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Das Häuschen seiner Mutter stand nahe am Petang. Der Petang ist eine große weiße Kirche; sie ist dicht umdrängt von einer Menge kleiner grauer Häuschen, in denen lauter Christen wohnen. So sieht sie aus wie ein stolzer weißer Vogel, unter dessen schneeigem Gefieder kleine graue Vogelbabies Schutz suchen.
Dieser Anblick begeisterte einmal einen Missionar zu einer schwungvollen Rede, in der er den Chinesen sagte: »Die Kirche ist gleich einem
Der Petang war für Tschun und seine Verwandten und all die Christen rund herum eine Gefühlssache. Er war in ihrem Leben das Schöne. – Sie hätten darüber nicht zu reden vermocht, denn es war ja auch nicht der kleinste Professor der Aesthetik unter ihnen. Aber die ganze Woche freuten sie sich auf den Sonntagmorgen. Da zogen sie sich ihre besten Kleider an und gingen in die große weiße Kirche. Und die Frauen nahmen ihre kleinsten Kinder mit und blieben dort so lange wie nur irgend möglich, bis zum letzten Orgelton. Im Innern der Kirche war es zuerst etwas dämmerig. Tschun
Er mußte noch mehrmals zurückkehren, um den Verband erneuern zu lassen, und bei diesen Besuchen lernte er das ganze Kloster kennen. Seine Mutter begleitete ihn jedesmal, obschon der Weg von ihrem Häuschen ganz kurz war und er recht gut hätte allein gehen können. Aber er erfuhr, daß seine Mutter früher, vor vielen
Eines Tages, als Tschun wieder mit seiner Mutter nach dem Petang gegangen war, sah er ein paar grüne Sänften vor dem Eingangstor stehen. Träger hockten herum und rauchten aus kleinen Pfeifen, und Reitknechte in bunten seidenen Röcken führten Pferde auf und ab, die in der frischen Herbstluft dampften, wie Schüsseln schönen warmen Reises. Die Pferde trugen kleine Ledersättel auf dem Rücken, wie Tschun sie damals noch nicht kannte. Die Schwester Apothekerin erzählte, einige Herren und Damen von
Aber Tschun hatte nicht Zeit, sich lange bei den verwickelten Beziehungen zwischen Kirche und Staat aufzuhalten. Er stand in dem Lebensalter, da jeder Tag neue, erstaunliche Entdeckungen bringt – der erste Schnee, der im Gedächtnis weißer und glitzernder zurückbleibt als alle später erlebten Schneefälle, die langen Karawanen zottig-brauner Kamele, die allherbstlich aus der Mongolei kommen, und denen er sich doch nicht erinnern konnte je früher in den Straßen ausgewichen zu sein; dann die langausgedehnten Neujahrsfeste, vor deren Beginn er Verwandte und Nachbarn immerzu von Geld reden hörte
In dem Schulzimmer kauerte Tschun mit den kleinsten Schülern auf dem Kang, während die
Am besten gefielen Tschun die Stunden in der biblischen Geschichte. Die Patriarchen erschienen ihm bald wie alte Bekannte, chinesischen Familienchefs gleichend, waren sie Hohepriester und Herrscher zugleich. Abraham, den Isaak
Im Petang dachte man über solche Dinge freilich anders. Unter den kleinen Waisenmädchen, die dort von den Nonnen aufgezogen und unterwiesen wurden, gab es manche, die verlassen und hungernd von Missionaren in Ueberschwemmungsgebieten aufgefunden und dann gerettet worden waren. »Gerettet« an Körper und Seele, denn außer der leiblichen Nahrung hatte man ihnen vor allem gleich die Taufe gespendet. – Ja, was taten diese fremden Menschen nicht alles, um solch armes Seelchen aus dem großen Meere des Verderbens herauszufischen und für ein
Es dünkte Tschun sehr seltsam, daß die fremden Männer und Frauen, die doch ruhig daheim hätten bleiben können, über das große Meer gefahren waren, um sich hier gerade solche Aufgaben zu suchen. Und wenn sie denn schon durchaus Armen und Kranken helfen wollten, was dem Chinesentum in Tschun durchaus nicht als ein unabweisbares angeborenes Bedürfnis begreiflich erschien, so frug er sich, warum sie sich
Nachdem Tschun die nötige Zeit mit der Erlernung von Katechismus und der biblischen Geschichte verbracht hatte, ward er samt seinen Mitschülern zur ersten Kommunion im Petang zugelassen. Auf der einen Seite des Altars unter dem blauen Sternenhimmel knieten die Knaben mit frisch rasierter Stirn und wohlgeflochtenem Zopf, der ihnen glatt am Rücken herabhing. Auf der anderen Seite knieten die von den Nonnen geführten kleinen Mädchen in ihren buntesten, schönsten Kleidern. Und sie alle empfanden sich
Tschun begriff immerhin so viel von der Feier, daß er von nun an, aus eigenem freien Willen, zu dem wahren lieben Gott gehöre und sich hüten müsse, an gar manchem, was zum Leben der großen Mehrzahl der Chinesen gehört, teilzunehmen. Ja, das Christentum errichtete doch eine Art Scheidewand. Man war eigentlich kein so ganz echter Chinese mehr. Wenigstens meinten das die anderen, wenn sie sagten: »Ihr gehört zu den Fremden, laßt Euch von denen beschützen.« Die Priester, und an ihrer Spitze der mächtige Herr Bischof, traten ja auch wirklich bei allen Gelegenheiten für ihre Gemeindemitglieder ein und suchten sie davor zu bewahren, von den Mandarinen ihres Glaubens halber ganz besonders übervorteilt und ausgebeutet zu werden. Die
Zu Hause heftete er dann das Bild an die Wand, wie die echten Chinesen es mit dem Bildnis
Nach einigen Tagen religiöser Exaltation, wo der Himmel so viel näher und wichtiger schien als die Dinge dieser Erde, lenkten sich die Gedanken indessen bald wieder mit praktischer Nüchternheit auf das diesseitige Alltagsleben. Denn es galt nunmehr, Tschuns künftigen Beruf zu bestimmen. Darüber aber hegte er selbst seit langem schon einen geheimen Wunsch.
Tschun besaß nämlich einen Onkel, der in einer der fremden Gesandtschaften angestellt war und
Ja, diese Fremden in dem Gesandtschaftsviertel mußten nach des Onkels Erzählungen ganz rätselhafte Wesen sein! Es hieß, daß sie Dinge könnten, die beinahe wie Hexerei klangen, und daneben waren sie doch offenbar erstaunlich dumm und unbeholfen! Die wenigsten von ihnen verstanden auch nur die einfachsten chinesischen Worte, und von keiner Sache, meinte Kuang yin, wüßten sie den richtigen Preis und ließen sich betrügen, daß man sich für sie ob ihrer Torheit schämte.
Tschun hätte diese fremde Welt gar zu gern auch gesehen, und er sagte darum seiner Mutter, daß er, wie Kuang yin, Diener in einer der Gesandtschaften werden möchte. Aber da kam er schlecht an. »Die einzigen guten Fremden sind die Priester und Nonnen des Petang,« antwortete
Die Mutter hatte einen alten Vetter, Yang hung, der Uhrmacher und Händler chinesischen Schmuckes war, zu dem wollte sie Tschun in die Lehre geben. Es ward in der Verwandtschaft viel darüber hin und hergeredet, denn da Tschuns Vater lange schon tot war, fand man dies eine passende Gelegenheit, der Witwe gute Ratschläge zu geben. Mit echt chinesischer Geringschätzung der Zeit wurden über etlichen Schalen Tee und zwischen ein paar Zügen aus den kleinen Pfeifen endlose Gespräche geführt. Denn sprechen kostet nichts und ist daher eine Freude, die sich auch der ärmste Chinese mit oder ohne Veranlassung gern gestattet.
Kuang yin, der immer schöne seidene Kleider trug und statt der Pfeifchen lieber Zigaretten rauchte, hätte Tschun gern zu einer Anstellung in einer Gesandtschaft verholfen, denn er hielt nicht viel vom Uhrmacherberuf. Er ging so weit, zu
Die anderen schüttelten die Köpfe. Kuang yin war doch einer der Ihrigen, den sie von klein auf kannten, aber er schien ihnen manchmal recht absonderlich mit seinen neuen Ideen – doch was kann man von einem erwarten, den sein Broterwerb
Ein ungläubiges Gemurmel entstand. Der Japanische Krieg und seine Ergebnisse waren durch die Regierung stets als eine Strafexpedition gegen die zwerghaften Inselrebellen dargestellt worden und der Bevölkerung nie recht zum Bewußtsein gekommen.
»Am besten wäre es schon, man verjagte sie samt und sonders wieder,« murmelte der ob seiner
»Trotz aller Ehrfurcht, die ich der Weisheit Eurer verehrungswürdigen Jahre schulde, Lin Lao yeh,« erwiderte Kuang yin, »möchte ich doch bemerken, daß das nicht so leicht sein würde. Auch sagt Wey, in Europa sei jeder Mann Soldat, da könnten immer neue hergeschickt werden.«
»Sei doch nicht zu sicher, daß die Fremden für ewig hier sind, Kuang yin,« sagte mit hämischer Miene der Vetter Sin schen, den allerhand dunkle Handelsgeschäfte bis tief nach Schantung geführt hatten und der Kuang yin ob seiner sicheren Einnahmen und seines behaglichen Lebens in der Gesandtschaft eigentlich beneidete, »gerade Ihr hier in Peking wißt am wenigsten, was im Lande vorgeht. Weitgereiste Leute wie ich hören mehr davon. Und wenn es auch richtig ist, daß uns die fremden Teufel damals beim Friedensschluß gegen die Inselzwerge geholfen haben, so hat nachher doch jeder von ihnen ein Stück unseres
Zu solch fernabschweifenden Erörterungen höchster politischer Probleme führte die belanglose Frage, welchen Beruf eines der Millionen chinesischer Menschenstäubchen ergreifen solle!
Dies Menschenstäubchen selbst wurde dabei von niemand um seine Meinung befragt, und Tschun wußte, daß das so in der Ordnung sei, aber es ärgerte ihn doch im stillen, denn er mußte wohl von irgendwoher ein Körnchen Unabhängigkeitsgefühl geerbt haben, das geeignet sein mochte, ihn noch in Konflikte mit dem Althergebrachten zu führen. Zum erstenmal entstanden allerhand verworrene Gedanken in ihm, für die er keine Worte gewußt hätte, und die vielleicht mit dem »Recht auf Selbstbestimmung« zu tun hatten, das sich gelegentlich in Einzelnen und in Völkern ganz unerwartet regt – wenn das, auf einen der Millionen kleiner Chinesenjungen angewandt, nicht gar so lächerlich großklingende Worte wären.
Ja, wie er mißmutig also nachsann, war Tschun zum erstenmal, und ohne es selbst zu wissen, dem Geist der Nörgelei an der eigenen Regierung wohl bedenklich nahe gekommen. Und, wie so oft in diesen Fällen, hatte das Scheitern eines kleinen persönlichen Wunsches den ersten Anlaß zu solcher Gedankenrichtung gegeben.
Doch kurz ehe Tschun in das Haus seines neuen Lehrmeisters, des alten Vetters Yang hung übersiedelte, kam der Onkel Kuang yin eines Morgens zu Tschuns Mutter und bat, sie möge
»Was kann denn die fremde Taitai mit meinem Kinde wollen?« fragte die Mutter sehr mißtrauisch.
»Es ist heute etwas ganz Besonderes,« antwortete Kuang yin wichtig, »eine Vorstellung ähnlich wie ein Theater, nur daß die Menschen sich dabei gar nicht bewegen dürfen, sondern regungslos dastehen und nicht sprechen, sie nennen das lebende Bilder.«
»Da ist sicher eine Hexerei dabei,« unterbrach ihn die Mutter, »und nachher kann Tschun sich womöglich gar nicht mehr rühren.«
»Aber nein doch!« entgegnete Kuang yin überlegen. »Ich habe seit Tagen schon die Proben dazu gesehen, da ist nichts von Hexerei dabei, sie können nachher alle schwatzen und springen wie zuvor.«
»Aber wenn schon alles ausprobiert ist, warum brauchen sie nun plötzlich noch mein Kind?«
»Es ist für ein Bild, wo die Taitai selbst steht,« antwortete Kuang yin, »da sollte der kleine Sohn eines der anderen fremden Gesandten dabei sein, aber er ist krank geworden. Die Taitai hat befohlen, ich solle mit größter Eile einen chinesischen Jungen als Ersatz schaffen, und ich habe es versprochen. Ihr wollt doch nicht, daß ich vor ihr mein Gesicht verliere, indem Ihr mich hindert, mein Versprechen zu halten?«
»Ich hab' aber doch so Angst, daß es für Tschun schlimme Folgen haben könnte,« sagte die Mutter noch immer eigensinnig und voll bösester Ahnungen, und als schwersten Einwand setzte sie hinzu: »Was glaubt Ihr wohl, daß die guten Nonnen im Petang zu solchen Dingen sagen würden?«
»Nun, da kann ich Euch beruhigen,« fiel Kuang yin rasch ein, »gerade die Nonnen haben ja das Kleid der Taitai für das Fest gestickt.«
»Ich bin nur ein wertloses Bündel,« sagte sie zu Kuang yin, »Ihr dagegen seid der Bruder von Tschuns seligem Vater und müßt wissen, ob dies seinem Geist genehm ist.«
Als sich dann Kuang yin empfahl und Tschun zum Abschied sich vor der Mutter niederwarf und den Boden mit der Stirn berührte, stellte sie noch die Bedingung, daß er am nächsten Tage ganz bestimmt heimkehren müsse.
So trabte denn nun Tschun neben dem Onkel durch die Straßen, mit klopfendem Herzen und kaum an sein Glück zu glauben wagend, daß er nun wirklich all das sehen solle, was ihn so lang schon geheimnisvoll anlockte. Unterwegs frug er den Onkel, ob er vor der Taitai Kowtow zu machen habe. Doch Kuang yin antwortete: »Es
Die Gesandtschaft war von einer hohen Mauer umgeben, und nachdem der Pförtner auf Kuang yins Pochen die kleinere der Eingangstüren geöffnet hatte, fand Tschun, daß es drinnen eigentlich recht chinesisch aussähe. Sie schritten durch eine große offene Eingangshalle, deren geschweiftes, mit Himmelshunden besetztes Dach auf bemaltem Gebälk und hohen roten Säulen ruhte und an buddhistische Tempel erinnerte. Nur auffallend gepflegt war alles, und in den Wegen des Gartens lag nicht der geringste Unrat. Ganz wie im Petang. Sauberkeit war also offenbar eine Eigenschaft der Europäer.
»Die Taitai ist mal wieder schrecklich ungeduldig«, sagte er, »und frägt beständig, ob Ihr noch immer nicht mit Eurem Neffen da wärt. Ich sollte sogar schon gehen nach einem anderen Knaben zu suchen, aber ich habe es hinausgeschoben, denn ich wollte doch nicht, daß Ihr Euer Gesicht verlört.«
»Wie die Kinder sind sie doch alle,« murmelte Kuang yin, »wenn sie etwas wollen, strecken sie die Hände aus und schreien, um es rascher zu bekommen.«
Durch ein Vorzimmer und andere Räume gingen sie nun, und Tschun glaubte in einem chinesischen Kuriositätenladen zu sein, so viel Bronzetiere, Cloisonné-Vasen, Lackkästen und Nephritschalen standen da allerwärts herum. Daneben freilich gab es vergoldete Möbel, riesige Spiegel, Teppiche, Kronleuchter und Bilder, die nicht gerollt wurden, sondern in breiten Rahmen
Nun traten sie in den großen Saal, wo das Fest stattfinden sollte. »Die Taitai,« flüsterte Kuang yin, und Tschun machte, wie der Onkel, einen kleinen Knix und streifte mit der Hand den Boden. Die Taitai hatte leider auch das seltsame Haar, dem die Fremden ihren Namen der rothaarigen Teufel verdanken, aber im übrigen gefiel sie Tschun eigentlich sehr gut. Sie sah ihn so freundlich an, nur schade, daß ihre Augen statt dunkel so merkwürdig blau waren, und sie gab Tschun auch gleich ein großes Stück Kuchen. Sie selbst aß aber sicher sehr wenig, denn um den Magen herum war sie schrecklich dünn und trug einen festen Ledergürtel. Tschun, der bisher nur Chinesinnen und Mandschufrauen in dicken, abstehenden
Der Tag verging nur allzu rasch mit allerhand Vorbereitungen. Tschun mußte einen merkwürdigen Anzug anprobieren, den er in dem Bild tragen sollte; er saß ihm nicht ganz richtig, und eine alte fremde Dienerin der Taitai, die man Madame Angèle nannte, änderte ihn auf ihm. Sie kniete dabei vor Tschun auf dem Boden, tat eine Anzahl Stecknadeln in den Mund,
Dann kam aber Kuang yin und meldete etwas, und nun war die Taitai wieder ganz verändert, sprang auf, warf die Zigarette weg und zog sich die Löckchen vor einem der großen Spiegel zurecht. Da ging auch schon wieder die Tür auf, und ein junger Herr kam herein, und der tat etwas, was Tschun ganz rätselhaft fand: er drückte seine Lippen auf die Hand der Taitai! Dann mußte der Herr Tschun in dem schönen Anzug betrachten, und dabei benahm er sich ganz anders wie vorhin der Ta-jen, klopfte Tschun auf die Schulter und
Von der Ankunft der Gäste in ihren grünen Sänften und dem Anfang des Festes sah Tschun nichts, denn er mußte hinter dem Vorhang bei all denen bleiben, die in den Bildern stehen sollten. Aber auch das war sehr schön, denn niemand gab acht auf ihn, da alle viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt waren, und so konnte er denn die fremden Herren und Damen ganz genau betrachten. Die Taitai gefiel ihm von allen am besten, und bei dem Bild, in dem sie stand, wurde nachher auch am meisten geklatscht und gerufen, so daß sie noch einmal stehen mußte.
Und dann waren all die vielen Gäste fortgegangen.
Die Taitai sagte, Tschun solle am nächsten Morgen früh gleich zu ihr kommen. Dann ging sie mit Madame Angèle in ihr Schlafzimmer. Der Ta-jen war schon in seinem, das am anderen Ende des Hauses lag.
Die Diener löschten die Lichter und Lampen in den vielen Zimmern aus, auch die Laternen in der Veranda, wo die Taitai mit dem hübschen weißen Herrn gestanden hatte. – Das ganze Haus lag wie tot da. Nur in den weitläufigen
Tschun hatte den Rest der Nacht in Kuang yins Zimmer verbracht, aber zum erstenmal in seinem Leben nur wenig geschlafen. Er mußte immer an all das denken, was er gesehen. Das ganze bisherige Leben hatte nicht so viel enthalten wie diese wenigen Stunden.
Als Tschun am nächsten Morgen aufgestanden war und herausging, stand die Taitai schon auf den Stufen vor dem Gesandtschaftshaus. Sie trug ein seltsam enges Tuchkleid, hielt eine Peitsche in der Hand und wollte eben ausreiten. Ein Mafu in Reitstiefeln, seidenem Kleid und Sommerhut hielt ihr Pferd. Ein paar Herren waren auch dabei. Der eine konnte Chinesisch und er sagte zu Tschun, die Taitai habe beschlossen, ihn als kleinen Boy ganz zu behalten, er könne gleich dableiben, und der Schneider solle kommen und ihm seidene Kleider machen, wie den anderen Dienern. Tschun fühlte, wie er ganz heiß wurde vor lauter Freude. Aber wie er eben danken wollte, kam Kuang yin
Die Taitai aber nahm es ganz wörtlich, schien sehr gerührt und sagte, niemand verstände besser als sie, daß eine kranke Mutter solch kleinen Sohn Frühlingswind brauche. Aber sie ließ Tschun sagen, sobald die Mutter wieder gesund geworden, solle er zu ihr zurückkommen und ihr besonderer kleiner Diener werden; Madame Angèle mußte ihr zwei Dollar bringen, die gab sie Tschun. Und dann tat sie wieder etwas ganz Entsetzliches; sie stellte einen Fuß in die Hand des fremden Herrn und der hob sie so auf das Pferd. Tschun glaubte zuerst, nicht recht gesehen zu haben, denn die Füße einer fremden Frau darf man doch nie betrachten oder gar anfassen. Die Priester im Petang wissen das auch, deshalb salben sie den Frauen in China
Dann aber wurde Tschun aus seinem Sinnen über die seltsamen Sittlichkeitsbegriffe der Fremden durch Kuang yin aufgeschreckt. »Nun lauf schnell nach Haus«, sagte er, »und bring' Deiner Mutter den einen Dollar; den andern wollen wir wechseln, und Du gibst mir die Hälfte, dafür daß ich Dir zu diesem Geschäft verholfen habe.« Da trat aber auch schon der Türhüter herbei, der gesehen hatte, wie die Taitai Tschun das Geld gegeben hatte, und sagte: »Ich habe gestern die Tür geöffnet für Tschuns ersten Eintritt in dies Haus, wo er so reichen Gewinn gefunden. Das verdient sicherlich einen Lohn.«
Darüber ließ sich ja auch wirklich nicht streiten, und so mußte Tschun auch noch mit ihm teilen.
Der alte Yang hung und seine alte Frau waren nämlich, als sie noch jung gewesen, des höchsten aller Segen, einer zahlreichen Nachkommenschaft, teilhaftig geworden! Einige der
So herrschten, wie in allen Welten, auch in der kleinen Welt von Yang hungs Hause Interessengegensätze, die zu Spaltungen und wechselnden Parteigruppierungen führten. Und inmitten der sich Befehdenden und wieder Versöhnenden stand Tschun als scheinbar Unbeteiligter, in Wahrheit aber als von allen Ausgenutzter, der doch bei keinem Anhalt fand. –
Als Lehrling hatte er mit auf den Markt zu gehen, den Laden zu reinigen, Rechnungen in die
Verweise erhielt Tschun von allen Seiten und vielleicht nicht immer mit Unrecht, denn seine Gedanken irrten von den jeweilig anbefohlenen Beschäftigungen nur allzu leicht ab und wanderten unaufhaltsam zurück in die Welt der Taitai. Ja, diesem chinesischen Menschenkind geschah das Seltsame, daß er eine Art Heimweh nach dem ihm doch ganz Fremden empfand.
