot, Bruder Clûterêre (Beschmutzer),
Bruder Schimphelin, Bruder Unmuoʒe, Bruder Zitverlies und Bruder
Itelehre u. s. w. Wenn all dem gegenüber die allegorischen Personificationen
der französischen und der deutschen Dichter der Alexandrinerzeit
meistens etwas sehr Langweiliges haben, so liegt die Schuld
nicht am Tropus, sondern am Dichter. Vgl. Germania Bd. 5, 290 fgg.


Wie mit der Allegorie, so verbindet sich die Personification gern
noch mit einem anderen Tropus, mit der Anrede, Apostrophe, d. h.
Abwendung von der Sache weg zur Person hin. Die Anrede versinnlicht
durch Vergegenwärtigung des Abwesenden. Es wird also entweder
eine abwesende Person aufgefasst, als wäre sie gegenwärtig,
z. B. ein Verstorbener, als stünde er lebend da, und man dürfte zu
ihm sprechen. Eines der schönsten Beispiele bietet ein Lied von Haller,
das zugleich auch eins seiner schönsten Gedichte ist: Trauer-Ode beym
Absterben seiner geliebten Mariane (LB. 2, 645), wo die Apostrophe
durch all die vielen Strophen durchgeführt ist. Oder die Anrede ist
an leblose oder abstracte Dinge gerichtet, als wären sie belebt, als
wären sie körperlich und gegenwärtig, ein Verfahren, das den graden
Gegensatz bildet zu dem Gebrauche, Anwesende mit Er und Sie anzureden.
Diese Art der Apostrophe ist ganz häufig; ich erinnere an die
bei der Personification beigebrachten Beispiele aus Heinrich von Breslau,
aus dem Renner, aus Christian von Hamle und aus Walther von der
Vogelweide; aus der neueren Litteratur ist hier namentlich Schillers |#f0413 : 400|

Lied an die Freude zu erwähnen. Eine Apostrophe ist auch die
Invocation, die gelegentliche Anrufung einer Gottheit, wie die bei
den epischen Dichtern auch noch der neueren Zeit beliebte Anrufung
der Muse.


Bei der Apostrophe wird das Abwesende vergegenwärtigt. Noch
eine andere Wendung erzielt auch durch Vergegenwärtigung die Sinnlichkeit,
aber durch Vergegenwärtigung des Vergangenen: es ist das
die Erzählung im Praesens, das sogenannte Praesens historicum. Es
giebt Mundarten, die immer nur im Praesens erzählen; davon haben
wir hier nicht zu reden; hier kommt das Praesens in Betracht, sofern
es neben der sonst gebräuchlichen und gebräuchlicheren Form des
Praeteritums und statt derselben angewendet wird. Da geschieht es
denn immer nur, um die Anschaulichkeit zu erhöhen, um das Vergangene
wie gegenwärtig vor die Augen zu führen, so dass eigentlich
nicht mehr erzählt, sondern geschildert wird. Wenn man darin Mass
hält, wenn nicht zu oft, wenn nur dann, wo die sinnliche Vergegenwärtigung
von Werth und Wichtigkeit ist, davon Gebrauch gemacht
wird, so ist die Wirkung vortrefflich. Freilich halten nur wenige
Mass, und in diesen Fehler verfallen natürlich am häufigsten und
leichtesten Schriftsteller solcher Provinzen, deren Mundart das Praesens
historicum überall anwendet. Auch darin wird oft gefehlt, dass
innerhalb eines und desselben Gedankens Praesens und Praeteritum
wechseln, d. h. die angeschaute Vorstellung hin und her geschoben
wird, aus der Vergangenheit in die Gegenwart und wieder aus der
Gegenwart in die Vergangenheit; dass aus der Erzählung in die Schilderung
und aus dieser wieder in die Erzählung übergegangen wird,
wie diess z. B. in Schillers Taucher der Fall ist (LB. 2, 1169, 33 fgg.).
Ein Anderes ist es, wenn der Wechsel der Tempora mit einem neuen
Gedanken, mit einer plötzlich hereinbrechenden neuen Thatsache zusammenhängt:
hier ist dann keine solche Unruhe und Einheitlosigkeit vorhanden,
sondern vermehrte Anschaulichkeit. So z. B. in Göthes Fischer
(LB. 2, 1033, 11): hier tritt das Praesens erst mit dem neuen Gedanken
ein, mit diesem einen überraschend plötzlichen, bedeutungsvollen
Factum.


Neben das Praesens historicum stellt sich im Lateinischen noch
der sogenannte Infinitivus historicus: denn auch er tritt ein, wo vergangene
Dinge nicht als hinter einander vergangen, sondern gleichsam
als neben einander bestehend aufgefasst, wo sie nicht erzählt, sondern
geschildert werden sollen. Und für diese Zwecke ist auch der Infinitivus
ein ganz passliches Mittel, und ein noch passlicheres als das
Praesens: denn er bezeichnet wohl eine Thätigkeit des Subjectes, und |#f0414 : 401|

bezeichnet sie auch, da er eben immer ein Infinitivus praesens ist, im
Allgemeinen als eine gegenwärtige; aber einen bestimmten Zeitpunct
und eine bestimmte Dauer setzt er nicht fest, weder in dieser Gegenwart,
noch gar in der Vergangenheit; er drückt eben nur ein Geschehen
aus, aber kein Wann und Wie lange dieses Geschehens; er enthebt das
vergangene Factum allem Wechsel und allen Schranken der Zeit und
macht es zum Gegenstande der Schilderung, für die es keine zeitliche
Abgrenzung giebt. Beispiel bei Cic. pro Rosc. Am. 38, § 110.


Die deutsche Sprache, und sie vorzüglich und mehr als andere
Sprachen, liebt es, auch das Futurum gegen das Praesens zu vertauschen,
also die Zukunft in die Gegenwart zu rücken, das noch
Ungewisse als gewiss zu behaupten, das noch ganz Unschaubare schon
in gegenwärtiger Anschaulichkeit aufzufassen. Indessen diese Vertauschung
ist so gewöhnlich, dass man sie kaum mehr zu den Tropen
rechnen darf. Die deutsche Sprache hat eben nie ein rechtes Futurum
besessen, sie hat diese Zeitstufe immer nur durch Umschreibungen
bezeichnen können, im Gothischen zuweilen durch haben mit dem
Infinitiv, wie in den romanischen Sprachen (dirai), im Althochdeutschen
durch sollen, wie im Englischen, später durch werden mit dem Participium
praesentis, woraus erst nach und nach durch Entstellung auch
ein Infinitiv geworden ist. Am geläufigsten aber ist der älteren Sprache,
wie noch jetzt der einfachen des gewöhnlichen Lebens, das blosse
Praesens im Sinne des Futurums, und es giebt ganze, grosse altdeutsche
Schriften, in denen kein einziges umschriebenes Futurum
vorkommt, so z. B. die zahlreichen umfassenden Uebersetzungswerke
der Sanctgaller. Im Psalm 28 z. B. übersetzt Notker die Worte: Et
in templo eius omnes dicent gloriam durch: Vnde in sînero chilichun
sagent sie alle sîna guôllichi. Et sedebit dominus rex in aeternum:
Vnde dara nâh sizzet er rîchesondo iêmer. Dominus virtutem populo
suo dabit: Truhten gibet herti sînemo liûte (LB. 15, 292).


Jetzt endlich sind noch einige Tropen, es sind ihrer vier, zusammenzustellen,
die auch ihrem Wesen nach enge zusammengehören, und
die, da an ihnen nicht bloss die Einbildung Antheil hat, auch in die
prosaische Sprache, die Sprache des Verstandes und die alltägliche
Rede übergreifen.


Zuerst die Hyperbel, ὑπερβολή, d. h. Uebertreibung, Vergrösserung
über die Wahrheit hinaus. Eines der ältesten Beispiele aus der deutschen
Litteratur wird in der Sanctgallischen Rhetorik (LB. 14, 136. 15, 314)
angeführt: von einem Eber heisst es, er habe Füsse einem Fuder an
Grösse gleich, Borsten so hoch wie Forsten und Zähne zwölf Ellen
lang (imo sint fûoʒe fûodermâʒe, imo sint burste eben hô forste, unde |#f0415 : 402|

zene sîne zuuelifelnîge). Ebenda auch ein lateinisches Beispiel aus
Virgils Aeneide 3, 421 fg. Eine gewöhnliche Hyperbel ist es auch,
wenn wir statt ich den Pluralis maiestatis wir gebrauchen, oder wenn
wir eine einzelne Person mit Ihr, Sie anreden. Es liegt in der Natur
der Sache, dass die Hyperbel für beiderlei kann gebraucht werden,
für das Erhabene und für das Lächerliche. Aber eben deswegen wird
sie oft lächerlich, wo sie erhaben sein soll, wie diess bei Ramler oft
genug der Fall ist. Hier kann nur ein glücklicher Tact den rechten
Ort und das rechte Mass finden lehren.


Das Gegentheil zur Hyperbel bildet die Litotes (λιτότης), d. h.
Kleinheit, Geringfügigkeit. Man versteht darunter die Uebertreibung
nach unten hin, die Herabsetzung unter die Wahrheit. Man unterscheidet
wohl von der Litotes noch die ταπείνωσις, Erniedrigung, oder
die μείωσις, Verkleinerung: dann nimmt man die Litotes in transitivem
Sinne und versteht darunter den Ausdruck der Verachtung gegen einen
Andern, während die ταπείνωσις und μείωσις reflexiv gegen den Sprechenden
selbst gerichtet ist und auf Bescheidenheit und Selbstgeringschätzung
beruht. Eine solche Herabsetzung aus Bescheidenheit ist es,
wenn David sich vor Saul einen todten Hund und einen Floh nennt:
1. Sam. 24, 15: „Wem zeuchst du nach, König von Israel? Wem jagst
du nach? Einem todten Hunde, einem einigen Floh?“ und ebenso
1. Sam. 26, 20: „Der König Israels ist ausgezogen, zu suchen einen
Floh, wie man ein Rebhuhn jagt auf den Bergen.“ Eine ταπείνωσις
ist es ferner, wenn in Schillers Cabale und Liebe (1. Act. 3. Sc.) Louise
von sich selbst sagt: „Diess Bischen Leben ─ dürft' ich es hinhauchen
in ein leises, schmeichelndes Lüftchen, sein Gesicht abzukühlen! ─
Diess Blümchen Jugend ─ wäre es ein Veilchen, und er träte darauf,
und es dürfte bescheiden unter ihm sterben!“ Beide, Hyperbel und
Litotes wirken am meisten, geben die sinnlichste Anschaulichkeit, wenn
das Auf- und Absteigen stufenweise geschieht, wenn damit noch die Gradation
verbunden ist, wovon späterhin noch die Rede sein wird (S. 410).
Hyperbel und Litotes schieben die Vorstellung von ihrem rechten
Puncte fort und darüber hinauf oder hinunter, ohne bestimmte Grenze,
bis wie weit und wohin. Bei zwei anderen Tropen ist diese Grenzlinie
des Verschiebens von dem rechten Punct vorhanden, die Grenzlinie
des Gegentheils: ich meine die Ironie und den Euphemismus.


Bekanntlich bezeichnet Ironie (εἰρωνεία) eigentlich jede mehr oder
minder spöttische Verstellung, wodurch Unwissenheit über einen Gegenstand
vorgegeben wird, den man gleichwohl recht gut kennt. In diesem
Sinne ist die Ironie des Socrates sprichwörtlich geworden: denn sein
dialectisches Verfahren beruhte vorzüglich auf dieser fingierten Unwissenheit. |#f0416 : 403|

Aber schon die griechischen Rhetoren haben den Begriff der
Ironie auf diejenige Verstellung in der Rede eingeschränkt, die von
dem, was man verstanden wissen will, das Gegentheilige und dadurch
Ueberraschende sagt. Also ist es z. B. und namentlich Ironie, wenn
man Lob ausspricht und Tadel meint, wenn man an einem Geizhals
die Wohlthätigkeit, an einem Verschwender die Sparsamkeit rühmt.
In diesem Sinne greift die Ironie über die Stilistik hinaus in die
weitere Lebensanschauung, in die bildende Kunst und in die Sprachschöpfung.
Im deutschen Mittelalter war es gewöhnlich, eine Schlacht
als eine Disputation oder einen Process aufzufassen, wie diess im
Ludwigsleich vom Jahre 881 (LB. 14, 106, 13) der Fall ist, oder auch
als ein Gastmal, ein Weinschenken und Bewirthen (ebenda 14, 106, 33);
als Spiel und Tanz wird der blutige Kampf im Nibelungenliede verstanden,
Str. 1939, wo es von dem Helden und Spielmann Volker
heisst: „Sîn leiche lûtent übele, sîn züge sint rôt: jâ vellent sîne doene
manegen helt tôt; Str. 1943 Sîn videlboge snîdet durch den herten stâl,
und Str. 1944 Sîne leiche hellent durch helm und durch rant.“ Im Rosengarten
endlich (LB. 14, 879, 35), im Sempacher Liede (LB. 14, 1108, 8;
1113, 12; 1118, 27), im Hildebrandsliede, bei Kasper von der Rön (LB.
14, 1244, 33) wird der Kampf mit dem Feinde als ein Beichtehören, dessen
Tödtung als eine Ertheilung von Segen und Ablass gedacht. Ueberall
wird der Eindruck der Ironie dadurch geschärft, dass der Contrast
zugleich etwas Erhabenes und etwas Lächerliches hat. Auch in die
bildende Kunst griff die Ironie: ich erinnere bloss an den Todtentanz
(Kl. Schrift. 1, 302). Auf dem Gebiet der Sprache finden wir sie in der
Namengebung: ich denke hier an ironisch erfundene Namen in imperativischer
Form wie Saufaus, Störenfried, Taugenichts, Springinsfeld,
womit von solchen Leuten grade das Gegentheil dessen verlangt wird,
was der eigentliche Wortsinn besagt (German. 5, 308). In der Litteratur
wird die Ironie viel gebraucht, aber auch viel missbraucht.
Gewöhnlich ist sie mehr Figur als Tropus, oder gar zu sehr Tropus,
d. h. entweder sieht man es der ironischen Darstellung gar zu sehr
im ersten Augenblick an, dass Alles nur uneigentlich, und dass man
Alles von vorn herein Wort für Wort ins Gegentheil zu übersetzen
habe; es ist dann also die Ironie eine blosse Veränderung des Ausdrucks,
nicht aber auch der Vorstellung; oder aber man spürt ihr die
Uneigentlichkeit gar nicht an, man merkt es gar nicht oder erst zu
spät, dass die Vorstellungen von ihrem rechten und eigentlichen Platze
an einen falschen und entgegengesetzten gerückt seien, und man nimmt
Alles für baaren, trockenen Ernst. Beides ist verfehlt: im ersten
Falle ist die Ironie müssig, frostig, langweilig; im zweiten irreführend |#f0417 : 404|

und gegen die Deutlichkeit und Anschaulichkeit verstossend. Das
rechte Mass erhält den Leser in einem Schwanken zwischen Wissen
und Nichtwissen, so zu sagen zwischen Mitlügen und Belogenwerden,
das für Verstand und Einbildung gleich viel Reiz hat. Indessen nur
Wenigen ist dieses Mass gegeben; Rabener z. B., in seinen Satiren,
besass es: darum gefällt er sich aber auch in der Ironie beinahe bis
zum Ueberdruss, er kannte kaum eine andere Form des Spottes als
die Ironie. Vgl. LB. 3, 2, 47 fg. 55 fg. Noch ein Meister in der Ironie
ist Jean Paul: als Probe diene ein kleiner, in den Quintus Fixlein
eingeschalteter Excurs über den Aemterverkauf (Sämmtl. Werke 1826
Bd. 4, 104) und Hafteldorns Idylle auf das vornehme Leben (Komischer
Anhang zum Titan Bd. 31, 46). Als Muster der Ironie verdient auch die
Rede hervorgehoben zu werden, die im dritten Acte von Shakspeares
Julius Cäsar Antonius an das versammelte Volk hält; hier finden wir
nichts als Anerkennung und Lob der Mörder Cäsars, aber Alles ist
Ironie, und der Zweck und der Erfolg dieser Rede ist denn auch,
dass Antonius das Volk gegen Brutus und die Uebrigen und für sich
gewinnt.


Eine Abart der Ironie ist das Oxymoron (ὀξύμωρον), d. h.
eigentlich spitze, scharfe Dummheit. Man nennt so die Zusammenstellung
zweier Worte, wobei das eine thörichter, unverständiger
Weise grade das Gegentheil von dem zu sagen scheint, was das andere
fordert, aber nur zu sagen scheint, so dass keine wirkliche contradictio
in adjecto stattfindet: in diesem Ueberraschenden des scheinbaren
Widerspruchs liegt denn das ὀξύ, das Spitzige, Witzige. Z. B.
Junger Greis, alter Jüngling; armer Dietrîch Nibel. 2256. Ein schönes
Beispiel bietet Hebels Vergänglichkeit (LB. 2, 1373, 32): „S Hus würd
alt und wüest. Der Rege wäscht ders wüester alli Nacht, Und d Sunne
bleicht ders schwärzer alli Tag.“


Auch der Euphemismus (εὐφημισμός) kann als eine Abart der Ironie
betrachtet werden, insofern man nicht bloss die spöttisch-satirische, sondern
mit einer Erweiterung des Ausdruckes jegliche Verkehrung ins Gegentheil
Ironie nennen will. Der Euphemismus weicht dem Anstössigen, dem
Bösen, dem Gehassten und Gefürchteten in Vorstellung und Darstellung
aus und nennt aus Zucht und Schonung und Furcht nur das gegentheilige
Gute. Der Aberglaube ist auch eine Art Poesie und in dieser Art ist
der Euphemismus recht eigentlich zu Hause. Ein bekanntes Beispiel aus
dem griechischen Heidenthum ist der Gebrauch, die Erinyen Eumeniden,
d. h. die Gnädigen, die Huldvollen zu nennen; ebenso heisst die
grauenvolle Nacht nicht νύξ, sondern εὐφρόνη, die wohlwollende; die
Wolfsmilch, griechisch εὐφόρβιον, lateinisch euphorbia, d. h. gute |#f0418 : 405|

Nahrung, von φορβιά, φορβή, Futter, Weide; die linke Hand εὐώνυμος,
die gutnamige, obgleich sie gar nicht boni ominis war: denn
auch den Griechen kamen die bösen Vorzeichen von der linken Seite;
vielleicht ist auch der gewöhnliche Name des Linken, ἀριστερός, ein
Euphemismus, falls er mit ἄριστος, der beste, zusammenhängt. Als
euphemistische Verwünschungen brauchten die Griechen εἰς ὀλβίαν, εἰς
μακαρίαν, grade wie auch in der altdeutschen Sprache sælic im Sinne
von verwünscht vorkommt (LB. 14, 464, 38; 636, 37). Sogar die Worte
εὔφημος und εὐφημία selbst werden euphemistisch angewandt statt
δύσφημος und δυσφημία, wo man eine böse Vorbedeutung meint.
Auf einem Euphemismus beruht bei den Römern der Name der Todesgöttinnen,
Parcae, d. h. die Schonenden, und nach Procopius (Bell.
Gotth. 1, 15) wurde der eigentliche Name Maleventum des Omens wegen
gegen Beneventum vertauscht. Derselbe Euphemismus des Aberglaubens
ist es, wenn die drei bösen und gefährlichen Thiere, der Wolf,
der Fuchs und der Bär, bei vielen Völkern wo möglich nie mit ihren
eigentlichen Namen, sondern mit andern Appellativen oder gar mit
nominibus propriis belegt werden. Im sechzehnten Jahrhundert hiess
der Wolf bei den Deutschen Hölzing; die Schweden nennen den Fuchs
Waldgänger, den Wolf Goldbein, den Bär Süssfuss oder Grossvater
u. dgl. Und so mögen auch die Eigennamen der Thiersage, Reinhart,
Isengrin, Braun, ihren Grund nicht bloss in dem epischen Triebe zu
menschlicher Benennung, sondern auch in abergläubischer Scheu ihren
Grund haben. Vgl. Kl. Schrift. 2, 214.


Es ist vorher gesagt worden, diese Tropen zeigten sich auch in
der gewöhnlichen Alltagssprache, und das gilt namentlich vom Euphemismus.
Denn im Grunde sind ja unsere meisten Höflichkeitsreden
nichts oder häufig nichts als blosse Euphemismen: vgl. Rabener, Versuch
eines deutschen Wörterbuchs LB. 3, 2, 47 (über das Wort Compliment).
Und so ist es von jeher gewesen; ein altes Beispiel von
Höflichkeitseuphemismus findet sich schon in der Sanctgallischen
Rhetorik LB. 14, 136: Item per contrarium intelliguntur sententiae ut
in suetudine latinorum interrogantibus „quaesivit nos aliquis?“ respondetur
„bona fortuna“ i. Hel unde salida, et intelligitur „nemo,“ quod
durum esset i. unminnesam ze sprechenne. Similiter teutonice postulantibus
obsonia promittimus sic: „Alles liebes genuoge,“ et intelligitur
per contrarium propter gravitatem vocis. So werden z. B. auch hina
wesan
euphemistisch statt sterben, hinafart statt Tod gebraucht. Gern
verbindet sich der Euphemismus der Alltagssprache mit dem Wortspiel,
und dann wird er eben nur ein Vermeiden des eigentlichen Ausdruckes,
ohne diesen darum in das Gegentheil zu verändern. Solche euphemistische |#f0419 : 406|

Wortspiele sind die meisten Schwüre und Flüche, die von dem
Worte, das man vermeidet, weil es böse ist oder heilig und deshalb
nicht soll missbraucht werden, nur einen Theil beibehalten, sonst aber
ihn irgendwie verändern. So z. B. statt Sacrament Sapperment, statt
Sapperment Sappermost, statt Herr Jesus Her Je oder Her Jegerle,
statt Gottes Wetter Potz Wetter, statt Gottes Leichnam Potz Leichnam,
statt Gottes Blitz Potz Blitz, statt Gottes Teufel Potz Tausend, statt
der Teufel der Tausend, statt Teufel auch Deixel oder Deiker. Vgl.
Grimm, Deutsches Wörterbuch 2, 279. Aehnliches auch im Französischen:
diantre statt diable, morbleu statt mort Dieu, corbleu statt corps Dieu.


So viel von den Figuren und Tropen, die zur Sinnlichkeit des
Ausdrucks dienen, und die somit auf dem einen Wege liegen, der zur
Anschaulichkeit hinführt (S. 371).


