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Esterka Regina! Wir nannten sie alle so, wir jungen Schüler, wenn wir in den Sommerferien von den Gymnasien zu Tarnopol oder Czernowitz heimkamen in das Städtchen, und später, wenn wir als Studenten in Wien zeitweilig zusammentrafen und von den Mädchen von Barnow sprachen, da nannten wir sie wieder mit diesem stolzen, klingenden Namen. Sie hieß aber in Wahrheit Rachel Welt und später, als sie den magern Chaim, den Ochsenhändler, geheiratet hatte, Rachel Pinkus, und war ein armes, schüchternes Mädchen aus der Judengasse zu Barnow. In dem kleinen Häuschen neben der jüdischen Schlächterei wohnte sie, und ihr Vater, Hirsch Welt, war ein Fleischhauer, ein sehr dicker und seiner Grobheit wegen verrufener Mann.
Aber das hinderte uns nicht, aus der Ferne für sie zu schwärmen, und die Elegants von Barnow thaten dasselbe aus der Nähe. Die ledigen Herren vom Bezirksgericht promenierten in ihren Freistunden nicht im gräflichen Garten, wo es so viel frische Luft und Blumenduft gab, sondern in der kleinen Gasse vor der Schlächterei, wo wenig frische Luft war und durchaus
Der Name paßte prächtig und war garnicht überschwänglich, obwohl ihn ein Poet erfunden hatte. Dieser Poet war der junge Herr Thaddäus Wiliszewski, ein sehr hoffnungsvoller Mensch, der immer eine verschossene Czamara trug und lange Haare, und eine Menge Verse machte, teils zum Hausgebrauch, teils für die Krakauer Damen-Zeitung. Dieser Herr Thaddäus also hatte, als er die Rachel Welt zum ersten Male sah, wie sie in ihrem ärmlichen Sabbathkleide am Flusse spazieren ging, entzückt ausgerufen: »Jetzt verstehe ich die Bibel! So hat die Esther ausgesehen, die dem Perserkönig den Kopf verdrehte und den Haman an den Galgen brachte, und jene andere Esther, die unseren guten König Kazimirz, den Bauernfreund, bewog, den Juden in Polen eine Freistatt zu geben, nachdem diese klugen Deutschen sie bei Zeiten fortgejagt hatten. Das ist Esterka, die Königin!« Und von da ab nannten sie alle gebildeten Menschen in Barnow nur Esterka Regina.
Dieser Name war nicht überschwänglich, ich wiederhole es. Vielleicht wäre es das Beste, ich begnügte mich mit dieser Versicherung. Denn wenn ich auch hinzufüge, daß ihre Augen tief, dunkel und leuchtend waren, wie das Meer in Sternennächten, und ihre Haare schwarz und duftig, wie die Nacht des Südens, und das Lächeln ihres Gesichts wie ein Frühlingstraum – Ihr könnt ja
Das ist eine Krankheit, die seltener ist, als man so hört und liest. Es sterben nur sehr wenige Menschen daran, und die am lautesten klagen, sie seien unrettbar diesem Tode verfallen, leben gewöhnlich noch sehr lange und sterben schließlich an Altersschwäche oder Überladung des Magens. Die Rachel hat mit keinem Wort, mit keinem Seufzer geklagt. Sie ging im Haufe umher und schaffte rüstig, so lange sie konnte. Und als sie es nicht mehr konnte, da schrieb sie noch zitternd einen langen Brief in hebräischen Schriftzeichen und siegelte ihn zu und wankte damit ins Posthaus. Dort bat sie den Schreiber, in deutschen Lettern die Adresse auf den Brief zu setzen: »An den wohlgeborenen Herrn Dr. Adolph Leiblinger, holländischen Stabsarzt in Batavia.« Der junge Mensch lächelte frivol, als sie ihm das diktierte, aber er wurde
Es ist eine einfache Geschichte. So einfach, wie die Geschichten alle, die das Leben selbst dichtet, dieser größte und grausamste Poet.
*
Ich kannte sie, noch als sie ein kleines siebenjähriges Mädchen war und ich ein wilder Knabe, der in der Schule unter der strengen Zucht knirschte. Da sah ich sie täglich. Wenn ich so in der trüben, kalten Dämmerung des Wintermorgens mit dem Ränzlein durch die kleine Gasse trabte, blieb ich immer vor der Thür des Hauses, wo sie wohnte, stehen und rief in den Hausflur: »Aaron! Aaron!« Denn dort, in einem düsteren, engen Dachstübchen, wohnte auch mein Mitschüler, der kleine schwarze Aaron mit seiner Mutter. Hirsch Welt hatte dieser Frau, der Chane Leiblinger, welche die Witwe eines Fleischerknechts war, aus Barmherzigkeit das Stübchen eingeräumt, denn ihr Obsthandel schützte sie und ihren Knaben kaum vor dem Verhungern. Wenn ich so gerufen hatte, that sich zuerst leise die Thür auf und die kleine Rachel trat heraus, die Händchen immer unter der Schürze. Und dann stieg der arme Junge in seinem leichten Röckchen die morsche Holztreppe herab und die Rachel steckte ihm rasch das Brot und die Leckerbissen zu, die sie unter der Schürze verborgen gehalten.