Am liebsten war Tschun noch im eigentlichen Verkaufsladen, der vorne nach der Straße zu lag. Da saß der alte Yang hung und bastelte an den Uhren, die ihm zum Reparieren gebracht wurden,
Außer dem Uhrengeschäft betrieb Yang hung noch einen Handel mit allerhand chinesischem Schmuck. In Glaskästen lagen Filigranfutterale für die langen Fingernägel, die das Abzeichen vornehmen, arbeitslosen Lebens sind, Haarnadeln, die mit Fledermäusen und sonstigen Glücksemblemen in Gold oder Silber verziert werden, die runden Kristall- oder Bernsteinkugeln, die unablässig zwischen den Fingern hin und her gedreht werden sollen, um die Gicht fernzuhalten. Die verschiedensten metallenen Kleiderknöpfe gab es und andere aus Nephrit für die Sommerjacken, während die für Trauergewänder bestimmten aus weißem Stein sein müssen. Gürtelschnallen für Männer und Armbänder für Frauen
Diese Schätze bekamen die gewöhnlichen Kunden gar nicht zu sehen, sie wurden nur den bevorzugten gezeigt, den hochgeehrten, die man in ein hinteres Zimmer führt, wo, als Begleitung jedes Geschäfts, Tee, bisweilen auch die Opiumpfeife dargeboten wird. Manche der alt angestammten Kunden brachten ihre Pfeife gleich mit und trugen den Opium in Kästchen am Gürtel. Während sie, auf dem Kang liegend, in dem hinteren Zimmer Opium rauchten, und von der Wand herab das Bild Li Ma-tos, des Schutzgeistes
Dabei erhaschte er manch leises Wort über Gerüchte, die durchs Land liefen, von geheimen Bewegungen und widerstreitenden Einflüssen, die allerwärts, besonders aber um die Allmächtigen unter den goldenen Palastdächern miteinander rangen; von allerhand die Sitten der Fremden nachahmenden Neuerungen hörte er, die aber, kaum eingeführt, auch schon wieder gefährdet schienen.
Besucher, die von diesen Dingen flüsterten, sah Tschun gern einkehren, denn ihre Worte bauten
Es kamen aber auch Kunden, die der alte Yang hung in ein nahes Restaurant führte und dort mit warmem Reiswein, Pekinger Ente, Taubeneiern, Fischflossen und Bambuskeimen traktierte, denn durch solch rechtzeitigen tiefen Griff in die Tasche erwirbt sich der weise Kaufmann Freunde, die zu haben immer gut ist, da man bei ihnen dann gelegentlich selbst wieder Geld zu niederen Zinsen borgen kann. Besonders wertvoll aber erscheinen sie in Zeiten, wo im Lande von bevorstehenden Umwälzungen geraunt wird.
Viele Stunden verbrachte Yang hung auch über der verwickelten chinesischen Buchführung seines Geschäfts. Und abends ordnete und zählte er die an Schnüren aufgereihten, durchlochten Kupfermünzen, die im Laufe des Tages von Käufern gezahlt worden waren. Das dauerte bisweilen bis tief in die Nacht, und dabei mußte Tschun helfen und mit seinen scharfen, jungen Augen suchen, ob sich zwischen diese gewöhnlichen
Am arbeitsreichsten aber waren die Tage, wo Yang hung zu den Jahrmärkten zog, die allmonatlich in den großen Vorhöfen mancher Tempel Pekings abgehalten werden.
Bisher hatte Tschun bei diesen Gelegenheiten im Laden zurückbleiben müssen, aber nun sollte er den Meister zum ersten Male begleiten. Bei frühestem Morgengrauen wurden die Waren sorgfältig eingepackt. Yang hungs kostbarste Stücke waren dabei, denn er rechnete auf reiche mongolische Kundschaft, die die Tempelmärkte gern besucht. – Dann brach man im zweirädrigen blauen Maultierkarren auf. Yang hung saß drinnen mit seinen Kasten, Ballen und Bündeln. Die zerbrechlichsten Gegenstände hielt er ängstlich fest, wenn die mit eisernen Nägeln beschlagenen Räder gegen große Steine anprallten oder in besonders tiefe Löcher und unheimlich grünliche Pfützen der chaotischen Straßen gerieten und
In den Straßen, die noch voll bläulicher Schatten lagen, begann eben des Tages Leben sich zu regen. Die Rufe der ersten Hausierer ertönten, und bei diesem Klang erschienen an den Haustüren die noch halb verschlafenen Gesichter von Frühaufstehern, die bei den Vorüberziehenden einkaufen wollten. Andere dagegen warfen aus den Türen allerhand Unrat in die Straßen, diese ewig geduldigen offenen Kloaken Pekings. In die Häuser selbst und ihre verschiedenen Höfe konnte Tschun dabei jedoch nie blicken, denn hinter der in der äußeren Mauer angebrachten Tür erhob sich inwendig immer ein Stück freistehender Quermauer, gleich einem großen Wandschirm, bestimmt, den bösen Geistern den Eintritt zu
Doch auch Erfreulicheres erblickte Tschun bei dieser Morgenfahrt. Er fuhr unter hohen, bunt
Und endlich hielten sie vor dem Eingangstor des Tempels. Da war ein Gewühl von Maultierwagen und knarrenden Schubkarren, von großen Händlern und kleinen Hausierern, die ihre Waren ausluden und in das Tor hereindrängten. Alle schrien und schimpften dabei durcheinander in völliger Unempfindlichkeit gegen Lärm. Yang hung und Tschun hatten Mühe durchzukommen, und man mußte die Augen weit offen halten,
Auch ein Wunderdoktor schrie dicht neben Yang hung seine Arzneien aus und war bald von Patienten umlagert. Tschun aber blickte mit Geringschätzung auf ihn und seine Arzneien, denn so viel hatte er doch von seinen Besuchen bei den Nonnen im Petang gelernt, daß heißes Wasser, über Kupfermünzen aus der Regierungszeit des Kaisers Tao Kwang gegossen, keine wirksame Arznei gegen Augenentzündung bildet und Pflaster aus Hundehaaren keine Wunden zu heilen vermögen. Seltsam aber war, daß der Wunderdoktor seine Mittel anpries, indem er ausdrücklich hervorhob, sie seien nicht etwa wie die der fremden Teufel-Doktoren aus den Augen chinesischer Kinder bereitet, die dazu von jenen gestohlen und umgebracht würden. Tschun wurde ganz ärgerlich, als er aus all dem Lärmen diese Worte heraushörte, deren alte Beschuldigung immer wieder in Zeiten besonderen Fremdenhasses laut wird. Wie konnte man nur so dumm
Während der Meister mit dem vornehmen Kunden fort war, hatte Tschun alle Mühe, den kleinen Warenstand zu hüten und gegen das Stoßen und Schieben der immer dichter werdenden Menge zu verteidigen. Und dabei fühlte er sich sehr stolz, daß Yang hung ihm so viel Vertrauen bewies. Wie er aber so eifrig Ausschau hielt, daß niemand ihm im Gedränge etwas entwände, wurden seine Schlitzaugen auf einmal ganz groß, und er fühlte, wie sein Herz heftig zu klopfen begann. Denn er hatte ja plötzlich, dort vom Eingangstor herkommend, eine Gruppe Europäer entdeckt, und zwischen ihnen die Taitai und den hübschen weißen Herrn! Er freute sich so sehr, die Taitai wiederzusehen, daß er gleich zu ihr hinlaufen wollte, aber dann besann er sich, er mußte doch Yang hungs Sachen hüten. Und Tschun war nicht ein Junge, der einen ihm anvertrauten Posten verlassen hätte! Nein, das ging nicht! Er hielt doch etwas auf sich! Aber
Als die Fremden ihm schon ganz nahe waren, und Tschun sich zusammenduckte, damit sie ihn nicht sähen, blieben sie aber vor einem Verkäufer stehen, der ihnen Hunde zeigte. Verstohlen hinlugend sah Tschun, wie der hübsche weiße Herr den kleinsten der Hunde kaufte. Und der Taitai schien das Hündchen sehr zu gefallen mit seinem plattgedrückten Näschen, denn sie nahm es auf den Arm, als sei es ein Kind, und streichelte sein Fell und sah dabei den hübschen weißen Herrn aus ihren seltsam hellen Augen ganz komisch an. Dann aber, als Tschun schon dachte, daß ein Zusammentreffen unvermeidlich sei, bogen die Fremden plötzlich ab und gingen nun zu den Buden der großen Schmuckhändler, wo dicke weiße Perlen für die Mandarinenkappen, rosa Chrysolithketten und kostbare Kristall- und Nephritschnitzereien für viele tausend Tael verkauft werden.
Und nun war Tschun doch wieder sehr traurig,
Zwei Tage dauerte der Jahrmarkt, dann wurde eingepackt, und abends spät fuhr Yang hung nach Haus mit Tschun. Gleich bei Morgengrauen am Tag nach ihrer Heimkehr wurden die Münzstränge, die Yang hung auf dem Markt eingenommen hatte, noch einmal geprüft. Es waren ihrer viele, denn er hatte gut verkauft. Der alte Yang hung zählte im noch dämmrigen Licht die aufgereihten Münzen, und dann mußte Tschun die Stränge nach etwaigen selteneren Stücken durchsuchen.
Wie sie so arbeiteten, ward Yung von seiner alten Frau gerufen; sie wollte mit ihm über die Schwiegertochter Mei hoa reden, die sich an diesem Morgen auf Besuch zu ihrer Mutter begeben sollte, und die besondere Ansprüche auf Eßwaren erhob, die sie als Geschenk nach Hause mitbringen wollte. Nun war Tschun allein mit all dem vielen Geld. Am Boden hockend, suchte er eifrig weiter nach seltenen Münzen. Und er
»Hol' mein Bündel aus dem hinteren Hof«, befahl sie heftig, »und bringe es ans Tor. Der Karren muß bald kommen.«
Sie sah so wild und böse aus, daß Tschun sofort aufsprang und davonlief, das Bündel zu holen. Erregte Stimmen klangen aus den Familienräumen, in die Yang hung geholt worden war. Tschun beeilte sich, aus dem Bereich des Haders zu entkommen und legte das Bündel am Hoftor nieder. Mei hoa stand bereits wartend
Bald kam dann Yang hung zurück. Aber auch er sah jetzt böse und erregt aus, wie so oft, wenn er im Schoße seiner Familie geweilt. Und sobald er den Kang überblickt, auf dem das Geld lag, rief er ärgerlich: »Da fehlt ja ein Strang!«
Tschun sprang auf, um zu suchen. Aber der Strang blieb verschwunden. Und Yang hung wurde immer böser. Plötzlich packte er Tschun, blitzte ihn durch die große Hornbrille mit funkelnden Augen an und schrie dabei heftig: »Was hast Du mit dem Strang angefangen! Du mußt ihn auf Dir haben! Du Dieb, Du!«
Dabei schüttelte er Tschun hin und her, ob die Münzen vielleicht aus seinen Kleidern fallen möchten.
Vom Lärm angelockt, fand sich alsbald die ganze Familie ein und schrie nun ihrerseits mit,
Alle andern übertönend, erschallte aber nun plötzlich die schrille Stimme Mei hoas, die während des ganzen Auftritts, noch immer auf den Karren wartend, am Hoftor gestanden hatte: »Tschun ist ja vorhin in den hinteren Hof gelaufen,« kreischte sie, »ich hab's gesehen! Sicher hat er das Geld dort versteckt! Da müßt Ihr suchen!«
Nun ließen sie Tschun los und liefen alle auf dieser neuen Fährte. Mei hoa als Anführerin voran. Nur die Kleinen Kuo wey, Tschao-So und Ying-ying konnten den Großen nicht so schnell nach und blieben im vorderen Hof zurück, unschlüssig, was nun zu beginnen. Doch da fielen ihre Blicke auf Mei hoas am Boden liegendes
Tschun hatte zuerst wie verstört dagestanden. Es war alles so rasch über ihn hereingebrochen, daß er es kaum begriffen hatte. Doch jetzt, wie die Stimmen der Suchenden im hinteren Hof verhallten, kam er zum Bewußtsein dessen, was geschehen. Und eine ungeheure Empörung stieg in ihm auf. Das wollte er nicht dulden, sich so völlig ungerecht beschimpfen und züchtigen lassen! Sein kleines gelbes Gesicht wurde ganz seltsam grünweiß bei der Erinnerung und er begann heftig zu zittern. Und plötzlich stand es fest vor ihm: er konnte, er wollte nicht bei diesen schlechten Leuten bleiben. Doch wohin? frug er sich. Etwa zur Mutter? Aber er verwarf den Gedanken alsbald – die hatte ihn ja gerade hierhergetan. Nein, er wollte ganz fort, ganz heraus, zu gerechteren Menschen, die nicht jemand Dieb schimpften, ehe es von ihm bewiesen. Die Nonnen und Priester hätten das nie getan, auch die Taitai nicht!
Doch nun galt es seinen Vorsatz rasch auszuführen, denn die andern mußten ja bald aus dem hinteren Hof zurückkehren, und wer weiß, was sie dann noch in ihrer Wut taten. Leise schlich Tschun an Kuo wey, Tschao-So und Ying-ying vorbei, denen es eben gelungen war, den ersten Knoten an dem Bündel zu lösen; mit einem Satz war er dann aus dem Tor heraus, und nun rannte er in eiligstem Lauf und ohne je zurückzuschauen durch die Straßen, in der Richtung nach dem Gesandtschaftsviertel.
Und so tat Tschun zum erstenmal, was größere vor ihm getan und nachher vielleicht bereut haben: er nahm sein Leben in die eigenen kleinen gelben Hände, um es nach persönlichem Ermessen zu gestalten. Denn auch Tschun besaß die weit verbreitete Illusion, zu glauben, daß er wisse, was ihm gut sei.
Nach einem langen, eilig zurückgelegten Weg blieb Tschun endlich stehen, um Atem zu schöpfen. Er befand sich schon im Fremdenviertel, auf der Brücke, die mit hoher Wölbung den Kanal überspannt. Nur einzelne Pfützen standen zu dieser Jahreszeit unten zwischen den Steinen; sie lagen da wie blaue Lichtflecken, als hielten sie ein Stückchen Himmel in sich gefangen. Rechts, dicht neben der Brücke, erhob sich die hohe, finstere Mauer, die die Tataren- von der Chinesenstadt trennt. Links vor sich sah Tschun hinab auf das graue Gewirr niederer, chinesischer Häuschen, mit ihren zahllosen, ganz gleichen, leicht geschweiften Dächern. Zwischen ihnen zerstreut und eingeklemmt lagen die fremden Gesandtschaften, jede durch Mauerwerk umfriedet, jede eine kleine Welt für sich, mit ihrem eigenen, aus der Ferne gebrachten, treu bewahrten Sondercharakter. Jede die Hüterin bestimmter Traditionen, die Vertreterin besonderer Interessen auf fernstem fremdartigsten
Die Luft flimmerte voll hellen Sonnenscheins; die Farben lösten sich im Lichte auf; die Umrisse verschwammen, von diamantenem Staub umhüllt. Wie aus einzelnen Punkten und Flecken zartester Farbentöne war das Bild zusammengesetzt: silbriges Grau der Gebäude, durchleuchtetes Rosa an einigen fernen Mauern, darüber goldgelbe Kacheldächer, wie lange Lichtstreifen wirkend, hellstes junges Grün der Bäume und zarteste bläuliche Schatten, beinah aufgehoben durch Reflexglanz und allgemeines, überallhin spielendes Sonnenlicht. Nirgends Dunkelheiten. Ueberall zitterndes, glitzerndes, flimmerndes Leuchten.
In dem ganzen lichten Bild erhob sich nur die hohe Stadtmauer finster und dräuend, von violettem Schatten bedeckt.
Von jenseits dieser Mauer, aus der Chinesenstadt her, kam jetzt hoch oben im lichtdurchflossenen Himmelsblau ein Flug grauer Vögel gezogen; sie glitten mit weit ausgestreckten Flügeln durch den sonnendurchtränkten Frühlingsäther; sie sangen nicht, und doch klangen unendlich wehmütige, langgezogene Töne von ihnen zur Erde herab. Sie erinnerten an das Stöhnen von Aeolsharfen, und dieses Klagen und Seufzen, das von den doch stumm schwebenden Vögeln durch all den leuchtenden Frühlingsschein herabtönte, hatte etwas Beängstigendes, gleich spukhaften Stimmen aus ewig unerklärlichen Welten.
Einen Augenblick schaute Tschun hinauf zu den hoch über ihm ziehenden Vögeln, wie man
Und gerade, weil diese Klänge so vertraut und alltäglich tönten, ahnte Tschun in seinem nach Neuem strebenden Sinne nicht, daß das an jenem Morgen die Stimmen waren, mit denen das uralte China der Vorväter sein abschweifendes Kind von der Schwelle einer fremden Welt zurück zum Althergebrachten zu locken suchte! – Tschun sah nur auf die bunten, unbekannten Fahnen, die sich über den Gesandtschaften im leichten Frühlingswinde blähten, als ob sie ihm winkten.
Unbemerkt kam er an den Pferdeställen und den vielen Nebengebäuden vorbei und wollte sich nun gerade durch die breite Allee schleichen, auf deren anderer Seite das Gesandtenhaus stand, in dem Kuang yin diente. Aber vor dem Hause gewahrte er eine Gruppe Menschen. Die Taitai, deren Schleppe er getragen, stand mit einigen anderen Damen und Herren auf den Stufen, die zur Allee herabführten; sie schienen in eifriger Verhandlung mit einer ganzen Schar chinesischer Kuriositätenverkäufer, die ihre blauen Bündel vor ihnen aufgemacht hatten und nun gestickte Decken und alte Mandarinenröcke ausbreiteten und Elfenbeinschnitzereien, Götzenfiguren und Cloisonné-Vasen anpriesen.
Tschun war in seiner großen Empörung in die Gesandtschaft gelaufen, ohne viel nachzudenken,
»Das ist ja mein kleiner Page Frühlingswind!« rief die Taitai.
Einer der Herren, der etwas Chinesisch konnte, holte Tschun heran, und es begann ein Kreuzverhör, wo er gewesen, wie es seiner Mutter nun ginge, und ob er jetzt Boy in der Gesandtschaft werden wolle. – Tschun hätte der Taitai am liebsten alles wahrheitsgetreu erzählt und sie gebeten, ihn nun bei sich zu behalten, aber vor all den Menschen konnte er doch nicht den Schimpf erwähnen, der ihm soeben bei Yang hung angetan worden. Während er noch nach Worten suchte, gewahrte er Kuang yin, der von den
Kuang yin verbeugte sich zu alledem nur zustimmend und sagte gar nichts von einem etwaigen Widerspruch der Mutter. Das schien Tschun sehr seltsam. Doch als die Taitai und die anderen Herrschaften dann zum Essen gegangen waren, erhielt er die Erklärung: drüben in Kuang yins Zimmer saßen nicht nur Yang hung, sondern auch die Mutter! Und Tschun erfuhr nun, daß gleich nach seiner Flucht die Kleinen Tschao-So, Kuo wey und Ying-ying bei ihrem kindlichen Spiel mit Mei hoas Bündel den vermißten
Als sie Tschun nun wohlbehalten erblickte, wollte sie die Gelegenheit doch wenigstens erzieherisch ausnutzen und ihn ob der erlittenen Angst am Zopfe zerren. Doch Kuang yin nahm die Sache in die Hand und wandte sich mit halbgemachter
Yang hung schien nicht abgeneigt, Tschuns heftigem Vertreter eine Genugtuung zu gewähren, und er sagte: »Nach ihrem abscheulichen Benehmen wären wir ja eigentlich berechtigt, Mei hoa zu verstoßen.«
»Das weiß ich,« unterbrach ihn Kuang yin, »und selbst wenn ihr jetzt Schlimmes bei Euch zustieße und sie die Reise nach den neun Quellen antreten müßte, würde Euch kein Gericht darob verurteilen, aber was hätten wir davon?«
»Außerdem«, sagte Yang hung bedächtig, »müßte das sicher dazu führen, daß Mei hoas
»Mei hoa und Tschun können aber unmöglich zusammen weiter bei Euch bleiben,« erklärte Kuang yin, »sie haben gegenseitig zu sehr das Gesicht voreinander verloren.«
»Nein, das ginge freilich nicht,« stimmte Yang hung eilig bei, in der Voraussicht endloser neuer Streitmöglichkeiten in seinem stürmischen Haushalt.
»Folglich muß ich für Tschun eine neue Stelle suchen,« sagte Kuang yin und seufzte wie unter großer Sorgenlast, »und natürlich werde ich von jedem Meister gefragt werden, warum er denn nicht mehr bei Euch ist.«
Es war klar, daß die Sache vertuscht werden mußte. Und schließlich bildete der Münzstrang, durch den der ganze Zwischenfall entstanden, den Preis, den Yang hung dafür zahlen mußte, daß Tschun sein Unterkommen bei ihm plötzlich verloren hatte, wogegen sich Kuang yin verpflichtete, daß die Umstände, unter denen dies geschehen, seinerseits verschwiegen bleiben sollten.
Erst nachdem Yang hung gegangen, eröffnete Kuang yin der Mutter als sein Verdienst, daß er bereits eine Stelle für Tschun habe, und zwar hier bei der Taitai. Die Mutter wollte zuerst widersprechen, aber Kuang yin hielt ihr vor, wie schlecht ihre eigene Auswahl Yang hungs ausgefallen sei, auch daß Tschun dort nur Wohnung und Essen erhalten habe, hier aber gleich mehrere Dollar Gehalt bekommen solle.
Da mußte sie nachgeben. Nachdem sich Kuang yin für seine Führung der Sache noch die Hälfte vom Münzstrang des alten Yang hung ausbedungen hatte.
So trat denn Tschun in den Dienst der Fremden.
Tschun lernte bald, daß es Nachteile hat, in ein Haus als offenkundiger Günstling der Herrschaft einzutreten. Die anderen Boys, die auch kleine Brüder oder Söhne hatten, ärgerten sich, daß sie nicht diese rechtzeitig der Taitai gezeigt, und ließen ihren Groll an Tschun aus. Sie gaben
Madame Angèle, die jahraus jahrein an der Maschine saß und neue Kleider für die Taitai nähte, rief Tschun oft in ihr Zimmer, ließ ihn die feine chinesische Nähseide wickeln oder auch Nähte auftrennen, und währenddem hielt sie ihm lange Reden in ihrer eigenen Sprache. Sie hatte Mann, Kinder und Vermögen verloren, und durch diese wiederholten Schicksalsschläge war in ihr ein Hang zum Schauerlichen und der Glauben entstanden, daß sie alles Schreckliche, das es überhaupt gibt, erlebt habe. Jedes Traurige, das andere von sich erzählten, überbot sie sicher mit den eigenen Erlebnissen. Ihr Mann war nicht vier, sondern zehn Monate krank gewesen, sie hatte nicht nur Typhus, sondern zugleich Lungenentzündung gehabt! – Abends, wenn sie ihre
Tschun sah die Taitai sehr viel, denn sie hatte ihm allerhand kleine Pflichten übertragen, die ihn häufig in ihr Zimmer führten. Vor allem hatte er für den neuen kleinen Hund zu sorgen, der Tin chau genannt worden war, wie es einem Geschenk des hübschen weißen Herrn wohl anstand. Tschun mußte auch der Taitai Schreibtisch mit den tausend Nippessachen in Ordnung halten, die Pflanzen begießen, die Blumensträuße erneuern; er servierte nachmittags den Tee, und als er erst die fremden Namen gelernt hatte, meldete er die Besuche an. Ging die Taitai malen, so trug er ihr die Sachen nach und reinigte nachher Pinsel und Palette; beim Photographieren lernte er rasch, kleine Dienste zu leisten; er schnitt die Seiten der vielen Bücher und Hefte auf, die jede Post brachte, er legte die Zeitungen nach Nummern. Und bei alledem fand Tschun Zeit, die Taitai selbst zu beobachten, denn sie erschien ihm als das Interessanteste in all dem Merkwürdigen,
»Was denn?« frug Tschun.