Neben jenem Wege her läuft nun noch ein anderer: ausser der
Sinnlichkeit kommt es im Stil der Poesie noch an auf Lebendigkeit.
Die Sinnlichkeit beruhte und zeigte sich in der Auffassung und im
Ausdruck der einzelnen Vorstellungen, in der Wahl der Worte und
ihrer Formen: die Lebendigkeit hat es mit der organisierten Entwickelung
der Vorstellungen zu thun, sie wird sich also kund thun in der
Anordnung und Verbindung der Worte. Es ist nicht genug an der
blossen Sinnlichkeit der einzelnen Vorstellungen, denn damit hat man
wenn auch sinnliche Einzelheiten, doch immer nur Einzelheiten: ein
anschauliches Ganzes wird daraus erst dann, wenn diese Einzelheiten
zusammentreten und sich vereinigen unter dem Merkmal der Lebendigkeit,
nämlich in einem bewegten Vorwärtsschreiten von Vorstellung
zu Vorstellung, das jedoch, damit die Einbildung ihm folgen und auch
der Verstand es fassen könne, wieder in sich selbst gezügelt und
gemässigt und zur Einheit zusammengehalten sein muss. Also Bewegung
und doch wieder Ruhe, Vorwärtsschreiten und doch wieder
Innehalten.


Es wird für die bessere Verdeutlichung dieses Gegenstandes nicht
ohne Nutzen sein, wenn wir von dem Gebiete der blossen äusseren
Darstellung, des Stils, einen Blick hinüberwerfen in das Gebiet der
poetischen Production und Composition selbst: wir nehmen da ein entsprechendes
und auch in sich scheinbar ebenso zwiespältiges Verfahren
wahr. Auch hier wird zum Behufe der Lebendigkeit ebensowohl das
eigentlich Ruhende bewegt aufgefasst, als auch in dem an sich Bewegten
wieder ruhend innegehalten.


Was zuerst die Belebung des Ruhenden durch Bewegung betrifft,
so zeigt sich diese in dem organischen Gesetze aller Poesie, nirgend
eigentlich zu beschreiben, sondern überall die Beschreibung in Erzählung |#f0420 : 407|

übergehn zu lassen, also in das Leblose und unbewegt Verweilende
einen historischen Fortschritt, eine lebendige Entwickelung zu verlegen.
Es werden also, um ein schon früher (S. 29. 262) herbeigezogenes
Beispiel zu wiederholen, Waffen, und es wird der gewaffnete Held
nicht beschrieben: denn das wäre ein todter und tödtender Stillstand;
sondern es wird erzählt, wie die Waffen nach und nach aus der Hand
des Schmiedes hervorgehn, wie der Held nach und nach erst die
Beinschienen anlegt, dann den Helm aufsetzt, dann Schild und Lanze
ergreift. So hält es Homer, und wenn es Walter Scott nicht auch so
hält, so ist er eben kein Homer. Oder eine Landschaft: sie wird von
guten Dichtern nicht in dem unbewegt ruhenden Nebeneinander und
Durcheinander ihrer Einzelheiten geschildert (dergleichen findet sich
nur bei Matthisson), sondern auch sie wird historisch entwickelt, indem
sie von einem bewegt vorwärts schreitenden Standpuncte durchzogen
und von diesem aus nach und nach zur Anschauung gebracht wird.
Beispiel hiefür Schillers Elegie Der Spaziergang (LB. 2, 1145), wo der
Dichter selbst dieser wandelnde Standpunct ist, und Göthes Novelle
Die Jagd (LB. 3, 2, 689). Beinahe die grösste Anschaulichkeit aber
wird erlangt, wenn man diess progressive Durchwandern einer Landschaft
mehr der Einbildung des Lesers anheimstellt, indem man ihr
bloss die Richtung zeigt, in welcher sie den Blick immer weiter und
weiter zu senden habe, selbst aber den Raum nicht mit Handlung ausfüllt;
weit ausgedehnte Landschaften sind nur auf diesem Wege zur
Anschauung zu bringen. So, um ein ganz umfangloses Beispiel anzuführen,
Der Räuber von Uhland (Volksausgabe 2, 118), ein Gedicht,
das nicht zu seinen berühmtesten gehört, weil es etwas Unscheinbares
hat, aber eins der ausgezeichnetsten ist.


Im Gegensatz zu dieser Belebung des Ruhenden durch historische
Bewegung steht das Innehalten und Festhalten des Bewegten auf einem
unveränderten Standpunct; es steht dazu im Gegensatz, gleichwohl dient
auch diess wieder nur demselben Zwecke der Lebendigkeit. Es wird
nämlich eine bewegte Reihe von einzelnen Erscheinungen und Ereignissen,
die jedoch jede für sich zu wenig Bedeutung haben oder eine
der anderen zu gleichartig sind, gern in Beziehung gebracht auf einen
ruhenden Standpunct, von dem aus und an dem vorüber die Anschauung
vor sich geht; ohne diese Concentration würde die Einbildungskraft
zerstreut werden und ermüden. Während also bei dem vorigen Verfahren
der Standpunct in fortschreitender Veränderlichkeit sich neben
dem Ruhenden und durch das Ruhende hin bewegt, ist er hier unveränderlich
festgestellt, und die bewegte Handlung geht an ihm vorüber.
Beispiele davon sind bei guten Epikern und Dramatikern nicht selten. |#f0421 : 408|

So in der Iliade (Buch 3), wenn Helena dem alten Priamos von einem
Thurme herab die um die Stadt gelagerten Helden zeigt und benennt.
Aehnlich Aeschylus in den Sieben gegen Theben. So ferner in einer
alten Sage von Karl dem Grossen und dem Langobardenkönig Desiderius,
wo Karls gewaltige Heeresmacht nach und nach vor den
erschrockenen Augen des Letzteren vorüberzieht; vor den Augen des
Desiderius: in diesem ruhigen Standpunct concentriert sich die Erzählung
und erzielt so die wirksamste Lebendigkeit: Monachus Sangallensis
2, 17 und Grimm, Sagen 2, 102 (der eiserne Karl). So in den Nibelungen
Str. 392 fgg., wenn nicht vom Dichter gradezu erzählt wird,
wie die Helden zu Island einer nach dem andern aus dem Schiffe
steigen, sondern die Frauen im Schlosse sie heraussteigen sehen und
benennen und besprechen (LB. 14, 517. 15, 697). So auch, wenn in Schillers
Jungfrau von Orleans 5, 11 die Schlacht nicht dem Zuschauer selber
vorgeführt, sondern ihr Verlauf nur von einem zuschauenden Soldaten
berichtet wird; so endlich, wenn man auch in Tiecks Octavian 313
den Kampf des Florens mit dem Riesen nicht zu sehen, sondern nur
seine wesentlichsten Momente aus dem Munde Einiger zu vernehmen
bekommt, die von dem Walle der Stadt her ihn anschauen. Hätte
hier Schiller, hätte Tieck statt des begleitenden Gespräches der
Zuschauer den Kampf selbst auf die Bühne gebracht, so würde er
damit wenig oder gar keine Lebendigkeit erreicht haben: denn es
wäre das nur eine Reihe von Einzelheiten gewesen, deren jede für
sich zu unbedeutend, die einander zu gleichartig wären, als dass daraus
ein recht anschauliches und wirklich belebtes Ganzes hätte hervorgehn
können. Erst dadurch wird es ein solches, dass der Dichter
die Einzelheiten in dem Gemüthe der Zuschauer concentriert und auf
diese Art dem raschen Fortschritte Einhalt thut und ihn beruhigt.


Wir haben also gesehen, wie schon auf der Stufe der poetischen
Production je nach Verschiedenheit der Umstände zwei ganz verschiedene
Mittel zu dem gleichen Ziele der Lebendigkeit führen: Bewegung
des Ruhenden durch Fortschritt, Beruhigung des Fortschreitenden durch
Innehalten. Eben ein solches zwiefältiges und zwiespältiges Verfahren
kehrt nun auch wieder auf der Stufe der äusseren Darstellung, auch
in dem stilistischen Theile der poetischen Schöpfung, in der Anordnung
und der Verbindung der Worte. Auch hier wird bald das
Ruhende beweglich und das Bewegliche noch beweglicher gemacht;
bald wieder der zu rasche Fortschritt des Beweglichen gemässigt,
gehemmt, innegehalten. Es kommen aber bei der Anordnung und der
Verbindung der Worte dieselben in Betracht entweder als der Ausdruck
von Vorstellungen und Gedanken, oder als blosses klingendes Material, |#f0422 : 409|

entweder was ihren inneren Gehalt oder was bloss ihre äussere Gestalt
betrifft. Beide Rücksichten sind streng von einander zu sondern, ebenso
streng, als wir bei der Betrachtung des prosaischen Periodenbaues die
Anforderungen der Ueberschaulichkeit getrennt haben von denen des
Wohlklanges (S. 346).


Wir reden zuerst von der Lebendigkeit in der Anordnung und der
Verbindung der Worte, insofern man Rücksicht nimmt auf den Gehalt
derselben.


Schon früher (S. 369), als wir anfiengen den poetischen Stil zu
betrachten, ist bemerkt worden, dass die Regeln des prosaischen implicite
mit für ihn gelten, dass neben der Forderung der Anschaulichkeit
für die Einbildung auch die der Deutlichkeit für den Verstand
immer noch fortbestehe. Deshalb findet denn auch Alles, was früherhin
auf Anlass des deutlichen Stils der Prosa über den Bau der Sätze
und der Perioden ist bemerkt worden, auch auf den anschaulichen Stil
der Poesie seine Anwendung; aber keine volle, Alles umfassende Anwendung:
denn es kommen nun auf diesem Gebiete allerlei Eigenthümlichkeiten
hinzu, die das gewöhnliche prosaische Verfahren mannigfach
beschränken und umändern und theilweise aufheben. Und solche
Eigenthümlichkeiten sind es, von denen wir jetzt zu sprechen haben;
Eigenthümlichkeiten des poetischen Stils darum, weil sie eintreten um
eines Zweckes willen, von dem der prosaische Stil nichts weiss, eben
um des Zweckes der Lebendigkeit willen.


Von Mitteln zur Bewegung des Ruhigen und zur Verstärkung der
Bewegung sind nur zwei oder drei anzuführen: die Unverbundenheit,
die Steigerung und die Abgebrochenheit.


Die Unverbundenheit oder das Asyndeton besteht darin, dass man
das Bindewort, welches die eigentliche und gewöhnliche Rede fordert,
fallen lässt und die einzelnen Vorstellungen unmittelbar eine an die
andere reiht. Offenbar wird dadurch eine grössere Beweglichkeit, ein
schnellerer Fortschritt erreicht. Gebraucht man das Bindewort, verknüpft
man eine Vorstellung mit der anderen, so wird damit auch
jede spätere Vorstellung auf den Standpunct der früheren zurückgezogen,
und Alles wird auf einem und demselben Platze festgehalten;
lässt man dagegen das Bindewort weg, so nimmt auch jede Vorstellung
ihren Platz für sich ein und einen anderen als die vorhergehende,
d. h. die Vorstellungen entwickeln sich in einer belebten Succession
und Progression. So bei Klopstock (Messias 10, 1048): „Er rufte mit
lechzender Zunge: Mich dürstet! Ruft's, trank, dürstete, bebte, ward
bleicher, betete, rufte: Vater, in deine Hände befehl' ich meine Seele.“
Oder bei demselben (3, 516): „Jetzt wollten Tausend ihn sehen, dann |#f0423 : 410|

wieder Tausend; sie stürmten, sie riefen, Standen, weinten, erstaunten,
verfluchten, segneten.“ Wären hier Bindewörter gebraucht, so würden
alle diese gleichzeitigen Vorstellungen mehr ruhig neben einander
liegen; da keine vorhanden sind, so wird das Ruhende in Bewegung
gebracht und aus dem Nebeneinander wird ein bewegtes Nacheinander.
Schon der älteren deutschen Poesie waren solche Asyndeta zu eben
diesem Zwecke ganz geläufig. Auch da liebte man es, wie in den
alten Sprachen, eine Aufzählung von coordinierten Begriffen durch die
Unverbundenheit zu beleben. So bei Walther von der Vogelweide
(LB. 14, 401. 15, 579): „Zungen, ougen, ôren sint dicke schalchaft,
zêren blint,“ und in Wolframs Titurel (LB. 14, 453. 15, 633): „Lâ
wider clâren dîn ougen, wange, kinne.“ Noch schöner ist eine
andere Stelle im Titurel (Str. 103): „Si liuhtec bluome ûf heide, in
walde, ûf velde!“ Hier führt der Fortschritt des Asyndetons eine
gewisse landschaftliche Anschaulichkeit mit sich, die ohne das nicht
wohl vorhanden wäre.


Das deutsche Asyndeton ist der Regel nach zum mindesten
dreigliedrig; zweigliedrige sind Ausnahmen: so bei Freidank 149, 9:
„Silber golt ist fremede mir;“ 154, 15: „Stelen rouben naht unt tac;“
165, 20 fgg.: „Liegen triegen ist ein site, dem vil der werlte volget mite.
liegen triegen dicke gât mit fürsten an des rîches rât.“ In den antiken
Sprachen ist das Asyndeton schon bei zwei Begriffen zulässig
und häufig. Classische Beispiele: Suet. Caes. 37. Cic. 2. Catil. 1.


Ganz gewöhnlich verbindet sich mit dem Asyndeton die Gradation
oder mit griechischem Namen die Climax (ἡ κλίμαξ), die steigernde
Anordnung der einzelnen Begriffe. Schon das Asyndeton belebte den
Fortschritt, die Steigerung belebt und bewegt ihn noch mehr. Die
gewöhnliche Unterscheidung zwischen aufsteigender und absteigender
Climax, zwischen Climax und Anticlimax ist falsch, sobald man sich
bei der Anticlimax den letzten Begriff als den schwächsten in der
Reihenfolge denkt. Er ist immer der stärkste derselben, und wenn er
auch sonst an sich vielleicht schwächer sein mag als der erste, in
diesem Zusammenhange immer der am höchsten stehende. Z. B.:
„Wenn wir gross sind, so sind wir es überall, auf dem Thron, im
Palaste, in der Hütte.“ Das nennt man eine Anticlimax; die Hütte
steht freilich sonst unter dem Palaste, hier aber darüber, da Grösse
in der Hütte seltener und minder erwartet ist als auf dem Throne
und im Palast. Diese Gradation vereinigt sich, wie gesagt, mit dem
Asyndeton; sie kommt auch sonst vor, aber sie ist hier, wo eine Ausdrucksweise
die andere trägt und hebt, am besten angebracht und
am wirksamsten.

|#f0424 : 411|


Nun noch Einiges vom Asyndeton. Gleich den angeführten Beispielen,
so besteht auch sonst das Asyndeton, wie man das Wort
gewöhnlich auffasst und braucht, eben nur darin, dass ein Bindewort
ausgelassen ist, und zwar wieder nur das Bindewort und, der Ausdruck
für eine copulative und positive Zusammenstellung, wogegen
oder und noch, die disjunctiven und negativen Sinn haben, eben
dieses ihres Sinnes wegen niemals fortbleiben können, und zwar aus
Gründen der Deutlichkeit (S. 350). Man darf aber füglich den Begriff
des Asyndetons etwas weiter ausdehnen und auch das so nennen, wenn
ein Fügewort, ein Wort zur Anknüpfung eines Nebensatzes nicht angewendet
wird, während doch der gewöhnliche Sprachgebrauch es fordern
würde, so dass nun ein Satz, der eigentlich Nebensatz sein
sollte, zur Würde eines Hauptsatzes erhoben wird. Man darf auch
diess Asyndeton nennen; denn auch hier ist eine ungewöhnliche Unverbundenheit,
und auch diese dient zur Belebung durch den Fortschritt
in der Entwickelung der Gedanken; dass zugleich durch die Hervorhebung,
welche damit verknüpft ist, dem Zwecke der Deutlichkeit entsprochen
werde, davon ist schon früher (S. 349) gesprochen worden. So
z. B. wenn Schiller im Abschied vom Leser sagt: „Der Lenz erwacht:
auf den erwärmten Triften schiesst frohes Leben jugendlich empor ....
Der Lenz entflieht: die Blume schiesst in Samen, und keine bleibt
von allen, welche kamen.“ Die gewöhnliche Ausdrucksweise würde
hier einen conditionalen Nebensatz gebildet haben: „Wenn der Lenz
u. s. w.“ Es ist diess allerdings das logische Verhältniss der Vorstellungen:
aber offenbar würde damit die Anschauung auf einem Puncte
ziemlich unbewegt festgehalten, und erst dann wird sie zu beweglichem
Fortschritt belebt, wenn die beiden Glieder des Gedankens jeder als
selbständiger Hauptsatz dastehn, und einer dem andern in historischer
Entwicklung folgt. Es wird diese asyndetische Auslassung der Fügewörter
besonders auf das Verhältniss von Ursache und Grund und auf
das der Vergleichung angewendet. Beispiel der ersteren Art jenes von
Schiller. Eine asyndetische Vergleichung, wo also kein wie gebraucht
ist, bietet der bekannte Anfang von Schillers Macht des Gesanges
(LB. 2, 1132): „Ein Regenstrom aus Felsenrissen, Er kommt mit Donners
Ungestüm; Bergtrümmer folgen seinen Güssen, Und Felsen stürzen
unter ihm; Erstaunt, mit wollustvollem Grausen Hört ihn der
Wanderer und lauscht; Er hört die Flut vom Felsen brausen, Doch
weiss er nicht, woher sie rauscht: So strömen des Gesanges Wellen
Hervor aus nie entdeckten Quellen.“ Viel weniger belebt wäre diese
Vergleichung, wenn sie nach streng logischer Weise mit einem Wie
begönne; sie erhebt sich dagegen zur lebhaftesten Anschaulichkeit, |#f0425 : 412|

nun von Bild zu Gegenbild als von einem Hauptsatze zum anderen
kann fortgeschritten werden.


Nun die Abgebrochenheit. Sie besteht darin, dass man den Satz
nicht ausführt, dass man ihn abbricht, noch ehe Alles gesagt ist, was
eigentlich zu sagen wäre. Es giebt zwei Arten der abgebrochenen
Rede: die Ellipse und die Aposiopese; sie sind wesentlich von einander
verschieden. Bei der Ellipse (ἔλλειψις) lässt man der Kürze wegen das
minder Wichtige und Unbedeutende fort, weil es sich von selbst versteht,
und weil man vielleicht sogar im Augenblick deutlicher spricht,
wenn man unterdrückt, was nichts zur Sache thut; oder man lässt es
fort aus leidenschaftlicher Bewegung des Gemüthes, in der man es
übersieht: die Ellipse lässt also den bedeutsamen Vorstellungen zu
Liebe die unbedeutenden fort und spricht nur jene aus. Insofern
damit theils der Deutlichkeit, theils der Leidenschaftlichkeit gedient
wird, hat die Ellipse ihren eigentlichen Platz theils in dem gewöhnlichen
prosaischen, theils in dem lyrischen oder rednerischen Stil,
nicht aber in den übrigen poetischen Stilarten; Ellipsen der Deutlichkeit
hat jede Sprache zu Hunderten: die militärischen Commandowörter
sind beinahe alle ellipsisch. Ellipsen der Leidenschaft gehören zwar,
wie gesagt, eigentlich der Lyrik und der Rede an, aber sie können
auch sonst vorkommen, insofern auch andere Gattungen der Poesie
stellenweise in die Lyrik hinübergreifen können, und deshalb namentlich
in der Tragödie. Z. B. Schillers Räuber (4. Act. 5. Sc.): „Wer mir
Bürge wäre? ─ ─ es ist Alles so finster ─ verworrene Labyrinthe ─
kein Ausgang ─ kein leitendes Gestirn ─ wenn's aus wäre mit diesem
letzten Odemzug ─ aus, wie ein schales Marionettenspiel!“


Ganz anders bei der Aposiopese, ἀποσιώπησις, lateinisch reticentia:
sie verschweigt recht im Gegensatze zur Ellipse das Wichtige und
spricht nur das Untergeordnete aus: sie bricht den Satz gerade da ab,
wo erst die Hauptsache kommen soll. So bei Gellert: „Komm ich
hinauf zu dir, so soll dein Blut“ ─; so bei Virgil (Aen. 1, 139) die
bekannte Drohung Neptuns: „Quos ego!“ (Wartet, ich will euch ─);
so in Herders Cid: „Wer hier wagt zu mucken ─.“ Offenbar hat die
Aposiopese mehr Poetisches als die Ellipse, insofern sie mehr als diese
die Einbildungskraft beschäftigt; was die Ellipse auslässt, sind untergeordnete
Wörter, blosse Hilfswörter; sie zu ergänzen, bedarf es der
Einbildungskraft nicht; wohl aber wird diese in Anspruch genommen,
wo zur Vollständigkeit des Gedankens gerade das Wichtigste fehlt,
wo so grosse Lücken auszufüllen sind, wie diess bei der Aposiopese
der Fall ist. Hier muss der Hörer oder Leser, nachdem der Sprechende,
der Dichter verstummt ist, für ihn eintreten und selbst weiter |#f0426 : 413|

phantasieren, und diess ist es, was die Aposiopese zu einer Wendung
des beweglichen Fortschrittes macht; sie ist auf dem stilistischen Standpuncte
ungefähr dasselbe, was auf dem Standpuncte der poetischen
Production ein Landschaftsgedicht ist, welches dem Leser überlässt,
sich die Landschaft in ihrer weiteren und immer weiteren Ausdehnung
selbst auszumalen, wie die früher (S. 407) besprochene Romanze Der
Räuber von Uhland.


Zahlreicher als die stilistischen Mittel zur Bewegung des Ruhigen
sind die zur Beruhigung des Bewegten, und das ist auch ganz natürlich:
das Denken und Sprechen ist in sich selbst schon progressiv
bewegt, man muss also eher und öfter in den Fall kommen, die
Bewegung zu hemmen, weil sie zu schnell ist, als sie zu beschleunigen,
weil sie ins Stocken geräth. Wir können diese Mittel in zwei
Classen theilen: sie hemmen die Bewegung, theils indem sie die
Anschauung nöthigen, längere Zeit auf einem Puncte zu verweilen,
theils indem sie dieselbe auf eine Vorstellung zurückführen, die ihr
schon früher einmal vorgelegen hat, also theils durch Verharren,
theils durch Wiederholung.