Er nahm's, oft erst zögernd, und dankte nie. Aber er blickte das Kind so sonderbar an und lächelte. Man
... »Aaron, willst Du nicht mitkommen – auf dem Eis schleifen?« – »Nein!« – »Warum nicht? Du bist immer so still und machst so zornige Augen!« – »Warum soll ich fröhliche machen? Die Kälte thut nicht wohl und der Hunger auch nicht. Und der Lehrer schlägt mich und die Christenjungen Alle. Warum? Weil wir ihn gekreuzigt haben? Ich hab' ihn nicht gekreuzigt. Warum schlägt man mich?« – »Das wird schon anders werden, wenn wir groß sind, Advokaten.« – »Ich werde kein Advokat. Ich werde ein sehr großer Arzt. Dann komme ich wieder nach Barnow und sage zum alten Hirsch: Hier ist der Mietzins für die Stube, hundert Dukaten. Und dann kommen die Polen und wollen, daß ich sie kuriere und ihnen Geld leihe. Aber dann sage ich: Weg! Ihr Hunde:« – »Und die Rachel?« – »Was geht das Dich an? Übrigens – wenn Du's wissen willst – die Rachel heirate ich und nur seidene Kleider wird sie tragen, noch tausendmal schönere, als die Gräfin Bortynska ....«
Aaron Leiblinger war eine eigentümliche Natur; schon während seiner Knabenzeit war dies sichtlich. Er war klein, unansehnlich, aber in seinem häßlichen Antlitz standen zwei Augen, schön durch den Feuergeist, der daraus blitzte. Unter dieser niedrigen Stirne, in die sich das schwarze, krause Haar drängte, wohnten Gedanken, von denen schwer begreiflich war, wie sie diesem Knaben hatten kommen können, dem Sohne der armen,
Diese unerhörte Rede wirkte. Die Männer beugten sich dem Willen des Knaben und gaben ihm das Wenige, was er brauchte. Er besuchte die Klosterschule als Jude mit Kaftan und Schmachtlöcklein. Was er um dieser Tracht willen litt, war entsetzlich. Vielleicht hat Gott die Thränen und die Schläge gezählt; er selbst ward müde, sie zu zählen, müde, zu weinen. Düster und trotzig ließ er Alles über sich ergehen, Unrecht und Schläge, Hunger und Kälte, oder was spärlich genug an ihn herantrat, Wohlthat und Wohlwollen. Ungeheure Sehnsucht nach dem Wissen, ungeheurer Rachedurst erfüllten ihn. Selbst sein Gesicht hatte nichts Kindliches mehr. Er war ein armer, sehr armer Junge, mein Mitschüler Aaron Leiblinger.
Aber selbst das ärmste Herz hat noch irgend ein Kleinod, an dem es hängt. Und so liebte der düstere Knabe die kleine Rachel. Fremd und rührend, so ganz anders als sonst, ward sein Antlitz, wenn er mit ihr sprach. Es war etwas Ergreifendes, ich habe es damals noch nicht recht verstanden; ich empfand es nur so, daß es ihm sehr wohl that, wenn man mit ihm von der Kleinen sprach. Ich glaube, er hätte sich, ohne zu zucken, für sie töten lassen. Und einmal geschah sogar etwas Unerhörtes – er weinte wieder: die Rachel lag an den Blattern darnieder.
Aber als seine Mutter starb, da weinte er kaum; das riß keine Lücke in sein Leben, das rührte nicht an sein Herz, mindestens nicht so, daß man es ihm ansah.
»Aber Du wirst ja am Weg verhungern!«
»O, ich habe das Erbteil von meiner Mutter, drei Gulden – nach Lemberg geh' ich, leb' wohl..«
Und fort war er, und ich hörte lange, lange nichts mehr von ihm.
*
Esterka Regina! ...
Ein Tag im Sommer, ein schöner, leuchtender Juli-Nachmittag. Die Sonne liegt über der Heide, auf der es blüht und duftet und summt; so öde sie sonst sein mag, im Sommer ist auch ihr Farbe, Duft und Leben beschieden. In der »Gasse« ist's still, ganz still, der Handel ruht. Draußen am Flusse wandelt das junge Volk geputzt auf und ab. Die Jünglinge sehen blaß und frühreif aus und auch ihre Reden entsprechen nicht ihrem Alter – sie unterhalten sich von ihren Talmudstudien und von ihren Geldgeschäften, und nur selten flüstert Einer dem Freunde zu, das Mädchen, das eben vorüberwandle, gefalle ihm ausnehmend, und er gäbe etwas drum, wenn sein Vater ihm just die zur Braut bestimmte. Aber wovon die Mädchen sprechen, ist schwer zu sagen: wer weiß, an was Alles so ein geputzt jüdisch Mädchen denkt und worüber sie kichert beim
Aber noch sehe ich's deutlich wie damals, wie sie langsam am Arm einer Freundin den Gang unter den Linden emporgeschritten kommt. Selbst unter die jüdischen Jünglinge kommt Bewegung und Mancher schiebt sich heimlich den Kaftan zurecht oder ringelt sich die zierlichen den Blick möchte ich nicht noch einmal aushalten ...« Die zweite Gruppe, die das Unglaubliche mit angesehen, weicht bei Zeiten zurück, und der langhaarige Dichter starrt wie verzückt mit weitgeöffneten Augen dem schönen Mädchen entgegen. Und in jenem Momente ist in diesem armen, kleinen Gehirn, das sonst nur Verse zum Hausgebrauch und für die Krakauer Damen-Zeitung erzeugt, der Name aufgeblitzt, den ich über diese Geschichte geschrieben habe ... Und die dritte Gruppe?! Die jungen Schüler sind weder unwiderstehlich, noch wollen sie dafür gelten; sie wagen es kaum, den »Sternen« in die schwarzen, blitzenden Augen zu schauen, und als nun erst die Sonne gezogen kommt, scharen sie sich eng
»Mein Fräulein,« sag' ich stotternd und ziehe den Hut, »verzeihen Sie, vielleicht erinnern Sie sich meiner nicht mehr – der kleine Aaron ...«
»Ei freilich,« erwiderte sie freundlich, »Ihr seid ja immer gut Freund mit ihm gewesen. Und wißt ihr nichts Neues von ihm?«
»Kein Sterbenswort, seit er fortgegangen ist.«
»O, da weiß ich schon mehr. Der alte Itzig Türkischgelb, der ›Marschallik‹ – Ihr kennt doch den närrischen Menschen? – nun, der ist neulich in Lemberg gewesen und hat dort zufällig den Aaron gesprochen. Freilich hätt' er ihn kaum erkannt, denn ratet nur einmal, was aus unserem armen, kleinen Aaron geworden ist?! Ein Herr ist aus ihm geworden, ein junger Herr, der sich deutsch kleidet und nur deutsch spricht. Ja, und mit den lateinischen Schulen ist er schon vor drei Jahren fertig geworden, und ist seitdem fast immer in Wien, Doktor zu werden! Wer hätte des geglaubt? Und, fügte sie zögernd hinzu, ›der Marschallik‹ erzählt auch, daß er jetzt sehr stolz ist, und gar nicht mehr mit Juden sprechen will. Denkt Euch nur, er soll jetzt Adolf heißen und Christ werden wollen. Aber das glaub' ich nun einmal nicht – nein! nein! – und Ihr?«
Nicht um eine Welt möchte ich etwas glauben, was diesem Mädchen widerwärtig ist. »Nein!« erwidere ich
»Ja, thut das,« sagt sie eifrig. »Es wird ihn gewiß sehr freuen. Und,« setzt sie hinzu, indem Purpurröte das holde Antlitz jäh überflammt, »wenn er sich meiner noch erinnert, so grüßt ihn auch recht herzlich von mir. Aber hört Ihr – nur wenn er sich meiner noch erinnert ...«
»Oh!« rufe ich begeistert und kühn, »wer könnte Sie je vergessen!« Aber über diese Kühnheit bin ich selbst so entsetzt, daß ich gleich darauf den Hut lüfte und mich stotternd verabschiede. Bis ich jedoch zu meinem Kommilitonen zurückkomme, habe ich wie der so viel Sammlung, um all die Ausbrüche der Neugier, des Neides und der Bewunderung mit imponierender Ruhe entgegennehmen zu können ...