»Sie hat, ehe sie hierher kam, ihr einzigstes Söhnchen verloren,« antwortete Madame Angèle
Tschun, der nun schon gelernt hatte, daß das Beobachten zu seinem Beruf gehörte, bemerkte bald, daß die Taitai nur insofern von den anderen Fremden abstach, als sie tausenderlei Dinge mit gleichem Ungestüm betrieb, während die anderen meist nur eine Sache hatten, die sie mit Passion erfüllte. Tschun verstand auch allmählich, warum die älteren erfahreneren Boys gelegentlich wie eine unbestreitbare Tatsache erwähnten, daß die Fremden doch alle ein bißchen verrückt seien.
Der Mann der Taitai, der gestrenge Ta-jen, war ganz anders als sie. Er hatte etwas Kaltes, Feierliches, als habe er nie gelacht und sei nie gerannt. Er war klein, grau und mager und reckte sich immer, als wolle er länger scheinen, als er war. Amtliche Würde und grüner Nephrit bildeten seine speziellen Marotten, und da die chinesischen Mandarine für diese beiden Dinge
Die Boys kannten all die Eigenheiten der verschiedenen Fremden, und sie hatten ihnen allen Spitznamen gegeben. Sie besprachen den Geiz des einen und die Heftigkeit des anderen, verglichen,
Aber neben all ihren oft komischen, oft unverständlichen Eigentümlichkeiten blieb doch immer das eine, daß niemand diesen großen ausländischen Mandarinen vorwerfen konnte, ihre Stellung zu persönlicher Bereicherung auszunutzen. Darin schienen sie ganz anders zu sein als die chinesischen Würdenträger. Wenn die Ta-jens der verschiedenen fremden Gesandtschaften sich feierlich in grünen Sänften mit Vorreitern ins Tsungli-Yamen tragen ließen und dort die Reklamationen irgendeines in China beeinträchtigten Landsmannes beinah heftig vertraten, oder die Erteilung einer der vielen begehrten Konzessionen ungestüm für ihn forderten, so handelte es sich dabei nie um irgend einen eigenen Vorteil.
Tschun aber dachte, ich hatte doch recht, diese Fremden sind wahrlich bessere Menschen: ihre Priester haben uns den wirklichen lieben Gott gebracht, und diese weltlichen Herren wollen uns nun auch noch all die übrigen guten Dinge bringen. Sicher wird es einmal sehr schön werden. Wenn es nur recht schnell ginge!
Und Tschun begann in den Mußestunden, die ihm der Dienst bei seiner fremden Herrschaft ließ, dem Zustand seines eigenen Landes nachzuforschen. Er hatte davon früher wenig gewußt, aber er war ja auch nur ein kleiner Junge gewesen. Jetzt erfuhr er, daß es seit einiger Zeit eine ganze Partei von Chinesen gäbe, die auch fanden, daß es um China schlecht bestellt sei, und die es ebenfalls sehr eilig hatten, allerhand Neuerungen einzuführen. – Diese Gedanken hatten zuerst Leute aus dem fernen Süden Chinas mitgebracht, wo man viel mehr als in Peking mit
Tschun hielt es in seinem Herzen mit den kleinen Knaben. Die standen ihm ja auch näher. Dabei war er erstaunt, zu sehen, daß die fremden Gesandten diesen Strömungen merkwürdig gleichgültig gegenüberstanden, obschon die Südpartei eigentlich lauter Dinge einführen wollte, die sie selbst seit Jahren anempfohlen hatten. Aber es war beinah, als hätten die Fremden allmählich eine Erweckung Chinas als aussichtslos aufgegeben und sich mit den Zuständen abgefunden, wie sie nun einmal waren. Mit praktischem Sinn nahmen sie von den zwei ringenden Gruppen nur insofern Notiz, als sie zu ergründen suchten, zu welchem ihrer eigenen Länder jede der beiden Parteien neige, und wem sie daher den Sieg
Die Entscheidung über all das stand bei dem jungen Kaiser. Mehr noch vielleicht bei seiner Tante, der alten Kaiserin-Witwe Tzü Hsi, deren Name »die Mütterliche« und »Glückverheißende« bedeutet. Offiziell freilich kümmerte sie sich nicht mehr um Staatsgeschäfte, sondern hatte die Regentschaft niedergelegt und dem Kaiser die Regierung übergeben, und seitdem lebte sie, wie sie es selbst in gelegentlichen Edikten nannte, »in der tiefen Abgeschlossenheit« ihres Palastes I ho yüan, »der dem vom Himmel gesandten Alter Ruhe und Frieden Spendende«. Wunderdinge hörte Tschun von den prunkvollen Theateraufführungen und den Bootfahrten auf dem Kung Ming See, mit denen sie scheinbar ihre Tage verbrachte. Aber
Allmählich gestaltete sich vor Tschun ihr Bild
Inzwischen ward es Sommer. Die Lotosblätter, die an hohen Stielen aus den Teichen stiegen, hatten sich aufgerollt zu breiten grünen Schirmen, und zwischen ihnen standen die ersten großen rosa Traumesblüten. Aber in den Straßen wateten die Menschen durch fußtiefen Staub; allerwärts stiegen ekle Gerüche auf, die des Winters Eis gnädig verborgen hatte, und über der ganzen Stadt lagerte eine schwere Schicht schwülen Dunstes. Da beschloß die Taitai dem schmutzigen Käfig, wie sie Peking nannte, zu entfliehen
Vorher ging er sich von den Verwandten mit vielen Verbeugungen zu verabschieden. Beim greisen Großonkel Lin te i fand er verschiedene der Vettern versammelt. Auch sie sprachen von den beiden sich bekämpfenden Parteien. Wang pao, der fortschrittlich Gesonnene, las gerade mit merklichem Behagen dem halb blinden Großonkel die in den letzten Tagen erschienenen kaiserlichen Edikte vor. Kwang Hsü sprach darin zum erstenmal öffentlich die Notwendigkeit von Reformen aus. Er sagte: »Schaut auf die Not der Zeit und die Schwäche des Reiches. Wie können wir je den Abgrund überschreiten, der die Schwachen von den Starken scheidet, wenn wir fortfahren wie bisher? Unsere Armee ist undiszipliniert, die Finanzen sind zerrüttet, die Schüler unwissend, die Handwerker ungeübt.« Und gleichsam um sich
Lin te i war bei diesen Worten zuerst wie erstarrt. Alle Grundlagen bisheriger Weltordnung schienen ihm bei solchem umstürzlerischen Vorschlag zu wanken. Dann sagte er: »Bei aller Ehrfurcht vor Kwang Hsü, unserm Vater-Mutter, aber er sollte doch bedenken, daß schon Mencius lehrt: Wir haben wohl gehört, daß chinesische Weisheit benutzt worden ist, um Barbaren zu erleuchten, nie jedoch, daß China von den Barbaren Licht empfing.«
»Natürlich,« brummte Lin te i, »wieder einer aus dem südchinesischen Heuschreckenschwarm, der sich über uns ergießt. Ich habe gehört, daß es in Kanton so viel Menschen gibt, daß sie auf dem Lande keinen Platz mehr finden und darum in Böten auf dem Flusse leben müssen. Nun kommen sie zu uns und bringen gar noch alle ihre neuen Ideen mit.«
»Kang yu wei soll schon großen Einfluß beim Kaiser gewonnen haben,« fuhr Sin schen wichtig fort, »er bringt ihm Uebersetzungen von den Büchern der Fremden und soll ihm empfohlen haben, einen ihrer Herrscher nachzuahmen, den sie Peter den Großen nennen.«
»An der göttlichen Mutter Tzü Hsi hätte er doch wahrlich Vorbild genug,« unterbrach ihn Lin
»Hüte Deine Ohren und Deine Zunge, Vetter Wang pao,« erwiderte Sin schen, »denn Tzü Hsi erfährt schließlich alles. Das hab' ich erst jetzt wieder gemerkt. Ihr wißt ja, ich mache manchmal Geschäfte mit dem Obereunuchen Li lien ying ...«
»Das steigert Dein Ansehen sicher mehr, als es Deinen Beutel füllt,« unterbrach ihn Wang pao, und alle lachten, denn im ganzen Lande war der allmächtige Li lien ying gefürchtet wegen seiner Erpressungen und der Privatsteuer, die er von groß und gering erhob.
Doch Sin schen erzählte unbeirrt weiter: »Da hab' ich denn also ganz beiläufig erfahren, daß Li lien ying seine Leute sogar im Palast des Kaisers hat, und von allem, was sie ihm hinterbringen, erhält die göttliche Mutter sofort Nachricht.«
»Ob sie da wohl immer die lautere Wahrheit erfährt?« sagte ein anderer Vetter. »Li lien ying färbt alle Nachrichten nach seinem Belieben, und
»Ja, dieser kleine Schuster hat es wahrlich weit gebracht!« sagte Wang pao, und wieder lachten alle, denn es war der Spitzname, den Li lien ying trug, weil er in seinem Heimatsdorf als Knabe Lehrling bei einem Flickschuster gewesen war, ehe er das einträglichere Gewerbe ergriffen hatte, »seine Familie zu verlassen«.
»Daß er den Kaiser jetzt weniger liebt denn je, ist übrigens begreiflich,« sagte Sin schen, »er muß natürlich befürchten, daß die Reformen seine Macht brechen werden und am Ende gar sein ehrenwerter Beruf bei Hof überhaupt abgeschafft werden könnte.«
Tschun wäre gern länger verweilt, denn die Vettern erzählten weiter von Li lien yings Geldgier und Anmaßung, und wie ihm beinah kaiserliche Ehren erwiesen würden, wenn er durchs Land reiste, um für die Gebieterin Tribut einzusammeln, von dem er dann stets ungeheure Summen in die eigene Schatzkammer abzuführen wußte. Doch es war nun Zeit, daß er aufbreche, und so beugte er denn ehrfurchtsvoll das Knie vor diesen vielwissenden älteren Verwandten.
Die Uebersiedlung der Taitai in die Berge gestaltete sich zu einer Art Völkerwanderung. Bei Morgengrauen schon dirigierte Kuang yin den Aufbruch der Kulis, die in Karren, auf Maultieren und den eigenen Rücken alles das hinausschaffen
Es war eine Erlösung, aus der Stadt der tausend üblen Düfte herauszukommen. Kaum hatte man sich durch das wirre Gewühl von Menschen und Tieren hindurchgequetscht, das sich in den tiefen Toren der dräuenden Stadtmauer staute, so atmete man erleichtert eine reinere Luft. Grün lag die wohlbebaute Ebene, die vieltausendste Ernte in stets erneuter Geduld auf fettem Boden tragend und nährend. Und mochte der Kaiser Kwang Hsü es nun mit der Partei des Nordens oder Südens halten, sicher schien, daß dem Himmel die Opfer seines kaiserlichen Sohnes
Grau lagen die Dörfer inmitten der wogenden Felder; viel reinlicher als die große Residenzstadt waren sie, und die langen Ranken der Kürbisse umspannen schmückend das Gemäuer. Die Schönheit der Ebene aber bildeten die zahllosen Haine alter Bäume, die verstreut in ihr lagen. Sie kennzeichneten stets einen Begräbnisplatz. Und Tschun dachte bei ihrem Anblick: Wir Chinesen wohnen doch eigentlich viel schöner und
Der Tempel »der unendlichen Stille«, den die Taitai gewählt, gehörte zu den vielen, die die frommen Kaiser der Ming-Dynastie und die ihnen folgenden ersten Tatarenherrscher allerwärts in den waldigen Schluchten der westlichen Berge errichtet haben. Mit ihren grünen oder goldgelben Kacheldächern und purpurn getünchten Mauern liegen sie wie bunte Ostereier versteckt zwischen dem hellen Laub der geschwätzig säuselnden Pappeln und dem dunklen Grün der ernsten, stillen Zedern. Zwei große steinerne Ungeheuer hüteten den Eingang mit einem jahrhundertalten Grinsen. Dahinter stiegen Terrassen empor, auf denen die Klosterbauten, die weiten Hallen der verschiedenen Götter, die Glockenhäuser und der eigentliche Buddhatempel sich erhoben. Gekrönt war das Ganze mit einer
Für die fremden Herrschaften waren Priesterzellen und verschiedene Pavillons gemietet worden, und diese sonst asketischer Weltabgewandtheit geweihten Räume hatten die Boys mit flinken Fingern schon ganz verwandelt und zu einem einzigartigen, halb chinesisch-kuriosen, halb modern-europäischen Aufenthaltsort gestaltet, nicht unwürdig der schönen und so gar nicht asketischen Frau, die hier nun ihren Einzug hielt. Der Koch hatte sich sein Reich bereits eingerichtet, wo er auf einem primitiven Backsteinherd und unter dem Schutz eines Bildes des Küchengottes alle die Gerichte und Saucen herstellen würde, deren Rezepte ein vor vielen Jahren von einem Gesandten importierter französischer Koch den
Am Eingang der dämmernden Hallen standen sie bisweilen, traumverloren lehnend an einer der wuchtigen Lacksäulen, die das schwere
Die Taitai wollte alles bis ins genaueste sehen, auch jene Halle, wo all die schaudererregenden Strafen und Torturen, über die die chinesische Hölle so reichlich verfügt, mit dem Genie des Gräßlichen dargestellt waren. Tschun mußte sie bei solchen Wanderungen stets begleiten und den Kodak tragen. Auch versuchte sie durch ihn Gespräche mit den Priestern anzuknüpfen, und zu seinem großen Erstaunen lächelte sie die Geschorenen mit den gelben Wachsgesichtern dabei an, wie sie es sonst eigentlich nur für den hübschen weißen Herrn tat. Aber die Bonzen starrten ganz stier und unempfänglich vor sich hin. Da lachte die Taitai so hell und laut, wie die Buddhas und Boddhisattwas es in ihrer feierlichen Stille sicherlich nie vorher vernommen. Abends beim Diner aber in dem offenen Hof, wo die Leuchtkäfer schwirrten, deren Vorfahren
Doch einer der gelehrten fremden Dolmetscher meinte, es sei wohl eher großer Stumpfsinn.
Und Tschun gab ihm im stillen recht. Er verachtete diese ganze heidnische Umgebung, und gleichzeitig war sie ihm unheimlich, und er wunderte sich, wie die Taitai, die doch aus einem Lande des wirklichen lieben Gottes kam, sich für all das so sehr begeistern konnte. Aber er hatte ja überhaupt schon gemerkt, daß man in den Gesandtschaften nicht so viel vom wirklichen lieben Gott hielt wie bei den Priestern und Nonnen des Petang.
Besonderes Wohlgefallen fand die Taitai an einer Halle, die Tsä schen, dem Gott des Reichtums, geweiht war. Breit, fett und grinsend saß er da, auf den quellenden Geldsack gestützt, und
Bei dem Treiben der ausländischen Gäste und ihrer zahlreichen Gefolgschaft war »die unendliche Stille« geflohen. Nur nachts senkte sie sich wieder auf die ihr geweihte Stätte hernieder. Da war das Lachen und Sprechen der barbarischen Westländer verstummt. Bloß die Quelle hörte man vom Berge herabrieseln, und die zahllosen Nachkommen jener Zikaden, die der Kaiser Chien lung einst aus Jehol den Mönchen zur Zerstreuung mitgebracht, zirpten dazu in den Bäumen ihre eintönige Weise. Einmal allnächtlich auch dröhnte dumpf die bronzene Glocke, die die Priester zu andächtiger Uebung in den Tempel rief. Lautlos glitten sie im Dunkel dahin durch die Hallen und Höfe. Man hörte sie nicht. Es
Die benachbarten Tempel wurden von anderen Gesandtschaften während des Sommers bewohnt, und, wie in der Stadt, so tauschten die Fremden auch hier Besuche aus, veranstalteten Ausflüge, luden sich gegenseitig zu Mahlzeiten ein. So waren es, trotz aller äußeren Unruhe und scheinbarer Abwechselung und wenn auch in anderer Umgebung sich abspielend, doch immer wieder dieselben, sich stets gleichbleibenden Lebensformen – und in den Augen der das Stetige, Unveränderliche würdigenden Chinesen hatten diese, von den Fremden gerade als Zerstreuung und Unterbrechung gedachten Veranstaltungen durch ihre häufige Wiederkehr allmählich den Charakter althergebrachter ehrwürdiger Riten angenommen.
Einen ganzen Nachrichtendienst hatten sich die Fremden zwischen der Stadt und den westlichen Bergen eingerichtet. Alle Morgen kam ein Kuli, der auf seinem Maultier Vorräte und die tägliche
Und die Mafus klagten Tschun, daß sie in keinem früheren Sommer so oft hätten mit Nachrichten reiten müssen! Offenbar gingen sonderbare Dinge vor! In Peking erzähle man sich, der Kaiser Kwang Hsü sei völlig unter Kang yu weis Einfluß geraten und die Reformpartei, an deren Spitze er jetzt offen stände, schritte täglich weiter, aber ebenso nähme auch das Murren der konservativen Mandschus zu. Ihre Augen richteten sich immer ungeduldiger und erwartungsvoller auf die alte Kaiserin Tzü Hsi.
Eine allgemeine Aufrüttelung sonst gleichgültiger Gemüter war indessen durch die Bewegung schon hervorgerufen. Gespannt griff man jetzt nach jeder neuen Nummer der ehrwürdigen »Pekinger Zeitung«, diesem ältesten
Auch draußen in den Bergen las man aufmerksam die »Pekinger Zeitung«. Der gelehrte Abt las sie und die fremden Dolmetscher und auch Tschun mit den anderen Boys. Und sie erfuhren: Marineschulen sollten gegründet werden als Vorstufe zur Reorganisation der Flotte, und besondere Eisenbahn- und Minenministerien eröffnet werden. Dies letztere rief lauten Widerspruch hervor, denn in der Erde schlummern ja die Milliarden Toter, die über die Millionen Lebender herrschen, die durften doch keinesfalls durch all diese Wühlarbeit gestört werden! Diese Verordnung
Und weiter sprach sich Kwang Hsü mißbilligend über die Unwissenheit seiner Untertanen, wie auch über das ganze bisherige Unterrichtswesen aus. In allen Städten sollten darum sofort Zeitungen erscheinen, die von einer unter Kang yu weis Leitung gestellten Zentralstelle mit aufklärenden und belehrenden Nachrichten über alles Wissenswerte zu versehen seien. Vor allem aber müßten staatliche Schulen allerwärts umgehend eröffnet werden, wozu ja manche unnütze Tempel- und Klosterbauten benutzt werden könnten, und durch ein besonderes Uebersetzungsbureau sollten den Chinesen die nationalökonomischen und naturwissenschaftlichen Werke der
Mit diesem Erlaß hatte der den Einflüsterungen Kang yu weis blind folgende Kaiser Gelehrte wie Priester zugleich herausgefordert. Tschun, im Tempel der unendlichen Stille, merkte das wohl an der allgemein laut werdenden Mißbilligung. Die chinesischen Lehrer der Dolmetscher, die in vielen Jahren angestrengtester Arbeit mühsam ihre wissenschaftlichen Rangstufen erworben hatten, sahen sich der Gefahr gegenübergestellt, aller Früchte ihres Fleißes beraubt zu werden. Denn was sollte aus ihnen und den aber Tausenden ihresgleichen werden, wenn die klassische Gelehrsamkeit nicht mehr den alleinigen Weg zu Aemtern und Würden bildete, wenn fortan in den Examen statt nach den erhabenen Lehren von Konfuzius und Mencius nach den querköpfigen Doktrinen irgendwelcher obskurer Barbaren, wie Stewart Mill oder Darwin, gefragt würde? – Es war nicht auszudenken!
Am entrüstetsten aber äußerten sich die vielen Priester, und der Abt des Klosters beschloß, sich hinunter zur Sommerresidenz der Kaiserin zu begeben, um vor der gnadenreichen Gegenwart seine Stimme zu erheben und sie anzuflehen, die Rechte zu schützen, die den Tempeln und Klöstern vor Jahrhunderten von den heiligen kaiserlichen Ahnen verliehen worden waren.
Und er war nicht der einzige, der sich mit solchem Flehen dort einfand. Der Sommerpalast war zwar von einer hohen Mauer umfriedet, aber es drang doch mancherlei von dem, was drinnen vorging, über diese Umwallung hinaus. Und so erfuhr man denn in den benachbarten Dörfern
Das Gefolge des Abtes erzählte bei seiner Rückkehr, daß gleichzeitig mit ihnen die vornehmsten Mandschugroßen und die höchsten Beamten des Ministeriums der heiligen Riten im Sommerpalast eingetroffen seien, um mit lauten Stimmen Aufhebung der allerneuesten Manifeste Kwang Hsüs zu verlangen. In ihnen hatte der Kaiser, wegen Unterschlagung einer an ihn gerichteten reformatorisch gesinnten Denkschrift, die Spitzen dieser ehrwürdigen Behörde kurzerhand all ihrer Aemter enthoben. Außerdem aber hatte er, um Geld für seine Reformen zu gewinnen, auch die Aufhebung einer Menge einträglicher Pfründen verfügt, auf denen seit Generationen die Mandschus anstrengungslos fett geworden. Tausende wurden von dieser Maßregel getroffen,
Doch Tzü Hsi, die Geheimnisvolle, hatte all diesen in sie Drängenden, wie auch dem Abte, nur vieldeutig geantwortet: »Sie möchten sich gedulden.« Ihre eigene Geduld war scheinbar nicht erschöpft, denn es hieß, daß sie gerade jetzt wieder ein besonders prunkvolles Theaterfest vorbereiten ließe. Und doch schien es unglaublich, daß sie all diese Umwälzungen ruhig hinnehmen sollte!