Eins der geläufigsten stilistischen Mittel, um die Einbildungskraft
zum Verharren zu nöthigen und dadurch die lebendige Anschaulichkeit
der Vorstellungen zu erhöhen und zu kräftigen, ist das Polysyndeton,
auf Deutsch etwa die Vielverbundenheit, dem Namen und der Sache
nach das reine Gegentheil des Asyndetons, der Unverbundenheit. Das
Asyndeton giebt die sonst gewohnte grammatische Verbindung der Vorstellungen
auf, dadurch erhält jede einzelne mehr Selbständigkeit, die
ganze Reihe aber mehr Beweglichkeit des Fortschrittes. Das Polysyndeton
dagegen verknüpft in einer längeren Reihe von Vorstellungen
jede mit der ihr vorangehenden, und dadurch wird die Einbildung,
die vorwärts möchte, fort und fort auf dem gleichen Puncte festgehalten,
gezwungen, sich an dem Ganzen der Reihe wirklich auch als an
einem Ganzen recht satt zu schauen. Das Asyndeton giebt eine progressive
Folge von Momenten; das Polysyndeton macht die einzelnen
Momente einander gleichzeitig. Beispiele aus Klopstocks Messias, die
sich schön und lehrreich den früher (S. 409) gegebenen von der Unverbundenheit
gegenüberstellen: „Er glaubt zu vergehen. Drauf erhebt
er sich wieder und ist noch und denkt noch und fluchet, Dass er
noch ist, und spritzt mit bleichen, sterbenden Händen Himmelan Blut“
(4. Gesang, V. 11). „Er weinte vor Wonne! Wonn' und ewiges Leben und
Schauer und Wehmuth und Staunen Ueberströmten sein Herz“ (8. Gesang,
LB. 2, 738, 33). Das Asyndeton, weil es eine schnelle Progression
bezeichnet, dient der eigentlichen Erzählung und belebt und erhebt |#f0427 : 414|

die Schilderung, indem es ihr den Anschein der Schilderung giebt;
das Polysyndeton, weil es in einem Kreise gleichzeitiger Facta verharrt,
ist eher geschickt zur Schilderung, und zur Erzählung nur in so
fern, als man einzelne Situationen mehr in der Weise der verweilenden
Schilderung fixieren will. Ein eigentlich schilderndes Polysyndeton
findet sich in Schillers Glocke: „Und drinnen waltet Die züchtige Hausfrau,
Die Mutter der Kinder, Und herrschet weise Im häuslichen Kreise,
Und lehret die Mädchen Und wehret den Knaben Und reget ohn' Ende
Die fleissigen Hände Und mehrt den Gewinn Mit ordnendem Sinn Und
füllet mit Schätzen die duftenden Laden Und dreht um die schnurrende
Spindel den Faden Und sammelt im reinlich geglätteten Schrein Die
schimmernde Wolle, den schneeigen Lein Und füget zum Guten den
Glanz und den Schimmer Und ruhet nimmer“ (Vers 116─132). Oder
in Uhlands Ernst von Schwaben, wo im 3. Aufzug (Vers 1289 fgg.)
Gisela zu Adalbert spricht: „Und wenn du nun durch deutsche Gaue
wallst Und siehst die Burgen glänzen auf den Höhn Und siehst die
Ritter reiten durch das Thal Und hörst des Jagdhorns Klänge durch
den Wald, ... Und siehst das Feuer brennen auf dem Herd Und
siehst die Kinder spielen vor der Thür: Musst du nicht schamroth
werden vor dir selbst, Dass du so leblos durch das Leben gehst?“
Vgl. auch Brief an die Römer 9, 4. Ein Polysyndeton, wo die Erzählung
in der Form der Schilderung und darum auch das Zeitwort in
präsentischer Form erscheint, bietet Schillers Taucher: „Und es wallet
und siedet und brauset und zischt, Wie wenn Wasser mit Feuer sich
mengt; Bis zum Himmel spritzet der dampfende Gischt, Und Well'
auf Well sich ohn' Ende drängt; Und wie mit des fernen Donners
Getose Entstürzt es brüllend dem finstern Schoosse. Und sieh! aus
dem finster flutenden Schooss, Da hebt sich's schwanenweiss, Und ein
Arm und ein glänzender Nacken wird bloss, Und es rudert mit Kraft
und mit emsigem Fleiss; Und er ists, und hoch in seiner Linken
Schwingt er den Becher mit freudigem Winken“ (LB. 2, 1171, 6 fg.).


Nächst dem Polysyndeton kommt sodann in Betracht die Cumulation
oder Anhäufung ähnlicher, einander nah verwandter Vorstellungen
auf einen und denselben Punct: auch hier wird die Einbildungskraft,
indem man ihr mit jedem neuen Athemzuge wiederum beinahe das
Gleiche vorführt, genöthigt, die Anschauung recht bis auf den Grund
auszukosten. Sie verbindet sich meistens mit dem Polysyndeton: darum
können auch die eben angeführten Polysyndeta als Beispiele für die
Cumulation gelten. Sie ist übrigens ein bedenkliches Mittel; denn es
ist schwer, das rechte Mass zu halten; sowie man es aber überschreitet,
tritt an die Stelle der Lebendigkeit breite, müssige, tödtende |#f0428 : 415|

Weitläuftigkeit. Die Cumulation häuft also Vorstellungen an, die nah
an einander grenzen; sie verharrt nicht grade bei Einem und demselben,
nicht bei vollkommen Gleichem, sie bringt nur Aehnliches
zum Aehnlichen.


Darin besteht ein wesentlicher Unterschied derselben von zwei
anderen Ausdrucksweisen, von der Tautologie und vom Parallelismus.
Tautologische Redensarten sind der Poesie aller Völker und demgemäss
auch der feierlichen, poetisch gefärbten Sprache des Rechtes
und staatlicher Handlungen von jeher ganz geläufig gewesen. Es ist
aber eine tautologische Redensart, wenn derselbe Begriff zwei- oder
wohl gar dreimal hinter einander mit wechselnden Worten benannt
wird, wenn nicht bloss ähnliche, nah verwandte Begriffe gehäuft, sondern
verschiedene Ausdrucksweisen des gleichen Begriffes mit einander
gepaart werden. Zweigliedrige Tautologien sind z. B.: „Art und Weise,
Hohn und Spott, Ort und Stelle, nackt und bloss, lieb und werth;“ bei
den Römern: „aequius melius, palam atque aperte;“ dreigliedrige: „frei,
los und ledig; hegen, schirmen und schützen; volo statuo iubeo, fauste
feliciter prospereque.“ Das waren zum Theil Beispiele aus der Rechtssprache;
aber wie gesagt, diese Redensarten gehören mit zu der Poesie
des Rechtes, und so sind sie auch sonst in der Poesie wohl zu Hause;
es giebt Dichter, die von tautologischen Redensarten wimmeln, die
sich ihrer bis zum Uebermass und Ueberdruss bedienen. So namentlich
Konrad von Würzburg, bei dem auch viele Cumulationen verwandter
Begriffe vorkommen. Als Beispiel diene der Anfang des Trojanerkrieges,
wo Konrad das Wesen und die Würde der Dichtkunst
mit einer Einsicht und einer Begeisterung erörtert, die freilich sein Vermögen
namhaft überragen (LB. 14, 769. 15, 949). Die in diesem Eingang
begegnenden Tautologien sind: „bringen unde geben, schœne unde
wæhe, tiur unde fremde, sîn fuoge und sîn kunst, dicke und ofte,
spannet unde dont, rinnet unde fliuʒet, lûter unde glanz, merket unde
erkennet“ u. s. w. Zahlreiche Beispiele aus der Rechtssprache bei
Jac. Grimm, Deutsche Rechtsalterthümer (2. Ausg.) S. 13 fgg.


Eine besondere Art der Tautologie ist diejenige, wo der gleiche
Begriff erst positiv, dann negativ, erst als positiver Satz, dann als
negativer Gegensatz erscheint. So bei Jeremias 30, 19: „Denn ich will
sie mehren und nicht mindern, ich will sie herrlich machen und nicht
kleinern.“ Dergleichen schon bei Homer: „πάλαι οὔτι νέον γε“ (Il. 9,
527 u. a.) und bei altdeutschen Dichtern, wie in altdeutschen Rechtsbüchern
und Urkunden, z. B. Titurel (LB. 14, 451. 15, 631): „Man mac
mich vür die alten senden wol zelen, niht für die jungen.“ So ferner:
„fördern und nicht hindern, bessern und nicht ärgern“ (Grimm, Rechtsalterthümer |#f0429 : 416|

S. 27 fgg.). Jetzt ist die Tautologie ziemlich veraltet; die
Dichter pflegen sich ihrer zu enthalten, und die Rechtssprache sowie
der Canzleistil wissen auch nur noch hin und wieder davon. In einem
Lustspiele von Holberg, Die Wochenstube betitelt, findet sich ein ergötzliches
Beispiel, wie dieser feierliche Canzleistil zuweilen auch in den
Mund gewöhnlicher Leute und in die Alltagssprache gerieth (Andere
Handlung, 7. und 8. Auftritt).


Die Tautologie verharrt bei dem gleichen Begriffe; wenn es ein
ganzer Gedanke ist, den diese zweimalige Darstellung in verschiedener
Form getroffen hat, so heisst es Parallelismus: der Parallelismus ist
eine Tautologie der Gedanken. Er ist bekanntlich ein wesentliches
Stück in der Technik der hebräischen Poesie; vgl. Psalm 24: „Die
Erde ist des Herrn, und was darinnen ist; der Erdboden, und was
darauf wohnet. Denn er hat ihn an die Meere gegründet und an den
Wassern gegründet. Wer wird auf des Herrn Berg gehen? und wer
wird stehen an seiner heiligen Stätte?“ u. s. f. 1. Mos. 49, 6. 7. 11. 13.
15. 17. 26; 4. Mos. 23, 19: „Gott ist nicht ein Mensch, dass er lüge,
noch ein Menschenkind, dass ihn etwas gereue. Sollte er etwas sagen
und nicht thun? Sollte er etwas reden und nicht halten?“ Aber auch
der Dichtkunst des Abendlandes ist der Parallelismus nicht fremd. Es
wird hier also der gleiche Gedanke dicht neben einander zweimal
ausgesprochen, nur in verschiedener Art der Auffassung und des Ausdruckes:
das gleiche Verfahren liegt aber auch dem Epigramm (S. 138),
einer Dichtart also auch des Abendlandes zu Grunde, das ja für gewöhnlich
auch nichts weiter ist als ein zweimaliger Ausdruck der gleichen
Vorstellung, nur zuerst in bildlicher, dann in unbildlicher Auffassung,
zuerst episch, dann lyrisch oder didactisch, während der orientalische
Parallelismus beide Glieder bildlich oder beide unbildlich zu gestalten
pflegt. Man kann jedoch nur denjenigen orientalischen Parallelismus
mit dem Epigramm zusammenstellen, wo die beiden Glieder wirklich
das Gleiche aussagen, nur den tautologischen, im eigentlichen und
engeren Sinne sogenannten Parallelismus, nicht aber den Parallelismus
der Antithese, der Ungleiches mit Ungleichem zusammenbringt, und
bei dem auch das Parallele nur in Einzelheiten der äusserlichen Ausdrucksweise
beruht. Beiderlei Parallelismen nehmen vorzugsweise den
Scharfsinn und den Witz in Anspruch, sie wenden sich also an den
Verstand und haben didactischen Character. Eine Eigenheit der Spruchdichtung
der Hebräer ist es, den tautologischen Parallelismus zu verbinden
mit einer Theilung und Zählung. So im Hiob 5, 19: „Aus
sechs Trübsalen wird er dich erretten, und in der siebenten wird
dich kein Uebel rühren,“ vgl. Sprüche Sal. 6, 16 (Tautologie). Sprüche |#f0430 : 417|

Sal. 30, 18: „Drei Dinge sind mir zu wunderlich, und das vierte weiss
ich nicht;“ 30, 21: „Ein Land wird durch dreierlei unruhig, und das
vierte mag es nicht ertragen.“


Endlich sind noch als Mittel des Hemmens und des Festhaltens auf
einem Puncte zu betrachten die Inversionen und die Hysterologie.


Inversion nennt man eine Umstellung, wodurch die Worte in eine
andere Ordnung gebracht werden, als die gewöhnliche Regel fordert.
Die gewöhnliche Wortstellung stimmt, wenigstens und namentlich im
Deutschen, so überein mit dem natürlichen Fortschritt in der Entwickelung
der Vorstellungen, dass eben darum überall, wo man von ihr
abweicht, auch dieser Fortschritt vorübergehend ins Stocken geräth.
Nach der gewöhnlichen Weise des Denkens und Sprechens beginnt
der Satz mit dem Subject, dann folgt das Verb und dann das Object,
z. B.: „Ich preise den Herrn;“ erst also der Ausgangspunct der Thätigkeit,
dann die Thätigkeit selbst, dann der Punct, in welchem sie ihr
Ziel findet. Bringt man nun durch eine Inversion diess Object, um
es auszuzeichnen, an die Spitze des Satzes und sagt: „Den Herrn
preis' ich,“ so ist damit das Ende zum Anfang gemacht, und der
Gedanke, statt nun noch vorwärts zu schreiten, wandelt eher in sich
selbst zurück. Und wie hier, so überall. Es kommt aber von allen
Hemmungsmitteln keins so häufig vor, als eben dieses, als die Inversion;
namentlich in dem neueren Stil der Lyrik und der Tragödie,
wie er durch Schiller ist in Uebung gebracht worden. Früherhin
waren die Inversionen weitaus seltener, sie hatten deshalb auch in
jedem einzelnen Fall, wo sie in Anwendung kamen, eine weit nachdrücklichere
Wirkung: in der neueren Zeit ist es beinahe schwer,
noch einen Satz, selbst bei Prosaisten, aufzufinden, der nicht invertiert
sei.


Während die Inversion unmittelbar in das Gebiet der Grammatik,
nur mittelbar in das der Logik gehört, steht die Hysterologie oder
das Hysteron proteron (ὕστερον πρότερον) unmittelbar und zuvörderst
in Widerspruch mit der Logik. Die Inversion verändert die gewöhnliche
sprachliche Gestaltung des Gedankens, wie sie allerdings auch logisch
begründet ist; die Hysterologie kehrt die Zeitfolge und die Causalfolge
der einzelnen Gedankenglieder selbst um, wie sie sonst auch im Sprechen
beobachtet wird: sie stellt die anfangenden und bewirkenden Vorstellungen
ans Ende und macht das Spätere zum Früheren. Bei Homer
lassen sich wirkliche Hysterologien nicht mit Sicherheit nachweisen;
dafür aber hat Virgil davon oft mit Bewusstsein Gebrauch gemacht,
z. B. Georg. 1, 456: „Non illa quisquam me nocte per altum Ire, neque
ab terra moneat convellere funem“ (das Hinausfahren folgt eigentlich |#f0431 : 418|

erst auf das Ablösen des Seiles, welches das Schiff fest hält); Aen.
3, 662: „Postquam altos tetigit fluctus et ad aequora venit“ (zuerst
zum Meer, dann auf die Höhe); Aen. 4, 6: „Postera Phoebea lustrabat
lampade terras Humentemque Aurora polo dimoverat umbram“ (zuerst
Aurora, dann Phöbus). Allerdings verstösst also die Hysterologie gegen
die Chronologie und die Logik, aber sie thut es zum Besten der Anschaulichkeit:
denn es wird wie bei der Inversion jedesmal die Hauptsache
vorangestellt, und indem der Gang der Ereignisse in sich umgekehrt
wird, tritt eine Hemmung des Fortschrittes ein, die das Ganze
und namentlich jenes Hauptereigniss zu höherer Lebendigkeit erhebt.
Auch bei den altdeutschen Dichtern finden sich Beispiele; so in Wolframs
Parzival 117, 17: „Liute, die bî ir dâ sint, müeʒen bûwn und riuten“
(das Bebauen ist als das Wesentliche, Wichtigere dem Reuten vorangestellt;
ebenso Konrad, Trojanerkr. 6263: „Mit bûwe und mit geriute“).
Parz. 119, 3: „Die hieʒ si vaste gâhen, vogele würgn unde vâhen“
(auf das Würgen kommt es hier besonders an). Nibel. 2033, 2 Lachm.:
„Slaht uns ellende, und lât uns zuo iu gân hin nider an die wîte.“
Walther 63, 4 Wack.: „Sûmunge schât dem snit und schât der sæte.“


Diess wären die Wege, auf denen man den bewegten Fortschritt
dadurch beruhigt, dass man die Einbildungskraft hindert, vorwärts zu
gehen, und sie zwingt, bei dem Gleichen zu verharren; nun sind noch
diejenigen Wege zu betrachten, auf denen man sie nöthigt, zu früherhin
schon Dagewesenem und Ausgesprochenem zurückzukehren, also
die verschiedenen Arten der Wiederholung des Gleichen.


Die Wiederholung des Gleichen ist eins der wesentlichsten Stücke in
der Technik aller alterthümlichen und volksmässigen Epik (S. 63). Sowie
in der Erzählung, im Gespräch die gleiche Vorstellung wiederkehrt,
kehren auch die schon früher dafür gebrauchten Worte wieder, und
zugleich wird jeder leiseste Anlass benützt, um die gleichen Vorstellungen
wiederkehren zu lassen. Am ausgedehntesten, am wenigsten
eingeschränkt zeigt sich dieses Verfahren der volksmässigen Epik in
den Liedern der Serben und auch der Finnen (Talvj 1, 117; Schröter 143).
Gemässigter in solchen Wiederholungen ist das Homerische Epos; doch
wird auch hier jeder neue Tag mit den gleichen Worten eingeleitet:
ἦμος δ' ἠριγένεια φάνη ῥοδοδάκτυλος Ἠώς, und die vorzüglichsten Personen
und Dinge haben ihre beständig wiederkehrenden, schmückenden
Beinamen: Achilles heisst schnellfüssig (πόδας ὠκύς, ποδώκης), auch
wo er ruhig dasitzt (Il. 1, 489), die Schiffe schnell (θοαί, ὠκεῖαι,
ὠκύποροι), auch wo sie am Lande liegen (Il. 1, 421). Noch gemässigter
ist die volksmässige altdeutsche Epik: sie kennt beinahe nur die
epitheta perpetua, die stehenden Beinamen der Personen, und auch |#f0432 : 419|

diese sind bei weitem nicht so stehend als bei Homer: im Nibelungenlied
heisst Hagen zwar wiederholendlich der grimme Hagene, aber
keineswegs immer und jedesmal nur da, wo die Umstände das Beiwort
noch eigens motivieren. Unsere neuere erzählende Poesie kennt
dergleichen eigentlich nur, insofern sie auf Nachahmung der Homerischen
beruht: so ist z. B. eine stehende Wendung in Vossens Luise
(LB. 2, 914, 13) der Vers: „Drauf antwortetest du, ehrwürdiger Pfarrer
von Grünau.“ Diese stereotype Einführung der sprechenden Person
ist Homerisch, kommt aber in der That nur in der Odyssee 13, 55
u. s. f. vor und nur, um die Reden des göttlichen Sauhirten einzuleiten.
Hier ist die Apostrophe offenbar eine von den launigen Schalkhaftigkeiten
der Odyssee; in der Luise ist sie nicht recht an der Stelle.
Sonst aber wissen unsere Dichter von solchen Wiederholungen so gut
als nichts; in Schillers Taucher, in Schlegels Arion (LB. 2, 1269) und
in Rückerts Weisheit des Brahmanen kommt etwas der Art vor, indem
eine Situation, da wo sie in der Wirklichkeit sich wiederholt, nun auch
im Gedicht ganz mit denselben Worten als das erste Mal dargestellt wird.
Im Taucher die schon früher (S. 414) citierte Strophe: „Und es wallet
und siedet und brauset und zischt“ u. s. f.; bei Schlegel heisst es von
Arion, ehe er ins Meer springt, und dann wieder, wie er sich den
heimgekehrten Schiffern zeigt: „Gehüllt sind seine schönen Glieder
In Gold und Purpur wunderbar: Bis auf die Sohlen wallt hernieder
Ein leichter, faltiger Talar; Die Arme zieren Spangen; Um Hals und
Stirn und Wangen Fliegt duftend das bekränzte Haar. Die Cither
ruht in seiner Linken, Die Rechte hält das Elfenbein.“ Bei Rückert
im Lehrgedicht 3, 202 hat die Wiederholung, da sie zugleich in der
Sache eine Steigerung bewirkt, etwas besonders Feierliches und
Ahnungsvolles. Sonst sind diese epischen Wiederholungen im Allgemeinen
selten; dass sie aber der neueren Poesie, zumal der Kunstpoesie
so gänzlich fremd geworden, ist auch ganz natürlich. Die
alte, die noch volksthümliche Epik bedarf ihrer: deren Erzeugnisse
existieren nur durch den mündlichen Vortrag, durch den lebendigen
Gesang; sie werden erhalten und fortgepflanzt durch Hörensagen und
Wiedersagen, nicht durch Schreiben und Lesen: da muss denn nothwendig
der Erinnerung zur Hilfe gekommen werden durch dergleichen
Wiederholungen, und der Phantasie ihr Geschäft erleichtert, indem
man den schnellen Fortschritt unterbricht und hemmt. In der Kunstpoesie
fällt dieser äussere Anlass gänzlich fort und damit auch dessen
Wirkung für den Stil: unsere Heldengedichte werden gedruckt und
gelesen, bloss mit den Augen gelesen, da geht die Reproduction leichter
und bequemer vorwärts, Erinnerung und Phantasie haben es nicht |#f0433 : 420|

mehr so schwer, und hat auch der Leser einmal etwas vergessen, so
kann er ja allenfalls rückwärts nachschlagen. Indessen, es ist nur
die moderne Kunstpoesie, die von jenen altepischen Wiederholungen
wenig weiss und eigentlich auch nichts wissen kann. Ein Theil der
volksmässigen Poesie auch bei uns bedient sich ihrer noch bis auf den
heutigen Tag, nämlich die Märchen und die Kinderlieder. Hier bleibt
die sonst veraltete Wirkung, weil hier die alte Ursache immer noch
lebt und fortbesteht: denn hier wird mündlich erzählt und gesungen,
nicht geschrieben und gelesen, und da es hier gilt, die noch ungeübte,
kindliche Phantasie zu beschäftigen, ist das altepische Erleichterungsmittel
besonders gut an der Stelle. So im Märchen von den zwei
Brüdern (Grimm, K. u. HM. 1, S. 311). Ganz häufig aber ist, besonders
in den Kinderliedern, das Erleichterungsmittel in echt pädagogischer
Art zugleich ein übendes Reizmittel, indem mit der Wiederholung
ein Anwachs des Wiederholten verbunden ist, mit jeder neuen
Wiederholung auch immer mehr Gedanken oder Begriffe wiederholt
werden. So in dem bekannten und vielfach variierten Liede vom
Jockeli, der Birnen schütteln wollte: Simrock, Kinderbuch (1848)
S. 218 und Stöber, Elsässisches Volksbüchlein 1, S. 31 u. 129. Ein
anderes Beispiel der Art ist die Geschichte vom Hähnchen und seinem
Hühnchen, wo wir die Poesie auf all ihren Stufen, in all ihren Tönen
und Farben finden: Simrock, Kinderbuch S. 198.