*
Ich hatte den Aaron oder Adolf Leiblinger nicht aufgesucht, nachdem ich nach Wien gekommen war, obwohl ich es mir fest vorgenommen hatte. Aber wenn so ein armer, schüchterner, achtzehnjähriger Mensch mit einem schüchternen Herzen, das auch so recht achtzehnjährig ist, und einem karg gefüllten Beutelchen dazu aus einem kleinen Landstädtchen hingeschleudert wird auf das Pflaster der Weltstadt, der hat genug zu thun, sich vorerst selber durchzubringen durch das Gewirre der himmelhohen fremden Häuser und der Hunderttausende von fremden Menschen, der darf nicht viel nach rechts und links blicken, sondern immer gerade vor sich hin, und muß dabei noch sein armes, schüchternes Herz fest in beide Hände fassen, daß es nicht verzagt
Und der führte uns auch zusammen. Es war an einem trüben Dezember – Nachmittag. Die Nebel lagen auf den Straßen, dann begann ein feiner, dichter Regen herabzurieseln und trieb mich in ein großes, qualm- und menschengefülltes Café der Alser-Vor stadt. Nur noch im Billardzimmer fand ich ein freies Plätzchen. Und da der Regen länger dauerte, als mein Gefallen am Durchstöbern all' der Blätter und Blättchen, so sah ich endlich, in mein Schicksal ergeben, dem Spiel zu.
Vor mir vergnügten sich drei junge Leute am grünen Brett. Die Marqueur sagte »Herr Doktor« zu ihnen, es waren also Studenten der Medizin. Einer von ihnen fiel mir auf, ein mittelgroßer, schlank, fast zierlich gebauter junger Mensch mit feinem, scharfgezeichnetem Gesicht, das an sich bleich sein mochte, aber durch das tiefschwarze, leicht gekräuselte Haupt-und Barthaar fast schreckhaft fahl erschien. Hübsch war das Gesicht nicht zu nennen, dazu waren die Lippen zu dünn, die Stirn zu niedrig. Aber ich mußte es doch immer wieder ansehen, denn auf diesem Gesichte stand etwas geschrieben, wie eine Geschichte; daß ich es schon früher einmal gesehen haben könnte, fiel mir nicht entfernt ein. Aber plötzlich, als sich – aus geringfügigem Anlaß, über das Neckwort eines Mitspielers – die dünnen Lippen fest aufeinander preßten und die niedrige Stirn sich faltete, blitzte es in mir auf: »Das ist ja der schwarze Aaron!«
Nun, er war es wirklich. Ob wir uns freuten, einander zu begegnen, vermag ich kaum zu sagen; jedenfalls
»Nein!« Er blies den Rauch seiner Cigarre nachlässig in die Luft. »Mein lieber Junge, Du glaubst gar nicht, wie viele Mühe ich mir gegeben habe, die Leute von Barnow recht gründlich zu vergessen.«
»Auch Deinen Schutzgeist, die kleine Rachel?«
»Also die ist's?!« rief er lebhaft. Aber gleichgültig setzte er hinzu: »Was macht die Kleine? Sie wird wohl jetzt recht groß sein, etwa sechzehnjährig?«
»Und wunderschön dazu!« Und ich gab eine so begeisterte Schilderung ihrer Schönheit und Klugheit, daß der blasse junge Mensch neben mir ironisch zu lächeln begann. Aber als ich zu Ende war, da sagte er ernst: »Das thut mir aufrichtig leid!«
»Wie? Warum?«
»Weil ich meinem kleinen Schutzgeist in der That Dankbarkeit bewahre und ihn glücklich sehen möchte. Dazu ist aber, wenn das Mädchen wirklich so schön und dabei so klug ist, verdammt wenig Aussicht. Entweder läßt sie sich durch all' die Versuchungen bethören und fällt trotz ihrer Klugheit einem dieser polnischen oder ungarischen Herren zum Opfer –«
»Oder sie bleibt die brave, gehorsame Tochter ihres Vaters und der verschachert sie dann eines Tages, ohne sie zu fragen, an einen rohen chassidischen Bengel. Und da sie klug ist, so wird sie den Jammer und die Niedrigkeit eines solchen Daseins über kurz oder lang begreifen und schließlich als armes, geknicktes Judenweib in irgend einer Ecke eines podolischen Ghetto verkümmern.«
»Du siehst zu schwarz.«
»Ich sehe die Dinge, wie sie sind. Ich bitte Dich, lehre Du mich nicht die Chassidim kennen. Doch – sprechen wir nicht weiter darüber. Und nun – leb' wohl!«
Wir gingen auseinander, und es klang recht kühl, als wir sagten: »Auf Wiedersehen!«
In der That suchten wir dieses Wiedersehen nicht. Aber der Zufall führte uns wieder einmal zusammen und diesmal dauernder. In den ersten Frühlingstagen bezog ich eine neue Stube. Und als ich zum ersten Male aus dem Fenster sah, blickte mir aus dem Fenster gegenüber neben einem stattlichen Totenkopf das Antlitz meines Schulkameraden aus Barnow entgegen. Er wohnte in demselben Hause, in demselben Hofe. So sprachen wir denn wieder miteinander, kamen so unvermerkt einander näher und wurden schließlich, so weit es eben die studentische Rangordnung (er stand im vierten, ich im ersten Jahrgang) und noch mehr: so weit es der ungeheure Unterschied unserer Naturen erlaubte, sogar gute Freunde.