Gerade um diese Zeit mußte der Ta-jen sich auf einen Tag in Geschäften nach Peking zurückbegeben. Aber mit all den dunkeln Umtrieben und Vorgängen im innern Leben Chinas hatte seine Reise offenbar nichts zu tun, denn Tschun hörte ihn ärgerlich zum ersten Sekretär sagen: »Da muß man nun mal wieder seinen wohlverdienten Landaufenthalt unterbrechen, bloß wegen dem ewigen Drängen dieser unleidlichen Konzessionsjäger!« – Ja, was sich auch sonst im rätselreichen China an Wandlungen vorbereiten mochte, das geschäftige Treiben der Konzessionsjäger blieb sich
Nachdem die Sänfte, in der der Ta-jen nach Peking getragen wurde, auf dem zur Ebene führenden Weg verschwunden war, beschloß die zurückbleibende Taitai, eine Wanderung in die Berge zu unternehmen. Es gab da auf einer der obersten Höhen ein verfallenes graues Tempelchen, das zu besuchen sie schon lange lockte. Tschun mußte sie, wie immer, begleiten, und Tin chau trottelte nebenher, mit wohlgebürstetem Seidenhaar, platt gedrücktem Trüffelnäschen und erstaunt hervorquellenden Glotzaugen. Wurde aber der Weg dem Hündchen lang, so daß ihm die kleine rosa Zunge aus dem Mäulchen hing, so
Ein schmaler Pfad schlängelte sich den Hügel hinan. An den kahlen Vorsprüngen des Bergrückens, auf die die Sonne brannte, lag er schattenlos; da standen spärliche wilde Blumen zwischen braun versengtem Gras, und schillernde Eidechsen wärmten sich regungslos auf den Steinen; aber wo des Weges Windungen durch die Schluchten führten, war es kühl und schattig. Denn da hatte sich die Feuchtigkeit seit vielen tausend Frühlingen bei jeder Schneeschmelze angesammelt und es waren kleine Haine entstanden. Auch mußten diese Plätze offenbar von früheren Menschen als Stätten kurzer Lebensjahre oder langer Todesruhe bevorzugt worden sein, denn allerwärts traf man Mauerreste verschwundener Klöster und Spuren von Gräbern längst Vergessener.
An solch einem lang schon namenlos gewordenen Platze gewahrten die Taitai und Tschun einen auf einer umgestürzten Steinstele rastenden Knaben. Ein Bündel, das er an einem
Die Taitai war ganz erstaunt, daß irgend jemand in dieser Abgeschiedenheit leben könne, und der Knabe erzählte: »Winters geht der heilige Mann immer nach Peking, da könnte ja auch niemand von uns aus dem Dorfe im Schnee hier herauf kommen, um ihm sein Essen zu bringen. Aber sommers ist er immer da. Er kommt von sehr weit her.« Und dabei machte der Knabe eine Gebärde, die den ganzen Horizont zu umfassen schien.
Nun war die Taitai sehr begierig geworden, diesen Einsiedler zu sehen, und zusammen mit dem Knaben schritten sie den Berg weiter hinan. Wandernd erzählte er ihnen, daß er Mahan heiße und sie schon mehrmals gesehen habe, denn er wohne in einem dem Tempel der unendlichen Stille nahen Dorfe.
Der Weg war jetzt steil und steinig geworden, und Tschun hatte Tin chau längst auf den Arm genommen. Der Blick hätte hier oben immer umfassender werden müssen, aber die ganze Ebene war verschwommen. Wie ein dichter Schleier lag die stauberfüllte Luft darüber.
»Wenn es klar gewesen wäre, hätten wir wohl sicher in den Sommerpalast hineinsehen können?« frug die Taitai.
Aber der fremde Knabe antwortete:
»O nein, er ist durch einen Gebirgsvorsprung ganz verdeckt, in den darf man nicht hineinsehen.«
»Und es darf auch niemand hineingehen,« sagte die Taitai bedauernd.
Dies erstaunte die Taitai sehr, und sie stellte so viele und schnelle Fragen, daß Tschun Mühe hatte, so rasch zu übersetzen. Mahan erzählte, im Sommerpalast gäbe es oft große Theaterfeste, und außer der eigentlichen, aus den Eunuchen der Kaiserin zusammengesetzten Schauspielertruppe würde auch immer noch eine ganze Masse Knaben auf der Bühne gebraucht. Die nähme man dazu aus der Umgegend. Er selbst habe auch schon einige Male so mitgespielt. Die Taitai wollte natürlich am meisten über die Kaiserin hören und die Damen ihres Hofstaates, aber gerade davon wußte der Knabe am wenigsten zu sagen; was für ein Kostüm ihm selbst angezogen worden war, welche Bewegungen er zu machen gehabt hatte, das war das, was ihm als Wichtigstes im Gedächtnis geblieben war.
»Oh, Tschun,« rief die Taitai, »wenn Du doch dort gewesen wärst! Ich bin sicher, Du
Doch nun waren sie an dem obersten Berggrat angelangt und vor ihnen lag der Tempel der tiefen Beschaulichkeit. Uralt und verwittert war er, wie der Fels, auf dem er stand. Der Berg endete hier in jähem Absturz, und mit den undurchdringlich dichten Staubschleiern tief unten, die, von hier oben gesehen, einem Meere glichen, schien das Tempelchen auf der einsamen Bergkuppe, losgelöst von allem, zwischen Himmel und Erde zu schweben.
Auf dem äußersten Felsvorsprung und der Ebene zugewandt gewahrten die Ankommenden die sitzende Gestalt eines großen hageren Mannes. Etwas unsäglich Verlassenes lag in seiner ganzen Haltung, aber es war nicht nur die durch die äußere Lage bedingte zufällige Einsamkeit, die sich in ihr ausdrückte, sondern ein Tieferes – Wesentlicheres –, als sei diese körperliche Hülle zeitweilig vom Leben selbst verlassen und läge nun da als ein gleichgültiges überwundenes
Der Einsiedler schien die Ankommenden gar nicht bemerkt zu haben. Erst als sie sich ihm ganz näherten, und der Mahan, ehrfurchtsvoll das Knie beugend, ihn an der Schulter berührte, wandte er sich um. Doch auch noch jetzt starrte er sie zuerst an, als gewahre er sie gar nicht, sondern als schaue er durch sie hindurch auf etwas, das hinter ihren Erscheinungen läge. Erst allmählich und widerstrebend kehrte ein Etwas seines Wesens, das offenbar in weiten Fernen geschweift, zum Bewußtsein der Wirklichkeit zurück. Ueber das erstarrte Gesicht lief ein Zittern, und es war, als würden die erloschenen Augen von einer unsichtbaren Hand wieder entzündet, wie nachts in einem dunklen Haus plötzlich Lichter an den Fenstern aufleuchten.
Tschun sah den Einsiedler erstaunt an. Das war kein Mensch wie er, kein Mandschu oder Chinese, eher glichen seine Züge denen der Fremden, aber auch zu ihnen konnte er nicht gehören.
Ja, der Einsiedler konnte Chinesisch. Er erzählte, daß er vor vielen, vielen Jahren nach Peking gekommen sei, mit einer Sondergesandtschaft aus einem der Grenzstaaten von jenseits der höchsten Berge – weit, weit fort im Süden. »Als die Gesandtschaft wieder abreiste, war ich krank; man mußte mich zurücklassen. Seitdem bin ich hier geblieben, ich weiß nicht, wieviel Sommer und Winter es her ist.«
Ob er sich nicht in sein eigenes Land zurücksehne?
Der alte Mann mit dem seltsam verträumten Ausdruck schüttelte den Kopf. »Was ist denn ein Land mehr wie das andere,« antwortete er, »täuschender Schein sind sie alle und hätten mit uns alle längst schon erlöst im Nichts vergehen dürfen, wenn wir sie und uns durch unseren Willen nicht immer von neuem zum Weiterleben zwängen. Seht, als Ihr vorhin kamt, da hatte ich eben für
Die Taitai sagte lachend: »Damit würdet Ihr aber vielen Herren, die ich kenne, einen schlimmen Streich spielen, wenn Ihr gerade das Stück Welt, das man China nennt, versinken ließet – denn die trachten ja alle danach, sich einen möglichst großen Anteil davon zu sichern.«
»Ja ja, die Gier, die Gier!« seufzte der Einfiedler.
Tschun fand es nun doch nötig, auch von sich aus noch etwas hinzuzusetzen, um dem sonderbaren Alten zu erläutern, welche Macht sich da in Gestalt der Taitai vor ihm offenbare, und er sagte: »Ihr müßt nämlich wissen, daß meine Herrschaften Christen sind, und darum wollen sie China viel Gutes tun.«
»Das Christentum ist in der Tat nicht schlecht,« antwortete der Einsiedler sinnend, »auch was Konfuzius, Mencius und Lao tse hier einst
Mahan, der mittlerweile mit seinem Bündel in der baufälligen Behausung des Alten verschwunden war, trat nun wieder zu ihnen und sagte: »Heiliger Mann, ich habe Euch diesmal reichlichen Vorrat mitgebracht, denn in den nächsten Tagen werde ich wohl nicht kommen können, ich soll wieder in den Sommerpalast zu den Theaterfesten.«
»Theater!« sagte der Einsiedler mit seinem seltsam mitleidigen Lächeln, als spräche er nur für sich, »ja, das ist auch so ein Ausdruck der Gier.
Zugleich mit dem Knaben trat nun auch die Taitai den Rückweg an. Und während der heilige Mann dort oben in tiefes Träumen über das Auslöschen des Ichs und damit auch seiner Weltvorstellung zurücksank, war all ihr Denken im Gegenteil nur darauf gerichtet, wie ihrem Ich das Dasein voll spannender Abwechslung zu gestalten sei. Denn sie, die sich so gar nicht an der
Beinahe so erfinderisch wie die Chinesen selbst, konnte doch so eine fremde Dame sein! dachte Tschun. Aber wie mochte sie das wohl mit dem Gebote der Wahrhaftigkeit vereinen, das die Fremden den Chinesen gegenüber doch so oft betonten?
Mahan, der sogleich die Möglichkeit von Gelderwerb witterte, erhob zuerst Schwierigkeiten gegen den Vorschlag, und damit spekulierte er richtig, denn die Taitai bot ihm alsbald eine viel höhere Belohnung, als er zu erwarten gewagt. Schließlich war alles abgemacht: sowie er von
Feierlicher denn je kehrte der Ta-jen am nächsten Tage in der grünen Sänfte aus Peking zurück, Würde, Wichtigkeit und erfolgreiche Amtstätigkeit ausstrahlend. Und nach wenigen Stunden wußten die Boys und mit ihnen auch Tschun alle Neuigkeiten, die er mitbrachte. Denn irgendwie erfuhren sie, die auf dicken Filzsohlen Gehenden, doch immer alles.
Die Mitglieder des Tsungli-Yamen waren auf die Forderungen des Gesandten mit überraschender Bereitwilligkeit eingegangen, ganz ohne die gewohnte Verneinungstaktik anzuwenden, mit der sie sonst jede Verhandlung begannen. Dem begleitenden Dolmetscher hatten sie den Eindruck gemacht von Leuten, die vor so gewaltigen Ereignissen zu stehen glauben, daß das, was bisher wichtig erschien, zur Geringfügigkeit zusammenschrumpft.
Seine glücklich geführte Verhandlung hatte der Ta-jen seiner Regierung bereits von Peking aus telegraphisch gemeldet. Nun sollte noch im Tempel der unendlichen Stille ein ausführlicher Bericht darüber verfaßt werden.
»Und dann ist da noch etwas anderes, über das wir vielleicht berichten müßten,« sagte der Ta-jen zum ersten Sekretär, was Kuang yin deutlich von der angrenzenden Zelle aus hörte, wo er scheinbar eifrigst die verstaubten Kleider seines Herrn reinigte. »Ich bin nämlich bei dem Bischof im Petang gewesen, um seine Ansicht über eine Nephritschale zu hören, die mir angeboten worden ist – Sie wissen doch, daß er der größte Kenner von Nephrit ist – na, und bei dieser Gelegenheit hat er mir allerhand über diese
»Ach,« meinte der Sekretär, »diese geistlichen Herren reden sich ja immer künstlich in ein Interesse für kleine chinesische Vorkommnisse hinein, weil sie sich nun mal dazu verurteilt wissen, ihr ganzes Leben in diesem gottverlassenen Lande zu verbringen. Dadurch nehmen die hiesigen Dinge in ihren Augen eine viel größere Wichtigkeit an. Ich glaube, wir Diplomaten, die wir gottlob nur vorübergehend hier sind und vergleichen können, sehen das alles im richtigeren Maßstab.«
»Gewiß, gewiß,« sagte der Ta-jen, »aber es ist am Ende doch sicherer, wir schreiben ein bißchen was darüber, damit uns nachher zu Hause nichts vorgeworfen werden kann, wenn wirklich etwas mehr aus alledem entstehen sollte.«
Der erste Sekretär frug nun, was der Bischof denn eigentlich mitgeteilt habe, und der Ta-jen antwortete: »Oh, er hat mir recht merkwürdige Dinge erzählt. Die Kaiserin hat doch, wie schon neulich in der »Pekinger Zeitung« stand, die Verbannung
»Wie kann er nur an diesen unpraktischen Phantasten glauben!« rief der Sekretär. »Nach all den von ihm inspirierten Edikten muß ja dieser Kang yu wei ein bloßer Phrasenheld sein, der abgedroschene Leitartikel liberaler europäischer Blätter hier als große Geistesneuheiten verzapft.«
»Ja,« sagte der Gesandte, »so schildern ihn auch die dem Bischof unterstellten Missionare, die ihn früher in Kanton gekannt haben. Außerdem bezeichnen sie ihn aber auch als einen Ehrgeizigen. Und der Bischof geht sogar so weit, zu behaupten, daß Kang yu wei letzten Endes eine Republik anstrebe.«
»Aber das ist ja zum Lachen, Exzellenz,« rief der Sekretär, »eine chinesische Republik? Das erlebt keiner von uns!«
»Auf alle Fälle«, sagte der Gesandte, »scheint dieser plötzliche Emporkömmling eine gewisse
»Mit was für Mitteln sollte denn aber der Kaiser die Festnahme Tzü Hsis ausführen lassen wollen?« warf der Sekretär ein. »Man sagt doch, im Sommerpalast sei sie von zahlreichen Wachen umgeben, und das nächste Militär steht ja gerade unter Befehl dieses Yung Lus. Na, und wenn der heute auch wohl nicht mehr in zärtlichen Beziehungen zu ihr steht, so würde er doch wohl in jedem Konflikte bestimmt zu ihr halten?«
»Ja, das habe ich dem Bischof auch eingewendet,« antwortete der Gesandte, »ihm ist aber aufgefallen, daß der Kaiser in letzterer Zeit einen gewissen Yüan schih kai empfangen hat. Gleich darauf ist dann ein Edikt zur Reorganisation des
»Leider nein, Exzellenz,« antwortete der Sekretär, »es ist ja überhaupt schon schwer, sich nur all die verwünschten Namen dieser Leute zu merken.«
»Ja, ja,« sagte der Gesandte, »und aussehen tun sie für unsere Augen auch alle ziemlich gleich. Na, was nun auch kommen mag, ich denke, China wird China bleiben, und wir werden hier in gewohnter Weise unsere Geschäfte weiter machen.« Und dann setzte er hinzu, indem er dem Sekretär einige Blätter reichte: »Hier sind übrigens die kantonesischen Flugblätter, die mir der Bischof mitgegeben hat, vielleicht kann einer der Dolmetscher sie übersetzen.«
Die Blätter blieben abends auf dem Schreibtisch des Dolmetschers liegen. Da fand sie dessen
»Von den Zwergen der Inseln sind wir so leicht geschlagen worden, weil die Kaiserin durch Li lien ying die für die Flotte bestimmten Gelder für sich verwenden ließ. Statt Schiffe zum Schutz unserer Küsten, hat sie den Sommerpalast für ihre Vergnügungen erbauen lassen. So ist sie schuld an jenen Niederlagen, denen neue Demütigungen und Einbußen an Macht und Besitz folgten. Das große China mußte es alles dulden, weil es durch eine Frau wehrlos geworden.«
Und auch intimere Dinge aus dem privaten Lebenswandel der göttlichen Mutter bespotteten die Pamphlete. An te hai, der frühere Lieblingspalastwächter, habe gar nicht die Qualifikationen
Tschun las all die Ungeheuerlichkeiten, die der Kaiserin da vorgehalten wurden, und er verstand auch die obszönen Witze, die die Boys daran knüpften, aber trotzdem kam er zu keinem eigentlichen Bewußtsein der Wirklichkeit dieser Dinge – es war ihm, als sei das alles eben doch nur in Büchern vorgefallen. Er konnte es sich nicht recht vorstellen.
Der Sommerpalast umfaßte eine ganze Sammlung von Palästen, samt Hallen, Pagoden, Pavillons und Kiosken. Zerstreut lagen sie in einem ungeheuren Grundstück, das sich von der Ebene aus noch über einen ganzen Bergabhang ausdehnte. Die blutrote Umfassungsmauer mit ihrer goldenen Kachelkrönung wand sich wie ein seltsames Schlangenungetüm in Zickzacklinien um das ganze Gelände. Wälder, Gärten, Grotten, ein riesiger See mit der felsigen Insel des Drachenkönigs, hochgeschwungene Marmorbrücken über Lotosteichen, das alles lag dahinter.
Den Eingang bildete ein mächtiges überdachtes Mitteltor, das sich nur den Herrschern öffnete, mit zwei kleineren Türen daneben. – Durch eines dieser schritten die vielen großen und kleinen Knaben, die sich vorher draußen bei den Torhüterhäusern versammelt hatten. Von einem
Tschun wäre gern verweilt, um sie alle genau zu besehen, aber der Palastwächter mit dem Kristallknopf und der schwarzen Feder drängte die Knabenschar durch drei weitere, immer riesigere Höfe.
Und immer beklommener wurde Tschun dabei. Es war ihm wie in einem Traum, wo man geht und geht und doch nicht weiter kommt. So gleich
Aber Tschun hatte doch Zeit zu bemerken, wie wunderbar schön das alles gehalten war. Kein Unkrauthalm sproß zwischen den Steinfliesen, kein Blatt lag auf den Wegen. Nirgends eine Spur jenes Staubes, der, in Peking und auch in den Tempeln, unmerklich aber ständig rieselnd, alles mit seinem einförmigen grauen Ton bedeckt. Hier standen die Farben frisch und leuchtend in blendender Schärfe gegen den klaren Himmel. Tschun hatte bisher gedacht, daß es nur bei den Fremden so sauber aussehen könne. Nun empfand er eine Art Stolz, daß das doch auch im eigentlichen China möglich sei.
Dann kamen sie an einen geschnitzten dreiteiligen Triumphbogen, und dahinter lag grün
»Eilt Euch,« sagte der Palastwächter, »der alte Buddha fährt auf dem See und kann bald zurückkehren. Dort an den Marmorstufen, wo die vielen Menschen warten, wird die Kaiserin aussteigen und sich in die Audienzhalle tragen lassen. Wir müssen vorher vorbei sein.«
Aber der Marmorweg dehnte sich endlos aus. Und plötzlich, dicht bei den Stufen, kam aus einem Nebenarm des Sees, der ganz mit Lotos bedeckt war, der kaiserliche Nachen angeglitten. Er war schon ganz nahe. Andere Boote folgten. Sie waren gefüllt mit Menschen in buntschillernden gestickten Seidenkleidern.
»Werft Euch nieder,« befahl der Palastwächter mit zitternder Stimme. Und gleich ihm
Es waren seltsame Boote. Wie schwimmende Pagoden aus feingeschnittenem Holz schienen manche. An den zurückgeschobenen Fenstern der Kajüten spielten rotseidene Vorhänge in der leichten Brise. Man blickte in kleine verschwiegene Räume, die doch viel zu erzählen schienen. Aber die Herrscherin selbst hatte für diesen Tag einen ganz flachen offenen Nachen gewählt, über dessen Rand die hohen Lotosblüten aus dem Wasser noch emporreichten.
So fuhr sie in einem Meer von Blumen. Sie saß unter einem gestickten Ehrenschirm, den ein Diener über sie hielt. Hofdamen, mit weiß- und rosagepuderten Wangen und kirschroten Schminkflecken auf der unteren Lippe, umstanden sie, und Palastwächter, in kostbaren Trachten und großen Hüten, schoben das Boot mit langen Stäben im seichten Wasser vorwärts. Die grünen Lotosblätter bogen sich dabei auseinander mit einem Klang von rauschender Seide. Ein geschnitzter
Die Kaiserin hatte die Knaben am Ufer gewahrt und befahl zu halten.
Nun wird sie uns sicher alle köpfen lassen, dachte Tschun.
Aber eine tiefe, etwas rauhe Stimme erschallte ganz freundlich vom Wasser und fragte: »Sind das die Knaben von den Dörfern, die heute beim Theaterspiel auftreten sollen?«
Der Palastwächter berührte noch einmal den Boden mit der Stirn und antwortete: »Sie sind es, Lao tsu tung, strafe Deinen unwürdigen Knecht, daß Du sie auf Deinem Wege gefunden.«
Doch die Kaiserin sagte ganz behäbig gutmütig: »Mögen die Kinder sich immerhin hier etwas umsehen. Es hat ja mit dem Theater noch mehrere Stunden Zeit.« Und dann befahl sie einem anderen Palastwächter: »Man soll nicht vergessen, ihnen zu essen zu bringen.«
Nun landete die Erhabene an den Stufen, und die Hofdamen, mit den weiß-rosa Puppengesichtern
Ein ganzes Gewühl von Bediensteten hatte hier mit Sänften der Ankunft der Boote geharrt. Die Kaiserin bestieg einen gelben offenen Tragstuhl. Acht Palastwächter hoben ihn an langen Stäben empor. Dabei stand zu jeder Seite ein hoher Würdenträger, die Hand auf dem Tragstab ruhend. Hinzwinkernd zu dem auf der Rechten Stehenden, der allein unter allen den roten Knopf und die Pfauenfeder trug, flüsterte Mahan: »Das ist Li lien ying.« Und auch dieser Gefürchtete war für Tschun eigentlich eine Enttäuschung. Er hatte ihn sich gar furchtbar gedacht. Statt dessen war es ein schöner Mann von unendlich höflichen Manieren, der sich mit würdiger Anmut vor der Gebieterin verneigte und ihr, während sie sich zurechtrückte, offenbar Belustigendes erzählte, denn sie lachte ganz laut.
Tschun mußte dabei plötzlich an die Taitai denken, die hatte auch immer so viele Dinge, die sie sich gern nachtragen ließ! – Und noch eine andere Aehnlichkeit entdeckte er: auch die Kaiserin hatte einen Lieblingshund, der schon auf dem Boot bei ihr gewesen war und nun hinterher lief. Tschun hörte, wie sie ihn »Seeotter« rief.
So zogen sie alle an den noch immer knienden Knaben vorüber. Die Kaiserin hoch über allen anderen schwebend, wie das schimmernde Idol einer seltsamen Prozession. Sie nickte den Knaben zu und rief lachend: »Macht Eure Sache gut nachher.« Als sie aber dicht an Tschun vorüberkam, umwehte ihn ein seltsamer Duft von Sandelholz, Moschus und unbekannten Blumen. Ein Duft, der jahrtausendalten Rezepten nachgebildet sein mochte, der Tschun völlig fremd war und der ihn doch irgendwie an die Taitai erinnerte. Der Duft einer Frau, die sich pflegt und schmückt und vielleicht am meisten sich selbst Idol ist.