Abgesehen nun von jenen Wiederholungen, die man die epischen
Wiederholungen
nennen kann, da sie in den besonderen Bedürfnissen
des Epos begründet sind und zu den characteristischen Eigenthümlichkeiten
des epischen Stils gehören, abgesehen von den epischen Wiederholungen
giebt es nun noch andere Formen der äusseren Darstellung,
bei denen auch der Strom der poetischen Rede von Zeit zu Zeit
durch Wiederholung gehemmt und innegehalten wird, die jedoch ihrer
ganzen Beschaffenheit nach nicht gerade auf das Epos eingeschränkt,
ja sogar theilweise von dem eigentlichen Epos ausgeschlossen sind.


Hier ist zuerst von der Anacoluthie (ἀνακολουθία), d. h. Folgewidrigkeit,
Aufhebung der Construction zu sprechen. Ein Ausdruck der
wiederholenden Anschauung ist in vielen Fällen die Anacoluthie, insofern
sie nämlich ganz gewöhnlich darin besteht, dass man eine Periode,
nachdem sie begonnen hat, ganz ohne streng grammatische Rücksicht
auf diesen ihren Beginn weiter bildet, am Ende aber den unterbrochenen
Faden wieder aufnimmt und sie nun mit solcher Wiederholung
doch noch demgemäss abschliesst, wie sie angefangen hat.
Solche Anacoluthien, die zuletzt der Regel doch wieder ihr Genüge
leisten, sind namentlich die Anacoluthien der Homerischen Gleichnisse: |#f0434 : 421|

sie pflegen mit einem wie wenn (ὡς ὅτε) zu beginnen; alsbald aber
verschwindet diese Form der Abhängigkeit und die weiteren Züge des
Bildes erscheinen als selbständige Hauptsätze: ist aber das Bild in der
Weise abgethan, so kommt dann doch mit einem rückdeutenden so
(ὧς) das Gegenbild, mit einem so, dem nur zu Anfange des Ganzen
ein entsprechendes wie gegenübersteht. Wie das Homerische Gleichniss
überhaupt, so haben sich mit ihm unsere Dichter auch diese anacoluthische
Form desselben angeeignet; und diese Anacoluthien sind auch
beinahe die einzigen von Belang, die unsere neueren Dichter sich
gestatten, und mit Bewusstsein gestatten. Sie fühlen sich hier gegen
die Grammatik durch Homers Autorität gedeckt. So Göthe, Hermann
und Dorothea 7, 1 fgg.: „Wie der wandernde Mann, der vor dem Sinken
der Sonne Sie noch einmal ins Auge, die schnell verschwindende,
fasste, Dann im dunkeln Gebüsch und an der Seite des Felsens Schweben
siehet ihr Bild; wohin er die Blicke nur wendet, Eilet es vor und
glänzt und schwankt in herrlichen Farben: So bewegte vor Hermann
die liebliche Bildung des Mädchens Sanft sich vorbei und schien dem Pfad
ins Getreide zu folgen.“ Noch freier und kühner Schiller, Die Macht
des Gesanges (LB. 2, 1132): „Wie wenn auf einmal in die Kreise Der
Freude mit Gigantenschritt Geheimnissvoll nach Geisterweise Ein ungeheures
Schicksal tritt; Da beugt sich jede Erdengrösse Dem Fremdling
aus der andern Welt, Des Jubels nichtiges Getöse Verstummt
und jede Larve fällt, Und vor der Wahrheit mächt'gem Siege Verschwindet
jedes Werk der Lüge: So rafft von jeder eiteln Bürde,
Wenn des Gesanges Ruf erschallt, Der Mensch sich auf zur Geisterwürde
Und tritt in heilige Gewalt.“ In solchen Anacoluthien zeigt
sich eigentlich beides zu gleicher Zeit wirksam, einmal die Bewegung
des Ruhenden, sodann die Beruhigung des Bewegten: die Bewegung
des Ruhenden, indem zuerst die einzelnen Züge des Bildes, die in der
streng grammatischen Form sämmtlich als beigeordnete Nebensätze auf
dem gleichen Puncte verweilen würden, durch die selbständige Form,
die man ihnen giebt, in eine fortschreitende Entwicklung gebracht
werden; die Beruhigung des Bewegten, indem diesem Fortschritt zuletzt
doch wieder Einhalt gethan und die Bewegung dadurch gehemmt und
zurückgedrängt wird, dass die Periode mit dem letzten Schritte wieder
in ihren Ausgangspunct zurücktritt.


Aber auch ausserhalb des epischen oder Homerischen Gleichnisses
kommen erlaubte Anacoluthien vor: bei der Parenthese, auf Anlass eines
parenthetisch eingeschalteten Satzes (S. 348). Auch hier ist dann zugleich
beides vorhanden, vermehrte Bewegung und einlenkende Hemmung
derselben. Denn die Parenthese macht einen Schritt vorwärts aus dem |#f0435 : 422|

Satze hinaus, da sie selbständig, nicht ein Zwischensatz, sondern ein
Hauptsatz ist; aber nach der Parenthese wird der abgebrochene Faden
anacoluthisch mit Wiederholung früherer Worte von Neuem aufgenommen.
So der erzählende Anfang einer Ode Klopstocks, Die beiden Musen
(LB. 2, 767): „Ich sah ─ o sagt mir, sah ich, was jetzt geschieht?
Erblickt' ich Zukunft? ─ mit der Britannischen Sah ich in Streitlauf
Deutschlands Muse Heiss zu den krönenden Zielen fliegen.“


Eine andere Art der Wiederholung besteht in Theilung und Zusammenzählung.
Sie ist vorhanden, wenn eine Reihe gleichartiger, einander
beigeordneter Vorstellungen in möglichst übereinstimmender Ausdrucksweise
Stück für Stück vorgeführt und ausgeführt und dann zuletzt
all diese Einzelheiten noch einmal, aber nur kurz genannt und aufgezählt
werden, um sie unter einen gemeinsamen Gesichtspunct, um
einen Hauptbegriff, der den Mittelpunct bildet, zu vereinigen. Diese
Form der Wiederholung ist eine bezeichnende Eigenthümlichkeit der
älteren spanischen Poesie, und von daher ist sie auch in die deutsche
Poesie des siebzehnten Jahrhunderts aufgenommen worden. Z. B. ein
Sonett von Martin Opitz (LB. 2, 318) und Rückerts Abschied, ein
Gedicht, das nicht nur eins der schönsten und trefflichsten dieses
Dichters, sondern überhaupt der neueren deutschen Poesie ist
(LB. 2, 1539).


Ein weiteres Mittel, den Strom der poetischen Rede durch Wiederholung
zu hemmen, ist der Refrain oder mit einem puristischen
Ausdruck der Kehrreim. Die letztere Benennung ist unpasslich, weil
es auch in der antiken Poesie Refrains giebt, die doch des Reimes
entbehren. So bei Theocrit, Id. 1 u. 2; bei Catull 61. 62. 64, und mit
Nachahmung Theocrits auch bei Virgil Eclog. 8 u. a. Man nennt es
einen Refrain, wenn in einem Gedichte, das strophisch gebaut oder
doch strophenartig gegliedert ist, hinter, vielleicht auch vor jeder einzelnen
Strophe oder jedem Absatze der gleiche Vers oder die gleiche
Verbindung mehrerer Verse immer von Neuem wiederholt wird. Auf
die Wiederholung zielt denn auch wahrscheinlich der Name: Refrain
ist eigentlich s. v. a. Sprichwort: man bekommt hier wie in einem
Sprichwort, das allgemein gäng und gäbe ist, immer wieder das
Gleiche zu hören. Bei den Lateinern heisst der Refrain versus intercalaris
(von calare rufen, woher auch dies intercalaris, Schalttag),
weil er in den Verlauf des Gedichtes eingeschaltet wird; bei den Griechen
ἡ ἐπῳδός, was nicht nur den Bezug auf die einzelne vorangegangene
Strophe ausdrückt, sondern auch den Sinn der sprichwörtlichen
Rede hat. Dem eigentlichen reinen Epos ist der Refrain durchaus
fremd: er bezeichnet vielmehr meistens die Mischung und zwar eine |#f0436 : 423|

in sich selbst entzweite Mischung von epischer und lyrischer Poesie, ja
er kommt auch in reiner Lyrik vor, wie z. B. bei Catull. Es ist früher
(S. 97) aus der Litteratur mehrerer Völker nachgewiesen worden, dass
die erste Spaltung der alten einfachen epischen Poesie in epische und
und lyrische sich darstellt in einer solchen Verbindung von Strophe
und Refrain: in der Reihe der Strophen schreitet die Erzählung ungesäumt
vom Anfang dem Ende entgegen: sie bilden das epische Element
der Dichtung; aber hinter jeder Strophe kehrt nun der Refrain
wieder, ein kurzer, abgerissen hingeworfener lyrischer Gedanke, d. h.
immer und immer wieder spricht sich die Empfindung aus, die durch
das Erzählte angeregt wird: neben das beweglich fortschreitende
epische Element stellt sich, auf dem gleichen Puncte beharrlich verweilend
und den Hörer immer wieder dahin zurückziehend, das lyrische.
Diese zwiespältige Mischung von Epik und Lyrik, diese lyrische
Beruhigung des episch Bewegten, diese Verbindung von Strophe
und Refrain characterisiert besonders die mittelalterliche und moderne
Volkspoesie der scandinavischen Völker, die Balladen der Dänen, der
Schweden u. s. f. Es characterisiert diess die Volkspoesie der nordischen
Völker, insofern es dort wenige Lieder giebt, die nicht in solcher
Weise Epik und Lyrik, Strophe und Refrain neben und mit
einander aufwiesen. Aber es ist das keineswegs ihr ausschliessliches
Eigenthum. Auch die ersten Anfänge der deutschen Lyrik zeigen sich
in dieser Form. Den Hauptanfang und die Hauptgrundlage unserer
Lyrik bilden geistliche Lieder, und diese waren zuerst, so viel kann
man nachweisen, an und für sich durchaus episch, aber zugleich war
ihnen immer ein lyrischer Refrain beigegeben, der Ausruf nämlich
Kyrie eleison oder Halleluja oder bloss die Vocale dieses Wortes
aeuia, oder euouae, die Vocale von seculorum amen; und zwar hielt
man es beim Vortrage durch Gesang mit diesen beiden Bestandtheilen
so, dass Einer die Strophe sang, die Menge nur den Refrain hinzufügte,
d. h. Einer erzählte, die Gesammtheit drückte die angeregte
Empfindung aus. So heisst es in dem Leich auf den Sieg König
Ludwigs III. bei Saucourt (881): Ther kuning reit kuono, Sang lioth
frano, Ioh alle saman sungun „Kyrrie leison!“ LB. 14, 106. 15, 284. Ganz
ebenso wie hier bei Beginn einer Schlacht mit einem geistlichen Liede
verfuhr man im späteren Mittelalter mit den Tanzliedern. Auch hier
begegnen wir häufig eigentlich erzählenden Gedichten, aber mit
Refrain, und dieser Refrain pflegt dann aus blossen Interjectionen
oder gar erst neugeschaffenen Worten ohne Sinn und Verstand, bloss
von abenteuerlich lustigem Klange zu bestehn, wie z. B. traranuretum
traranuriruntundeie
in einem Liede Neidharts von Reuenthal LB. 14, |#f0437 : 424|

545. 15, 725. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass man auf solche Refrains
durch eben jenen geistlichen (Kyrie eleison, Hallelujah) geführt wurde:
denn auch dieser war für das Volk natürlich eine blosse Ausrufung
ohne bestimmten Sinn, ein blosses Empfindungswort. In unserer jetzigen
Poesie nun ist der Refrain selten, selten aus einem dem ähnlichen
Grunde, aus dem auch die vorher (S. 418) besprochenen epischen Wiederholungen
ausser Gebrauch gekommen sind. Der Refrain bezeichnet
den Uebergang von der Epik zur Lyrik: dieser Schritt ist aber für
uns und vor uns schon längst gethan; seine Anwendung ist bedingt
in dem lebendigen Vortrage durch den Gesang: unsere Poesie steht
aber in keinem nothwendigen Zusammenhange mehr mit der Musik:
beide Künste, die früherhin fast nur eine waren, gehen jetzt jede beinahe
ihren eigenen Weg für sich. Wo jedoch der Refrain jetzt noch
in Anwendung kommt, hat er auch immer noch etwas von seiner alten
Natur bewahrt: wird ein Gedicht mit Refrain gesungen, so trägt Einer
die Strophe, der Chor den Refrain vor, und dem Inhalte nach ist er
immer noch mehr oder minder deutlich der lyrische Zusatz zu einer
sonst epischen Dichtung, die Beruhigung des Bewegten, die zusammenhaltende
Einigung einer zerstreuten Reihe von Anschauungen. Beispiele:
Uhlands Trinklied: „Wir sind nicht mehr am ersten Glas“ LB. 2, 1389;
Rückerts Kriegslied: „Das ruft so laut“ LB. 2, 1547. Jede Strophe
bringt hier eine neue Situation epischer Art; alle aber werden durch
den Refrain zusammengefasst und in Beziehung gebracht auf Eine
durchgehende lyrische Grundempfindung; die beständige Wiederkehr
derselben Empfindung gleicht die Unruhe wieder aus, mit welcher die
Einbildungskraft in den Strophen selbst von einem Puncte zum andern
fortgezogen wird. Diese Bedeutung wird aufgehoben, wenn man den
Refrain gradezu mit in die Erzählung oder Schilderung hineinzieht
und nach Massgabe der einzelnen Situationen bald so, bald so abändert,
so dass weder die Erzählung ohne den Refrain bestehn kann, noch der
Refrain für sich ohne die Erzählung einen Sinn hat. So bei Körner,
Lützows wilde Jagd (LB. 2, 1519), und nicht minder fehlerhaft bei Chamisso:
„Die Sonne bringt es an den Tag“ (LB. 2, 1661): hier hat man
einen Refrain und hat auch wieder keinen. Vgl. Litt. Gesch. S. 232.


Nach allem bisher Bemerkten hat der Refrain der Regel nach
seine Stelle weder in der rein epischen noch in der rein lyrischen
Poesie: denn er selber ist lyrischer Natur, setzt aber ein sonst episches
oder doch episch geartetes Gedicht voraus. Mehrere andre Formen
der Wiederholung nun sind nicht in solcher Weise eingeschränkt, sie
können in jeglicher Gattung der Poesie vorkommen, auch in der reinen
Lyrik. Die Benennungen, welche sie tragen, sind lauter aus dem |#f0438 : 425|

Alterthum überlieferte Namen; der alte Gesammtname ist Repetitio.
Man hat sie aber zuerst in zwei Classen einzutheilen. Entweder kehrt
ganz dasselbe Wort wieder in derselben Bedeutung und in derselben
grammatischen Form, oder dasselbe Wort, aber in verschiedenen grammatischen
Formen und somit auch in mehr oder weniger verschiedener
Bedeutung. Dann sind innerhalb dieser zwei Gattungen wieder vielfache
besondere Arten zu unterscheiden. Die Arten der ersten Gattung,
wo dasselbe Wort ohne Veränderung der Bedeutung und der
Form wiederkehrt, sind mit den griechischen Namen die Anaphora,
die Epiphora, die Epanalepsis, die Epanodos, die Epizeuxis und die
Symploke.


Anaphora, ἀναφορά, Zurückführung, nennt man die Wiederkehr
desselben Wortes, derselben Wendung am Anfange mehrerer auf einander
folgender Sätze oder Satzglieder. Beispiele aus der altdeutschen Poesie:
Walther von der Vogelweide (LB. 14, 407; Wack. Ausg. S. 77), ein
Lied, wo am Anfang jeder Strophe das Wort owê wiederkehrt. Sodann
Gottfried von Neifen (LB. 14, 679): „Rôter munt, nu lache, daʒ mir
sorge swinde; rôter munt, nu lache, daʒ mir sendeʒ leit zergê! Lachen
du mir mache, daʒ ich frœide vinde; rôter munt, nu lache, daʒ mîn
herze frô bestê!“ In einem Spruche auf die Unfreigebigkeit König
Rudolfs wiederholt Meister Stolle am Anfange jedes Verses die Worte:
„Ern gît ouch niht“ (LB. 14, 751). So nun auch in der neueren Poesie,
z. B. gleich in den ersten Versen von Schillers Elegie Der Spaziergang:
„Sei mir gegrüsst, mein Berg, mit dem röthlich stralenden
Gipfel! Sei mir, Sonne, gegrüsst, die ihn so lieblich bescheint!“
(LB. 2, 1145). Reich an Anaphern ist ferner auch Göthes Ballade
Der Fischer (LB. 2, 1033). Die Anapher verbindet sich gern mit der
Gradation, wie z. B. bei Martial (Epigr. 8, 14): „Dat populus, dat
gratus eques, dat tura senatus.“ Im Zeitalter der silbernen Latinität
findet sich die Anapher auch in Prosa nicht selten, und in Verbindung
mit der Gradation bildet sie eine von den Eigenthümlichkeiten des
Taciteischen Stiles; z. B. Germania 7: „Et in proximo pignora, unde
feminarum ululatus audiri, unde vagitus infantium. hi cuique sanctissimi
testes, hi maximi laudatores. ad matres, ad coniuges vulnera
ferunt.“


Epiphora, ἐπιφορά, Zugabe, heisst die Wiederkehr desselben
Wortes, derselben Wendung zum Schluss eines Satzes oder Satzgliedes:
sie ist mithin das reine Gegentheil der Anapher. Z. B. Ovid (Metamorph.
1, 361): „Namque ego, crede mihi, si te modo pontus haberet, Te
sequerer, coniux, et me quoque pontus haberet.“ Schiller, Don Carlos
(1. Act, 2. Auftr.): „Ich sah auf dich und weinte nicht. Der Schmerz |#f0439 : 426|

Schlug meine Zähne knirschend an einander: Ich weinte nicht. Mein
königliches Blut Floss schändlich unter unbarmherz'gen Streichen: Ich
sah auf dich und weinte nicht.“ Also ist auch der gleiche Reim als
eine Epiphora zu betrachten: vgl. Schlegels Bund der Kirche mit den
Künsten (LB. 2, 1281, 35 u. 1283, 11). Das Gleiche gilt auch von dem
überzähligen Reime, der aus einem gewöhnlichen und einem gleichen
zusammengesetzt ist: er findet sich namentlich in der hauptsächlichsten
Form der arabischen und der persischen Lyrik, in der Kasside, und
in deren Abart, dem Ghasel, indem hier häufig am Ende jedes neuen
Distichons dasselbe Wort oder dieselben Worte wiederkehren. Ein
Gedicht von Rückert in der Form des Ghasels wird das am besten
zeigen; es ist an die Poesie gerichtet und beginnt also: „Du Duft,
der meine Seele speiset, verlass mich nicht! Traum, der mit mir
durchs Leben reiset, verlass mich nicht! Du Paradiesesvogel, dessen
Schwing' ungesehn Mit leisem Säuseln mich umkreiset, verlass mich
nicht!“ u. s. f. (LB. 2, 1566).


Epanalepsis, ἐπανάληψις, Wiederaufnahme, oder Anadiplosis,
ἀναδίπλωσις, Verdoppelung: so heisst man es, wenn der Anfang des
einen Satzes am Ende des andern wiederholt wird. Beispiel, Klopstock
(Messias 2, 763): „Weinet um mich, ihr Kinder des Lichts! er liebt
mich nicht wieder, ewig nicht wieder: ach, weinet um mich!“ Eine
Epanalepsis ist es auch, wenn Walther von der Vogelweide jede
Strophe eines Liedes mit dem Worte owê beginnt und schliesst
(LB. 14, 408; Wack. Ausg. S. 74); oder wenn Joh. Mentzer am Anfang
und am Ende jeder Strophe seines Passionsliedes die Worte: „Der am
Kreuz ist meine Liebe,“ wiederkehren lässt.


In der Epanalepsis vereinigen sich gewissermassen die Anaphora
und die Epiphora. Eine wirkliche und eigentliche Vereinigung beider
ist die Epanodos, ἐπάνοδος, der Rückweg, wo sich die Wortfolge bei
der Wiederholung umkehrt, wo, was vorher das erste Wort gewesen,
nun das letzte wird und umgekehrt. Ganze Verse werden in umgekehrter
Folge wiederholt in einem Liede Walthers, das zwar einen
moralischen Zweck verfolgt, gleichwohl aber scherzhaften Character hat
(LB. 14, 400; Wack. Ausg. S. 64). Seb. Brant, Narrenschiff (Cap. 103,
92; LB. 15, 1505, 22): „Die zyt die kumt, es kumt die zyt.“ Hesekiel
7, 6: „Das Ende kommt, es kommt das Ende.“ 1. Mos. 5, 17: „Pharao
sprach: Ihr seid müssig, müssig seid ihr.“ Lächerlich aber ist es, wenn
die Epanodos einzelne inhaltslose Worte trifft; so z. B. in der Medea,
einem Melodrama von Gotter: „Hier lag ich sonst, sonst lag ich hier
und flehte Segen Auf Jasons Haupt. Nun lieg' ich hier, hier lieg' ich nun
Und flehe Rache auf Jasons Haupt“ (zugleich ein Beispiel der Epiphora).

|#f0440 : 427|


Epizeuxis, ἐπίζευξις, Hinzufügung, heisst im Allgemeinen überhaupt
jede Wiederholung ohne besondre Localisierung wie bei der Anaphora
und der Epiphora; z. B. die weite weite Welt; er sprach und sprach
und fand kein Ende. Da die Epizeuxis nicht grade immer am Schluss
oder immer am Anfang steht, ist sie natürlich eben auch von allen Wiederholungen
die häufigste; Beispiele dafür finden sich denn auch bei
jedem Dichter, aller Orten und Enden, sogar in der Alltagssprache.
Jesaia 24, 16: „Und ich muss sagen: Wie bin ich aber so mager? Wie
bin ich aber so mager? Weh mir; denn die Verächter verachten, ja
die Verächter verachten“; 62, 10: „Gehet hin, gehet hin durch die Thore,
bereitet dem Volk den Weg; machet Bahn, machet Bahn“. Gern verbindet
sich die Epizeuxis mit der Antithese, man bringt die wiederkehrenden
Worte gern in antithetisch wechselnde Beziehung, z. B. das
erste Mal auf ein ich, das zweite Mal auf ein du. So in dem altschwäbischen
Rechtsformular für ein Verlöbniss LB. 14, 187. 15, 365: „Mir
zemineme rethe, îv zuo ivwereme rethe, mit mineme uolewerde engegen
ivvereme uollen werde.“ Die alte Rechtssprache liebt die Epizeuxis, wie
sie die Cumulation und die Tautologie liebt; auch die Wiederholung
dient, indem sie den Moment fixiert und die Eile hemmt, zur Erhöhung
der Feierlichkeit, deren die rechtliche Handlung bedarf. Als eine
besondere Abart der Epizeuxis kann man solche reduplicierende Redensarten
betrachten wie Hand in Hand, Mund an Mund, Mann für Mann,
Auge um Auge, Zahn um Zahn u. dgl. Sagte man in prosaischer
Weise eine Hand in der andern, so würde dieser zählende Fortschritt
vom Ersten zum Zweiten die Vorstellung eben zu einer fortschreitenden
machen; die Wiederholung des gleichen Wortes hält diesen Fortschritt
inne und erhöht dadurch die sinnliche Anschaulichkeit. Diese
reduplicierenden Redensarten sind als die einfachste Art der Epizeuxis
und überhaupt der Wiederholungen auch der poetischen Sprache aller
Völker eigen: sie finden sich bei den Orientalen wie bei den Griechen
und Römern und Deutschen.