Was aber seine Natur anbelangt, so erwies sich auch an diesem Menschen wieder einmal die ganze Wahrheit des alten Satzes: »Die Eindrücke der Kindheit
Nur das Verhältnis zu seinem Gotte und zu seinem Glauben hatte sich gründlich geändert. Früher war ihm, eben weil er sehr stolz war, sein Glaube um so lieber geworden, je mehr er um seinetwillen litt, und sein Gott war ihm so recht der Gott seiner eigenen Rache, den er nicht müde wurde, um Blitzstrahlen gegen die Christenjungen und unseren dummen, rohen Lehrer anzuflehen. Aber nun war er gegen Gott kühl und haßte seinen Glauben glühend. Er geriet ordentlich in Wut, wenn er auf Juden und Judentum zu sprechen kam. Herr Thaddäus Wiliszewski, der doch eine eigene »Hymne gegen die Juden« gedichtet hatte, war dagegen ein harmloses Kind. Aber dabei blieb er doch formell in diesem Glauben. »Mein Rock ist unbequem,« pflegte er zu sagen; »aber ich sehe auf dem Erdenrund keinen bequemeren, den ich statt seiner anziehen könnte. Und ohne Rock wird man so lästig angegafft!«
*
In den letzten Julitagen trafen wir in Barnow ein. Die Ankunft des »schwarzen Aaron« weckte stürmisches Aufsehen, und es war halb komisch, halb betrüblich, wie die Leute von Barnow ihr Stadtkind begrüßten. Er, der »schwarze Aaron«, der Aaron Leiblinger, der Sohn der Chane Leiblinger aus dem Hüttlein am Flusse, hatte es gewagt, »christliche« Kleider zu tragen, »christliche« Kost zu essen und am Sabbath zu rauchen, ja noch mehr, er hatte es sogar gewagt, zu studieren! Das waren in den Augen dieser Menschen ebenso viele
Da trat eines Tages – an einem glühheißen Sonntag im August, dem zweiten, den wir im Städtchen verbrachten – der Versucher an ihn heran, oder eigentlich zunächst an mich. Denn ich allein war daheim, als sich die Thüre aufthat und ein kleines Männchen mit glühroter Nase und dünnen Beinchen in unsere Stube tänzelte. Das war Herr Isaak Türkischgelb, der »Marschallik« von Barnow, was zu deutsch einen Lustigmacher oder Hochzeitsmarschall bedeutet. Ein solcher Würdenträger hat neben tausend anderen kleinen Pflichten auch die, die Gäste zur Hochzeit einzuladen, und in dieser Eigenschaft beehrte er mich mit seinem Besuche, um mir und Adolf die dringliche Einladung der Frau Sprinze Klein zu überbringen, vulgo »Rot-Itzigel«) mit unserer Gegenwart zu verherrlichen.
»Schön!« sagte ich. »Aber treffen wir auch hübsche Mädchen dort? Kommt auch die Esterka Regina?«
»Wer?« fragte das Männchen erstaunt und legte die Hand ans Ohr.
»Ich meine die Rachel Welt.«
»Ob die dabei sein wird?« rief der Marschallik pathetisch. »Heißt eine Frage! Soll man alle häßlichen Mädchen von Barnow laden und nur gerade die Schönste nicht?! Verlassen Sie sich darauf, wir wissen, was sich schickt, und wenn man junge Herren einladet, so muß man auch schöne junge Mädchen einladen. Und dann wissen wir, wenn wir die Rachel im Zimmer haben, wo getanzt wird, so können wir uns ersparen, Blumen hineinzustellen, denn die Rachel ist die schönste Blume, so wahr mir Gott einen guten Erwerb geben soll! ... Die schönste Blume!« wiederholte er, »und schon darum werden Sie kommen! Nicht wahr? Sie und Ihr Freund Aaron – verzeihen Sie, daß ich ihn so heißen thu', aber wie kann ich ihn Adolf nennen, da ich ihn doch selbst auf den Händen getragen habe und seine Mutter Chane mein leibliches Geschwisterkind war?! Sie werden kommen und nicht dulden, daß die Leut' in Barnow vom alten Marschallik sagen: ›Gemeine Juden kann er einladen, der grobe Klotz, aber feine junge Herren nicht!‹«
Ich mußte lachen. »Nun, für mein Teil könnt Ihr ruhig sein. Ob aber Adolf kommt, möchte ich bezweifeln – holt Euch morgen seine Antwort selbst.«
Ich war überzeugt, daß ich allein gehen würde. Und in der That erwiderte mir Adolf, als ich ihm die Einladung übermittelte: »In die Hölle will ich Dich begleiten, aber unter dieses Volk nicht!«
»Schade!« sagte ich, »Du hättest da eine interessante Charakterstudie machen können – an unserer Wirtin, Frau Sprinze Klein. Sie ist aus Brzezan gebürtig, jetzt verwitwet, sehr reich, hat einen Schnittwarenladen.«
»Sehr interessant,« höhnte er.
»Mehr, als Du glaubst. Bei dieser Frau zeigt sich ein sonst sehr ernster seelischer Prozeß: das Aufringen aus den drückenden Fesseln des orthodoxen Glaubens zu einer freien Lebensanschauung, in einer merkwürdigen, geradezu komischen Form. Frau Klein lebt ganz wie die Anderen, wagt nicht, ihr eigenes Haar zu tragen, und könnte den leisesten Verstoß gegen das Speisegesetz nicht übers Herz bringen. Aber weil sie einmal als Mädchen ein halbes Jahr lang in Lemberg gelebt hat, so hat sie eine gewisse platonische Liebe für die ›Aufgeklärtheit‹ und ›feine‹ Formen. ›Als ich in Lemberg war‹ – so beginnt jede ihrer Reden. Um nun diese platonische Neigung zur Aufgeklärtheit stellenweise auch durch die That zu beweisen, verfällt sie auf die seltsamsten Mittel. Sie spricht z.B. mit wahrer Wut hochdeutsch und kann sie gar irgendwo ein Fremdwort ergattern, so läßt sie es gewiß eine Woche lang nicht wieder los; welchen Mißhandlungen das arme
»Sehr schmeichelhaft!«
»Pah! – gleichviel! es kann ein hübscher Spaß werden! Und bliebe es auch eine langweilige Tanzrobot, die Aussicht, mit einem schönen Mädchen, wie die Esterka Regina ist, tanzen zu können, wiegt ein Opfer auf. So denke mindestens ich! Und Du?«
»Ich nicht,« erwiderte Adolf kurz. Aber nachdenklich
... Am Dienstag Abend gingen wir nach dem festlich geschmückten Hause der reichen Witwe. Die Ceremonie war bereits vollzogen und die Unterhaltung sollte eben beginnen. Voll überquellender Freundlichkeit kam uns an der Thüre des Tanzsaals die Hausfrau entgegen, gehüllt in ein Kleid von schwerster gelber Seide und darüber eine hellgrüne Sammetmantille, bei jeder Bewegung klirrend und raffelnd von dem Juwelenladen, mit dem sie behangen war. »Sie werden Alles finden, wie in Lemberg,« sagte sie uns strahlend, »denn wie ich in Lemberg war, habe ich gelernt, wie man macht die Horreurs als Wirtin.«
Wir traten in den Tanzsaal. Die Männer machten sauersüße Gesichter, aber den Mädchen schien unsere Ankunft nicht ungelegen. Und so erfüllten wir denn, was man von uns erwartete, wir tanzten.