Dann waren sie fort, all die wunderlichen Gestalten, und Tschun rieb sich die Augen, als ob er erwache. Fremder und unwirklicher wie irgendwelche
Jetzt erst fielen Tschun die dunklen Dinge ein, die man in Peking flüsternd erzählte, und die in den Straßenballaden Kantons offen besungen wurden. Was mochte von alledem wahr, was erlogen sein? – Er entsann sich, einmal gehört zu haben, daß die Kaiserin durch Zauberei jeden nach Belieben zwingen könne, sie zu lieben oder zu hassen. Er erinnerte sich auch, daß Sin schen, der weitgereiste Vetter, behauptete, es gäbe Berge, die scheinbar sicher und ruhig wie andere Berge dastehen und aus denen doch plötzlich mit Grollen und Beben vernichtende Lohe hervorbricht.
Einige der Knaben hätten nun gern von der Kaiserin Erlaubnis Gebrauch gemacht und sich die Gärten besehen. Aber der Palastwächter, mit dem Kristallknopf und der schwarzen Feder, war sichtlich nur zu froh, daß alles so gut abgelaufen; er wollte sich keinen neuen gefahrvollen Begegnungen aussetzen und drängte die Knaben zum Theater.
Doch nun mußten die Knaben in die Räume hinter der Bühne. Da war ein Gewühl von Menschen und Dingen! Die seltsamsten Dekorationen standen umher: Wolken, Drachen und Phönixe, Tiger, Affen und namenlose Ungetüme in wilden Verzerrungen. Alles aus bemalter, vergoldeter Pappe und rückwärts auf leichten Bambusgestellen ruhend. Die Schauspielertruppe der Kaiserin, die von ihren Palastwächtern. gebildet wurde, war beim Anziehen. Tschun sah da schwere golddurchwirkte Gewänder und gestickte Mäntel, wie sie sonst nur die Gestalten
Auch die Knaben wurden nun geschminkt und angezogen. Die kleineren, zu denen Mahan gehörte,
Es gab ein langes Warten. Die von der Kaiserin befohlene Mahlzeit wurde gebracht, in Näpfchen, die auf großen, gelb gedeckten Brettern standen. Und alle warfen sich bei diesem Anblick nieder, wie es Brauch ist beim Empfang kaiserlicher Gnadenspenden. Einmal auch kam Li lien ying, nachzusehen, wie weit die Vorbereitungen gediehen. Tschun hörte die Eunuchen sagen, wie sehr er sich doch für das Theater interessiere. Dann meinte einer von ihnen: »Es ist eigentlich keine Zeit für frohe Feste.« Ein anderer, ganz Junger stimmte bei: »Ja, wer weiß, vielleicht werden auch wir in den nächsten Tagen abgesetzt – und dann war es alles umsonst!« Doch ein Aelterer entgegnete bestimmt: »Das wird unser alter Buddha nie zulassen.« – Sie sprachen nun
Tschuns Herz schlug heftig bei diesen Worten. Ach, wenn das doch möglich wäre, daß der Kaiser sich dem wirklichen lieben Gott zuwendete! Wie würden sich die Priester und Nonnen des Petang freuen. Und wenn dieser Kang yu wei wirklich
Doch nun kamen Boten: Der kaiserliche Zug nahe durch die Gärten.
Die Schauspieler eilten auf die Bühne, um die Gebieterin bei ihrem Eintritt in die Loge durch ehrfurchtsvolles Niederknien zu begrüßen. Tschun mit den Bogenschützen des Kriegsgottes war auch dabei. Er kam ganz nach vorn zu stehen. Die beiden Galerien, die an den Längsseiten der Bühne liefen und für Gäste bestimmt waren, hatten sich schon gefüllt mit allerhand Großwürdenträgern in feierlichen Wappenröcken und Bernsteinketten, und in der kaiserlichen Mittelloge harrten eine Menge Prinzessinnen, Hofdamen und Palastwächter. Und nun nahte von der Veranda her die gnadenreiche Gegenwart. Die Kaiserin wurde von zwei Eunuchen gestützt, und hinter ihr folgten, wie am Morgen, die vielen Menschen, die ihr überall die verschiedensten Dinge nachschleppten. Tschun bemerkte sofort,
Und dann geschah etwas ganz Seltsames. Gerade als die Kaiserin sich auf den geschnitzten Thron niederlassen wollte, stieß sie einen schrillen Schrei aus und wies mit dünnem, spitzem Finger auf das Polster. Da saß, auf dem goldgelben Atlas, eine dicke schwarze Brummfliege. Vor
Zitternd trat ein mit einem Wedel bewaffneter Palastwächter heran und warf sich vor der Gebieterin auf den Boden.
»Er ist zu bestrafen,« befahl Tzü Hsi und wendete sich dabei an Li lien ying. »Sicherlich,« antwortete dieser, und seine Augen blickten tückisch, »soll er sofort hingerichtet werden? Oder vielleicht des langsamen Todes sterben?«
»Das ist ein bißchen viel,« antwortete Tzü Hsi, nachdem sie sich einen Augenblick besonnen, »er empfange hundert Streiche in die Kniekehlen.«
Und nun erkannte Tschun, was das Amt der Männer war, die er am Morgen den gelben Atlassack hatte schleppen sehen. Sie entnahmen ihm Bambusrohre, und damit erhielt der am Boden Liegende die befohlenen Streiche. Er gab
Dann erteilte die Mütterliche, Glückverheißende den Befehl, daß das Stück beginne.
Die dichten Scharen des Kriegsgottes sollten sich zu Anfang über die Bühne entfalten und den Hintergrund bilden für die Zweikämpfe besonderer Helden. Auch die Bogenschützen hatten dabei in seltsam rhythmischem Schritte mit bizarr verschränkten Armen vorüberzuziehen. Aber Tschun war ganz erstarrt von dem, was er soeben mit angesehen hatte, er erinnerte sich kaum noch, was er auf der Bühne zu tun hatte, die andern Knaben mußten ihn hin und her schieben. Ja, jetzt glaubte er es dem Vetter Sin schen gern, daß es Berge gibt, die plötzlich vernichtende Lohe sprühen! Er mußte immerwährend in die Loge starren. Da saß die Kaiserin auf dem geschnitzten Thronsessel mit dem hohen Wandschirm und zwei großen Standarten aus Pfauenfedern hinter ihr, unbekümmert, als sei gar nichts vorgefallen. Wie ein Idol sah sie wieder aus, und jetzt zwar wie
Und dann kam das Nachspiel.
Plötzlich ward die große Tür der kaiserlichen Loge von der Veranda her heftig aufgestoßen, und ein Mann, in hoher Militärmandarinentracht, kam hereingestürzt. Durch die erstarrten Eunuchen, die puppenhaften Hofdamen bahnte er sich unaufhaltsam den Weg, stürzte bis zum Thron der Kaiserin vor, sank da auf die Knie, hob die Hände und rief atemlos: »Schutz, Majestät, ich flehe um den Schutz dieses Heiligtums!«
Die Schauspieler hatten unwillkürlich bei dem Lärm innegehalten. Jetzt war es lautlos still geworden. Von der Bühne und aus den Seitengalerien starrten alle Augen auf die Kaiserin. Die war zuerst bei dem unerhörten Auftritt zusammengefahren, aber den Eindringling erkennend,
»Ich weiß es, Gnadenreiche, und bitte um spätere Strafe,« antwortete der Kniende, »aber ich konnte nicht warten, ich bringe zu wichtige Kunde.«
Die Kaiserin neigte sich bei diesen Worten vom Throne herab, Li lien ying war näher herangetreten. Der Kniende sprach indessen weiter, leise und hastig. Man hörte nur Murmeln. Aber Tschun sah, wie die Kaiserin plötzlich erbleichte.
Und dann trat Li lien ying vor und rief mit sardonischem Lächeln und lauter Stimme: »Kaiserlicher Befehl: Theater wird heute nicht mehr gespielt!«
Und so stark war die Macht uralter Tradition, daß trotz der Erregung, die alle ergriffen hatte,
Die Kaiserin aber hatte sich erhoben. Und so, hoch über den anderen auf der obersten Thronstufe stehend, schien sie zu etwas Ungeheuerlichem emporzuwachsen, zur unerbittlichen Furie grausamer Rache, der all die gebeugten Nacken ein Piedestal bildeten, aus zitterndem, ihr willenlos untertanem Menschenfleisch.
Doch schon wurden die Glasfenster zugeschoben, die Loge von Bühne trennten. Tschun konnte nichts mehr von dem sehen, was im Zuschauerraum nun vor sich gehen mochte. Von hastenden Menschen wurde er selbst fortgeschoben, weitergedrängt zwischen all den grinsenden Pappungeheuern. Die Schauspieler redeten wirr durcheinander mit dünnen, zitternden Stimmen, gestikulierten in ihren phantastischen Trachten, rissen sich die schreckenerregenden Masken ab und sahen nun erst recht erschreckend aus in ihrer bleichen Furcht. Denn sie alle, die sie ja Palastwächter
Und nun liefen sie alle durch den dämmernden Garten dem Ausgangstor zu. Die Palastwächter voran zeigten den Weg. Jetzt waren die großen Hornlaternen angezündet und blutrot grinsten ihre riesigen Glückszeichen auf den leuchtenden Kugeln. Gespenstisch stand die bleiche Marmorbalustrade gegen das dunkle Wasser, blassen Gesichtern Verstorbener gleich hoben sich die Lotosblüten aus der finsteren Tiefe.
Nach der Schwüle des Theaters gewannen die Geängsteten hier im Freien etwas Ruhe und Ueberlegung wieder. Tschun und Mahan, die bei der Vorstellung getrennt gewesen, hatten sich jetzt wiedergefunden. Unter dem Eindruck,
So kamen sie zu den drei von blutroten Mauern umgebenen Höfen. Die waren gefüllt mit Menschen, wie auch die Wartehäuser an den Seiten. An den äußersten Toren aber, durch das einer der Palastwächter die aus den Dörfern stammenden Knaben entlassen wollte, tönte ihnen der Ruf der Türhüter entgegen: »Die Tore sind verschlossen. Der Befehl erging: Niemand darf vor morgen früh den Sommerpalast verlassen.«
Und nun erst erkannte Tschun im flackernden Schein großer Laternen, die an Stäben aufgestellt waren, daß die Gäste des Theaterspiels da noch warteten, umgeben von einer Unzahl eigener Bediensteter. All diese Menschen sahen gespannt und erwartungsvoll aus. Wenn sie einen Augenblick in das unstete Licht der Laternen traten, sah man die glatten pergamentenen Antlitze der
Die Knaben kauerten sich nieder auf den Stufen eines der Wartehäuschen. Durch die offenen Türen hörte man von drinnen abgerissene Worte heraustönen. Und auch durch die Höfe ging ein erwartungsvolles Murmeln.
Dann nach ein paar Stunden erscholl Lärm von jenseits der hohen blutroten Umfassungsmauer. Das eilige Heranfahren von Karren. Die Rufe von Sänftenträgern.
Die Türhüter öffneten sofort eilfertig ein Tor. So waren es also nicht Feinde, die da nahten? Nein, Helfer, herbeigerufene Bundesgenossen mußten es sein! –
Ein Aufatmen ging durch die ängstlich Harrenden: es gab also in den Tiefen des nächtlichen Sommerpalastes einen starken, unbeugsamen Willen, der den Kampf aufgenommen hatte
Eine Reihe von Palastwächtern hatte sich plötzlich zum Empfang der Ankommenden am Tor eingefunden. Nun traten diese in den Hof. Mandschufürsten waren es, hohe Würdenträger, unter ihnen auch all jene Beamten, die der Kaiser in den letzten Tagen abgesetzt hatte, und: der gesamte Große Rat. Und allen voran die drei Vertrauensmänner der Kaiserin, Yü Lu, Wang wen schao und der furchtbare Kang yi. Von den Eunuchen geleitet, schritten sie eilig durch die Höfe, tauschten hie und da im Vorübergehen ein leises Wort mit den Harrenden, verschwanden dann im Dunkel der Gärten, wo unter dem hohen Dache der großen Audienzhalle der zur Tat gewordene Wille wachte.
Und nun ging wieder ein Raunen und Flüstern durch die Höfe, aber nicht mehr ganz so verzagt klangen jetzt die Stimmen. »Sie werden sie bitten, die Regierung wieder zu übernehmen – sie muß es tun – es kann ja so nicht weitergehen
Tschun hörte es alles undeutlich, die Worte kamen aus der Dunkelheit, von den Lippen huschender, alsobald zerfließender Schatten. Die alten Zedern rauschten im Nachtwind. Ein Vogel krächzte. Es war alles schaurig, unheilvoll. Er rückte dicht an Mahan. So fürchteten sie sich wenigstens zusammen. – Tschun würde nie, nie mehr schlafen können. Er wollte gar nie mehr schlafen. Im Traum würden sie ja doppelt furchtbar wiederkehren ... die Ungeheuer ... die Brummfliegen ... die böse ... böse Habichtsnase ...
Dann mußte er aber doch geschlafen haben. Schwer und bleiern, denn als er die Augen wieder öffnete, wußte er zuerst gar nicht, wo er war. Lange hatte er geschlafen. Es war schon ganz heller Tag. Aus den Wartehäusern traten die Menschen, die es sich da für die Nacht irgendwie bequem gemacht hatten. Ihre Gesichter sahen grünlich und überwacht aus in dem Morgensonnenschein.
Und nun hörte man wieder von jenseits der Umfassungsmauer eilige Schritte, laute Rufe, Pferdegetrappel. Das Tor ward aufgerissen. Eine Sänfte kam hereingeschwungen. Schweißgebadet stellten die Träger sie im Hofe nieder. Die Arme sanken ihnen schlaff herab. Sie mußten in höchster Eile mit ihrer Bürde gelaufen sein. Die Palastwächter, die wartend dagestanden, öffneten die Tuchtür der Sänfte. Und nun sah man ihr Li lien ying, den Allmächtigen, entsteigen.
So hatte er also nicht die Nacht im Sommerpalast verbracht? Dann mußte er gestern, gleich nach dem plötzlichen Abbruch der Theatervorstellung, davongeeilt sein, denn später hatte das Tor ja niemand mehr entlassen. Wo war er gewesen? Und von welchem Geschäft kam er jetzt so eilig zurück?
Mit dem Ausdruck von einem, der befohlener Arbeit wohlgelungene Ausführung melden darf, schritt dann Li lien ying davon, in der Richtung der kaiserlichen Privatgemächer, wo jene harrte, die, selbst unsichtbar, die Fäden so vieler Puppen in dieser Nacht gezogen hatte.
Aber das Bewußtsein, einer großen Gefahr entronnen zu sein, machte die Untergebenen Li lien yings geschwätzig. Als Sieger traten sie jetzt auf, so wenig sie selbst dazu getan. Tschun vernahm einzelne ihrer Worte, reihte sie an anderes,
Und dann endlich kam der Befehl, daß alle bisher Zurückgehaltenen den Sommerpalast nunmehr verlassen dürften. So öffneten sich denn die Tore wieder vor denen, die zu belustigendem Scheinspiel gekommen und so unheimliche Wirklichkeit gesehen.
Als Tschun am späten Nachmittag im Tempel der unendlichen Stille wieder eintraf, wartete die Taitai schon ungeduldig. Der Ta-jen, dem sie Tschuns seltsamen Ausflug nicht vorher mitgeteilt hatte, war sehr ungehalten geworden, als er inzwischen davon erfahren. An Tschuns langes Ausbleiben hatte er allerhand düstere Voraussagungen geknüpft: »Er sei sicher als vermeintlicher
So lief die Taitai denn nun, sobald sie Tschun erblickt hatte, in den Hof zurück, wo der Ta-jen und die anderen Herren saßen, und rief strahlend: »Er ist wieder da! er ist ganz lebendig.«
Nun sollte Tschun erzählen, aber das einzige, was er anfänglich stammeln konnte, war: »O Ta-jen! helft dem armen Kaiser! er sitzt gefangen auf einer kleinen Insel in der verbotenen Stadt! und er wollte doch Christ werden! und europäische Kleider tragen! Helft ihm, sonst wird ihn die Kaiserin sicher noch umbringen lassen.«
Allmählich erfuhren die Herren von Tschun alles, was er gesehen und gehört, und begannen nun ihrerseits zu kombinieren. Und dazwischen flehte Tschun nochmals: »O helft dem Kaiser, rettet ihn!«
»Was für einen Unsinn redet da der Knabe,« sagte der Ta-jen und setzte würdevoll hinzu:
Und da diese Aufgabe der Diplomatie bei der augenblicklichen Lage offenbar in Peking leichter als im entlegenen Tempel zu erfüllen sein würde, so ward beschlossen, gleich am nächsten Tage aus dem Tempel der unendlichen Stille in die Stadt der tausend Düfte zurückzukehren.
In Peking erfuhren sie dann allmählich, was sich in Wirklichkeit zugetragen, und wovon Tschun nur einzelne Bilder gesehen. Die ganze Stadt war voll von allerhand unheimlichen Nachrichten. Mandschus, Chinesen, all die Fremden, die aus den Tempeln und vom Seebad Peitaho zurückgeeilt waren, – niemand sprach von etwas anderem, als was geschehen, und was doch niemand ganz genau wußte. Die wildesten, sich widersprechendsten Gerüchte tauchten plötzlich auf, zerfielen ebenso rasch, wurden von neuen ersetzt. Und zum erstenmal tauchte auch vorübergehend
Am besten schien mal wieder der alte weißbärtige Bischof des Petang über alles unterrichtet zu sein. Eigentlich hatte er ja manches sogar vorausgesagt. – Er kam denn auch gleich zum Ta-jen und erzählte ihm: »Unmittelbar nach seiner Rückkehr von seinem letzten Besuch bei der Kaiserin im Sommerpalast und noch ganz erregt von dem Auftritt, den er dort mit ihr gehabt, hatte der Kaiser zweierlei getan. Anstatt Kang yu wei gefangennehmen zu lassen, wie die göttliche Mutter es befohlen, hatte er ihm geschrieben, warum er sich noch nicht auf seinen neugegründeten Posten eines Inspirators der Zeitungen nach Schanghai begeben habe. Und Kang yu wei, die versteckte Warnung dieses Ediktes wohl verstehend, war noch zur selben Stunde aus Peking geflohen. – Nachdem aber der Kaiser also auf alle Fälle für des Freundes Sicherheit gesorgt,
Nachdem die geistliche Macht der weltlichen also von ihrem Wissen gespendet, empfand der Ta-jen das Bedürfnis, nun auch seinerseits dem
Der Bischof zuckte die Achseln: »Ich fürchte, das ist unmöglich,« sagte er, »so herrlich es gewesen wäre, wenn die Hoffnung, einen christlichen
Daran hatte Tschun freilich nicht gedacht. Es fiel ihm immer etwas schwer, zu behalten, daß es gar so verschiedenerlei Christentum gibt. –
Tschun hatte den Kaiser nie gesehen, aber der Herr der zehntausend Jahre tat ihm schrecklich leid. Er konnte sich jetzt ja besser als manch anderer vorstellen, wie es einem ergehen mochte, der Tzü Hsis Zorn erregt und sich in ihrer Macht befand! –
Der Vetter Sin schen, der sich nach den jüngsten Ereignissen mehr noch als sonst seiner Verbindungen zum Haus des Obereunuchen rühmte, erzählte: »Gleich nach ihrer Uebersiedlung nach Peking hat die göttliche Mutter den gefangenen Kaiser in der Ozeanterrasse besucht. Nur Li lien
»Der war aber auch abscheulich!« rief der alte Lin te i. »Mit seiner Verschwörung gegen die göttliche Mutter hat der Kaiser das höchste Gebot des weisen Konfuzius, die kindliche Ehrerbietung, schwer verletzt.«
»Tzü Hsi hat ihm denn auch gesagt, daß er dafür nun immer da eingesperrt bleiben solle,« erzählte Sin schen weiter, »und sie würde ihn so streng hüten lassen, daß jedes seiner Worte ihr hinterbracht werden würde.«
»Hat denn niemand gewagt, für ihn einzutreten?« frug Tschun.
»Ja,« antwortete Sin schen, »Chen fai, die Perl-Konkubine, die der Kaiser immer allen anderen vorgezogen hat, soll Tzü Hsi entgegengetreten sein und ihr gesagt haben, Kwang Hsü sei doch der rechtmäßige Herrscher.«
»Die göttliche Mutter steht doch immer über ihm, dem Neffen und Adoptivsohn,« warf Lin te i wieder ein.
»Und was ist aus all seinen vielen Dienern geworden?« frug Tschun.
Sin schen lachte. »Oh, die sind längst umgebracht. Jetzt hüten ihn Li lien yings Leute und Yung Lus Soldaten. Aber«, sagte er dann mit geheimnisvollem Zwinkern der kleinen Augen, »wer weiß, ob sie lange zu hüten haben werden. Ich würde nicht gar zu viel auf die Lebensdauer des Herrn der zehntausend Jahre wetten.«
Ja, es gab da viele Leben, auf die nicht hoch zu wetten war! Eine Anzahl der bekanntesten Reformer, meist Südchinesen, die den Kaiser umgeben und beraten hatten, waren, ehe sie, wie der glücklichere Kang yu wei, Zeit zur Flucht gefunden, in Peking verhaftet worden. Gegen sie schwebte die Untersuchung.
Auch unter das Todesurteil, womit, wie vorauszusehen gewesen, der Prozeß gegen die gefangenen Hauptführer der Reform schloß, setzte Tzü Hsi den Namen des eingekerkerten Kaisers.