Eine Symploke (συμπλοκή) endlich, d. h. eine Verflechtung, nennt
man es, wenn in einem Satze oder in einer eng zusammenhangenden
Reihe von Sätzen mehrere von den bisherigen Arten der Wiederholung
zugleich vorkommen, sich mit einander verbinden und verflechten. So
z. B. in Schillers Don Carlos 1. Act, 2. Auftr.: „Lass mich weinen, an
deinem Herzen heisse Thränen weinen (Epiphora), du einz'ger Freund.
Ich habe niemand, niemand (Epizeuxis), auf dieser grossen weiten Erde
niemand (Epiphora). Soweit das Scepter meines Vaters reicht, soweit
(Anaphora) die Schifffahrt unsre Flaggen sendet, Ist keine Stelle, keine,
keine
(Epizeuxis), wo Ich meiner Thränen mich entlasten darf, als |#f0441 : 428|

diese. O bei Allem, Rodrigo, Was du und ich dereinst im Himmel
hoffen, Von dieser Stelle, Rodrigo, verjage, verjage (Epanodos) mich
von dieser Stelle nicht!“


Wir wenden uns nun zur zweiten Hauptgattung dieser Wiederholungen;
hier kehrt nicht dasselbe Wort in unveränderter Form und
Bedeutung wieder, sondern mit wechselnder Form und demgemäss auch
mit noch mehr oder weniger veränderter Bedeutung. Wenn zuerst die
Flexionsform wechselt, wenn das wiederholt gebrauchte Wort verschiedene
Declinations- oder Conjugationsformen zeigt, so nennt man das
ein Polyptoton (πολύπτωτον). Eigentlich passt dieser Name nur, wo
vielerlei verschiedene Declinationsformen vorkommen, da πτῶσις Fall,
Casus bedeutet; aber die Benennung gilt auch, wo es die wechselnde
Conjugationsweise betrifft. Ein reiches Beispiel bietet Homers Odyssee
19, 204 fgg., wo in fünf Versen1 der Begriff τήκειν, schmelzen, in den
Formen τήκετο, κατατήκετο, κατέτηξεν, τηκόμενος, τήκετο wiederkehrt.
Voss hat dieses Polyptoton in seiner Uebersetzung trefflich nachgeahmt:
„Aber den Hörenden floss die schmelzende Thrän' auf die Wang'
hin; So wie der Schnee hinschmilzt auf hochgescheitelten Bergen,
Welchen der Ost hinschmelzte, nachdem ihn geschüttelt der Westwind;
Dass von geschmolzener Nässe gedrängt abfliessen die Bäche: Also
schmolz in Thränen der Gattin liebliches Antlitz.“ Mit Epizeuxis verbunden
erscheint das Polyptoton in einem Xenion Göthes auf Nicolai
(LB. 2, 1086, 30): „Seine Meinung sagt er von seinem Jahrhundert, er
sagt sie, Nochmals sagt er sie laut, hat sie gesagt und geht ab.“
Nicht so häufige Wiederkehr und doch das stärkste Beispiel bietet
Ovid Metam. 1, 325: „Et superesse videt de tot modo millibus unum,
Et superesse videt de tot modo millibus unam:“ hier verbindet sich mit
dem Polyptoton noch die Anaphora, oder wie man es nennen wolle.


Geht der Wechsel der Form weiter, wechselt sie, weil ein anderes
von der gleichen Wurzel oder dem gleichen Stamm gebildetes Wort eintritt,
so heisst das Annominatio, ein Name, der, wie wir früher (S. 391)
gesehen, auch das Wortspiel bezeichnet. Z. B. bei Klopstock: „Die Stille
ward stiller;“ oder wiederum Klopstock (Mess. 6, 190): „Lass, den meine
Seele geliebt hat, Den ich liebe mit viel mehr Liebe wie Liebe der Brüder,
Lass mich mit dir, du Heiligster, sterben!“ So auch Voss: „Schreibend

1
1) τῆς δ' ἄρ ἀκουούσης ῥέε δάκρυα, τήκετο δὲ χρώς.
ὡς δὲ χιὼν κατατήκετ' ἐν ἀκροπόλοισιν ὄρεσσιν,
ἥν τ' Εὖρος κατέτηξεν, ἐπὴν Ζέφυρος καταχεύῃ·
τήκομενος δ' ἄρα τῆς ποταμοὶ πλήθουσι ῥέοντες·
ὧς τῆς τήκετο καλὰ παρήϊα δάκρυ χεούσης.
|#f0442 : 429|

schreibt er im Schreiben geschriebene Schriften der Schreiber.“ Beispiele
aus der altdeutschen Poesie: Heinrich von Rugge (Minnesangs
Frühling S. 100, 34 fgg.): „Minne minnet stæten man. Ob er ûf minne
minnen wil, Sô sol im minnen lôn geschehen. Ich minne minne als
ichs began. Die minne ich gerne minnen wil. Der minne minne ich
hân verjehen. Die minne erzeige ich mit der minne, Daʒ ich ûf minne
minne minne. Die minne meine ich an ein wîp. Ich minne, wan ich
minnen sol Dur minne ir minneclîchen lîp.“ Ebenso schliesst Ulrich
von Singenberg ein Lied mit folgender Strophe (Wackern. Walth.
S. 223, 2): „Minne, minneclîche Minne, Minne mich, sît ich von herzen
minne dich. Mich (ich minne dîne sinne) Minne: wilt dû danne dîne
minne an mich Unminneclîchen kêren, Minne, owê! So ist Minne ir
minne unminneclîch, wil sî daʒ vröide an mir zergê.“ Polyptoton und Annominatio
wechseln mit einander in den Reimspielen Gottfrieds von Neifen
LB. 14, 681 (15, 861) und Konrads von Würzburg LB. 14, 755 (15, 935).


An die bisher besprochenen Arten der Wiederholung schliesst sich
noch das Echo an: es grenzt zunächt an die Epiphora und den Refrain,
indem das letzte Wort der Verse oder der Strophen von einem Wiederhall
zurückgegeben wird. Das wiederholte Wort bleibt beim Echo
bald dasselbe, bald verändert es Form und Sinn; es berührt sich also
bald mit der Epizeuxis, bald mit dem Polyptoton und der Annominatio.
Das Echo hat zugleich eine musikalische Wirkung und die Form
des Witzes; es artet aber leicht in Tändelei aus. Im 16. und 17. Jahrhundert
wurde es namentlich von den spanischen Dichtern und nach
ihrem Vorgange von den Pegnitzschäfern angewandt. So bei Reinhold
von Freientahl ein Waldlied, „in welchem der Wiederhall ausser dem
Verse“ LB. 2, 545. Bei neuern Dichtern findet sich das Echo nur
selten: in Tiecks Octavian 146 ein Beispiel, wo es mit Theilung und
Zusammenzählung verbunden ist.


Wodurch diese verschiedenen Formen der Wiederholung, von der
Anaphora, Epiphora u. s. w. bis zum Echo, sich von den epischen Wiederholungen
und von der Wiederholung im Refrain unterscheiden, das
ist ziemlich klar an sich selbst. Die epische Wiederholung kann sich
auf ganze grosse Reihen von Vorstellungen erstrecken, der Refrain
kann auch aus mehreren Versen bestehn: Anaphora, Epiphora, Epizeuxis
haben es immer nur mit einzelnen Worten, mit Satztheilen zu
thun. Die epische Wiederholung hat etwas schon Entfernteres, vielleicht
lange vorher Vorgekommenes zum Gegenstande, die Wiederholung
durch den Refrain kann durch sehr grosse dazwischen tretende
Strophen unterbrochen sein: Anaphora, Epiphora, Epizeuxis u. s. w.
kommen nur innerhalb eines Satzes, oder wenn auch in mehr als |#f0443 : 430|

einem Satze, doch nur in Sätzen vor, die unmittelbar auf einander
folgen. Aber alle Formen der Wiederholung sind eine wie die andere
ein stilistisches Mittel, den Fortschritt zu mässigen, die Beweglichkeit
zu beruhigen, die Zerstreuung zu sammeln, ein Mittel, die Einbildungskraft
immer wieder auf den gleichen festen Punct zurückzuführen.


So viel von der einen Hauptseite des poetischen Stils, von der
Anordnung der Worte, insofern man auf den Gehalt derselben sieht
(S. 409). Treten wir nun auf den anderen uns noch übrigen Standpunct
und fassen die Worte bloss von Seiten ihrer Gestalt ganz äusserlich, nur
als tönendes und lautendes Material. Hier ist denn zu sprechen vom
Wohlklang und vom Wohllaut, wie wir diese beiden schon früher
(S. 363) unterschieden haben. Zuerst der Wohlklang. Auch hier, ganz
auf der Oberfläche der sprachlichen Darstellung, laufen die beiden Wege,
die zu lebendigem Ausdrucke führen, neben einander her und durch
einander, die Bewegung und die Beruhigung. Beides zeigt sich gleich
wirksam in dem künstlerischen Rhythmus der poetischen Rede: die
Bewegung in dem Wechsel des Verschiedenen, verschiedener Quantität,
verschiedener Accente; die Beruhigung darin, dass dieser Wechsel
in sich selbst gleichmässig gegliedert ist, dass er in einer bestimmten
Anordnung vor sich geht; die Bewegung in der Zusammenstellung
verschiedener, immer anders gestalteter Füsse zu einem Verse, und
verschiedener, immer anders gestalteter Verse zu einer Strophe: die
Beruhigung darin, dass mit dem nächsten Verse der gleiche Wechsel
von Füssen, mit der nächsten Strophe der gleiche Wechsel von Versen
wiederkehrt. Es fallen hier also die beiden Merkmale der Lebendigkeit
ganz zusammen mit den beiden Merkmalen der Schönheit, der
Mannigfaltigkeit und der Einheit: in der Bewegung ist die Mannigfaltigkeit
begründet, in der Beruhigung die Einheit, und umgekehrt.


Auch von der prosaischen Rede hat die Stilistik einen gewissen
Rhythmus zu fordern; wir haben diesen Punct früherhin (S. 363 fgg.)
ausführlich behandelt. Aber der prosaische Rhythmus macht sich
nur im Grossen und Ganzen geltend, nur im Verhältniss eines Satzgliedes
zum andern, einer Periodenhälfte zur andern; es wird überall
nur verlangt, dass sich in diesen grossen Verhältnissen der trochäische
Rhythmus darstelle, dass ein Satz mit den wichtigern, also
stärker betonten Worten beginne, mit den unwichtigern, also minder
betonten endige, dass von beiden Hälften einer Periode die
durch ihren Inhalt gehobene als Vordersatz vorangehe, die gesenkte
als Nachsatz folge und beschliesse. In der poetischen Rede dauert
diese Forderung des trochäischen Rhythmus im Grossen immer noch
fort; diese trochäische Gliederung der Sätze und Perioden wird hier |#f0444 : 431|

nicht minder verlangt. Aber zugleich waltet hier noch ein Rhythmus,
der bis ins Einzelne hinein, bis auf die Silbe, ja bis auf den Buchstaben
künstlerisch ausgebildet und fort- und durchgeführt wird, und
dieser kann ein ganz anderer sein als der trochäische, ja demselben
grade entgegengesetzt. Nehmen wir z. B. die Verse Schillers: „Wo
rohe Kräfte sinnlos walten, Da kann sich kein Gebild gestalten;
Wenn sich die Völker selbst befrein, So kann die Wohlfahrt nicht
gedeihn:“ hier ist der Rhythmus der Periodenglieder trochäisch; die
einzelnen Worte und Silben sind jambisch. Wie in diesem Beispiele, stellt
sich dann dieser künstlerische Rhythmus der poetischen Rede überall
auf die mannigfachste Weise ebenso in Gegensatz zu dem unkünstlerischen,
natürlich gegebenen Rhythmus, der schon in der Prosa waltet,
wie sich auch sonst die poetische Darstellung zu der gewöhnlichen
und zunächst gegebenen in Gegensatz und Widerspruch stellt. Ein
solcher Gegensatz des künstlerischen Rhythmus gegen den unkünstlerischen
ist es, wenn man die Versfüsse in Widerspruch bringt mit
den Wortfüssen, wodurch Cäsuren (Neben- und Hauptcäsuren) entstehn,
wenn also z. B. in einem Hexameter nicht auch die einzelnen
Worte und Wortfüsse für sich schon Dactylen und Spondeen sind,
sondern die Versfüsse zwar Dactylen, die Wortfüsse aber etwa Anapäste.
In dieser Beziehung ist folgender Vers von Klopstock: „Eile
dahin, wo der Tod und das Grab und die Nacht dich erwarten,“ künstlerisch
vollendeter, ist wohlklingender als folgender des Grafen von
Platen (LB. 2, 1737, 31): „Saht hier Spanier, saht hier Britten und Gallier
herschen.“ Hier fallen Wortfüsse und Versfüsse durchaus zusammen:
der Rhythmus des Verses ist kein anderer, als der in den Worten
selbst schon gegeben ist. Eben ein solcher Gegensatz ist es auch,
wenn die poetische Rede überhaupt demjenigen Rhythmus ausweicht
und ihn zu vermeiden sucht, welcher der Sprache sonst natürlich und
ihr gleichsam angeboren ist. Der natürliche Grundrhythmus der deutschen
Sprache ist eben der trochäische: darum gehören bei uns auch
trochäische Verse zu den seltenern, und am häufigsten ist der jambische
Rhythmus, der reine Gegensatz jenes natürlichen trochäischen.
Umgekehrt ist der natürliche Rhythmus der romanischen Sprachen der
jambische: die spanische Poesie, die ihre Formen am kunstmässigsten
ausgebildet hat, enthält sich nun auch des jambischen Rhythmus fast
gänzlich und kennt fast nur seinen Gegensatz, den trochäischen.


Es ist vorher gesagt und nachgewiesen worden, dass die rhythmische
Gliederung der poetischen Rede beiden Principien zugleich
diene, der Bewegung und der Beruhigung. Und das gilt überall, der
Rhythmus möge sein, welcher er wolle, jambisch oder trochäisch, |#f0445 : 432|

dactylisch oder anapästisch. Indessen haben dann doch die einzelnen
Rhythmen jeder wieder seinen individuellen Character, und die
eine Zusammenstellung von Längen und Kürzen, von betonten und
unbetonten Silben bezeichnet und malt mehr die Bewegung, die andere
mehr die Ruhe. Bei dieser Unterscheidung des characteristischen
Ausdruckes kommt es lediglich auf die Stelle an, welche die betonte
oder die lange Silbe einnimmt, ob sie die vordere oder die hintere
ist, und auf die Zahl der kurzen oder unbetonten Silben, die ihr
beigegeben sind. Fallende Füsse, d. h. solche, welche mit einer langen
oder einer betonten Silbe beginnen, bezeichnen einen in sich selbst durch
Gleichmässigkeit beruhigten, steigende, d. h. solche, die mit einer kurzen
oder einer unbetonten Silbe anheben, einen bewegteren Fortschritt;
und wo in solch einem Fuss zwei unbetonte oder zwei kurze Silben
hinter einander stehn, malen sie eine grössere Bewegung als nur eine.
Ein schwebender Fuss aber von zwei Längen oder zwei Tönen bezeichnet
die fest und schwer verharrende Ruhe. Wir können demgemäss
die gebräuchlichsten Rhythmen, (von denen die übrigen nur weitere
Combinationen und Ausbildungen sind) in folgender Weise ordnen:
Feste Ruhe stellt der Spondeus dar; beruhigten Fortschritt der Trochaeus,
weniger beruhigten der Dactylus; bewegten Fortschritt der
Iambus, noch bewegteren der Anapäst. Diese Auffassung wird durchaus
bestätigt durch die Verschiedenheit der Dichtungsarten, denen die
einzelnen Füsse zufallen, und die Art und Weise, wie sie da verwendet
werden: in der antiken Poesie, wo die Form die höchste Vollendung
erreicht hat, braucht den bewegten Iambus und den noch bewegteren
Anapäst das Drama, jenen in dem halb lyrischen Dialog,
diesen im ganz lyrischen Vortrage des Chores; den ruhiger fortschreitenden
Dactylus das gleichmässig fort erzählende Epos; es untermischt
ihn aber, um die Bewegung noch mehr zu beruhigen, mit den minder
bewegten Trochäen (bei Homer finden sich genug Trochäen) und den
ganz fest ruhenden Spondeen; einen je schnelleren Fortschritt der
epische Hexameter bezeichnen soll, desto mehr Dactylen hat er; ein
je festeres und schwereres Verharren er bezeichnen soll, desto mehr
Spondeen enthält er auch. Am festesten und schwersten stellt sich
das Verharren im Versus spondiacus dar. Man vergleiche z. B. folgende
Hexameter von A. W. von Schlegel (LB 2, 1308, 5 fgg.): „Wie
vom Okeanos quellend, dem weithin strömenden Herscher, Alle
Gewässer auf Erden entrieselen oder entbrausen. Wie oft Seefahrt
kaum vorrückt, mühvolleres Rudern Fortarbeitet das Schiff, dann plötzlich
der Wog' Abgründe Sturm aufwühlt, und den Kiel in den Wallungen
schaukelnd dahinreisst: So kann ernst bald ruhn, bald flüchtiger |#f0446 : 433|

wieder enteilen, Bald, o wie kühn in dem Schwung! der Hexameter
immer sich selbst gleich.“


So viel von dem rhythmischen Bau der poetischen Rede und dem darauf
beruhenden Wohlklang. Jetzt ist noch vom Wohllaut zu sprechen.


Der Wohllaut wird auf positivem und negativem Wege erzielt.
Der letztere besteht in der Vermeidung des Misslautes. Die allgemeine
Regel ist hier, dass die dichterische Rede leicht zu sprechen
und leicht zu hören sei. Es dürfen also keine Härten vorkommen,
die durch Wegwerfung eines Endconsonanten oder durch Häufung allzuvieler
Consonanten entstehn. Ebenso hat man die eintönige Wiederkehr
derselben Vocale zu vermeiden und eine mannigfache Mischung zu
erstreben. Aber dieses rechte Mass und diese rechte Mischung ist
schwer zu treffen und nur Wenigen gegeben. Nehmen wir z. B. zwei
Verskünstler der neuern Zeit, Voss und A. W. von Schlegel, so zeigt
sich gleich, dass Voss in der Behandlung der Vocale ein Meister ist,
während die Consonanten bei ihm bei weitem nicht so glücklich
gemischt sind. Umgekehrt verhält es sich mit Schlegel: so weich
und gefüge er in den Consonanten ist, so eintönig ist er, was die
Vocale betrifft. Die Vermeidung des Misslautes zeigt sich hauptsächlich
gegenüber dem sogenannten Hiatus, d. h. dem Zusammentreffen
zweier Worte, von denen das eine mit einem Vocal
schliesst, das andre mit einem Vocal beginnt. Er hat seinen Namen
davon, dass beim Uebergang von einem vocalisch schliessenden Worte
zu einem vocalisch anhebenden der Mund offen stehn bleibt. Das
Zusammentreffen von Vocalen innerhalb eines und desselben Wortes
gilt nicht als Hiatus: den Griechen erschienen dergleichen Worte, wie
z. B. ἰάομαι, ἑώϊος, ἀοιδιάουσα, eher wohllautend als misslautend.


Die Griechen und Römer tilgten den Hiatus durch eine Apocope
des einen der zusammentreffenden Vocale oder durch eine Synaloephe
(Verschleifung) beider zu einem Mischlaut, und diess Verfahren galt
nicht nur in Versen, sondern auch in Prosa, ja in der Alltagssprache.
Die deutsche und die romanischen Sprachen sind in der Tilgung des
Hiatus weniger streng; sie kennen die Apocope nur in der Poesie, in
der prosaischen Rede wird der Hiatus nicht beseitigt, da er hier nicht
als fehlerhaft gilt. Im Deutschen gelten für die Tilgung des Hiatus
durch Apocope folgende Regeln, die aus dem Gebrauche der guten
Dichter entnommen sind. Das erste Wort muss mit einem stummen e
schliessen, und dieses muss tonlos sein; sobald es einen auch nur
schwächern Accent hat, ist die Tilgung nicht gestattet: man darf also
wohl sagen: „Wandl' in Frieden, zittr' aus Furcht,“ nicht aber „wandel'
in Frieden, zitter' aus Furcht,“ weil das hier apocopierte e nicht tonlos, |#f0447 : 434|

sondern tieftonig ist: „wándelè in Frieden, zitterè aus Furcht.“
Das zweite Wort muss vocalisch anfangen, aber der Vocal darf nicht
betont sein. Hier gilt keine Einschränkung auf das unbetonte e, es
ist vielmehr jeder Vocal, auch ein langer, zugelassen, wenn er nur
unbetont ist. Dergleichen unbetonte Anfangssilben sind die Vorsilben
ent, er, un; auch einsilbige Worte von proclitischer oder enclitischer
Natur wie die Pronomina und die Praepositionen, z. B. er, ich, in,
an, aus
u. s. w. entsprechen der aufgestellten Forderung. Unrichtig
wäre also nach dem Gesagten die Apocope: „Es herrsch' Ándacht;
der graus' Ánblick.“ In volksmässigen, freier gebauten Versen kann
auch vor einem zweisilbigen Worte Apocope eintreten, falls dieses
von untergeordneter Bedeutung und in beiden Silben tonlos ist: z. B.
„Ich hatt' einen Kameraden“ (Uhland).