Da trat ein alter Mann in das Zimmer und an seiner Seite ein junges Mädchen. Das war Hirsch Welt und seine Tochter. Wir sahen sie da zum ersten Male seit unserer Ankunft und sagten wie aus einem Munde: »Wie schön sie ist!« – »Stört Dir dies Mädchen Deine lichte Erinnerung?« fragte ich Adolf lächelnd.
Aber er erwiderte nichts. Er war nur einen Augenblick noch bleicher geworden als gewöhnlich. Dann trat er auf sie zu und bat sie um einen Tanz.
Sie erbleichte gleichfalls, sah ihn starr an und
»Sie – Sie tanzen wohl überhaupt nicht?«
»Ich tanze,« sagte sie langsam und blickte ihn noch immer starr an, »aber mit Euch nicht.«
Er zwang sich zu einem Lächeln, es war mühsam genug. »Und wodurch verdiene ich solche Strafe?«
»Weil Ihr uns Alle haßt und verspottet, uns, unsere Art, unsere Sprache. Was nützt es Euch? Ihr bleibt deshalb doch auch ein jüdisch Kind!«
Sein Gesicht verfinsterte sich. »O, wenn Sie wüßten –,« begann er jäh und stockte wieder. Dann sagte er lächelnd: »Da irren Sie. Die Leute von Barnow thun mir kein Unrecht und ich ihnen nicht. Wie würde sich das auch unter Landsleuten schicken! Ich bin ja hier geboren und aufgewachsen!«
»O, ich weiß,« erwiderte sie lebhaft, »in unserem Hause, in der Dachkammer habt Ihr ja gewohnt, Ihr und Eure alte Mutter, mit der Friede sei ...«
Er sah ganz selig. »Also Sie erinnern sich? Ich habe es kaum erwartet! Es sind ja elf Jahre her!«
»O – und wie ich mich erinnere! Wir haben ja so gute Freundschaft gehalten! Und habt Ihr die Rachel vergessen?«
»Gewiß nicht!« beteuerte er.
Von da ab begannen sie halblaut und eifrig zu plaudern und ich konnte dem Gespräch nicht mehr folgen. Er mochte wohl das schöne Mädchen an seiner Seite an eine Menge kleiner Geschichten aus ihrer Kinderzeit erinnern. Denn immer wieder überflog ein seliges
Und fort war sie, ehe er sich's versah. Er sah ihr nach, wie ein Träumender. Ich trat auf ihn zu. »Du hast dem armen Bräutigam eine schwere Stunde gemacht,« meinte ich lachend.
»Dem Bräutigam?« fragte er hastig. »Also ist sie verlobt? mit wem?« – »Das weiß ich nicht. Hat sie Dir nicht davon gesprochen?« – »Nein,« erwiderte er kurz, verstimmt und drängte zum Gehen. Das war ihr erstes Wiedersehen.
*
Zwei Monate später. Milder Herbstsonnenschein lag auf dem leisen Sterben und Entfärben der Heide. Wieder saß mir mein alter Reisekumpan im Waggon gegenüber. Aber diesmal gings nordwärts, fort von der Heimat.
Adolf war in den letzten Wochen recht seltsam gewesen. Bald überlaut, bald mäuschenstill, bald übermütig, bald sentimental – man sah's dem Menschen
Heute, während der Reise, war er sehr weich. Auf seinem Antlitz lag ein Schimmer, wie ich ihn auf diesen scharfgeschnittenen Zügen nie vermutet hätte. Und plötzlich begann er: »Du ich möchte Dir etwas Hübsches erzählen.« – »Ich höre!« – Aber er schwieg wieder. Erst nach einer Weile brach er los, plötzlich und hastig: »Ich liebe sie. Sie liebt mich. Ich ertrage das Schweigen nicht länger. Ich will Dir erzählen, wie Alles gekommen ist ...«
Ich drückte ihm die Hand und er erzählte:
»Du erinnerst Dich jener Hochzeit. – Ich bin kein Phrasenmensch, ich kann Dir nicht sagen, welchen Eindruck das Mädchen auf mich gemacht hat. Aber obwohl mir die lieblichen Züge immer lockend vorschwebten, mochte ich doch ihren Anblick nicht durch einen Besuch im Hause des Vaters erkaufen. In diesem Hause liegen die düsteren Gespenster meiner Kinderjahre eingesargt; ich mag sie nicht ohne Not wecken. Auch ist ja Hirsch Welt einer der allerfrömmsten Frommen in der Gemeinde, und es gelüstete mich nach keinen weiteren Proben der Herzlichkeit von dieser Seite. So überließ ich denn ein Wiedersehen dem Zufall, der mich auch, etwa eine Woche später, das Mädchen finden ließ. Und zwar an einer Stelle, wo ich Alles eher erwarten konnte, als ein Zusammentreffen mit ihr.