Der Platz, wo die Hinrichtungen stattfinden sollten, lag in der Chinesenstadt, am Eingang des Gemüsemarktes. Mit den anderen Boys, die das
Der Mittelweg der mit Unrat gefüllten Straßen, in deren tiefen Löchern namenlose Flüssigkeiten unter irisierender Fettschicht standen,
Auf dem Platze waren zwei offene Verschläge aus Mattenflechtwerk errichtet. In dem einen saßen im Halbkreis die Beamten, die der Urteilsvollstreckung beiwohnen sollten. An ihrer Spitze
Endlich kam der Ueberbringer des Todesediktes. Die Gefangenen wurden auf den Platz geführt, um die Verlesung mit anzuhören und, dem Brauch gemäß, zu bestätigen, daß die Strafe gerecht sei. Doch von diesen Verurteilten tat das keiner! Sie wendeten sich an das gaffende Volk und einer von ihnen erklärte, mit ruhiger, weithin vernehmlicher Stimme: »Mögen wir immerhin getötet werden, wir sterben für ein gute Sache. Und wir wissen, daß für einen von uns, der heute
Doch die Mandarine traten dazwischen, um weitere Ansprachen zu verhindern. Die Verurteilten konnten sich nur noch gegenseitig förmlich voreinander verbeugen, wobei der eine feierlich sagte: »Wir werden uns binnen kurzem bei den gelben Quellen wiedertreffen,« und der andere ebenso antwortete: »Der Tod ist nur eine Heimkehr.«
Schon stand der Scharfrichter bereit. Es war ein breiter, schwerer Mann, der den Mantel abgeworfen und eine blutbefleckte Lederschürze vorgebunden hatte. Er trug den präokkupierten Ausdruck eines Menschen, der entschlossen ist, schwere Arbeit möglichst gut zu verrichten. Die Schwerter wurden ihm gebracht, prüfend wählte er eines. –
Nun ward der erste Verurteilte angeführt und mußte niederknien. Ein Strick wurde ihm um den Hals geschlungen und daran zog ihm einer
Da lagen die Männer, die all das gewollt, was ihnen die Europäer seit Jahrzehnten gepredigt hatten. Sie waren dafür gestorben. Keine Hand hatte sich um sie gerührt. Tschun konnte es nicht begreifen, daß die Fremden das zugelassen hatten. Aber warum hatten sie nicht eingegriffen? Wollten sie etwa gar nicht das Beste Chinas, wie sie doch immer zu tun vorgaben? Tschun mochte ihnen das nicht zutrauen, obgleich sein erster, unbedingter Glaube an die Fremden und ihre Weisheit freilich schon manche Erschütterung erfahren hatte. – Nein, eigentlich weise waren sie nicht. Und in diesem Mangel an Weisheit, diesem Nichtwissen von den inneren Zusammenhängen zwischen den geschehenen Dingen und ihren künftigen Folgen, lag vielleicht hier, wie so manches anderemal, der letzte Grund ihrer scheinbar unerklärlichen Handlungsweise. Tschun fühlte an jenem Morgen dunkel, daß eine ganz einzige Gelegenheit
Aber es waren dies Tage, die niemandem Muße ließen zum Grübeln über die Geschehnisse des Gestern, weil ja jedes Heute allzuviel Neues brachte. Dafür sorgte schon Tzü Hsi. Ihrem Rachedurst hatten das Blut der Hingerichteten und die Tränen so mancher anderen, die verbannt und entehrt worden, offenbar noch nicht genügt. Ihre Seele hungerte nach höherem Opfer. Und die greise »Pekinger Zeitung«, die schon das Kommen und Gehen so vieler Menschengenerationen berichtet, begann zu melden, daß der Kaiser Kwang Hsü schwer erkrankt sei. Alle Chinesen wußten,
»Der Himmelssohn lebt der Gnadenreichen viel zu lange,« flüsterte man in den Teehäusern. »Sie hatte ihn ja gerade wegen seiner Schwächlichkeit für die Thronfolge ausgesucht.« – »Sie hat schon einen neuen Kaiser in Aussicht genommen, ein kleines Kind ist es, dann führt sie die Regentschaft wieder auf viele Jahre.«
Aber für den armen jungen Kaiser, den doch eigentlich niemand gekannt, weil er auch schon vor seiner Gefangennahme, strenger noch als von den purpurnen Mauern der verbotenen Stadt, durch tausend uralte Etikettevorschriften von der Welt abgeschlossen gewesen war und nur wie ein Phantom hatte regieren dürfen – für die Rettung dieses Kaisers regten sich jetzt manche Hände.
Tzü Hsis Antwort auf all das war ein Edikt, das die Absetzung des Taotai von Schanghai verkündete. Der mächtige Vizekönig des Südens dagegen war ein zu unabhängiger Satrap, als daß sie wagen mochte, sich in diesem Augenblick mit ihm zu messen. Da würde die Zeit vielleicht Rat schaffen. Einstweilen mußte sie sich begnügen,
Auffallend war, in wie übertriebener Darstellung der fremden Gesandtschaft sehr bescheidener Schritt zugunsten des Kaisers zur Kenntnis des großen Publikums kam. Absichtlich aufreizende Ausstreuungen mußten da gewirkt haben. Man führte sie zurück auf den zunehmenden Einfluß Kang yis, den schon die bloße Gegenwart der Ausländer in Peking eine mit ungeduldigem Haß ertragene Demütigung dünkte. – »Die Anmaßung der Fremden, ihre Einmischungen in unsere Angelegenheiten werden immer unerträglicher,« sagten Leute vom Schlage des alten
Immerhin erreichten die verschiedenen Fürsprecher doch so viel, daß eine Verschlimmerung im Befinden des Kaisers einstweilen ausblieb. Ja, er wurde sogar gezeigt. Am Tage, da im Mondtempel die alljährlichen weißen Opfer an Perlen, Seide und Stieren vom Himmelssohn selbst im Namen des ganzen Volkes dargebracht werden müssen, ward Kwang Hsü, bleich und schattenhaft, von seinem Inselgefängnis aus hingetragen. Ein ungeheures Aufgebot von Palastwächtern und Soldaten umgab die gelbe kaiserliche Sänfte. Für ein Ehrengeleit konnten sie gelten und waren doch lauter Kerkermeister.
Als sich in der Gesandtschaft die Nachricht verbreitete, daß die Taitai zur Audienz bei der Kaiserin geladen sei, empfand Tschun ein ähnliches Gruseln wie damals im Tempel, als er zusehen mußte, wie seine Herrin lachend den greulichen
»Was gibt es, Tschun?« frug die Taitai, die sich gerade von Madame Angèle ihre schönsten Kleider hatte bringen lassen und prüfend erwog, welches für die Audienz wohl am geeignetsten sein dürfte.
»Ich wollte Euch bitten, Taitai,« stammelte Tschun, »geht nicht zur Kaiserin! tut das nicht!«
Die Taitai sah ihn starr an. »Nicht dabei sein, wo hier endlich mal was Amüsantes passiert!« rief sie. »Ja, und warum denn?«
»Sie ist böse, böse,« sagte Tschun. »Denkt, was ich von ihr gesehen habe, und was sie seitdem alles getan hat. Ihr gehört nicht dahin! Sie ist böse, böse!«
»Und wenn sie Euch was Schlimmes antäte?« entgegnete Tschun.
Aber da richtete die Taitai ihre Gestalt, die in der Mitte so merkwürdig dünn war, ganz hoch auf, warf den Kopf empor, blickte geringschätzig aus den seltsam hellen Augen und sagte von oben her: »Du bist wohl nicht recht klug, Tschun! Eure Kaiserin wird schon nicht vergessen, was sie den Frauen fremder Vertreter schuldet.« Und dann setzte sie hinzu: »Ich glaube überhaupt, Ihr malt sie ein bißchen schwarz. Ihr bloßer Wunsch, uns zu empfangen, zeigt ja, daß sie gar nicht so fremdenfeindlich sein kann.« –
So mußte denn Tschun mit ansehen, wie an einem bitterkalten Wintermorgen all die bevorzugten
Und Tschun dachte: Nein, weise sind diese Fremden wahrlich nicht. Eher gleichen sie den
So war die kurze Aera der Reformen mit einem Feste endgültig begraben worden. Und unter den Fremden ward es bald üblich, von Tzü Hsis Staatsstreich und seinen blutigen Folgen als einem kleinen, rasch erledigten kaiserlichen Familienzwist zu reden, der durch die Unüberlegtheiten des krankhaft erregten Kaisers hervorgerufen worden sei.
Wer aber, wie der Vetter Sin schen, ins Haus Li lien yings oder zu anderen Vertrauten Tzü Hsis kam, der mochte dort ein Echo des spöttischen Kicherns vernehmen, das die Leichtgläubigkeit und Lenksamkeit dieser fremden Teufel der Gewaltigen entlockten. Die drei kardinalen Regierungstugenden, Wohlwollen zu simulieren, Niedrige als Gleichstehende zu behandeln und reiche Geschenke darzubieten, – die der alte Philosoph Chia yi der Han-Dynastie einst zu erfolgreicher Behandlung der Hunnen empfahl, hatte sie diesen moderneren Barbaren gegenüber angewendet.
Und wirklich ward den Sehenden bald bewußt, daß irgendwelche Ereignisse sich vorbereiteten. Kommende Dinge lagen in der Luft. Die christlichen Chinesen fühlten es, die Missionare im Innern sahen die Zeichen und begannen ihren Oberen davon zu berichten. Aber die Fremden im Pekinger Gesandtschaftsviertel merkten einstweilen
Der Schwarm der Konzessionenjäger, den die Ereignisse des Staatsstreichs einen Augenblick aufgescheucht hatten, war wieder über Peking niedergegangen, gleich wie hungrige Vögel in ein überreifes Kornfeld einfallen. Sie bestürmten die Gesandtschaften, und die Boys hatten bei den Ta-jens immer neue Herren zu melden, die in ihren verschiedenartigen Bestrebungen unterstützt sein wollten. Ja, das Wettrennen war wieder in vollem Gange! Und wenn Tschun jetzt im Arbeitszimmer des Gesandten Soda und Whisky
Es waren alles noch dieselben Worte, die Tschun zuerst so verheißungsvoll aus der Welt der Fremden entgegengeklungen hatten, und die ihm beinahe wie unfehlbare Beschwörungsformeln gegen alle Uebel erschienen waren – und doch war da irgend etwas verändert. Lag es an den gepriesenen Dingen und ihren Befürwortern, lag es an ihm selbst? – Er wußte es nicht, fühlte nur, daß er nicht mehr so zuversichtlich wie einst an all das glauben konnte. Aus den Tagen nach dem Staatsstreich mußten seine ersten leisen Zweifel wohl herstammen, oder von noch früher? Er suchte sich zu erinnern. Und wußte schließlich nur noch das eine: diese fremden Menschen vertraten in Stunden der Gefahr nicht unbedingt das, was sie doch vorher selbst empfohlen hatten. Da lag die Frage nahe: durfte man ihnen und ihren Ratschlägen überhaupt so ganz blind vertrauen?
Während nun aber die Herren gewohnter Arbeit also oblagen, erfüllten die Damen ebenso gewohnheitsgemäß, was sie die gesellschaftlichen Verpflichtungen nannten. Die hätte der oberflächliche Beobachter freilich für Vergnügen halten können, aber Tschun wußte es besser, denn er hatte ja oft die Taitais seufzend erklären hören: »das sei erst recht Arbeit«. Auf alle Fälle aber trugen Ernst und Spiel den gleichen Charakter des Stereotypen, und über die Einförmigkeit von beidem wurde von den Fremden viel geklagt.
Neben der Präokkupation um all diese immer wiederkehrenden Aufgaben des Alltags gab es
Aber, grübelte Tschun, was mochten dort die Gesandten wohl für Geschäfte haben? In Europa waren ja alle Menschen Christen, da wurden also keine Missionare massakriert und bedurften keines besonderen Schutzes. Und da all diese verschiedenartigen Fremden sich darin glichen, daß sie China gegenüber nicht nur als Verkäufer und Unternehmer auftraten, sondern daß auch ein jeder China immer vor den Erzeugnissen aus der Heimat des anderen warnte, so kauften sie sich untereinander sicherlich nichts ab. All jene Tätigkeit der Gesandten in Peking, die im Anpreisen eigener Lieferanten bestand, mußte also dort wegfallen.
Gerade in dieser Zeit hörte Tschun wieder mal besonders viel von Versetzungsmöglichkeiten reden. Es hieß, daß bald ein sehr schöner Posten irgendwo frei werden sollte, und daß der Ta-jen ihn vielleicht erhalten würde. Von Madame Angèle wußte Tschun, daß der Ta-jen und die Taitai, die sonst über alle Dinge entgegengesetzter Ansicht waren, hier einmal den Wunsch, auf jenen Posten zu kommen, beide gleich heftig hegten, und daß sie auch fänden, sie hätten Ansprüche darauf. Aber vor seinen Kollegen tat der Ta-jen doch scheinbar bescheiden abwehrend: »Solche Auszeichnung würde weit über seine schwachen Verdienste gehen,« antwortete er feierlich auf eine Frage. Die vielen jungen Herren, die die Taitai stets umschwirrten, besonders aber der hübsche, weiße, schienen alle ganz geknickt bei der bloßen Möglichkeit ihrer Abreise. Trauernd starrten sie bei dem Jour der Taitai in die Teetassen. Sie
Ja, mit lauter solch kleinem Tun und Trachten wurden die rasch fliehenden Stunden des Sonnenscheins gefüllt. Und niemand schien zu ahnen, daß es vielleicht die letzten sein würden. Denn über all diese, Zeit und Gedanken gefangennehmenden Dinge war keine rechte Aufmerksamkeit übrig geblieben für die Anzeichen großer, aus dem Rahmen alles bisher Erlebten heraustretender Ereignisse. Unbemerkt war das Unwetter aufgestiegen und stand nun schon dunkel und dräuend am Himmel. Mit einer kleinen Wolke in Schantung hatte es angefangen. Jetzt lag ihr Schatten schon weit über Petschili.
Seit Monaten schon hatte man ab und zu in den Gesandtschaften Kunde erhalten von Ueberfällen auf einheimische Christen und Bedrohungen europäischer Missionare, die in Schantung stattgefunden haben sollten. Aber das gehörte ja so sehr zu den alltäglichen Aeußerungen der chinesischen Volksseele, daß man es stillschweigend hingenommen
Doch dies Hoffen hatte sich nicht erfüllt. Aergere Ausschreitungen waren gefolgt: große Plünderungen christlicher Dörfer, Metzeleien ihrer Bewohner, Vertreibung, ja sogar Verwundungen von Missionaren wurden gemeldet. Auf die nun nötig gewordenen milden Vorstellungen beim Tsungli-Yamen erfolgte die Antwort, diese von der chinesischen Regierung sehr bedauerten Vorkommnisse seien auf Räuberbanden zurückzuführen, die sich in letzterer Zeit durch das große Elend stark vermehrt hätten.
Und dies klang glaubwürdig genug, denn nie noch waren die von Luft- und Wassergöttern geschaffenen Zustände dem Volkswohl so ungünstig gewesen! Dürre in den einen Gebieten, Wolkenbrüche in den anderen hatten allerwärts die Ernten vernichtet. Der Gelbe Fluß war ausgetreten und hatte, alle Deiche durchbrechend, weite Ländereien
Mit diesen offiziellen Erklärungen beruhigte man sich.
Aber nun kamen Nachrichten von den Missionaren im Innern, daß es sich bei den Ausschreitungen doch keineswegs bloß um gewöhnliches räuberisches Gesindel handle, das sich zufällig, von der Not getrieben, zusammengerottet habe, sondern daß, neben diesen, andere weit gefährlichere Scharen beständen, die wohlorganisiert seien und einen ausgesprochen fremdenfeindlichen Charakter trügen. Sie schienen alle zu einer geheimen Sekte zu gehören, die sich I ho Chüan nenne, allerhand seltsame Riten übe und die wunderliche Behauptung aufstelle, durch den Schutz übernatürlicher Mächte unverwundbar zu sein. Das Schlimmste aber sei, daß diejenigen
Das Tsungli-Yamen erwiderte auf Vorstellungen der Gesandten, Geheimgesellschaften seien bekanntlich in China seit altersher aufs strengste verboten – was eigentlich so viel bedeutete, als daß sie von altersher bestanden hatten –, wenn daher von organisierten Banden die Rede sei, so könne es sich nur um die autorisierten lokalen Dorfmilizen handeln, die eben jene Räuberbanden bekämpften. Was schließlich angebliche Ansprüche auf übernatürliche Kräfte beträfe, so seien das Kindereien, die von den Missionaren aufgebauscht würden. Das Verhalten der Beamten solle in den einzelnen Fällen untersucht werden.
Inzwischen spielten sich in den Pekinger Kaiserpalästen Ereignisse ab, die von den europäischen Beobachtern kaum bemerkt wurden, den Landeskindern aber voll unheimlicher Bedeutung erschienen.
Da nämlich der schattenhafte Kaiser Kwang Hsü schon über fünf Jahre verheiratet war, ohne daß ihm ein Erbe geboren worden, war es, altem
Die eventuelle Thronfolge erschien den Fremden als eine interne Angelegenheit der Dynastie, die kein sonderliches Interesse verdiene, um so mehr, als der Kaiser ja noch jung war. Auch kannte niemand unter den Ausländern den so plötzlich erhöhten jugendlichen Prinzen noch seinen Vater. Man wußte nur, daß dieser vor einem Menschenalter bei Hof in Ungnade gefallen sei und seitdem fast ausschließlich in der Mandschurei gelebt habe. Warum Tzü Hsi gerade diese Familie für die Eventualität der Thronfolge ausersehen hatte, war mal wieder eines der vielen chinesischen Rätsel, doch was lag schließlich daran! Aber der
Aber es hieß, nur schwer und grollenden Herzens ertrüge Tzü Hsi diese Vereitlung der unmittelbaren Ausführung ihrer Absicht. Die sie kannten, erzählten flüsternd, ihre Wut gegen den Kaiser, der es einst gewagt, gegen ihre Autorität vernichtungwollende Pläne zu schmieden, sei mit den sinkenden Monden nicht schwächer, sondern nur immer heftiger geworden; sein beabsichtigtes Vergehen erschiene ihr noch immer nicht genügend gesühnt; das Gefühl angetasteter Majestät, die Furcht, daß ihm vielleicht doch noch einmal Anhänger erstehen könnten, ließen ihr keine Ruhe. – Wenn Tschun solche Worte vernahm, malte er sich aus, wie sehr diese furchtbare Hasserin wünschen mußte, daß der Kaiser verschwände und mit ihm auch alles, was ihn beeinflußt hatte und was sie sich selbst feindlich fühlte: alles Fortschrittliche,
Bisher aber hatte es eben gerade an Waffen gefehlt, und Tzü Hsi hatte sich in ungeduldig ertragenes Abwarten fügen müssen. Doch nun endlich schien der langersehnte Augenblick gekommen. Scharen nahten, die der Kaiserin Kräfte anboten, mit denen sich jeder Kampf aufnehmen ließ! – Wenn sie sich nur als echt erwiesen? – Einstweilen, so hatte Li lien ying bedauernd geäußert, zauderte die göttliche Mutter ja noch. Aberglauben und Mißtrauen mochten in ihr, wie in jedem chinesischen Gemüt, um die Herrschaft kämpfen. – Aber Prinz Tuan hatte ja so bestimmt gesprochen. Unüberwindlich, ja sogar unverwundbar sollten diese freiwilligen Kämpfer sein! Und wahrlich lockend erschien der Gedanke, sogar übernatürliche Kräfte in den Dienst eigener Rache zu stellen. An der Grenze Petschilis standen sie jetzt schon, diese geheimnisvollen Großmessermänner. – Nun, man würde ja
So nahte das neue Jahr. Es wurde aber von allen erfahrenen Leuten vorausgesagt, daß es ein ganz schlimmes werden würde. Und es konnte ja auch gar nicht anders sein, denn sein achter Monat würde ein eingeschobener Schaltmonat sein, und das ist bei Jahren, die wie dieses das zyklische Zeichen »Keng« führen, seit altersher von unheilvollster Vorbedeutung gewesen!
Als Tschun am Morgen des ersten Tages dieses im voraus so übel beleumundeten Jahres seine besten Kleider angelegt hatte, begab er sich zuerst mit allen anderen Boys zum Ta-jen und der Taitai, um vor ihnen mit gebeugtem Knie den Ta ke u-Gruß zu machen. Dabei empfing er, wie all die übrigen, den Betrag eines Monatsgehalts, der das in Peking althergebrachte Neujahrsgeschenk der Herrschaft bildet. Es war Tschun höchst willkommen, denn er selbst hatte viel Geschenke zu machen. Sein erster Besuch galt der Mutter, vor der er sich ehrfurchtsvoll niederwarf.
In all den Häusern sah es festlich aus. Blitzblank waren die Stuben. Bei den heidnischen Familien der Verwandtschaft hatte man nachts zuvor die alten rußig gewordenen Bilder der häuslichen Schutzgötter unter allerhand Ehrfurchtsbezeigungen im Herdfeuer verbrannt und dazu gebetet, daß sie trotz aller etwa wahrgenommenen Mängel und Vergehen im Jenseits günstigen Bericht über das Haus erstatten und den Himmelsgroßvater, Thiau lao ye, veranlassen möchten, für das kommende Jahr wieder recht wirksame Schutzgötter zu senden. Da aber die Reise ins Jenseits weit ist, waren für die abziehenden Schutzgötter und ihre Pferde Proviant sowie Wasser und Heu im Hof vorsorglich aufgestellt worden. Dann hatte man die neuen
In den Zimmern standen Bretter umher, mit je vier verschiedenen Geschenken, wie es sich für eine anständige Festgabe ziemt. Die großen roten Visitenkarten der Spender, mit einer Liste der gesandten Dinge, lagen darauf. Auch Tschun hatte seine Angebinde geschickt: ein paar Lichter, Schweinefleisch, eine Schale Lotoskerne und ein Paket Nudeln, deren Länge eine Anspielung auf die Länge des Lebens bedeutete, die er den Empfängern wünschte.
Beim alten Großonkel Lin te i fand er Kuang yin sowie die meisten Verwandten versammelt. Auch sein einstmaliger Lehrmeister, Yang hung, mit dem er sich aber längst wieder versöhnt hatte,
Aber trotz aller Geschenke und Zeremonien wollte keine Feststimmung aufkommen, und das Gespräch ging immer wieder auf das Thema über, das alle beschäftigte – und das war, wie schlimm doch die Anzeichen für dies eben begonnene Jahr sich anließen.
Zu allen schon umlaufenden Gerüchten brachte der Vetter Sin schen von einem Besuch in Li lien yings Hause noch eine unheimliche Kunde: »Der bisherige Gouverneur von Schantung, Yü Hsien, ist in Peking eingetroffen,« erzählte er. »Die
»Da sehen freilich alle Beamten, woher der Wind weht,« murmelte Kuang yin, indem er die Asche von seiner Zigarette streifte, »und keiner wird mehr den Mut haben, diesen Mordbrennern entgegenzutreten.«
»Aber wer beeinflußt denn die göttliche Mutter so, daß sie diesen schrecklichen Leuten ihren Schutz leiht?« fragte ein Vetter mit ängstlicher Stimme.
Und Sin schen antwortete leise: »Oh, da gibt es sehr große Herren, die der Bewegung wohlwollen, Li lien ying selbst erwartet Wunderdinge von ihr, und er rät der göttlichen Mutter, sie gewähren zu lassen.«
Die Verwandten hörten ihm staunend zu. Wang pao aber, der sich vor Sin schen auch einmal hoher Beziehungen rühmen wollte, fuhr fort: »Ihr könnt mir glauben, daß es so ist. Ich habe es aus der unmittelbaren Umgebung Yung Lus. Der scheint beinah der einzige zu sein, der klaren Blick bewahrt hat und die Kaiserin davor warnt, sich nicht auf diesen Schwindel der Großmessermänner einzulassen.«
»Wie ist es überhaupt möglich, den Unsinn, den die behaupten, ernst zu nehmen!« meinte Kuang yin geringschätzig.