Bei der Tilgung des Schluss-e fliesst das so gekürzte Wort mit
dem folgenden wie in eins zusammen; es findet nicht bloss Apocope
des ersten statt, sondern dieses wird zugleich mit dem zweiten in eins
gezogen und verschleift, so dass die beiden Worte wie Silben eines
und desselben Wortes erscheinen. Z. B. „Mit deiner Lieb' umgeben;
lass eine Weis' erklingen:“ hier folgen um, er unmittelbar und ungetrennt
auf das b, s. Diese Verschleifung ist unmöglich, wenn die
Worte durch Interpunction getrennt sind, also eine Pause zwischen
beiden eintritt: in diesem Falle wird die Apocope unterlassen. Aus
dem gleichen Grunde war nun gar das eine Verkehrtheit, wenn Dichter
des siebzehnten Jahrhunderts sogar aus einem Vers in den andern
hinein apocopierten und ein e am Schluss des ersten Verses wegliessen,
weil der zweite vocalisch begann.


Die bisherigen positiven und negativen Bestimmungen geben nur
das Allgemeine; will man sie in das Einzelne hinein anwenden, so
erleiden sie mehrfache Beschränkungen. Es kommt namentlich darauf
an, welcher Art von Worten das erste Wort angehört, und welcherlei
Consonanten dem e vorangehn.


Substantiva können unbedenklich apocopiert werden, wenn dem
stummen e eine Media, ein b, d, g, s, w vorangeht: z. B. „Seine Hab'
ist ihm entwandt; Gottes Gnad' und Güte; alle Tag' in Sorg' und
Klage; dass auch ein Löw' erschrickt“ u. dgl. Bei der richtigen weichen
Aussprache hört man hier, dass ein e apocopiert, dass eine Verschleifung
eingetreten ist; denn b, d, g, s, w sind nur vor Vocalen
rein auszusprechen, nicht aber am wirklichen Schluss eines Wortes.
Da klingt die Apocope weder wie eine harte Abbrechung, noch ist
irgendwie ein Missverständniss möglich. Das ist aber der Fall, wo
vor dem tonlosen e eine Tenuis, eine Aspirata oder eine Liquida steht: |#f0448 : 435|

dergleichen Consonanten sind auch ohne nachfolgenden Vocal zu sprechen,
k ch l haben denselben Laut, wo sie unmittelbar am Schluss
stehn, und wo noch ein Vocal darauf folgt: hier ist also nicht zu vernehmen,
ob ein e weggefallen ist oder nicht. Ebenso verhält es sich,
wo dem stummen e ein vocalischer Laut vorangeht: das äu in Bläue
bedarf zu seiner Aussprache nicht des e. In all solchen Fällen ist die
Apocope unthunlich, weil harte Abbrechungen und Missverständnisse
entstehen. Man darf also nicht wohl sagen: „Die Bläu' erscheinet wieder,
die Tulp' erblüht, die Wölfe haben Schaf' erwürgt“ u. dgl. Diess
pluralische Schaf wäre gleichlautend mit dem Singular, die Apocope
würde also eine Undeutlichkeit bewirken. Eher geht es noch an, das
e zu apocopieren, wo wenigstens keine Undeutlichkeit stattfinden kann:
z. B. „Die Störch' erheben ihren Flug;“ hier ist zwar die Flexionsendung
spurlos verloren gegangen, aber der Umlaut lässt doch wenigstens
den Plural erkennen. Gut und schön ist aber die Apocope auch so
nicht. Erscheint mithin die Apocope unthunlich, so heisst das nun
aber nicht, der Hiatus sei gestattet, und man dürfe sagen: „Die
Bläue erscheint, die Wölfe haben die Schafe erwürgt.“ Weder solch
ein Hiatus, noch solch eine Tilgung desselben ist erlaubt; es ist vielmehr
beidem auszuweichen.


Noch viel beschränkter als bei Substantiven ist die Anwendung
der Apocope bei Adjectiven. Und diess ist auch ganz natürlich: die
adjectivischen Worte bestehn nur durch ihre Beziehung auf andre,
auf Substantiva, und diese Beziehung wird ausgedrückt durch die
Flexion. Die Tilgung der Flexionsendung ist darum bedenklich. Einverleibte
Adjectiva dürfen niemals apocopiert werden, gleichviel ob
dem stummen e ein Consonant oder ein Vocal und welcher Consonant
ihm vorangehe: man kann also z. B. weder: „Die neu' Entdeckung,“
noch „die ganz' Erfindung,“ noch „die hold' Empfindung,“ noch „mein'
Erinnerung“ sagen. Aber so wenig die Apocope gestattet ist, so fehlerhaft
ist freilich auch der Hiat in diesem Falle. Absolut gebrauchte,
substantivische Adjectiva werden wie Substantiva behandelt. Hiernach
mag es gestattet sein zu sagen: „Es bellt der Hund, der Blind'
erschrickt,“ nicht aber: „Der Alt' ist todt,“ oder: „Er zog nimmer das
Schwert, lass auch das dein' in der Scheide.“ Ebenso verfährt man
auch mit Adjectiven, die schon in der unflectierten Form auf e endigen,
sobald sie in dieser Form als Prädicat oder als Adverb gebraucht
werden; gestattet ist also wohl: „Schnöd' ist solch ein Lohn; Heute
bös' und morgen gut.“


Bei den Zeitwörtern endlich gelten all die bisher berührten Schranken
nicht. Hier wird hinter allen Consonanten apocopiert, hinter den |#f0449 : 436|

Tenues, den Aspiraten, den Liquiden wie hinter den Mediae: z. B.
„Da grünt' und blüht' es überall; ich mach' ihn selig; er bleib' in Ruhe“
u. dgl. Der Grund hiervon liegt in der Häufigkeit und Unentbehrlichkeit
der ganzen Wortart. Wenn hier auch jene Schranken bestünden,
so wäre es schwer und beinahe unmöglich noch einen Satz und
Vers zu bilden. Bei der nun geltenden Freiheit ist es aber doppelt
nothwendig, nicht nur die Apocope, sondern auch die Verschleifung
vorzunehmen und beide Worte in eins zu ziehen. Wird diess in dem
Beispiel: „Da grünt' und blüht' es“ unterlassen, so läuft man Gefahr,
dass die beiden Verba präsentisch aufgefasst werden.


Noch eine Freiheit verdient hervorgehoben zu werden. In den
bisher besprochenen Fällen war das erste Wort jeweilen betont und
apocopiert, das zweite dagegen war unbetont, oder es begann mit
einer unbetonten Silbe. Bei Verben kann auch das Umgekehrte vorkommen:
das erste Wort ist ein tonloses und apocopiertes Verbum,
und darauf folgt ein betontes Wort, so dass das Verbum proclitische
Natur annimmt; z. B. „Doch ích musst' únten stehn; Ueb' ímmer Treu
und Redlichkeit.“


Wir pflegen jetzt diese Apocope mit dem Apostroph zu bezeichnen,
einem von den Griechen entlehnten Zeichen. In Deutschland gebrauchte
es zuerst Konrad Gesner bei seinen antik gemessenen Versen: vgl. die
Proben aus Gesners Mithridates vom Jahre 1555 im LB. 2, 117. Vorher,
im Mittelalter, galten zwei andre Verfahrensarten. Entweder wurde
der getilgte Vocal gar nicht geschrieben, aber auch kein Apostroph angewendet,
oder, und das ist das Gewöhnlichere, man schrieb ihn orthographisch
regelrecht und überliess dem Leser ihn zu tilgen, konnte es ihm
auch überlassen, da keiner den Hiatus sich gestattete, wo Tilgung nöthig
und möglich war. Man verfuhr also ganz wie die Römer und wie noch
heut zu Tage die Franzosen und überhaupt die Romanen, und von den
germanischen Völkern die Niederländer.


Die besprochenen Vocaltilgungen kommen darauf hinaus, dass sie
den Ueberfluss an tonlosen stummen e, den die deutsche Sprache seit
dem zwölften Jahrhundert besitzt, verringern und theilweis beseitigen
sollen; sie sollen dazu dienen, dass der Wohllaut der poetischen Rede
nicht gestört werde durch das hässliche Zusammenstossen zweier
gleich stummen oder wenigstens gleich unbetonten Vocale; dass also,
wenn bereits das erste Wort mit einem stummen e endigt, nicht das
zweite wieder damit beginne oder mit einem Vocal, der zwar anders
lautet, aber ebenso wenig betont ist.


Es bleiben indessen noch genug Hiate übrig, die nicht so durch
Apocope können beseitigt werden: zwei unbetonte Vocale stossen |#f0450 : 437|

zusammen, z. B. „milde Erquickung;“ ein stummes e und ein betonter
Vocal, z. B. „leise Athmung;“ zwei betonte Vocale, z. B. „treu ausharrender
Sinn.“ Diese Beispiele geben eine Stufenfolge vom Unerlaubten
zum Nichtverbotenen bis zum Erlaubten. „Milde Erquickung“ ist lediglich
fehlerhaft und durchaus zu vermeiden; „leise Athmung“ ist weder
ganz hässlich noch auch ganz schön; vermeidet man dergleichen, so
ist es gut; erlaubt man sichs, so schadets auch nicht; „treu ausharrender
Sinn“ endlich ist für unser Ohr und nach unserem Gebrauche durchaus
fehlerlos. „Milde Erquickung“ würde nur apocopiert, wenn milde
nicht Adjectiv wäre; „leise Athmung“ nur, wenn der zweite Vocal nicht
betont wäre; bei den Worten „treu ausharrender Sinn“ endlich ist
keine Apocope möglich.


Die bisher besprochenen Vocaltilgungen sind erst mit dem Mittelhochdeutschen,
seit dem zwölften Jahrhundert aufgekommen, da es
erst seit dieser Zeit stumme e giebt. Das Althochdeutsche kennt die
Apocope nicht, da es kein stummes e hatte; nichtsdestoweniger nahm
man schon damals Anstoss am Hiatus, wie die Griechen und die
Römer am Zusammenstossen auch voller lautender Vocale. Das Mittel
zur Beseitigung war auch antiker Art: man half sich nicht durch Tilgung
des einen oder andern Vocals, da jeder zu klangreich war; es
trat vielmehr eine Verschmelzung, eine Synaloephe ein; es entstand
ein Mischlaut, der beide Vocale in sich schloss, jedoch so, dass bald
dieser, bald jener überwog. Eine klare Einsicht in das Wesen der
altdeutschen Synaloephe verdanken wir den Handschriften von Otfrieds
Evangelienharmonie: sie setzen unter den Vocal, der am meisten zurücktritt,
einen Punct, ein Zeichen also, das sonst im Mittelalter, gleich
unserem Strich, die Tilgung bezeichnet. Dass aber mit dem Puncte
eine Synaloephe gemeint sei, das bezeugt Otfried selbst in der lateinisch
geschriebenen Vorrede seines Gedichtes.


Nachdem wir im Vorhergehenden die Vermeidung des Misslautes
erörtert haben, betrachten wir nun noch die positiven Mittel zur
Beförderung des Wohllautes.


Ein solches Mittel kennen wir bereits, wir haben es schon früher
(S. 379) besprochen und werden es nachher (S. 442) noch einmal zu
berühren haben: die Anwendung characteristisch malerischer Laute
und Worte. Ein anderes bietet sich jetzt erst unserer Betrachtung
dar, nämlich die Ausschmückung der Verse durch wiederkehrenden
Gleichlaut. Hierüber ist Folgendes zu bemerken.


Der künstlerische Rhythmus der poetischen Rede kann auf zweierlei
Wegen bewerkstelligt werden; auf dem einen beachtet man den Laut,
auf dem andern den Ton der Worte; auf dem einen ihre Quantität, |#f0451 : 438|

auf dem andern ihre Qualität; auf dem einen die Länge und Kürze,
auf dem andern den Accent der Silben. Der Rhythmus des Accentes
ist das Princip der deutschen und, minder streng, der romanischen
Verskunst; der Rhythmus der Quantität das der griechischen; die
römischen Verse sind ursprünglich gleichfalls nach dem Accent, erst
späterhin nach der Quantität gebaut worden; dasselbe lässt sich vielleicht
auch von den griechischen Versen behaupten. Ueberall nun,
wo die Rede bloss nach dem Rhythmus des Accentes gestaltet und
geordnet wurde, wo der Rhythmus nicht so materiell, nicht so körperlich
war, wie beim quantitierenden Versbau, hat es geschienen, dass
damit der Kunst noch kein Genügen geleistet, dass damit die poetische
Rede noch nicht hinlänglich der alltäglichen Sprechweise entfremdet
und von ihr unterschieden sei: es hat sich da immer das Bedürfniss
nach noch einer weiteren Ausschmückung geltend gemacht. Zum
Wohlklang, den der Rhythmus bewirkt, gesellte sich noch der Wohllaut.
Diese Ausschmückung bot sich den Deutschen in der Allitteration,
d. h. in der Uebereinstimmung der Anfangslaute mehrerer Worte,
den lateinisch redenden Völkern in der Allitteration und im Reime;
ich meine von beiderlei Völkern nur die nationalen Anfänge der Poesie:
da kannten die Deutschen allerdings nur noch die Allitteration, die
Lateiner sowohl Allitteration als Reim; erst als sich die Litteratur
beider fremdem Einflusse hingab, liessen die Römer den Reim und
die Allitteration fallen, die Deutschen aber vertauschten die Allitteration
gegen den Reim. Diess geschah im neunten Jahrhundert. Nur
bei den Angelsachsen und den Scandinaviern blieb die Allitteration
länger im Gebrauche: ein Beispiel aus der Poesie der letzteren in
deutscher Uebersetzung Chamissos Lied von Thrym (LB. 2, 1653).


In diesen zweierlei Mitteln der Ausschmückung wirken beide, das
Streben nach Bewegung durch Wechsel und das Streben nach Beruhigung
durch Wiederholung, oder mit andern Worten das Streben nach
Mannigfaltigkeit und das nach Einheit zusammen, ebenso zusammen,
wie schon in dem Rhythmus der Rede, dem diese Ausschmückung
noch beigegeben wird. Ein Beispiel mag das Gesagte verdeutlichen.
Im Gedicht vom Jüngsten Tage (Muspilli) heisst es z. B. (LB. 14, 78. 15,
256): „Sô inprinnant diê pergâ, poum ni kistentit“ (so entbrennen die
Berge, kein Baum steht fest). Von diesen zwei Versen hat jeder zwei
gehobene Silben; darin besteht also die Wiederholung des Gleichen.
Zu dieser Gleichmässigkeit kommt nun aber auch eine Abwechslung,
indem man nur drei dieser vier Silben allitterieren lässt. Die Allitteration
selbst aber besteht in einer Wiederholung: in dem vorliegenden
Beispiel wird dreimal der Anfangslaut p wiederholt. Dabei ist |#f0452 : 439|

aber auch gleich wieder eine Abwechslung: es sind nämlich nur die
Anfangslaute gleich, das Uebrige ist verschieden. Beim Reime ist
es grade umgekehrt: hier sind die Anfangslaute verschieden, alles
Uebrige gleich: Baum, Berg, brennen allitterieren; Baum: Traum,
Berg: Zwerg, brennen: kennen bilden einen Reim. Die Allitteration
kann den Vers beginnen, der Reim schliesst ihn immer. Also findet
sich auch hier, auch beim Reim, nur in umgekehrter Ordnung Gleichheit
und Verschiedenheit, Wiederholung und Wechsel, d. h. Ruhe und
Bewegung, Einheit und Mannigfaltigkeit. Die Allitteration ist somit
die Anaphora, der Reim die Epiphora des Verses.


Die Allitteration beginnt also mit dem Gleichen, der Reim mit
dem Ungleichen. Mit diesem Unterschiede in der Form hängt zusammen
der Unterschied in der Bedeutung, der zwischen den allitterierenden
und den reimenden Redensarten besteht. Wir haben nämlich bis
in die gewöhnliche Rede hinein, in Prosa, eine Menge von sprichwörtlichen,
feststehenden Wortpaarungen, die aber ihrem Gehalte,
ihrer Fassung und ihrem Ursprunge nach eigentlich in die Poesie
gehören. Sie allitterieren theils, theils reimen sie. Und da ist denn
eine Regel, die freilich nicht ausnahmslos ist, dass die Wortpaare,
welche allitterieren, begriffsverwandt oder gar tautologisch sind, die
reimenden dagegen eine Antithese bilden oder doch verschieden sind;
z. B. allitterierend: „Feuer und Flamme, Geld und Gut;“ reimend:
„Stein und Bein (Todtes und Lebendes), Gut und Blut.“ Also, wo der
gleiche Anfang, bei der Allitteration, da herrscht auch Gleichheit des
Sinnes; wo aber ungleicher Anfang, beim Reim, da ist auch der Sinn
ungleich oder gar entgegengesetzt. In beiden Fällen zeigt sich kein
indifferentes Verhältniss, sondern ein Parallelismus. So verhält es sich
auch im Lateinischen mit der Allitteration und dem Reim. Die Allitteration
haben vorzugsweise die sprichwörtlichen Redensarten und Formeln
namentlich der Rechtssprache und sonstiger öffentlicher Verhandlungen,
kurz die Ausdrücke, die man vocabula forensia nennt; sie
beruhen meist auf Tautologie oder auf Begriffsverwandtschaft, wie
z. B.: „Do, dono, dedico; felix faustum fortunatumque, muri et moenia,
longe lateque.“ Der Reim ist bei den Römern aus der accentuierenden
Volkspoesie auch in die gebildete, quantitierende Kunstpoesie übergegangen.
Ovid z. B. liebt es im Hexameter und Pentameter, die
Cäsur und den Schluss zu reimen, und die Reimworte bilden alsdann
gern einen Gegensatz, wie in dem Verse: „Haec tibi sint mecum, mihi
sint communia tecum“ (Amor. 2, 5, 31). Aber noch häufiger besteht
zwischen beiden Reimworten eine enge Verbindung, wie zwischen
Substantiv und Adjectiv; so Trist. 1, 6, 32: „Exstinctum longis occidit |#f0453 : 440|

omne malis.“ Also gesellt sich zur Uebereinstimmung der Laute der
Parallelismus des Inhaltes. Die lateinische Poesie des Mittelalters
hielt den Reim in der Cäsur und am Schlusse des Hexameters fest,
aber in indifferenter Weise und ohne ein bestimmtes Verhältniss der
reimenden Worte. Es sind das die sogenannten leoninischen Verse:
ein solcher ist z. B. der bekannte Stossseufzer eines Abschreibers,
womit häufig mittelalterliche Handschriften schliessen: „Explicit hoc
totum, infunde, da mihi potum.“ Auch der deutsche Reim, wie er
seit dem neunten Jahrhundert und seit Otfried zur Geltung gekommen
ist, entbehrt dieser tieferen Beziehung, er ist ein bloss äusserer
Schmuck. Durch tausendjährigen Gebrauch ist er aber ein unentbehrliches
und elementares Eigenthum unserer poetischen Rede geworden,
insofern sie nämlich deutsch sein und sich nicht der Antike oder der
Poesie anderer Völker nachgestalten will. Freilich, wie unsere meisten
Dichter reimen, trägt er nicht sonderlich zur Ausschmückung durch
Wohllaut bei, eher zur Entstellung durch Misslaut. Fast jeder hält
es für erlaubt, hier allerlei Ungenauigkeit und namentlich die Unarten
seines Dialectes in die Schriftsprache einzuschwärzen. Die einen fehlen
in den Consonanten, die anderen in den Vocalen; in jenen namentlich
die Norddeutschen. Die eigentlichen Niederdeutschen, wie sie in ihrer
Mundart und in ihrem Hochdeutsch zu Ende eines Wortes g und ch
nicht unterscheiden können, werfen so nun auch im Reim diese Laute
durcheinander und stehn nicht an Buch auf Flug und Pflug, Bug auf
Fluch, kriecht auf siegt, taugt auf raucht zu reimen, und da bei
ihnen ng wie nk lautet, so verbinden sie unbedenklich Sang: Schwank
oder sank: Schwang. Die Obersachsen dagegen verwechseln auch
innerhalb des Wortes g und ch, d und t und reimen so Reigen:
Zeichen, reichen: zeigen, Tode: Bote, todten: Boden. Ebenso verhält
es sich auch mit ss und s in Mittel- und Oberdeutschland, wo man
keinen Anstand nimmt, Schoosse: Rose zu reimen. Vgl. A. W. v. Schlegels
Kennzeichen (LB. 2, 1309). In den Vocalen fehlen mehr die Oberdeutschen
und die an den Grenzen, deren Sprache schon halb und
halb aufhört, deutsch zu sein. So können die Oestreicher auch im
Reime lange und kurze Vocale nicht sondern, sie reimen z. B. viel:
still (stîl). Die Schwaben, die Schlesier und manche Schweizer verwechseln
Mischlaute und einfache Laute; sie sprechen ö wie e, ü wie
i, eu wie ei, und so reimen sie denn beten: Nöthen, göthisch: poetisch,
biegen: fügen, Eule: Weile. Und dass die Schwaben e i und ü nicht
unterscheiden, zeigt Schillers Leichenphantasie, wo Str. 5 Menschen
auf Wünschen reimt. Sicherlich ist das Alles tadelnswerth; der eigentliche
Zweck des Reimes, der Wohllaut, geht darüber ganz verloren: |#f0454 : 441|

denn wenn z. B. Theodor Körner Gotte: Tode reimt, so ist hier mehr
Verschiedenheit als Gleichheit. Nun wäre es freilich eine vergebliche
Mühe, Grenzen stecken zu wollen, und es wäre verkehrt zu sagen,
der Reim entblättert: vergöttert sei eher erlaubt als erwidert: erschüttert,
weil dort nur in den Vocalen, hier aber in den Vocalen und den
Consonanten gefehlt wird. Jede Grenze ist willkürlich und unsicher:
darum soll nicht weniger Unreinheit stattfinden, sondern gar keine;
der Reim verlangt volle Reinheit. Und es geht auch ganz wohl.
Wenn es den deutschen Dichtern des dreizehnten Jahrhunderts möglich
war, wo Gedichte von 50,000 Versen ohne einen einzigen unreinen
Reim vorkommen, warum sollte es Vielen unter uns unmöglich sein,
nur vier Verse von Misslauten frei zu halten? Dass es aber möglich
ist, beweisen auch einzelne Dichter, wie Rückert und Platen. Platen
freilich ist bei allem Streben nach Reinheit des Reimes nicht frei von
Pedanterei, da er den Gleichlaut in orthographischer Uebereinstimmung
sucht; er reimt wohl Mut: Blut, Güte: Blüte, nicht aber grün: blühn,
dawider: Lieder. Rückert aber zeigt, dass, wenn man sich die Reinheit
zum Gesetze macht, dem Dichter darum nicht weniger Reime zu
Gebote stehn, im Gegentheil mehr, und dass die Genauigkeit des
Reimes mehr Anlass bietet, die Sprache auszubeuten und zu bereichern:
finden sich doch bei wenigen Dichtern so viel neue, überraschende,
wohllautende Gleichklänge!