Nun denn – auf einem der Steine im verfallenen Schloßhof fand ich das Mädchen sitzen, gerade unter dem großen roten Holzkreuz, das den Juden sonst den Besuch dieser Stätte verleidet. Sie nähte emsig, ein Buch lag im Grase neben ihr. Beim Geräusch meiner Tritte blickte sie auf und erwiderte ruhig meinen Gruß. ›Nun, da seid Ihr ja endlich!‹ sagte sie. Ich sah sie erstaunt an. ›Wußten Sie, daß ich kommen würde? Ich bin ja nur zufällig hier!‹ – ›Gesagt hat es mir Niemand,‹ erwiderte sie und errötete, ›aber ich wußte es so sicher und bestimmt, wie nur etwas in der Welt! Ja, das Buch hier habe ich nur dazu mitgenommen, um es Euch zu zeigen.‹ Und sie reichte es mir. ›Kennt Ihr es noch?‹ Ich kannte es freilich, und es war ein sonderbares Gefühl, das mich überkam, als mein Blick auf diesen verdrückten, mürben Blättern ruhte. Es war ein Gebetbuch für Frauen, im Jüdisch-Deutsch geschrieben, eines der wenigen Erbstücke, die meine Mutter mir hinterlassen hatte. Mich überschlich tiefe Rührung, die Augen wurden mir feucht; stumm gab ich das Buch dem Mädchen zurück. ›Ihr gabt es mir zum Abschied,‹ sagte sie, ›an einem schönen
Wir plauderten noch lange und über Vieles – nicht nur an jenem Morgen, auch in den nächsten Tagen und Wochen. Rachel kam alltäglich mit ihrer Arbeit zum Schloßhof. ›Unten ist's dumpf,‹ sagte sie, ›und hier oben ist lichter Sonnenschein und die Vögel zwitschern. Ich liebe das Licht so sehr. Du weißt, es ist sonst wenig Sinn für Naturschönheit unter den Juden unserer Landschaft; die Not, die Schmach, der Jammer haben ihn erstickt. Aber diesem herrlichen Gemüte war eben auch dieser Sinn wieder aufgegangen. Und pünktlich, wie das Mädchen, fand auch ich mich im Schloßhof ein. Was wir da alles besprachen, könnte ich Dir beim besten Willen nicht sagen – es war uns eben das unscheinbarste Ding wichtig genug, um lange dabei zu verweilen. Was uns täglich trieb, einander aufzusuchen, war uns wohl Beiden nicht klar. Und dieses sachte Hinleben in der Dämmerung schöner Gefühle – das will mir nun fast als das Lichteste erscheinen an jenen lichten Tagen ...‹ Mein Freund verstummte. Wieder spann sich jenes eigene Schimmern über sein bleiches Antlitz.
›Du hast Recht,‹ sagte ich. ›Das ist das Seligste an der seligen Zeit der ersten Liebe, daß diese Liebe so gar nicht klügelt, daß ihr das Wunderbarste einfach erscheint und das Einfachste als ein Wunder. Erst ein äußerer Einfluß zeigt den Liebenden in der Regel, wie tief ihr Gefühl geworden ist.‹«
Adolf lachte. »Du sprichst wie ein Damen-Almanach.
Dann fuhr er fort: »Eines Morgens war ich allein oben in der Ruine. Ungeduldig schritt ich mehrere Stunden unter dem verfallenen Mauerwerk auf und ab; es war vergeblich, Rachel kam nicht. Und an meiner Ungeduld fühlte ich erst, wie lieb mir das Mädchen geworden war. Sie kam auch am zweiten, dritten Tage nicht. Und so eine Woche lang; ich war in Verzweiflung. Da fand ich sie eines Morgens wieder am gewohnten Platz. Ich eilte freudig auf sie zu und faßte ihre Hand. ›Gottlob! da bist Du wieder,‹ rief ich fröhlich, ›Mädchen, Mädchen, wie viel Trauer und Angst hast Du mir bereitet.‹ Sie lächelte trüb, ihr Antlitz war bleich, die Augen gerötet. ›Ich konnte nicht kommen,‹ sagte sie leise ›ich war krank!‹ – ›Krank!‹ rief ich besorgt. ›Und ich konnte nicht bei Dir sein! So hatte ich doch recht, als ich mich um Deinetwillen so ängstigte!‹ – ›Es war nicht bedeutend,‹ erwiderte sie. ›Und Ihr wart oft hier?‹ – ›Täglich und harrte und harrte!‹ – ›Ich danke Euch,‹ sagte sie leise und reichte mir nochmals die Hand. Und wie wir so stumm dastanden und einander ins Auge blickten und keine Worte fanden, da durchzuckte uns zuerst das klare Bewußtsein unserer Liebe. Wir haben wohl beide in jenem Augenblick gezittert ... ›Ich muß gehen,‹ sagte sie endlich und löste ihre Hand aus der meinen. ›Die Mutter wird Angst um mich haben. Lebt wohl!‹ – ›Bis morgen,‹ sagte ich. ›Du kommst!‹ – ›Ich komme,‹ versprach sie leise ...
Wir setzten uns auf den großen Stein, der zu Füßen des roten Kreuzes liegt. ›Wer meinen Eltern davon erzählt hat,‹ begann sie, ›daß ich täglich hier mit Euch spreche, weiß ich nicht – es ist auch gleichgültig. Ich hätte es ihnen selbst bei irgend einer Gelegenheit gesagt, denn ich sah nichts Arges darin. Der Vater aber empfing mich, als ich jüngst nach Hause kam, mit heftigen Vorwürfen und mit Worten ... ich will sie nicht wiederholen, sie waren sehr böse und ungerecht. Er sagte, ich vergäße meiner Ehre und meiner Pflicht, er erinnerte mich an meinen Verlobten, er beschwor mich, von Euch, dem Ungläubigen, dem Verführer zu lassen. Ich erschrak sehr, als er so sprach, doch nicht vor seinem Zorne. Ich erschrak über die Erkenntnis, die mir da aufging. Ich hatte nicht daran gedacht, warum ich immer hierher kommen mußte,
Mein Gefährte verstummte. Wir starrten schweigend in die Dämmerung hinein, die sich allmählich über die weite, westgalizische Ebene breitete. Erst nach langer Pause fragte ich: »Warst Du bei Hirsch Welt?«
»Ja ... Er hat mir die Thür gewiesen. Was liegt daran? Das Mädchen wird deshalb doch mein Weib. Man kann, was man will ...«
*
An die fünfzehn Monate waren seit jener Unterredung im Waggon vergangen. Wir waren nach Wien zurückgekehrt, wohnten in verschiedenen Stadtteilen und sahen uns selten genug. Nur so viel wußte ich von ihm, daß er mit eiserner Energie arbeitete und gute Nachrichten von seinem Mädchen habe.
Da ward eines Morgens im Dezember, in grauer Frühe, stürmisch an meine Stubenthüre gepocht und noch ehe ich antworten konnte, trat mein Freund herein, totenbleich, mit verstörtem Antlitz. »Du bist's, Adolf?« rief ich erschreckt. »Wie Du aussiehst! ... Was ist geschehen?«
Er strich sich über die Stirn und warf das wirre Haar zurück, in dem noch einige Schneeflöckchen hingen.
Ich gehorchte und fuhr in meine Kleider. Es war etwas in seiner Stimme und seinem Wesen, was mich nicht länger zaudern ließ. Er war schwankenden Schritts ans Fenster getreten und dann wie todmüde in meinen Lehnstuhl gesunken und starrte nun in den grauen, trübseligen Wintermorgen hinaus. Sein Antlitz war fahl, die Augen glühten wie im Fieber.