Aber da fiel der alte Yang hung ein: »Redet nicht so verächtlich! denn es gibt höchst ehrenwerte, glaubwürdige Leute, die versichern, die Großmessermänner geböten tatsächlich über unerklärliche Kräfte.« Und geheimnisvoll flüsternd
»Na, den Kugeln der Fremden würde ihre Haut schwerlich standhalten,« murmelte Kuang yin. Doch niemand achtete auf seinen Einwand, so gespannt lauschten sie alle auf des alten Yang hungs sonderbare Erzählung. Mit Ausnahme von Wang pao schienen die heidnischen Zuhörer alle völlig von der Wahrheit seiner Worte überzeugt, und auf ihre Art glaubten auch die Christen daran, sie erinnerten sich der Geschichten von den Besessenen in der Bibel und bekreuzigten sich rasch im Gedanken an diese neuesten Offenbarungen des Teufels.
Yang hung aber fuhr fort: »Wir werden es vielleicht alle bald selbst sehen können, denn sie sollen gar nicht mehr so weit von Peking sein. Sie
Der alte halb blinde Großonkel Lin te i nickte beifällig, und sein runzliges Gesicht glich dabei der verhuzelten Haut einer zusammengeschrumpften getrockneten Feige. Mit zitternder Stimme sagte er: »Ganz Aehnliches wird in den Annalen der Han-Dynastie von den gelben Turban-Insurgenten erzählt, die auch unter dem besonderen Schutz des sagenhaften Nephritkaisers Yü Huang standen, und seitdem sind immer wieder solche geheime Gesellschaften erstanden. – Vor vielen Jahren, als ich noch jung war, gab es in Schensi eine Sekte, die genau dieselben Wunder vollbrachte. Aber damals kam es zu nichts Entscheidendem. – Nun, ich freue mich, das Kommen dieser wackeren Großmessermänner noch zu erleben! Möchte es ihnen doch endlich gelingen,
Niemand widersprach ihm, nicht einmal der bei den Fremden bedienstete Kuang yin, und Tschun schwieg, wie es seiner Jugend ziemte. Nur Wang pao erwiderte: »Das ist alles ganz gut und schön, aber auf jeden Fall würden dabei auch viele von uns selbst mit umkommen, und viel guter chinesischer Besitz ginge zu grunde.«
»Das mag sein,« sagte Lin te i gleichmütig, »aber damit muß man sich abfinden. Der Weise sagt: wenn aus dem Berge Kun Lun Feuer sprüht, wird kostbarer Nephrit mit wertlosem Gestein zugleich vernichtet.«
Plötzlich sprach man dann auch in den Gesandtschaften von den nahenden Großmessermännern. Man nannte sie »Boxer«. Niemand
Aber die Taitai sollte solches Schutzes gar nicht bedürfen, denn der Ta-jen erhielt ein Telegramm, das ihm nun wirklich seine Versetzung auf den so begehrten Posten ankündigte und ihm gleichzeitig anbefahl, sich möglichst rasch an seinen neuen Bestimmungsort zu begeben.
Sobald die Nachricht bekannt geworden, kamen alle Mitglieder der Gesandtschaft, dem Ta-jen und der Taitai zu gratulieren, denn es war ja eine sehr ehrenvolle Ernennung, und auch die anderen Fremden erschienen, ihnen zu der Auszeichnung Glück zu wünschen. Aber Tschun fand, daß manche dabei recht süß-saure Gesichter machten. An der Aufrichtigkeit der Gefühle der
Es ging nun an ein großes Packen. Tischler machten Kisten, in denen die Möbel verschwanden. Madame Angèle faltete mit kummervollem Gesicht Berge von chinesischen Seiden und Stickereien. Und die Boys wickelten von früh bis spät all die vielen Porzellane, Bronzen, Elfenbeinund Nephritnippes ein, die der Ta-jen und die Taitai in Peking gesammelt hatten und zu denen sie in aller Eile noch immer mehr hinzukauften. Die chinesischen Kuriositäten schienen das einzige zu sein, was sie jetzt noch an China interessierte, mit all ihren Gedanken lebten sie offenbar schon
»Ach, das sind Ausflüchte,« sagte die Taitai ärgerlich, »wenn Ihr Chinesen etwas nicht tun wollt, habt Ihr immer kranke Mütter.«
Ueber Tschuns junges Gesicht glitt das uralte, leise überlegene und zugleich nachsichtige Lächeln seiner Rasse, womit Ostasiaten antworten, wenn Leute kindlich unerfahrener Völkerschaften sich einbilden, sehr schlau zu sein und sie zu durchschauen.
»Die Taitai weiß alles,« antwortete er ehrerbietig, »aber diesmal ist es doch wirklich so, wie ich sagte.«
Und er sprach die Wahrheit, denn seit Neujahr war die Mutter tatsächlich noch viel hinfälliger geworden.
Auch der alte Bischof kam, um dem Ta-jen und der Taitai Adieu zu sagen. Er sah sorgenvoll aus, und Tschun hörte ihn beim Tee sagen: »Ich
»Wirklich? Doch nicht etwa wegen dieser Boxer?« frug der Ta-jen mit höflich unterdrücktem Unglauben.
»Ja,« sagte der Bischof, »ich weiß wohl, daß es zum guten Ton gehört, über sie zu spotten, aber ich sehe in ihnen eine furchtbare Gefahr.«
»In ihrer vermeintlichen Unverwundbarkeit?« frug die Taitai lächelnd.
»Nein, natürlich nicht in ihr,« antwortete der Bischof, »aber weil so blind an sie geglaubt wird. Dieses abergläubische Zutrauen hat schon die weitesten Kreise erfaßt und fanatisiert, und es wird sie, in der Zuversicht auf Gelingen, zu den wildesten Taten hinreißen.«
»Aber die Autoritäten können doch nicht so verblendet sein, das zuzulassen?« entgegnete der Ta-jen. »Sie werden sich im entscheidenden Augenblick wirklich schlimmen Ausschreitungen
»Die Autoritäten werden im entscheidenden Augenblick vielleicht gar nicht mehr können, wie sie wollen,« sagte der Bischof bedächtig. »Die Kaiserin soll ja zwar noch immer schwanken zwischen dem Einfluß der wenigen Vernünftigen, wie Liu ku nyi und Yung Lu einerseits und Prinz Tuan, Kang yi und den zahllosen sonstigen Boxergenossen andererseits. Ihre persönlichen Wünsche und Sympathien sind aber unzweifelhaft bei den letzteren. Und dazu kommt noch etwas, das, meiner Ansicht nach, bei ihr ausschlaggebend sein wird: durch die letzten Boxerproklamationen, die mir von meinen Missionaren zugegangen sind, geht nämlich ein Ton der Anklage gegen die Dynastie; sie wird für das ganze Elend des Landes und seine korrupten Zustände, vor allem aber auch für die Gebietsabtretungen an auswärtige Mächte verantwortlich gemacht. Es
Andere Besucher kamen, und des Bischofs Ausführungen wurden unterbrochen. Aber sie mußten doch einen gewissen Eindruck auf den Ta-jen gemacht haben, denn später erzählte er
»Ach, Exzellenz,« antwortete der Sekretär, »es ist ja ganz klar, daß der Bischof nur deshalb so schwarz sieht, weil all die Ausschreitungen sich gegen die Missionare und die von ihnen beschützten Konvertiten richten. Das Christentum ist nun mal in China nicht beliebt, und eigentlich kann man sich kaum darüber wundern, denn die ehrwürdigen Herren mischen sich zu sehr in die irdischen Angelegenheiten ihrer chinesischen Gläubigen und wollen ihnen allerhand Begünstigungen sichern, um ihnen zu beweisen, daß ihre Religion nicht nur fürs Jenseits vorteilhaft ist. Darüber kann man ja die chinesischen Behörden
»Gewiß, gewiß, Sie haben sicher recht,« sagte der Ta-jen, der geglaubt hatte, aus Gewissenhaftigkeit sprechen zu müssen, in Wirklichkeit aber nur zu froh war, die Seite des Lebensbuches, auf der das Wort China stand, nun endgültig umwenden zu dürfen.
Dann kam der Tag der Abreise. Früh schon standen die beiden grünen Sänften bereit, in denen der Ta-jen und die Taitai so oft, sei es zu langwierigen Verhandlungen ins Tsungli-Yamen, sei es zu mehr oder minder kurzweiligen Gesellschaften getragen worden waren, und die sie nun zum letztenmal für den Weg zur Station besteigen sollten. Früh auch waren alle Trabanten der Taitai zur Stelle, mit Blumen in den Händen, Abschiedsschmerz im Herzen und hohen gelben Stiefeln an den Füßen, um der scheidenden Angebeteten reitend das Geleit zur Eisenbahn zu geben.
Im selben Augenblick aber ertönten laute, langanhaltende Salven von Feuerwerk und Schwärmern, vor denen zu fliehen eine der Eigentümlichkeiten chinesischer böser Geister sein soll, und die daher bei Abreisen stets in reichlichem Maße abgebrannt werden. Der unmittelbar sichtbare Erfolg war indessen, daß die Ponies der jungen Herren zu scheuen und schlagen begannen, um dann im Galopp mit ihren Reitern
In Maultierkarren folgten die Boys mit dem Gepäck. Tschun saß auf dem Schaft des Wagens, in dem Madame Angèle mit Tin chau fuhr. Die stets Kummervolle schien beinahe lustig, so froh war sie, Peking zu verlassen.
»Mein armer Tschun,« sagte sie, »ich glaube, Du hast unrecht getan, nicht mit uns kommen zu wollen. Heute nacht träumte mir, ganz Peking brenne. Es sah aus wie Paris während der Kommune.«
Während sich Madame Angèle noch in allerhand düsteren Prophezeiungen erging, starrte Tschun vor sich hin in die Straßen. Gedankenlos zuerst, dann aber mit plötzlich erwachter Aufmerksamkeit. Denn es wollte ihm scheinen, als sei die Menge in den Straßen anders als sonst. Nicht mit dem gewohnten gleichgültigen Stumpfsinn schauten die Leute dem Zug der Fremden nach, sondern etwas ausgesprochen Feindliches lag heute in all den kleinen, tückischen Aeuglein.
Am Hatamen herrschte arges Gedränge. Fuhrwerke und Fußgänger hatten sich in dem tiefen Torweg gestaut. Der Maultierkarren mußte halten. Von dem vorwärtsdrängenden Gewühl wurden zwei wild aussehende Leute dicht herangeschoben, und Tschun hörte den einen sagen: »Da flüchten einige der fremden Teufel,« worauf der andere antwortete: »Die übrigen werden wir rasch genug ins Jenseits befördern.« Dann wandte sich der erste direkt an Tschun: »Du gehörst wohl auch zu ihnen? Hüte Dich, Euch Teufeln zweiten Grades, die Ihr zu den Fremden haltet, wird's am schlimmsten gehen.« Doch nun hatte sich das Knäuel gelöst, das Maultier zog an, und es ging weiter auf langer, breiter Straße, an dem Himmelstempel vorbei, bis hinaus zum Bahnhof.
Da standen schon wartend viele Freunde der Reisenden. Man sagte sich Adieu und sprach von Wiedersehen auf anderen Posten. Viel gute
Der hübsche weiße Herr streichelte das Hündchen Tin chau zum Abschied. »Du hast es besser als ich,« sagte er, indem er es der Taitai in den Waggon hinaufreichte. Der böse Herr sah dem zu, mürrisch und zugleich schadenfroh, als dächte er: Sehe ich sie nicht, siehst doch auch Du sie nicht mehr. –
Dann pfiff die Lokomotive, Hüte und Taschentücher wurden geschwenkt, die Boys beugten zum letztenmal das Knie vor der scheidenden Herrschaft. Der Zug setzte sich in Bewegung: langsam zuerst. Einige der jungen Herren liefen noch ein Stückchen am Waggon mit, aber schneller und schneller drehten sich die Räder und führten die Taitai davon; fort aus dem Bereich der hohen finstern Pekinger Stadtmauern und seiner dräuenden Türme – hin zu neuen Städten, wo vieles ganz anders sein
Tschun zog nun wieder zu seiner Mutter, denn er und die anderen Boys hatten vorläufig keine Beschäftigung in der Gesandtschaft; nur Kuang yin sollte darin verbleiben und das Haus hüten, in dem die Taitai einst gewohnt. Die übrigen warteten und hofften später in die Dienste des künftigen Gesandten zu treten.
Tschun begleitete jetzt manchmal die Mutter, wenn sie in den Petang ging, um sich bei der Schwester Apothekerin Rat und Arzneien zu holen. Es war nicht mehr dieselbe, die einst, als Tschun ein ganz kleiner Junge gewesen, das Loch an seiner Stirn verbunden hatte. Aber eigentlich hätte es dieselbe sein können, so gleich war beider Art. Auch sie hatte dieselbe ruhige Güte, den unerschütterlichen milden Gleichmut gegenüber den trübsten Seiten des Lebens. Und
Einzig der weise alte Bischof schien die Dinge zu sehen, wie sie wirklich waren. Ihm strömten die Nachrichten aus tausend Quellen zu; von den bedrängten Missionaren im Innern, von den vielen Christen, die aus ihren Städten und Dörfern vor den Boxern hatten fliehen müssen, und die nun anfingen, scharenweise nach Peking einzuströmen, um sich ganz selbstverständlich nach dem Petang zu wenden und ebenso selbstverständlich dort aufgenommen zu werden. Sie füllten schon ganze Abteilungen des weiten umwallten
Wenn Tschun in den Petang kam, unterhielt er sich mit den Geflüchteten, und ein Gruseln überkam ihn bei ihren Schilderungen von den Boxern – ähnlich wie vor Jahren, als er zuerst von der alten Kaiserin hatte erzählen hören. Dasselbe Grauen empfand er, das doch zugleich auch eine unheimliche Anziehung enthielt. – Er streifte jetzt oft in der Stadt umher, in einer seltsamen Stimmung erwartungsvoller Unruhe. Und dies Gefühl nahenden Weltuntergangs, vor dem noch irgendetwas zu beginnen nicht recht lohne, schien viele erfaßt zu haben. Die Straßen
Manchmal aber floh Tschun aus dem bedrückenden Gewühl der heißen staubigen Straßen hinauf auf die hohe breite Stadtmauer, wo die seltsamen astronomischen Bronzeinstrumente standen. Dort oben war es still nach dem Lärmen drunten und reinere Lüfte wehten. In der maßlosen Dürre des Jahres waren aber sogar die Dornensträuche und Unkräuter vertrocknet, die sonst hier zwischen den Fugen der Steine wuchsen. Ungestört konnte man da lange Stunden verbringen, um die ganze weitausgedehnte Stadt herumgehen oder, an die Brüstung gelehnt, auf sie hinabstarren und den Schicksalen nachträumen, die in tausendjähriger Geschichte, seit den Zeiten, wo hier einst ein erstes, großes Zeltlager entstand, über diesen Erdenfleck hingegangen sind.
»Ja, ja,« nickte der hagere Alte, »jetzt entsinne ich mich wieder ganz genau. Aber ganz groß und erwachsen bist Du inzwischen geworden! Nun, und jene Fremde, bei der Du damals in Dienst warst, hast Du sie verlassen?«
»Nein, heiliger Mann, ich verließ sie nicht, aber sie ist weit fortgereist,« antwortete Tschun traurig.
»Nun, wenn dem so ist und Du es gut mit ihr meinst, so freue Dich dessen für sie,« sagte der Einsiedler, »denn«, fuhr er fort und wies dabei mit magerem Arme hinab auf die Stadt in der Richtung des Gesandtschaftsviertels, »über die Handvoll Menschen, die dort wohnen, wird bald ein schlimmes Unwetter niedergehen.«
»Das fürchte ich auch,« sagte Tschun, »aber sie sehen es nicht.«
»Sie sind blind, wie alle sein müssen, denen das kleine tägliche Tun so wichtig erscheint, daß sie das große stille Nachdenken darüber vergessen,«
»Und wie endete es dort?« frug Tschun angstvoll.
»Ach,« antwortete der Alte kummervoll, »das ist ja gerade das Verhängnis: es endete gar nicht; es setzte das Rad des Geschehens auf unabsehbare Zeit ins Rollen. Ganz wie es auch hier sein wird.« Und dann, Tschuns bestürzt verwirrten Ausdruck gewahrend, setzte er mit einer gleichgültigen Gebärde hinzu: »Meinst Du aber etwa nur die augenblicklichen äußeren Folgen: nun, damals blieben schließlich die
»So glaubt Ihr natürlich auch nicht an die Wunder der I ho Chüan?« sagte Tschun erfreut über des Alten tröstliche Prophezeiung.
»Ich glaube an viel größere Wunder,« antwortete der Einsiedler ernst, »und in meinem Lande könntest Du heilige Männer sehen, die, in tiefer Weltabgeschiedenheit, viel schwierigere und rätselhaftere Dinge zu vollbringen imstande sind – aber zu solchem Tun, wie diese wilden Horden hier vorhaben, leihen die Ueberirdischen nicht ihre Kräfte.«
Wieder versank der Alte in träumendes Sinnen. Doch Tschun, den nach Tatsachen dürstete, frug nach einer Weile: »Aber sagt mir, heiliger Mann, wie kommt es, daß Ihr selbst jetzt bei beginnendem Sommer hier in der Stadt seid? Ich dachte, da wärt Ihr längst draußen in Eurem Tempel?«
»Ich war auch schon hinausgezogen in die Berge,« antwortete der Alte, »aber es ist ja niemand
»Niemand mehr dort?« wiederholte Tschun erstaunt.
»Viele der Mönche und Priester haben die Tempel verlassen,« erzählte der Inder, »sie ziehen mit den Aufrührern und feuern sie an zu ihren schlimmen Taten – ach, was sind das für Zeiten, wo heilige Männer zu solch verruchten Dingen aneifern, statt einzig das Versenken in sündlose Beschaulichkeit zu lehren.«
»Ja, aber die Dorfleute? und vor allem Mahan?«
»Ach siehst Du, die sorgten für mich in den guten Jahren, wo sie genug Regen hatten, weil sie sich eingeredet hatten, den schicke ich ihnen aus den Wolken, die ja so oft mein Tempelchen oben auf der Bergspitze ganz dicht umhüllten. Aber es will ja schon lange gar nicht mehr regnen, und die Dürre dies Jahr ist schlimmer denn je zuvor. Dadurch sind viele Menschen arm geworden, und
Er beschrieb dem Alten die Lage seines Häuschens. Dann trennten sie sich. Und während im Westen die Sonne mit blutrotem Scheine in den dichten Staubdunst sank, der über der endlosen Ebene lagerte, stieg Tschun den Weg von der Mauer hinab zu der dämmernden Stadt. Unten in den Straßen drängten sich die Menschen um die offenen Garküchen, deren brodelnde Gerichte einen scharfen Geruch von brenzligem Fett verbreiteten. Herumziehende Verkäufer boten ihre Waren mit weithin hallenden Rufen aus. Tschun aber schob sich eilend durch das Gewühl der Leute, denn er sollte noch zu Sin schen kommen.
»Oh, wer das auch könnte!« riefen die Alten.
Sin schen antwortete: »Zur Kaiserin kann ich Euch freilich keinen Eintritt verschaffen, aber
Und dann wandte er sich an Tschun:
»Dich habe ich eigentlich deswegen rufen lassen, damit Du es siehst und Dich davon überzeugst, daß es mächtigere Geister gibt wie diesen Gott der Fremden, der nichts Besseres vermochte, als sich kreuzigen zu lassen. Es täte mir leid um Dich, wenn Du bei dem kommenden Kampf auf seiner Seite ständest, denn er wird seinen Anhängern nicht gerade viel helfen können.« –
Den beiden Alten glänzten die Augen vor Erregung; sie waren sofort bereit, das wunderbare Schauspiel zu besuchen. Auch Tschun entschloß sich, mitzukommen. Die unheimliche Anziehung war doch größer als das Grauen. Ein Maultierkarren wurde herangeholt, und so fuhren sie schnell davon.
Eine erhöhte Estrade war in dem weiten Hof errichtet. Ein kleiner Altar erhob sich in der Mitte. Räuchergefäße standen darauf und Götzenbilder. An beiden Seiten der Estrade befanden sich die Sitze der besonders bevorzugten Gäste. Die wurden nun hingeleitet. Man stellte rote Laternen auf, denn es fing an zu dunkeln. Tschun mußte plötzlich an die Nacht denken, die er einst im Hof des Sommerpalastes zugebracht
»Man hätte den fremden Teufeln nie gestatten sollen, sich bei uns niederzulassen.« »Sicher nicht, das war ein großer Fehler.« Wir waren eben viel zu nachsichtig gegen sie, und sie haben diese Nachsicht für Schwäche gehalten und haben sie mißbraucht.« »Und den ärgsten Fehler hat der Kaiser Kangschi begangen, als er ihnen erlaubte, ihre Religion bei uns zu verbreiten.« Wir brauchen sie nicht, diese Barbaren, die die Lehren unserer Weisen nicht kennen und unsere Sitten mißachten.«
Doch jetzt öffneten sich die Tore einer großen Halle, die im Hintergrund den Abschluß des Hofes bildete. Man sah, daß es drinnen von Menschen wimmelte.
»Da sind sie! Da kommen die I ho Chüan!« ging es durch die Menge.
»Das sind Geister,« hörte Tschun dicht neben sich einen derer murmeln, die sich beständig durch die Reihen schoben. »Sie bahnen den I ho Chüan den Weg! Sie wissen, ohne zu sehen, wo große Teufel und Teufel zweiten Grades sich verbergen! Zu ihren Häusern werden sie durch tiefste Nacht die I ho Chüan führen! Sie werden die Stellen bezeichnen, wo die Feuer entzündet werden müssen!«
Eine unheimlich gefährliche Rotte bildeten die schaurigen Gestalten, obschon sie als Waffen nur große Messer, Knüppel und einige veraltete Büchsen bei sich führten. Unheimlich durch den grausam-stieren Ausdruck ihrer teuflisch verzerrten
Dumpfe Gongschläge dröhnten, als sie auf der Estrade anlangten. Räucherkerzen glommen und vermischten schwelend ihren benebelnden Duft mit dem Geruch von Staub, Fett, Knoblauch und heißen Menschenleibern, der über dem dichtgefüllten Hof, ja über der ganzen Stadt in beklemmender Dunstschicht lagerte. Und nun warfen sich die I ho Chüan vor dem Altar nieder, dreimal den Boden mit den rotumwundenen Köpfen berührend. Dann sprangen sie auf, und man hörte sie mit rauhen Stimmen ihre Beschwörungsformeln rufen. Tschun horchte angestrengt; er unterschied einzelne Worte: »A Mi T'o Fo, ich lade Dich ein! Heilige Mutter der drei Genien! Ehrwürdiger Weiser des südlichen Meeres! Genius der Pfirsichblüten! General Schildkröte, General Schlange, General mit der diamantenen Krone und Ihr achthundert höchste Geister! Ihr Millionen Gespenstersoldaten, die
Sie wollten noch weiter reden, aber in der Menge entstand ein ungeduldiges Murmeln: »Die Proben! Die Proben!«
Nun traten einige der Sektierer dicht an den Rand der Estrade, entblößten die mageren Oberkörper, ergriffen bereitliegende Steine und begannen sich damit heftig zu schlagen. Doch das genügte den Schaulustigen nicht, man kannte ja auch die scheinbar wuchtigen, in Wahrheit milden Streiche, die durch Bestechung von den Henkern zu erlangen sind. Ein Rest von Zweifel regte sich noch. »Die Schießprobe, die Schießprobe!« tönte es gierig.