Eine Ungehörigkeit und Geschmacklosigkeit, welche lateinische
und deutsche und französische Schriftsteller des Mittelalters mit den
arabischen theilen, ist die Einmischung des Reimes in die Prosa, die
Ausschmückung der sonst unrhythmischen Rede mit dem Gleichlaute
des Reims, indem den einzelnen Sätzen und Satzgliedern reimende
Schlussworte gegeben werden. Das namhafteste arabische Beispiel
dieser Art sind die durch Rückert nun auch in Deutschland einheimisch
gewordenen Makamen des Hariri, eines Dichters aus Basra, der um das
Jahr 1100 lebte (LB. 2, 1569). Der Reim in lateinischer Prosa findet sich
in der lex Salica, namentlich in der Vita Sancti Galli aus dem 8. Jahrhundert,
dann bei mehreren deutschen und böhmischen Geschichtsschreibern
der fränkischen Kaiser, also des 11. Jahrhunderts; damals
und nach dem Vorgange der lateinischen Litteratur kam die reimende
Prosa auch in Deutschland und Frankreich zur Geltung und war hier
bis zum 13. Jahrhundert ganz allgemein üblich. Das hauptsächlichste
Beispiel ist eine Schrift des 12. Jahrhunderts, die Verdeutschung von
des heiligen Nortpert Tractatus de Virtutibus (LB. 14, 189. 15, 367),
wo der im lateinischen Original fehlende Prosareim noch auf den
Schluss der Abschnitte beschränkt ist. Vgl. Litt. Gesch. S. 84 fgg.

|#f0455 : 442|


Zum Reime kommt nun noch als eine Abart und Verarmung desselben
die Assonanz. Hier stimmen nicht auch die Consonanten, sondern
nur die Vocale überein, z. B. Rath: Thal; hurtig: unverwundlich.
Bekanntlich ist die Assonanz in Spanien zu Hause; von daher wurde
sie erst zu Anfang unseres Jahrhunderts auch in Deutschland eingeführt.
Der Gebrauch ist aber bedenklich, da ein nicht theoretisch
gebildetes Ohr die Assonanz in den meisten Fällen überhören wird.
Eins kann ihr noch aufhelfen und Bedeutung geben: wenn man sie
nicht bloss zur Ausschmückung gebraucht, sondern auch noch zu einer
eigentlichen Lautmalerei, wenn die assonierenden Vocale in ihrem
Laute characteristisch zu dem Inhalte der Dichtung stimmen. Ein
namhaftes Beispiel hiefür bietet eine grosse Romanze von Tieck, Die
Zeichen im Walde, eine schauerlich unheimliche Dichtung, wo die
ganze lange Reihe von Versen hindurch lauter Assonanzen auf den
Vocal u vorkommen: ein echtes Probestück der Romantik, zugleich
aber in einer andern Beziehung ein negatives Muster, insofern das
Gedicht viele unnütze, oft noch falsch nachgebildete oder erfundene
Archaismen enthält: Gedichte (1821) 1, 22.


Wie mit der Assonanz, so ists jetzt auch mit der Allitteration.
Wenn sie nicht eigens der Lautmalerei dient, also etwas Auffälliges
und Ansprechendes im Klange hat, wird sie gar nicht bemerkt. Zu
diesem Behufe aber kommt sie nicht selten bei alten und auch bei
neueren Dichtern vor, neben dem Reim oder neben künstlicheren,
antiken Rhythmen. Schon Ennius hat in dieser Weise davon Gebrauch
gemacht in dem Verse: „At tuba terribili tonitu taratantara dixit.“ Ein
Beispiel aus dem Nibelungenliede (Str. 1887, 2): „Dô sluog er etelîchen
swæren swertes swanc.“ Ebenso Walther 9, 19 (LB. 14, 402. 15, 580):
„Daʒ wilt und daʒ gewürme die strîtent starke stürme.“ Konrad von
Würzburg (v. d. Hagen, Minnes. 2, 317a): „Diu vogellîn singent süeʒen
sumersanc“ und im Refrain desselben Liedes: „Der meie machet hôhen
muot.“ Von neueren Dichtern bedient sich der Allitteration zur Lautmalerei
Schiller, so z. B. im Taucher: „Und hohler und hohler hört
mans heulen;“ und Bürger, von dem ein besonders bezeichnendes
Beispiel kann angeführt werden: „Wonne weht von Thal und Hügel,
Weht von Flur und Wiesenplan, Weht vom glatten Wasserspiegel,
Wonne weht mit weichem Flügel Des Piloten Wange an.“ Diese
Beispiele zeigen aber auch zugleich, wie abgehärtet jetzt unsere Ohren
sind; unseren Vorfahren vor 1100 Jahren genügte ein dreimaliges, ja
nur ein zweimaliges W: wir brauchen ihrer zehn, um den Gleichklang
zu merken; eine dreimalige Wiederholung des gleichen Anlautes beachten
wir kaum, wie z. B. in Schillers Mädchen aus der Fremde die |#f0456 : 443|

Allitteration: „Erschien mit jedem jungen Jahr.“ Ja die Dichter
brauchen ausser der häufigen Wiederholung noch andere Hilfsmittel,
um das Ohr zum Hören zu zwingen: es muss, wie in den angeführten
Beispielen von Schiller und Bürger, noch die Epizeuxis und die Anapher
hinzukommen. Jedenfalls haben in solcher Anwendung Assonanz und
Allitteration einen ganz anderen Zweck, als der ihnen eigentlich zugehört:
denn hier dienen sie nur noch der Sinnlichkeit für das Gehör,
wie ja auch Ennius dort mit einem sonst begrifflosen Worte nur den
Ton der Trompete onomatopoetisch nachahmt. Tiefer geht die Bedeutung
nicht.


Zum Schluss dieses Abschnittes mag noch auf Rückerts 39. Makame,
der Schulmeister von Hims, hingewiesen werden, einmal um der Makamenform
willen, dann aber auch, weil sie sonst allerhand enthält, was
als Beispiel und Zeugniss für manches bisher Besprochene zu brauchen
ist: sie verspottet z. B. in ergötzlicher Weise die sächsischen und
schwäbischen Provincialfehler in der Aussprache der Consonanten und
Diphthonge und liefert zahlreiche Belege für den Neologismus, das
Wortspiel, die Allitteration, die Epiphora, die Epanalepsis, das Polyptoton
und die Annominatio im Reime (LB. 2, 1588).


3. DER STIL DES GEFÜHLS.


Die erste Art und Weise der äusseren Darstellung, der niedere
Stil, ist, wie wir gesehen haben (S. 318), die Redeform des Verstandes,
sein Ziel ist die Deutlichkeit, sein Gebiet die gesammte Prosa mit
Ausschluss der rednerischen. Die zweite Art, der mittlere Stil, dient
der Production und der Reproduction durch die Einbildungskraft, bei
ihm kommt es demnach an auf Anschaulichkeit, er findet sich in der
gesammten Poesie mit Ausschluss allein der lyrischen. Nun ist noch
von der dritten Art zu handeln, dem sogenannten höheren Stil. Er
ist die Form der Darstellung für solche Werke, die ihren Grund und
Boden oder doch Ziel und Zweck in der dritten Seelenkraft haben,
welche hier in Betracht kommen kann, nämlich im Gefühl. Wenn
sich aber in der Gestaltung der Sprache das bewegte Gefühl des
Sprechenden abspiegeln, und wenn durch dieselbe das Gefühl des
Hörenden gleichermassen soll bewegt und angeregt werden, wenn sie
ebensowohl ein Ausdruck des Gefühls sein, als auf das Gefühl Eindruck
machen soll, so muss sie leidenschaftlich sein; mithin ist der
Character dieser dritten Stilart die Leidenschaftlichkeit.


Es ist jedoch bereits früherhin (S. 322) ausgeführt worden, wie die
Anforderungen, die man an eine niedere Stufe des Stils macht, sich |#f0457 : 444|

auf der höheren und den höheren wiederholen, nur in einer mehr
untergeordneten Weise und mehr implicite. Verständige Deutlichkeit
characterisiert freilich zunächst den prosaischen Stil des Philosophen
und des Historikers: aber darum ist sie nicht ausgeschlossen von den
Darstellungen des Epikers und des Dramatikers; sie ist für den poetischen
Stil zwar nicht das oberste und hauptsächlichste Merkmal und
Erforderniss, aber nächst der Anschaulichkeit wird sie dennoch auch
da unausweichlich verlangt.


Dem entsprechend verhält es sich nun auch mit dem Stil der
dritten Stufe, welche wir jetzt betreten haben. Bewegung des Gefühls
auf Seiten des Producierenden wie des Reproducierenden ist allerdings
das Wesentliche und Hauptsächliche, das vor allem Andern nicht fehlen
darf, Leidenschaftlichkeit ist das characteristische Merkmal dieser
Art: aber doch nimmt der Stil auch die Merkmale und Erfordernisse
der beiden ersten Stufen mit auf diese hinüber, und neben und unter
der Leidenschaftlichkeit gelten auch hier noch Anschaulichkeit und
Deutlichkeit; denn neben dem Gefühle und unter ihm wirken auch
hier noch Einbildung und Verstand in ihrem Theil und auf ihre
Weise fort.


Da kann nun aber das Mischungsverhältniss ein verschiedenes
sein, je nachdem von den beiden untergeordneten Anforderungen mehr
die eine oder mehr die andere hervortritt, je nachdem sich das leidenschaftliche
Gefühl näher an den prosaischen Verstand oder näher an
die poetische Einbildung anlehnt.


Derjenige höhere Stil nun, der nächst der Erregung des Gefühls
besonders auf verständige Deutlichkeit ausgeht, ist der Stil der Rede,
der oratorische Stil. Denn der letzte Zweck jeglicher Rede ist zwar
Bestimmung des Willens, ist die Ueberredung, und die Ueberredung
wird zunächst erreicht durch leidenschaftliche Aufregung des Gefühls:
aber es gesellt sich in jeglicher Rede zur Ueberredung auch die Ueberzeugung,
die gewinnende Belehrung des Verstandes, und diese muss
immer vorangehn, eh jene kann bezweckt werden; Ueberredung, die
nicht auf dem Grunde der Ueberzeugung ruht, ist betrügerisch und
führt zu nichts. Die Rede hebt also an mit verständiger Deutlichkeit,
und deshalb bleibt auch für sie die Darstellungsform des Verstandes
fort bestehn, die prosaische Form, jedoch in so weit umgestaltet, als
es dann wieder der Character der Leidenschaftlichkeit fordert.


Gegenüber dem rednerischen Stil liegt als eine zweite Art eben
dieser Stufe diejenige sprachliche Darstellung, in der das Gefühl seine
grösste Stütze und Hilfe nicht beim Verstande sucht, sondern bei der
Einbildung, nicht bei der Deutlichkeit, sondern bei der Anschaulichkeit. |#f0458 : 445|

Es ist das die lyrische Poesie. Die lyrische Poesie geht überall,
innerlich und äusserlich betrachtet, sowohl ihrem Wesen nach, als
auch erweislich in der historischen Entwickelung, hervor aus der
epischen: sie fügt nur der objectiven Anschauung noch die subjective
Empfindung bei; die innere geistige Wirklichkeit, in die sie uns blicken
lässt, ist immer von aussen her angeregt, in ihr Getriebe ist immer
der Anstoss aus der Wirklichkeit um den Dichter oder über dem
Dichter gekommen. Darum kann auch die lyrische Leidenschaftlichkeit
niemals ganz der epischen Anschaulichkeit entrathen; ein episches
Element ist ihr immer beigesellt, dränge es sich auch noch so wenig
hervor, sei es auch noch so unscheinbar und fast unmerklich. Und
so dauert denn die Form der poetischen Rede, dauert die Anordnung
der Worte nach einem künstlerischen Rhythmus auch für die lyrische
Poesie fort, wie dieselbe zuvor schon von der epischen und ebenso
von der dramatischen Poesie gefordert ward.


Es zerfällt mithin der höhere Stil in zwei ziemlich aus einander
gehende Arten, eine prosaische und eine poetische, in Rede und in
Lyrik. Was aber diese zwei bei all ihrer Verschiedenheit zusammenhält,
der Punct, in welchem beide übereintreffen, ist die gemeinsame
Anforderung der Leidenschaftlichkeit; beide sollen das Gefühl des
Redners, des Dichters in erregtem Zustande zeigen, und zugleich
das des Hörers, des Lesers in einen ebenso erregten Zustand
versetzen.


Die leidenschaftliche Erregung des Gefühls kann nun eine zwiefache
sein; sie ist, um eine wohlbegründete und ganz zweckmässige
Unterscheidung der griechischen Rhetoren beizubehalten, entweder
Ethos (ἦθος) oder Pathos (πάθος). Quintilian, der für beides das
gleiche lateinische Substantiv affectus gebraucht, bestimmt dann ἦθος
näher als affectus mites oder dulciores, πάθος als affectus concitatos
(10, 1, 48. 101). Und damit ist der Unterschied beider hinreichend
angedeutet: unter Ethos versteht man solche Stimmungen und Bewegungen
des Gemüthes, die mehr sanfter und ruhiger Art sind und
z. B. in der Rede mehr nur dazu taugen, den Hörer zunächst für den
Redner selbst einzunehmen und zu gewinnen, ihm eine Gesinnung beizubringen,
die dem Redner günstig ist; unter Pathos die lebhafteren,
heftigeren, aber auch schneller vorübergehenden Gemüthsbewegungen,
deren Ausdruck den Hörer ergreift und erschüttert und ihm nicht
sowohl Sympathie für den Redner als Sympathie für und Antipathie
gegen eine Sache einflösst; Pathos ist lebhaft bewegte, feurige, fortreissende
Leidenschaftlichkeit, dem Ethos fällt mehr das Rührende und
das sogenannte Gemüthliche zu.

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Gemäss diesem Gegensatze zwischen Ethos und Pathos und gemäss
der Verwandtschaft, die zwischen der Rede und der übrigen Prosa,
zwischen der Lyrik und der übrigen Poesie besteht, lässt sich innerhalb
des Stiles beider eine weiter geführte Unterscheidung treffen.
Schon bei den zwei früheren Stufen der Prosa und der Poesie haben
wir gesehen (S. 321), wie sich da die dreigliedrige Eintheilung in niederen,
mittleren und höheren Stil leicht und fügsam wiederhole. So nun
auch auf dieser dritten Stufe, innerhalb des höheren Stils der Rede
und der Lyrik. Es giebt einen niederen, mittleren und höheren Stil
der Lyrik, einen niederen, mittleren und höheren Stil der Rede. Für
die Lyrik lässt sich diese Abstufung leicht in den einzelnen Arten
dieser Gattung des Dichtens nachweisen: der niedere Stil gehört der
Elegie: in dieser liegt die objective Aeusserlichkeit noch beinahe
gleichgewichtig neben der subjectiven Innerlichkeit, ja sie ist die
unentbehrliche Grundlage derselben, sie giebt dem Lyrischen noch die
stärkste Beimischung von Epischem; der höhere Stil ist der der Ode
nach Pindars wie auch Horazens Art, des Hymnus, des Dithyrambus,
wo die Lyrik sich auf dem Gipfel ihrer Vollendung zeigt, wo sich
die Empfindung ganz empor geschwungen hat zu einer idealisch vergeistigten
Wirklichkeit: zwischen beiden liegt als der mittlere Stil der
Stil des sogenannten Liedes, das weder so hoch und rein geistig ist
wie die Ode, der Hymnus und der Dithyrambus, noch so zur Hälfte
befangen in epischer Aeusserlichkeit wie die Elegie, das die Lyrik
weder in ihrer möglichsten Unvollkommenheit zeigt, noch in ihrer
möglichsten Vollkommenheit. Und wie nun die niedere Lyrik der
Elegie beschaffen ist, wie sie gern zur Wehmuth hinneigt, so fällt ihr
vornehmlich das Ethos zu, das Rührende, Sanfte, Gemüthliche; der
Ode, dem Hymnus, dem Dithyrambus aber das rauschende und dahinreissende
Pathos: dem Liede endlich keines von beiden ausschliesslich,
sondern sowohl das eine als das andre, und zwar so, dass beide
bald diese, bald jene vermittelnde Mischung eingehn, und so das eine
durch das andere gehoben oder gemässigt wird.


Für den rednerischen Stil gilt die gleiche dreigliedrige Abstufung:
es giebt auch hier einen niederen, vorzugsweise ethischen, einen
höheren, vorzugsweise pathetischen Stil, und einen zwischen beiden
in der Mitte liegenden, dem Ethos und Pathos gleichermassen zu
Gebote stehn. Nur kann man hier diese Abstufung nicht so ohne
Weiteres an bestimmte Specialnamen knüpfen: es giebt weltliche Reden,
es giebt Predigten von allen drei Arten, je nachdem es die Beschaffenheit
des Gegenstandes, je nachdem auch die Fähigkeiten der Zuhörer
oder die Fähigkeiten und die geistige Richtung des Redners selbst es |#f0460 : 447|

mit sich bringen. Der höheren Art des rednerischen Stiles gehören
die meisten Predigten von Herder und, bloss stilistisch betrachtet, von
Reinhard an, der mittleren die von Schleiermacher, der niederen endlich
die von Balthasar Schuppius und von Abraham a S. Clara. Die
beiden letzteren werden noch durch eine sie besonders bezeichnende
Eigenthümlichkeit auf dieser Stufe festgehalten: beide sind voll von
Witz und Spott und Laune, d. h. von solchen Aeusserungsweisen des
Verstandes und des Gefühles, wie sie auf einer höheren Stufe nicht
mehr möglich sind. Nur war Abraham a S. Clara ein in seiner Art
sehr belesener Barfüssermönch, Schuppius dagegen ein gelehrter protestantischer
Geistlicher: darum ist auch die Komik Abrahams derber,
die des Schuppius feiner. Sonst haben sie viel Uebereinstimmendes,
wie sie denn auch derselben Periode unserer Litteratur angehören:
Schuppius lebte von 1610─1661, Abraham von 1642─1709.


Will man auch bei der rednerischen Prosa eine Unterscheidung
mit Bezug auf die einzelnen Arten treffen, so könnte man allenfalls
auf die niedere Stufe die sogenannte Homilie, auf die mittlere die
weltliche Rede, auf die höhere die Predigt im engeren Sinne dieses
Wortes stellen. In der That kann sich auch eine eigentliche Homilie
nie über jene niedere Stufe erheben: dahin wird sie gewiesen sowohl
durch die einfach verständige Deutlichkeit, die von ihr gefordert wird,
als durch das enge, wenig Freiheit lassende Anschliessen an den Faden
des gegebenen Textes, das ihr eigenthümlich ist, und durch den Fortschritt
einer Entwickelung von gleichsam epischer Art. Dass dann
auf der anderen Seite die Predigt wiederum über die weltliche Rede
sich erheben, dass sie auf dem Gipfelpunct der Beredsamkeit stehn
kann und stehn sollte, das folgt von selber daraus, dass sie eben eine
Predigt, eine geistliche Rede ist, der Gegenstände und Zwecke hoch
und weit hinaus über alle weltliche Beredsamkeit liegen, ebenso hoch
und weit, als sich dort die Ode und der Hymnus über das gewöhnliche
Lied erheben.


Vom mittleren und höheren Stil der Rede ist es unnütz, Beispiele
anzuführen, da diese beiden Arten die gewöhnlichen sind. Bei Abraham
und Schuppius scheint es eher am Platze, um so mehr, da ihre Werke
nicht zu den gangbaren gehören und namentlich Schuppius selten ist.
Von ersterem kommt besonders in Betracht die Türkenpredigt von
1683, die auch historisches und litterarisches Interesse darbietet, insofern
sie die Hauptquelle für die Wortspiele des Capuziners in Wallensteins
Lager ist (LB. 3, 1, 891). Vgl. S. 393. Von Schuppius verdient hier
besonders eine academische Rede hervorgehoben zu werden, die z. B.
auch als Muster der Ironie und namentlich als ironische Anweisung eben |#f0461 : 448|

zur Beredsamkeit und als Empfehlung derselben beachtenswerth ist:
Schupps Schriften 1, 852.


Besondere, eigenthümlich characteristische Regeln für den Stil
der rednerischen Prosa und der lyrischen Poesie lassen sich kaum
geben, deshalb weil die rednerische Prosa eben Prosa, und die lyrische
Poesie eben Poesie ist, mithin im Ganzen und Allgemeinen dieselben
Regeln hier fortgelten, die wir früherhin für die Prosa und die
Poesie gefunden haben, und weil wir auch schon mehrfach sind genöthigt
gewesen, in Besonderheiten vorzugreifen. Es lassen sich deren
nur noch einige einzelne hervorheben; dieser letzte Abschnitt der
Stilistik wird deswegen alsbald abgethan sein.


Wir sprechen zunächst von der oratorischen Prosa.