»Adolf,« rief ich besorgt, »Du bist krank?«
»Nein ich bin nicht krank,« erwiderte er ungeduldig, »ich darf nicht krank werden. Aber komm, komm!« Besorgt folgte ich ihm in den kalten, stürmischen Dezembertag hinaus. »Wo ist die nächste Telegraphen-Station?« fragte er.
»Ziemlich weit! – Was sollen wir dort?«
»Komm hin – frag' nicht viel.« Er war offenbar in so furchtbarer Aufregung, daß ich ihm schweigend willfahrte. Als wir endlich nach geraumer Zeit vor dem Thore des Amtes standen, fragte er: »Und nun – ich flehe Dich darum an, geh' hinein und frag' bei Deiner Mutter telegraphisch an, ob es wahr ist, daß – meine Braut in nächster Woche heiratet.«
»Hast Du dergleichen gehört?«
»Später – Du sollst später Alles hören, aber nun geh' und telegraphiere. Und erbitte die Antwort schleunigst – hörst Du? – schleunigst, hab' Erbarmen mit mir.« Diese Worte, dieses Benehmen waren bei dem klaren Menschen so unerhört, daß sie mich tief erschütterten. Ich trat ins Amt und gab die Depesche
»O, es ist nichts von Bedeutung,« erwiderte er, folgte aber willig. »Ein leichtes Fieber – ich werde mich erkältet haben – ich bin heute die ganze Nacht ziellos durch die Gassen gegangen. Ich weiß, was Du sagen willst, eine Thorheit war's, und ich bin selbst ein angehender Arzt, aber was nützt das – ich konnte nicht ruhig ... Wann kommt die Antwort?« unterbrach er sich dann wieder heftig.
»Spät Nachmittags, vielleicht erst Nachts. Wir haben ja keine direkte Verbindung, dazu der Schneesturm. Aber wenn die Antwort kommt, bringe ich sie Dir augenblicklich.«
»Ich danke Dir,« erwiderte er. »Du weißt nicht, was ich litt, als ich es so unvermutet erfuhr.«
»Durch wen?« fragte ich.
»Es hat sich seltsam gefügt,« erzählte er. »Ich ging gestern Abend zufällig durch die chirurgische Abteilung des allgemeinen Krankenhauses. Da ward ich plötzlich angerufen. Ich trat an das betreffende Bett, ein jüdischer Bursche lag darin – es war der Salomon Pinkus, der Bruder des Ochsenhändlers Chaim Pinkus
»O doch, Du Armer,« erwiderte ich mitleidig.
»Nein!« rief er heftig, »kein Mensch kann es begreifen. Sieh' – es ist ja bei mir keine gewöhnliche Liebelei – wie käme auch meine Natur dazu?! Es ist ja die erste große Leidenschaft meines Lebens und wird unter allen Umständen die letzte sein. Ich habe Alles, was an Gefühl in mir ist, auf dieses Mädchen gesetzt; betrügt sie mich, so werde ich wahnsinnig oder
»Und hältst Du das für möglich?«
»Noch sträube ich mich dagegen, Niemand gesteht sich willig ein, daß sein Leben plötzlich wertlos geworden ist. So wenig wahrscheinlich es ist, daß der Bursche gelogen hat, denkbar ist es doch ... Freilich habe ich schon darum fast gar keine Hoffnung, weil ihre Briefe, die sonst pünktlich allwöchentlich kamen, seit vierzehn Tagen ausgeblieben sind ...«
»Wie aber,« meinte ich, »wenn sie nicht untreu wäre, sondern gezwungen, überwältigt durch weiß Gott welche Mittel!«
»Das ist unmöglich,« erwiderte Adolf fest. »Wäre mir dies auch nur einen Augenblick als möglich erschienen,
Wir sprachen noch lange an jenem düsteren Wintervormittage. Dann bewog ich Adolf, doch wieder ins Krankenhaus zu gehen und seine gewohnten Pflichten zu erfüllen. Aber er that dies erst, nachdem ich feierlich versprochen hatte, ihm die Nachricht, wie sie auch immer sei, keinen Augenblick vorzuenthalten.
Erst im Morgengrauen des nächsten Tages kam die Antwort: »Ja, Rachel heiratet nächsten Dienstag den Ochsenhändler Pinkus. Aber was geht's Dich an?«
Ach! die Nachricht ging mich in diesem Augenblicke näher an, als meine gute Mutter ahnen mochte. Bekümmert machte ich mich auf und fuhr in die Mariengasse, wo Adolf ein kleines Stübchen bewohnte. Mein Herz klopfte, als ich die Klingel zog.
Seine alte Hausfrau kam mir entgegen. »Gottlob, daß Sie da sind,« rief sie mir freudig zu. »Welche Angst habe ich in dieser Nacht ausgestanden! Denken Sie nur, gestern Nachmittag kommt wieder ein Brief für den Herrn Doktor, aus der Polakei, ich hab's am Poststempel gesehen, nun, den lege ich ihm auf den Leuchter, wie gewöhnlich, damit er ihn gleich findet, wenn er heim kommt. Hätte ich aber gewußt,
Ich hörte sie länger an und trat in das Zimmer. Adolf saß regungslos im Lehnstuhle, die Hände aufs Gesicht gepreßt; es schien fast, als schlafe er. Aber beim Geräusch meiner Schritte ließ er die Hände sinken und erhob sich. Ich kann nicht beschreiben, wie sein Gesicht war; ich habe nie einen Seelenschmerz sich erschütternder in den Zügen eines Menschen ausprägen sehen.
»Lies,« sagte er kurz und heiser, und reichte mir einen Brief hin, der auf dem Tische lag. Er lautete:
Herr Doktor!
Ihr müßt mir verzeihen, daß ich erst jetzt schreibe, daß ich mich getäuscht habe. Ich habe Euch nicht lieb, es war nur Freundschaft. Ich habe es bald bemerkt, aber ich habe nicht den Mut gehabt, es Euch früher zu schreiben. Darum schreibe ich erst jetzt, daß ich nächste Woche den Chaim heirate. Ihr könntet vielleicht glauben, daß ich das gezwungen thue, aber es wäre nicht wahr, ich thue es freiwillig. Verzeihet mir also, Herr Doktor, es war ein Irrtum.
Rachel.