Es hat dieselbe zuerst eine rein prosaische Seite: denn verständige
Ueberzeugung ist überall und für jeglichen Redner eine wesentliche
und hauptsächliche Absicht, und dieser Absicht gemäss ist Deutlichkeit
für den Verstand auch eine wesentliche und hauptsächliche
Anforderung. Demnach wiederholen sich auf dieser Seite all die einzelnen
positiven und negativen Regeln, die wir seiner Zeit als Regeln
des prosaischen Stils haben kennen lernen; es wiederholen sich namentlich
die Regeln über den Periodenbau (S. 345). Diess ist aber auch zugleich
ein Punct, in welchem sich die prosaische Seite des rednerischen Stils
mit der mehr poetischen berührt, und in welchem sich deshalb auch
die rednerische Prosa von der übrigen um einige Schritte entfernt.
Die gewöhnliche Prosa nämlich, da verständige Deutlichkeit die einzige
Aufgabe ist, die sie zu erfüllen hat, verlangt einfache, leicht
überschaubare Perioden, kürzere Satzgefüge, in denen Anfang und
Ende nicht zu weit von einander liegen: die rednerische Prosa, die
nicht bloss auf Deutlichkeit ausgeht, die auch der Einbildung und
dem Gefühle dient, von der mithin eine lebensvollere schöne Sinnlichkeit
gefordert wird, duldet nicht bloss, sie liebt sogar grössere, umfangreichere
Perioden, weil sich deren Bau eher zu künstlerischer Schönheit
ausbilden lässt; bei kürzeren Satzgefügen führt der beständige
gleichmässige Wechsel gehobener und gesenkter Glieder leicht und
bald zur Eintönigkeit: der oratorische Stil verdeckt diese Eintönigkeit
und vermeidet sie, indem er seinen Perioden eine grössere Fülle
verschiedenartiger Glieder giebt und in deren Aufbau eine den Sinnen
wohlthuende Mannigfaltigkeit entwickelt. Natürlich verfährt in dieser
Beziehung der niedere Stil der Rede anders als der höhere, und der
mittlere hält eben die schwebende Mitte zwischen beiden. Dem niederen
Stil stehn noch die einfacheren Perioden zu: denn er liegt noch
an der Grenze der gewöhnlichen Prosa; dem höheren Stil die kunstreicher |#f0462 : 449|

ausgeführten: denn er hat mit der gewöhnlichen Prosa am
wenigsten gemein. Homilien verlangen einfache, leicht gebaute Sätze:
Perioden mit einer reichen Gliederung beigeordneter und untergeordneter
Satztheile sind eher nur in einer eigentlichen Predigt an der
Stelle. Meister dieses rednerischen Periodenbaues in seiner höchsten
Vollendung, vielleicht zu sehr mit Schule und Bewusstsein Meister
desselben ist Franz Volkmar Reinhard: LB. 3, 2, 1009.


Neben der prosaischen Seite hat die Rede auch eine mehr poetische:
denn sie nimmt nächst der verständigen Deutlichkeit auch die
Anschaulichkeit für die Einbildung in sich auf, und nimmt sie auf,
um durch sie auf ihr letztes Ziel hinzuarbeiten, auf leidenschaftliche
Erregung des Gefühls. Während mithin die Rede der verständigen
Deutlichkeit wegen die prosaische, unmetrische Anordnung der Worte
beibehält, bedient sie sich in dieser prosaischen Form gleichwohl zum
Behufe der sinnlichen Anschaulichkeit jenes ganzen Vorrathes von
Tropen und Figuren, der sonst die poetische Darstellung von der prosaischen
unterscheidet. Sie hat prosaische Form, aber sie giebt in
dieser prosaischen Form nicht bloss prosaische, sondern zugleich auch
poetische Anschauungen. Auch in dieser Beziehung unterscheiden sich
die drei Arten des oratorischen Stils merklich von einander. Zunächst
in der Wahl der Worte. Insofern man Tropen und Figuren trennen
will, haben die Tropen mehr Poetisches als die Figuren: denn die
Tropen verändern die Vorstellung selbst, die Figuren nur den Ausdruck.
Demgemäss gehören dann die Tropen eher in die höhere, die
blossen Figuren in die niedere Art des Stils: denn die niedere grenzt
ja noch an die gewöhnliche prosaische Darstellungsweise. Der sinnlichen
Anschaulichkeit wegen sind in der Rede mancherlei Worte
erlaubt, die in rein prosaischer Darstellung meistens fehlerhaft wären:
so sind Archaismen im kirchlichen Redestil nicht zu tadeln, wenn sie
sich auf die Alterthümlichkeit der Bibel gründen; und sowohl auf dem
geistlichen als dem weltlichen Gebiete sind Provincialismen wenigstens
im niederen Stil gelegentlich zulässig, vernünftige Neologismen ohne
Bedenken namentlich im höheren; ausgeschlossen aber ist der Barbarismus,
da er gleichmässig undeutlich und unanschaulich ist. Sodann haben wir
(S. 406) innerhalb des poetischen Stils ein doppeltes Verfahren bei der
Anordnung der Worte wahrgenommen, je nachdem entweder Beruhigung
des Bewegten oder Bewegung des Ruhigen bezweckt wurde. Beiderlei
Verfahren kommen nun auch im Stil der Rede vor. Die ruhige,
zögernde Darstellung gilt da, wo die Leidenschaftlichkeit, die ausgedrückt
und erregt werden soll, blosses Ethos ist, also im niederen
Stil; die bewegte, vorwärts eilende da, wo es auf Pathos abgesehen |#f0463 : 450|

ist, also im höheren Stil. Es wird also z. B. das Polysyndeton eher
im niederen, das Asyndeton im höheren Stil anzuwenden sein. Vom
mittleren Stil lässt sich eben nur sagen, dass er die characteristischen
Eigenthümlichkeiten der beiden andern Arten vermischt anwendet und
eine gegen die andere ausgleicht, dass er auf einer rechten Mitte die
Figur neben dem Tropus, das Polysyndeton neben dem Asyndeton
gebraucht. Es zeigt sich aber diese poetische Seite des Redestils am
reichsten ausgebildet bei Herder (LB. 3, 2, 439): hier beruht das Dichterische
auf grösster Lebensfülle, auf Kraft und Wahrheit des Gemüthes;
sein Stil ist darum auch weit verschieden von den schönthuenden
Redensarten und dem sogenannten blühenden Stil mancher Modeprediger.
Indessen der rednerische Stil nimmt doch nicht den ganzen
Schmuck der poetischen Darstellung in sich auf: nicht gebräuchlich
sind z. B. die epischen Wiederholungen: diese sind eben nur in der
Epik an der Stelle, haben nur da ihre gute Begründung durch die
alterthümliche Art und Weise des musikalischen Vortrages, und auch
da sind sie beschränkt, da man jetzt nicht überall mehr den alterthümlichen
Vorbildern folgen darf; nicht gebräuchlich sind ferner die
epischen Gleichnisse: denn auch diese sind nur eine Ueberlieferung
und würden zudem den Hörer zerstreuen und ablenken von dem Ziel
der Ueberzeugung und der Ueberredung.


Nun zweitens die lyrische Poesie.


Der Stil der Lyrik unterscheidet sich von dem Stile der Rede
nur in zwei Stücken, die dann freilich Hauptstücke sind: einmal darin,
dass er sich alles dessen zu enthalten hat, was allein und ausschliesslich
der verständigen Deutlichkeit dient: denn in der Poesie ist dem
Verstande überall nur eine negative Rolle zugewiesen; und zweitens
darin, dass er von der zweiten Hauptstufe des Stils die metrische
Anordnung der Worte mit auf diese dritte Stufe hinübernimmt. Abgesehen
von diesen zwei Puncten hat die Lyrik fast Alles mit der rednerischen
Prosa gemein: denn auch ihr Ziel ist Ausdruck und Erregung
des Gefühls, und auch sie nimmt als Mittel zu diesem Zwecke die
Einbildungskraft in Anspruch durch Anschaulichkeit der Darstellung;
auch sie geht bald auf Ethos aus, bald auf Pathos, bald auf ein
schwebendes Gemisch beider, auf Ethos in elegischen Dichtungen, auf
Pathos in Oden, Hymnen und Dithyramben, auf eine Mitte beider im
Liede. Auch sie sucht gleich der Rede Ethos zu erregen durch eine
gemächlich zögernde, Pathos durch eine unruhig vorwärts eilende
Darstellung: sanfte Ruhe, Anmuth, Wehmuth characterisieren ja die
Elegie, Erhabenheit und stürmischer Schwung die Ode, den Hymnus,
den Dithyrambus. Auch sie braucht in der niederen Art eher nur |#f0464 : 451|

Figuren, in der höheren dagegen die lebensvolleren Tropen; auch sie
gestattet in der niederen Art einen volksmässigen, idyllischen Ton und
demgemäss die Anwendung von Provincialismen, ja die ganz mundartliche
Abfassung von Gedichten, in der höheren dagegen, entsprechend
dem kühnen Flug der Gedanken, kühne neue Wortschöpfungen,
Neologismen. Auch sie liebt in der niederen Art leicht und einfach
gebaute Perioden, in der höheren ausgedehntere, kunstmässiger gebildete:
am deutlichsten wird dieser Unterschied vor Auge und Ohr
treten, wenn man Elegien von Göthe oder Schiller mit Oden von
Klopstock vergleicht. Eine Ode, die aus einer Reihe so gleichmässig
kurzer Satzgefüge bestünde, wie z. B. Schillers Elegie Der Spaziergang,
wäre ein Unding, und umgekehrt wäre es unmöglich, in einer
Elegie Perioden von solchem Bau anzuwenden, wie z. B. Klopstock in
der Ode an Ebert LB. 2, 762, 10─763, 9. Aber neben all diesen
Uebereinstimmungen findet sich auch eine wesentliche Abweichung:
während sich die Rede der eigentlich epischen Wendungen enthält,
sind sie der Lyrik nicht versagt, die als Poesie dem Epos näher steht
und ja auf dessen Grunde gewachsen ist: hier also sind die verschiedenen
Formen der epischen Wiederholung, sind epische Gleichnisse
und Anacoluthien zulässig: dieselbe Ode Klopstocks kann auch hiefür
als Beispiel dienen: LB. 2, 761, 32 fgg.


Die Lyrik ist aber nicht bloss eine Gattung der Poesie gleich den
übrigen, sie ist, wenn man will, zugleich die höchste, nicht die vollkommenste
(dieser Ruhm gebührt dem Drama), aber die höchste,
insofern sie den Geist aus dem Staube und den Schranken der sinnlichen
Aeusserlichkeit und der gemeinen Wirklichkeit zu einer Wirklichkeit,
welche weit darüber liegt, in das Gebiet des Geistigen und
Innerlichen erhebt. Die Lyrik hat in dieser Beziehung ebensowohl
einen Vorrang vor Epos und Drama, als die rednerische Prosa den
Vorzug hat vor der historischen und der didactischen. Dieser höhere
Rang prägt sich nun auch überall aus in einer höheren künstlerischen
Entwickelung und Ausbildung der metrischen Formen, deren sich die
Lyrik bedient. Sie begnügt sich nicht mit jenen einfachen Rhythmen
und mit jener beständigen Wiederkehr gleicher Verse, die das Epos
und das Drama characterisieren: sie zeigt jene beiden Principien der
Ruhe und der Bewegung, der Wiederholung und des Wechsels in dem
lebendigsten Durcheinanderwirken, in der verschlungensten Combination:
die Lyrik setzt ihre Verse, wo es nur die Sprache erlaubt, nicht
aus lauter gleichen, sondern aus verschiedenen Füssen zusammen, sie
mischt, wie diess namentlich in der antiken Poesie der Fall ist,
Dactylen und Trochäen, Choriamben und Iamben; sie lässt auch nicht |#f0465 : 452|

immer wieder einen gleichen Vers auf den andern folgen, sondern sie
vereinigt ungleiche Verse zur Strophe, wie auch die Lyrik des Mittelalters
iambische und trochäische, iambische und anapästische Verse
verband; sie löst aber alsbald diese Verschiedenheit wieder auf in
einer höheren Einheit, indem sie den Strophen eine den Anforderungen
der Symmetrie gemässe Gestaltung giebt, und beruhigt die bewegte
Mannigfaltigkeit durch Wiederholung der gleichen Strophengebäude.
Auch da tritt uns der Unterschied der drei Stufen dieser Stilgattung
wieder entgegen: die antike Elegie bedient sich einer nur zweizeiligen,
aus einfachen Versen gebildeten Strophe, des Distichons, das aus dem
epischen Hexameter und dem Pentameter besteht; die melische Lyrik
des Alterthums, das Lied gebraucht drei- und vierzeilige Strophen,
die aber aus zusammengesetzten Versen bestehn und dreitheilig gebaut
sind: also auch hier wieder Fortschritt und Beruhigung, Wechsel und
Gleichmass. Die Strophen der chorischen Lyrik, der Pindarischen
Ode und der dramatischen Chorgesänge sind aus vielen Zeilen aufgebaut,
aber auch hier, auf einer Stufe höher, herrscht wiederum
das Gesetz der Dreitheiligkeit: auf je zwei gleiche Strophen, auf
Strophe und Antistrophe, folgt eine ungleiche dritte, die Epode (ἐπῳδός).
Die Hymnen aber und die Dithyramben, die in ihrem Schwunge
noch bewegter, ja ungestüm bewegt sind, werden aus ungleichen
Strophen aufgebaut; sie sind πολύστροφα oder gar ἄστροφα, binden
sich an keine Dreitheiligkeit mehr und kennen nur den freiesten
Wechsel verschiedener Versformen, zeigen also nur Bewegung, keine
Beruhigung.


So viel konnte über den Stil der rednerischen Prosa und der lyrischen
Poesie jetzt noch gesagt werden. Wir können somit, da es
über den Stil des Gefühls hinaus keine weitere Stufe giebt, die ganze
Stilistik schliessen.


Halle, Buchdruckerei des Waisenhauses.

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Echtermeyer, Dr. Th., Auswahl deutscher Gedichte für Schulen.
19. unveränderte Aufl., herausgegeben von Herm. Masius. 1873.
59 Bog. gr. 8. cart. 1 Thlr. 10 Sgr., eleg. in Leinwand geb. 1 Thlr.
15 Sgr.
Hiecke, Rob. Heinr., Auswahl deutscher Gedichte für Bürgerschulen.
Jn drei Abtheilungen für das Alter von 10─14 Jahren. 2. Auflage.
1863. 23¼ Bog. gr. 8. cart. 15 Sgr.
Koberstein, Prof. Dr. Aug., Laut- und Flexionslehre der mittelhochdeutschen
und der neuhochdeutschen Sprache in ihren Grundzügen.
Zum Gebrauch auf Gymnasien. 3. verb. Auflage von
Dr. Oscar Schade. 1873. 5⅝ Bog. gr. 8. geh. 12 Sgr.
Lesebuch, Deutsches, für die gehobene Bürgerschule, herausgegeben von
H. Keck. Mit vielen in den Text gedruckten Abbildungen.
1. Theil. Für mittlere Klassen. 1872. 14 Bog. gr. 8. 7½ Sgr.


2. Theil. Für obere Klassen. 1872. 21 Bog. gr. 8. 10 Sgr.


Lesebuch, Norddeutsches. Mit besonderer Berücksichtigung der Bedürfnisse
der einklassigen Volksschule herausgegeben unter Mitwirkung von Dr. L.
Meyn und Dr. A. Sach von H. Keck und Chr. Johansen. Zehnte,
verbesserte Auflage mit vielen in den Text gedruckten Jllustrationen.
1873. 20 Bog. gr. 8. geh. 9 Sgr., in starkem Schulband 12 Sgr.
Dasselbe, Ausgabe für nichtpreußische Schulen, siebente, verbesserte
Auflage. 1871. 20½ Bog. gr. 8. geh. 9 Sgr., in Schulband.
12 Sgr.
Dasselbe, Ausgabe für Simultanschulen, zweite Bearbeitung. (8. Aufl.)
1871. 19½ Bog. gr. 8. geh. 8 Sgr., in Schulband 11 Sgr.
Lesebuch, Vaterländisches, für die mehrklassige evangelische Volksschule
Norddeutschlands. Unter Mitwirkung von Dr. L. Meyn in Uetersen und
Dr. A. Sach in Schleswig herausgegeben von H. Keck und Chr. Johansen.
Fünfte,
sehr verb. u. verm. Aufl. mit in den Text gedruckten Jllustrationen.
1873. 28½ Bog. gr. 8. geh. 13 Sgr., in starkem Schulband
16─17 Sgr.


Masius, Herm., Deutsches Lesebuch für höhere Unterrichtsanstalten.


1. Theil. Für untere Klassen. 6. verbesserte Aufl. 1872. 38 Bog.
gr. 8. geh. 25 Sgr. (Jn neuer Auflage unter der Presse.)
2. Theil. Für mittlere Klassen. 5. verb. Aufl. 1873. 35 Bog. geh.
1 Thlr.
3. Theil. Für obere Klassen. 2. Auflage. 1870. 43½ Bog. geh.
1 Thlr. 10 Sgr.
Verlagskatalog der Buchhandlung des Waisenhauses in Halle a/S.,
alphabetisch und fachwissenschaftlich geordnet. Nachtrag, umfassend
die Jahre 1854─1872. Nebst einem Preis-Courant der
Canstein'schen Bibeln. (Mit einem Vorbericht über die Geschichte
der Buchhandlung und Buchdruckerei des Waisenhauses sowie der
v. Canstein'schen Bibel-Anstalt seit der Gründung in den Jahren
1697 resp. 1710.) 1873. 9¼ Bog. 8.


Dieser Katalog ist gratis durch alle Buchhandlungen zu beziehen.

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Frîdankes Bescheidenheit. Mit erläuternden Anmerkungen herausgegeben von
H. E. Bezzenberger. 1872. 30¼ Bog. gr. 8. geh. 2 Thlr. 15 Sgr.
Handbibliothek, germanistische, herausgegeben von Dr. Jul. Zacher, o. Prof.
an d. Universität Halle.
1. Band. Walther von der Vogelweide, herausgegeben und erklärt von W. Wilmanns
(Berlin). 1869. 25½ Bog. gr. 8. geh. 1 Thlr. 15 Sgr.
2. Band. Kudrun, herausgegeben und erklärt von Prof. Dr. Ernst Martin
(Freiburg i. B.). 1872. 28 Bog. gr. 8. geh. 1 Thlr. 22½ Sgr.
Hildebrandslied, Das, die Merseburger Zaubersprüche und das fränkische Taufgelöbnis.
Mit photographischen Facsimiles nach den Handschriften herausgegeben
von Dr. Eduard Sievers a. o. Prof. in Jena. 1872. 4 Bl. Photogr.
und 2 Bog. Text. 4. geh. 2 Thlr. 20 Sgr.
Kurschat, Friedrich, Kgl. Prof., evangel. litt. Prediger und Dirigent des litt.
Seminars an der Universität Königsberg in Pr., Wörterbuch der littauischen
Sprache.
1. Theil. Deutsch-litt. Wörterbuch. Erste Abth. A─K. 1873. 647
und XX Seiten (47½ Bog.). Lex. 8. geh. 5 Thlr.
Der Subscriptionspreis ist erloschen. Die bedeutend gesteigerten Herstellungskosten nöthigen
uns den Preis zu erhöhen, und den Lieferungspreis nur für die alten Subscribenten
offen zu halten.
─ ─ Wörterbuch der littauischen Sprache. I. Theil. Deutsch-litt. Wörterbuch.
II. Band. 1. Lieterung. L─S. 1873. 9 Bog. Lex.-8. geh. 25 Sgr.
Der Schluss des ersten Bandes erscheint noch im Laufe dieses Jahres.


Lehmann, Prof. Dr. Aug., Gymnasialdirektor a. D., Luthers Sprache in seiner Uebersetzung
des Neuen Testaments. Nebst einem Wörterbuche. 1873. 18 Bog.
gr. 8. geh. 1 Thlr. 20 Sgr.
Leo, Prof. Dr. Heinrich, Angelsächsisches Glossar. 1. Hälfte. 1872. 28 Bog.
hoch 4. geh. 2 Thlr. 15 Sgr.
Das erste Buch Mose nach der deutschen Uebersetzung Dr. Martin Luthers in revidirtem
Text mit Vorbemerkungen und Erläuterungen und einem die Berichtigungen
zu Jesaja enthaltenden Anhang, im Auftrag der zur Revision der Uebersetzung
des Alten Testamentes berufenen Conferenz herausgegeben von Eduard
Riehm,
D. und ord. Prof. der Theologie in Halle a/S. Nebst einer Beilage
von D. Ahlfeld und D. Baur über die sprachliche Revision der Lutherbibel.
1873. 9 Bog. Lex.-8. geh. 15 Sgr.
Richter, Dr. Gustav, Prof. am Gymnasium zu Weimar, Annalen des Fränkischen
Reiches im Zeitalter der Merovinger.
Vom ersten Auftreten der Franken bis
zur Krönung Pipins. Mit fortlaufenden Quellenauszügen und Literaturangaben.
1873. 15½ Bog. Lex. 8. 2 Thlr.
Auch unter dem Titel:
Annalen der deutschen Geschichte im Mittelalter. 1. Abtheil.


Schade, Dr. Oskar, Prof. in Königsberg, Paradigmen zur deutschen Grammatik.
Gothisch, althochdeutsch, mittelhochdeutsch, neuhochdeutsch. Für Vorlesungen.
3. Aufl. 1873. 6½ Bog. gr. 8. geh. 15 Sgr.
─ ─ Altdeutsches Lesebuch. Gothisch, altsächsisch, alt- und mittelhochdeutsch.
Mit einem erklärenden Wortverzeichniss. In zwei Theilen.
1. Theil: Lesebuch. 1862. 24 Bog. gr. 8. geh. 1 Thlr. 15 Sgr.


─ ─ Altdeutsches Wörterbuch. Auch als zweiter Theil des Lesebuches. Zweite
wesentlich vermehrte und umgestaltete Auflage. 1. Lieferung A─F. Bog. 1─10.
1873. gr. 8. geh. 1 Thlr.
Erscheint vollständig in 6 Lieferungen bis Mitte 1874.


Wilken, E., Ueber die kritische Behandlung der geistlichen Spiele. 1873. 2½ Bog.
gr. 8. geh. 8 Sgr.
Wolfram von Eschenbach, Wilhelm von Orange, Heldengedicht. Zum ersten
Male aus dem Mittelhochdeutschen übersetzt von San-Marte (Dr. A. Schulz,
Geh. Reg.-Rath. etc. etc.). 1873. 26¼ Bog. gr. 8. geh. 2 Thlr.
Zeitschrift für deutsche Philologie, herausgegeben von Dr. Ernst Höpfner, Provinzialschulrath
in Koblenz und Dr. Julius Zacher, Professor an der Universität
zu Halle. V. Band. 1873. 1. Heft 8 Bog., pr. cplt. 32 Bog. Lex.-8. geh. 4 Thlr.
Halle, Buchdruckerei des Waisenhauses.
H. K.

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