*
Mehr als vier Jahre waren seit jenem düsteren Wintermorgen vergangen. Wieder grünte und blühte
»Also wieder in Europa!« rief ich freudig. »Das ist recht von Dir! Du weißt ja, wie sehr ich mich gemüht habe, Dir Deinen Plan auszureden. In dieses mörderische Klima zu gehen, das war ja eine Art anständigen Selbstmords!«
»Ja!« erwiderte er ruhig, »das war's.«
»Aber nun bleibst Du hier?«
»Ja! Ich habe auch jetzt keine Freude am Leben, aber es macht mir auch keinen Schmerz mehr. Der Tod wird mir wohl immer als etwas sehr Gleichgültiges erscheinen. Aber da ich nun einmal lebe, so habe ich wohl auch die Pflicht, mich so nützlich als möglich zu machen. Ich werde mich hier oder auswärts als Dozent habilitieren.«
»Das freut mich,« sagte ich, »ich habe übrigens nie die Hoffnung verloren, daß Dich die Zeit doch endlich heilen wird.«
»Es war, wenn Du das, was mit mir vorgegangen
»Ein Brief? Von ihr?«
»Ja. Nachdem ich ihn erhalten hatte, reiste ich sogleich nach Europa – direkt nach Barnow. So wahnsinnig rasch hat bisher noch kein Mensch die ungeheure Reise zurückgelegt. Aber ich bin dennoch zu spät gekommen.«
»Sie ist tot?« fragte ich.
»Ja – vier Wochen sind's her, daß sie starb.«
»Und sie rief Dich durch jenen Brief an ihr Sterbelager?«
»Nein! Aber da Du alles Übrige kennst, so ist es wohl meine Pflicht, Dich auch diesen Brief lesen zu lassen.« Er reichte mir das Schreiben hin. In zitternden, kaum lesbaren Zügen stand darin geschrieben:
»Es wird bald Frühling, aber ich fühle, daß ich ihn nicht mehr erleben werde, darum will ich schreiben, so lange ich es noch vermag. Ich thue es wohl auch um meinetwillen, aber noch mehr um Euretwillen. Um meinetwillen nur, damit Ihr mich nicht auch noch bis über den Tod hinaus verachtet, aber um Euretwillen, um Euch wenigstens jetzt den Schmerz zu nehmen, daß Ihr ein Mädchen geliebt habt, welches schlecht war und Eurer Liebe nicht wert.
Ich habe gelogen, was ich zuletzt vor vier Jahren schrieb. Ich hatte Euch damals lieb und liebe Euch jetzt, und ich werde Euch lieb haben, bis ich sterbe. Und wenn uns Gott nach dem Tode diese Gnade gestattet, so werde ich Euch auch dann noch lieben. Aber eben wegen meiner Liebe habe ich mich so auf immer Eines jedoch hätte ich niemals ausgeglichen! – Ihr habt darüber gelächelt und es war doch richtig: Eure Stellung und wie sie mich erzogen haben. Sie haben mich zu lange hier gehalten, so in der Traurigkeit und in der Unwissenheit; ich hätte die Welt und das Licht nicht ertragen können. Ich hätte Euch nicht so recht verstehen können, nicht Euer Weh, nicht Eure Lust, und das wäre mir und vielleicht noch mehr Euch ein großer Schmerz gewesen. Ich wäre so unter Euren Freuden und ihren Frauen immer fremd und ungeschickt geblieben, sie hätten gelacht über mein Thun und über mein Sprechen, und das hätte mir furchtbar weh gethan und Euch nicht minder. Ihr hättet mich vielleicht deshalb von der Welt abgeschlossen gehalten, aber dann hätte ich es nicht ertragen können: ›Dein Mann muß sich deiner schämen,‹ und auch Euch wäre es sehr schmerzlich gewesen. Und eines Tages wäre es so gekommen, wie ich Euch damals gesagt habe: Ihr hättet die Stunde verwünscht, wo ich Eure Gattin geworden wäre. Ihr hättet mich nicht verstoßen, das weiß ich. Aber unglücklich wären wir geworden und Ihr vielleicht noch unglücklicher, als ich.
Das habe ich Alles genau gesehen und erkannt. Und weil ich Euch so sehr liebe, wollte ich nicht, daß Ihr durch mich unglücklich werdet. Darum habe ich beschlossen, es allein zu werden, und habe meinen Eltern gesagt,
Aber sagen muß ich, daß ich zu schwach war für dieses Leid. Ich bin bleich und krank geworden, mein Herz klopft so stark, daß ich oft davon ohnmächtig werde, ich werde immer schwächer und ich fühle, daß ich bald sterben werde. Aber ich habe kein Bangen vor dem Tode und danke Gott, daß er mich nur so kurz hat leiden lassen und nicht ein ganzes, langes Leben hindurch. Was hätte ich auch noch sollen auf dieser Erde?
Es war mir immer ein Glück und ich habe darauf gehofft seit jener Stunde, wo ich meinen Entschluß gefaßt habe, Euch Alles dies einmal, bevor ich sterbe, zu schreiben. Ich habe nicht geahnt, daß ich schon so bald dies Glück haben werde, daß ich schon so bald gereinigt dastehen werde vor Euren Augen.
Nun ist es mir beschieden – unser Gott ist doch ein barmherziger Gott. Und so danke ich Euch noch einmal für alle Eure Liebe. Ihr seid mir der Trost und das Licht gewesen in meinem armen, dunklen Leben. Ihr habt mich nur selig gemacht und seid unschuldig gewesen an meinem Leide. Verzeiht darum das Weh, das ich Euch bereitet habe. Es ist meine letzte Bitte und ich werde ja bald sterben.
Das Gebetbuch Eurer Mutter, welches Ihr mir einmal geschenkt habt, werde ich mit ins Grab nehmen.
Lebt wohl und lebt so lang und so glücklich, als ich Euch wünsche. Ich aber werde tot sein, wenn Ihr diesen Brief leset.
Rachel.«
Stumm gab ich den Brief dem Freunde zurück.
Er erhob sich und sagte ruhig, wie früher: »Nun weißt Du, warum ich wieder in Europa bleibe. Auf Wiedersehen.« Aber wie wir so schweigend einander gegenüberstanden, verließ den stolzen, düsteren Menschen plötzlich seine Kraft. Er sank mir in die Arme und schluchzte leise, herzzerbrechend: »Warum mußte es so kommen – warum?«
Auch ich weiß keine Antwort auf diese Frage. Und darum wage ich es nicht, dieser Geschichte noch ein Wort beizufügen.