Da schleppte oben ein Krieger eine der alten Flinten herbei, schüttete Pulver in den Lauf, stampfte Baumwolle hinein, dann ließ er alte Nägel und Stücke Blei folgen. Und mit der so geladenen Büchse führte er einen Tanz wilder
Und wie die oben, brüllten nun die Zuschauer unten: »Schnell! Schnell! Schießen! Schießen!«
Sie waren in einen solchen Taumel erwartungsvoller Erregung geraten, daß sie nichts mehr richtig sahen, auch nicht gesehen hatten, daß während der wilden Sprünge des Schützen, bei dem heftigen Schwingen der nach unten gehaltenen Flinte, die durch keine Baumwolle festgestopften Nägel und Bleistücke wieder aus dem Lauf herausgefallen waren. Denn der Zauber war sicherlich gut, aber Vorsicht doch noch besser. Auch Tschun hatte es nicht gesehen. Atemlos starrte er hinauf, wie der Schütze nun auf einen der von den Geistern Gefeiten zuschritt und die Flinte auf ein paar Fuß Entfernung gegen seinen
Unten verharrten sie zuerst in starrem Schweigen; dann lief es durch die Menge wie ein Brausen:
»Es ist wahr!«
»Es ist wirklich wahr.«
Durch die Reihen aber schoben sich die Emissäre und murmelten:
»Kein Zweifel, sie sind unverwundbar! Niemand vermag ihnen zu widerstehen! Sie können uns von den Fremden befreien, die unser Land stückweise fressen. Sie werden die Barbaren sicher vernichten! Dann wird der Regen wieder fallen! Und es kommen gute Zeiten! Ihr werdet alle reich!« Und dabei verteilten sie gelbe Zettel mit seltsamen Zeichen: »Das sind starke Zauber! Tragt sie bei Euch! Sie schützen!«
Auch Tschun hatte solch einen Talisman erwischt.
Der alte Bischof ließ ihn gleich vor, hörte seinem Bericht aufmerksam zu und nickte bisweilen zustimmend.
»Deine Erzählung bestätigt, was ich von anderer Seite bereits vernommen,« sagte er zum Schluß. »Die Boxer sind die tatsächlichen Herren des Landes, und wenn auch die Kaiserin ihnen jetzt noch wehren wollte, so würde nur ihre und Kwang Hsüs Vernichtung die Folge sein, und Tuans Sohn, der Ta a ko, würde sofort zum Kaiser proklamiert. Wie die Chinesen selbst über
Und endlich mußte des Bischofs Stimme oder eigene verspätete Einsicht gewirkt haben. Endlich entschlossen sich die Verblendeten, die bisher des Daseins Aufgabe nur darin gesehen, die in Europa unter ihren Ländern spielenden Eifersüchteleien auch hier draußen möglichst zu vertreten. Gemeinsame Gefahr brachte eine, wenn auch nur scheinbare und momentane Verschmelzung der sonst so entgegengesetzten Interessen. Zwar gab es noch immer solche, die sich nur widerstrebend dem allgemeinen Vorgehen anschlossen, weil sie im stillen meinten, gerade ihr Land sei in China so beliebt, daß sie persönlich, was auch den übrigen etwa drohen möge, nie etwas zu befürchten haben würden – während andere wieder ihrer mit einem fernen, unheilvollen Krieg vollauf beschäftigten Regierung gern neue Verwicklungen und internationale
Und sie kamen, die also Herbeigerufenen. Vierhundert waren es ungefähr.
Heiß und verstaubt kamen die vierhundert an, aber im übrigen schienen sie guter Dinge und froh der plötzlichen Gelegenheit, die sagenhafte Stadt Peking auch einmal zu sehen. Ohne Gedanken an Qual und Grab, die ihrer hinter den hohen dräuenden Mauern vielleicht harren mochten, zogen sie ein durch die tiefen unheimlichen Tore, schimpften nur in ihren verschiedenen Sprachen über den »verdammten Staub«. Denn bei solcher Gelegenheit, die einer kleinen internationalen Parade glich, zeigte sich doch ein jeder gern von der besten, adrettesten Seite! –
Vierhundert. Genügend vielleicht für eine nur als Warnung und Einschüchterung gedachte Demonstration gegenüber einer Regierung, die, so weltfremd sie auch sein mochte, doch immerhin einen Begriff haben mußte von den realen Machtvorräten, die hinter diesen gleichsam als Muster
Und Tschun begriff nur zu gut den spöttischen Ausdruck in manchen Gesichtern der dicht gestauten Menge, die dem Einzug der fremden Truppen scheinbar teilnahmlos zuschaute. »Warum hat man noch mehr fremde Teufel hereingelassen?« hörte er im Gedränge eine Stimme mürrisch fragen, und dann antwortete eine andere in geringschätzigem Tone: »Das ist ja ganz gleichgültig, denn was vermöchte diese Handvoll gegen die I ho Chüan, die wie Heuschreckenschwärme sind! Kein einziger von diesen kommt aus Peking je lebend hinaus!«
Von den vierhundert wurden vierzig dem alten Bischof zum eventuellen Schutz des Petang gesandt.
Tschun und seine Mutter waren bisher in ihrem Häuschen geblieben, obschon es ihm schien, daß die kränkliche alte Frau bei den Nonnen des Petang besser aufgehoben sein würde. Aber sie konnte sich nicht entschließen, das Häuschen zu verlassen, wo sie seit so vielen Jahren gewohnt.
Wirklich verliefen die nächsten Tage ohne besondere Zwischenfälle, und diejenigen, die gesagt, daß das bloße Erscheinen einiger europäischer Soldaten genügen würde, um die ganze Bewegung zu ersticken, fühlten sich schon als große Chinakenner. Aber die Chinesen wußten es besser. Wußten, daß nur der letzte endgültige Befehl noch fehlte.
Dann plötzlich ward bekannt, daß die Kaiserin aus dem Sommerpalast, wo sie, wie alljährlich, die heißen Monate verbringen wollte, ganz unerwarteterweise in die Stadt zurückgekehrt sei. Bedeutete das Krieg, bedeutete es Frieden? Niemand
Der Vetter Sin schen hatte bei Li lien ying gehört, der Ta a ko würde alle Tage anmaßender; er trete der sonst von allen gefürchteten Herrscherin neuerdings mit Keckheit entgegen, und den bleichen Kwang Hsü beschimpfe er gar »Fremdenschüler«.
Sollte die Kaiserin etwa selbst schon eine halb Gefangene in der Hand derer sein, die sie gerufen und die sie nun nicht mehr zu bannen vermochte? Bei der geheimnisvollen Abgeschiedenheit, in der der Hof hinter den purpurnen Mauern lebte, konnten Außenstehende ja nie ermessen, ob die unter den goldenen Dächern angeblich Herrschenden nicht vielleicht selbst längst schon Beherrschte waren.
Der Vetter Wang pao wollte dagegen wissen, die Kaiserin sei sehr erzürnt über die Zerstörung der Pao- ting-fu-Bahn durch die Boxer. Yung Lu habe ihr diese Nachricht in den Sommerpalast gebracht und sie noch einmal dringend vor Tuan
Doch es kam anders. Das nächste, was man erfuhr, war die Ernennung des Prinzen Tuan zum Chef des Tsungli-Yamen. Und wie um zu zeigen, welcher Geist den Fremden gegenüber nunmehr walten solle, wurden die Tribünen des den Ausländern gehörenden Rennplatzes von den Boxern in Brand gesteckt, wobei sie den chinesischen
Diese Vorkommnisse rüttelten endlich auch jene auf, die bisher fest an dem Glaubenssatz gehalten, daß die Unantastbarkeit fremder Gesandtschaftsmitglieder ein auch im fernsten Osten geltender Grundbegriff internationalen Verkehrs sei. Noch mehr wurden sie aus diesem Wahn gerissen, da, als erster der Ihrigen, ein japanischer Gesandtschafts-Kanzlist, in einem Maultierkarren durch die Straßen fahrend, von Soldaten Tung fu hsiangs ermordet wurde. Tiefste Bestürzung folgte nun auf höchste Sorglosigkeit, und der erste Gedanke war: »Ja, wenn dies alles wirklich bitterer Ernst ist, dann sind die Gesandtschaftswachen allerdings viel zu klein!« Von allen Ta-jens, so erzählten die Boys, war in wilder Hast an die verschiedenen Geschwaderchefs nach
Aber die Zeit für all das war vorüber. Die Truppen waren zwar alsobald von Tientsin aufgebrochen, aber sie langten nicht an. Die Bahn, auf der sie kommen sollten, war zerstört. Und auch die telegraphische Verbindung, die bis dahin noch bestanden, war plötzlich ebenfalls vernichtet. Gerade in diesem Augenblick, wie auf geheimen Befehl. Und das ganze Land, von den tempelbesäten westlichen Bergen und den dräuenden Mauern Pekings bis hinab zu den Sümpfen Tientsins, war erfüllt von Myriaden fremdenfeindlicher Menschen: von fanatischen Boxerhorden, mit Schwertern und Hellebarden, von modern bewaffneten regulären Truppen, die, durch jene mit fortgerissen, ihnen nun blind folgten. Dazu kamen all die durch die Dürre Verarmten, die, verzweifelnd, sich an denen
Statt dessen tönten ununterbrochen hinter den Mauern der großen grauen Stadt die Gongs und langen Trompeten der Aufrührer mit schauerlichem Dröhnen durch die Nacht. Unheimliche eherne Stimmen, die die einen zu Mord und Raub, zu Schändung Lebender und Toter einluden, und den anderen höhnisch zuzurufen schienen, daß jetzt die Stunde gekommen, wo sie mit dem Leben zahlen sollten, für eigene oder fremde Schuld und Verblendung. – Bei dem Klang erwachte das Entsetzen, schlüpfte tausendfältig aus allen dunklen Winkeln hervor, kroch, riesengroß werdend, die Rücken empor, umkrallte starke Herzen mit stärkerem Griffe,
Auch Tschun hörte die Klänge die ganze Nacht und dachte, daß es Unheimlicheres nicht geben könne, als all die Vorstellungen, die sie heraufbeschworen.
Aber dann war, was die nächsten Tage brachten, doch noch ungeheuerlicher als die Visionen, die die Angst in der Finsternis gemalt.
Die Ermordung des japanischen Kanzlisten hatte unter den Aufrührern wilden Jubel entfesselt. Der Kopf des Unglücklichen wurde, auf eine Pike gespießt, von den johlenden Horden durch die Straßen getragen, während sein Herz, aus dem Leichnam geschnitten, dem General Tung fu hsiang von seinen Soldaten stolz dargebracht worden war. »Er habe sich über diese erste Trophäe im heiligen Krieg gegen die Fremden sehr gefreut,« hatte Sin schen vernommen. – Wer aber, neben dem Miterleben der wirklichen Geschehnisse, etwa noch Zeit und Sinn für ihre offizielle journalistische Darstellung
Doch schon dürstete die Menge nach neuem Blut. Und plötzlich loderten die ersten großen Feuer auf. Allerwärts mehrten sie sich. Allerwärts sprühten Funkengarben, stiegen glühende Säulen empor. Und so dicht quoll der Rauch, daß der Himmel verschwunden schien in dieser Hölle. Nur wenige Tage und sämtliche Gebäude der Fremden, die sich nicht in dem von den Gesandtschaftswachen besetzten Gebiet befanden, standen in Flammen. Denn hier vor den Boxern da waren sie alle gleich. Gleich auch die Missionshäuser und Kirchen der verschiedenen Arten von Christentum, in dem Schicksal, das ihnen bereitet wurde. Teuflische Scharen jagten heran, Säbel und Fackeln schwingend; brüllend in wildem Tanz, mit seltsam rhythmischen Sprüngen und Kontorsionen, gossen sie Petroleum kannenweise auf alles in der langen Dürre vertrocknete
Aber während die protestantischen Missionare mit ihren Familien und Schülern sich meist rechtzeitig in ihre Gesandtschaften hatten retten können, waren die katholischen Priester und Nonnen mit ihren Konvertiten in den Klöstern geblieben. Dort fanden manche ihr Ende. Den Anfang bildete des heiligen Josephs Kirche, der Tungtang, wo, ehe es möglich gewesen, ihnen zu Hilfe zu eilen, Hunderte von chinesischen Christinnen gefoltert starben, während der Pater über einem Scheiterhaufen gekreuzigt wurde. Dann folgte die entlegene Kirche der sieben Schmerzen, Sitang benannt. Und gleichzeitig ward auch schon der Nantang angegriffen. Das war die älteste Kathedrale Pekings. Dort hatte vor über zweihundert Jahren der gelehrte Jesuitenpater Adam Schall aus Köln gelebt, so hochgeschätzt von Schun-tschi, dem ersten Kaiser der gegenwärtigen Dynastie, daß dieser ihn zu seinem Hofastronomen ernannt, ihm allezeit Zutritt zu sich
Von den nahen Gesandtschaften aus war dann aber ein Hilfezug zum Nantang unternommen worden, und wenn zwar die Kirche bereits in Trümmern lag und sogar der alte Kirchhof zerstört und geschändet worden, so war es doch gelungen, die Priester, Nonnen und einige der eingeborenen Christen noch zu retten. – Nach diesen Geschehnissen war vorauszusehen, daß die Boxer, die im Sitang ihr Werk beendet und im Nantang an seiner gänzlichen Vollendung gehindert worden waren, sich jetzt nach einem neuen Tätigkeitsfeld umschauen würden. – Zwischen jenen beiden Kirchen aber lag das Gebiet, wo sich, als letzte noch unversehrte Kirche, der Petang erhob. Dort herum wohnten auch viele einheimische Christen. – Dies Viertel sollte das nächste Ziel sein.
»Sie kommen! Sie kommen!« schrien die Flüchtenden.
In diesem Augenblick aber, wo Tschun angstvoll überlegte, was zu tun, stand plötzlich eine hohe, hagere Gestalt, in weitem Gewand und staubfarbenem Turban, vor ihm. Es war der Einsiedler vom Tempel der tiefen Beschaulichkeit. Seit der Begegnung auf der Stadtmauer war er ein paarmal so aufgetaucht, immer verfallener aussehend, und Tschun hatte ihm dann stets etwas Essen gegeben.
»Dem Himmel sei Dank, ich komme zur Zeit!« sagte der Alte atemlos. »Sobald ich hörte, daß diese Blutdürstigen sich jetzt hierher wenden wollen, lief ich auf Nebengassen her, Dich zu warnen. Augenblicklich plündern und sengen sie noch längs des Weges, aber sie werden bald hier sein. Du darfst keinen Augenblick mit Deiner Mutter säumen. Ihr müßt Euch zu Euren Priestern in den Petang retten.« Mit diesen Worten war er auch schon mit Tschun im Zimmer der Mutter. Doch diese sträubte sich: »Mag
»Dann wollt Ihr also schuld daran sein, daß Tschun hier mit Euch umkommt, denn er wird Euch nie verlassen, das wißt Ihr doch,« sagte der Einsiedler beinahe hart.
Das gab den Ausschlag. Von den beiden halb getragen, verließ die Mutter endlich ihr Häuschen. »Eilt Euch! Eilt Euch!« schrien Menschen, die in der Straße an ihnen vorüberrasten. »Sie kommen! Sie sind dicht hinter uns!«
So schnell es eben ging, schleppten die beiden die kranke Frau weiter. Nicht mehr entfernt vom Petang waren sie jetzt. Aber da tauchten hinter ihnen die ersten vereinzelten Boxer auf Sie kamen näher. Im Laufen zurückblickend, ermaß der Einsiedler, daß der Raum zwischen ihnen und jenen sich verringerte. Sie würden bald eingeholt sein. »Du mußt es möglich machen, Deine Mutter allein in den Petang zu
Der Einsiedler selbst aber drehte sich um, und mit hoch erhobenen Armen und abwehrend ausgestreckten Händen, schritt er völlig unerschrocken den schauerlichen Gestalten entgegen.
Sobald die Boxer die sonderbare Erscheinung gewahrten, die, statt zu fliehen, auf sie zukam, stutzten sie und blieben stehen. Und dann geschah etwas Seltsames. In einer Sprache, die sie nie vernommen, begann der Alte auf die Aufrührer einzureden. Er sprach von Buddha und seinen
Ohne ein Wort zu verstehen, aber starr und wie gebannt, lauschten ihm die Männer mit den Schwertern und Hellebarden, den Glückszeichen auf der Stirn und den roten Gürteln und Fahnen. Diese, in einem durch erschütternde Kontorsionen in einer dem Wahnsinn nahen Nervenüberreizung Erhaltenen, in wunderlichstem Aberglauben Befangenen und in einer Welt des Uebernatürlichen Lebenden – sie wähnten, sie sähen in dem so plötzlich vor ihnen auftauchenden seltsamen Greise einen jener Geister, die sie selbst in ihren Uebungen anriefen. Und seine lange, unverständliche Rede, begleitet von weiten Gebärden der fleischlosen Arme, mußte sicherlich ein großer unbekannter Zauber sein – stärker vielleicht noch als ihre eigenen Beschwörungsformeln. – Ehrfurchtsvoller Schauer hatte die Zuhörer der ersten Reihen ergriffen. Andere stauten sich immer dichter hinter ihnen, konnten nicht genau sehen noch hören, was da vorne
Und schon wollten sie sich anbetend vor dem Greis niederwerfen, als plötzlich einer der Knaben, die ihre Scharen begleiteten, durch die Reihen vorschob, neugierig, den Wundermann auch zu sehen. Es war Mahan! – Kaum aber hatte dieser den Alten erblickt, als er mit gellender Stimme zu schreien begann: »Das ist kein guter Zauberer! Der kann keinen Regen schicken. Wir haben ihn gefüttert, und er sandte keinen Tropfen. Er ist ein falscher Zauberer! Er ist unser Feind! Ich selbst hörte ihn sagen, er könne das ganze Land und uns alle ins Nichts versinken lassen!«
Ein drohendes Murren ging durch die Menge. Aber noch unschlüssig starrten sie von dem unbekannten Greis auf den eigenen Geisterknaben. Doch immer heftiger und aufgeregter werdend, fuhr Mahan kreischend fort: »Und er
Kaum war das Wort gefallen, so ward es von der ersten Reihe der Boxer aufgegriffen. »Ein fremder Teufel!« schrien sie wirr durcheinander, und die weiter zurückstehenden Hörer drängten vor: »Wo? Wo ist er? Tötet ihn! Tötet ihn!«
Bei diesen Lauten war der Einsiedler verstummt. Als erwache er aus einem Traum, so stand er da. Starrte in die Wirklichkeit, ohne zu wissen, wo er sich befand, noch was eigentlich geschehen. Aber das verklärte Lächeln, das seine Vision heraufbeschworen, lag noch auf seinen runzligen alten Lippen.
»Tötet ihn! Tötet ihn!« umbrauste ihn dichter das Brüllen.
Und der erste Schwerthieb sauste durch die Luft. Andere folgten. – Ohne einen Laut sank der Alte nieder. – Und über ihn wälzte sich die wilde Horde. Wie erbost, an einen falschen Zauber
Keuchend und mit äußerster Anstrengung, den wüsten Lärm in den Ohren, hatte Tschun endlich mit der Mutter auf dem Rücken den Petang erreicht. Wie durch ein Wunder und als einer der allerletzten, denen es noch gelang, sich dahin zu retten. Und wie für die Tausende von anderen Unglücklichen öffnete sich auch ihnen das Tor.
Unberührt sah Tschun an jenem Tage noch einmal die weiße Kathedrale, die, in den Erinnerungen an seine Kindheit, aufragte als hohes lichtes Gebilde. Unberührt die schneeigen Spitzbögen, die in Kreuzblumen auslaufenden Wimpergen über den Türen, die Krabben, das Maßwerk und die mittlere Fensterrose. Unbefleckt die granitenen Stufen, die zu der Kirche hinan führten. Unversehrt auch noch die zwei, zu beiden
Aber seit den Tagen, da solch schöne Gefühle in Stein eingemeißelt worden waren, hatte sich manches verändert. Und der Kaiser Kwang Hsü, selbst ein Gefangener und Unterdrückter geworden, vermochte in diesem, dem sechsundzwanzigsten
Am Abend desselben Tages schon erfolgte der erste Angriff der Boxer auf den Petang.
Durch die Straße, die auf das Hauptportal mündet, sah man sie in großer Schar herankommen, Fackeln und Säbel schwingend, und Schreie ausstoßend, die an das Heulen wilder Bestien mahnten. Dann plötzlich hielten sie inne und warfen sich nieder, ihre Schutzgeister noch einmal anzurufen. Also gestärkt rasten sie nun heran wie Besessene. Doch da, als sie nur noch ein paar hundert Meter entfernt waren, erscholl im Innern das Kommando: »Feuer!« Siebzehn Kugeln mähten die ersten Reihen der Angreifer nieder. Wie Karten sanken sie um; und wieder ertönte das Kommando: »Feuer!« Die zweite Salve krachte, die zweite Mahd fiel getroffen. Als der Rauch sich verzog, war der Platz von Angriffslustigen gesäubert. Tote lagen am Boden.
Und es war gut, daß dieser erste Angriff für die Belagerten so glücklich verlief, und ohne daß einer von ihnen getroffen worden. Es stählte sie alle, die vor so ungeheurer Aufgabe standen. Vor allem beruhigte der Anblick der Boxerleichen die einheimischen Christen, denen, trotz aller Bekehrung, der nationale Hang zum Aberglauben doch in verborgenen Winkeln des Herzens stecken mochte.
Der Beweis, daß die gefürchteten I ho Chüan sterblich wie andere seien, war unwiderleglich erbracht. All ihre Zauber waren unwirksam gegen europäische Kugeln gewesen. Trotz gelber Talismane mit seltsamen Figuren und Sprüchen, trotz den auf ihre Röcke und Flaggen genähten, ineinander verschlungenen zwei Fischen, dem Symbol des Yang und Ying, lagen die toten Boxer mit ausgebreiteten Armen am Boden, und die gemalten Glückszeichen auf
Ja, wären die Angreifer immer nur Boxer geblieben, die als Waffen bloß Schwerter und Lanzen kannten, so hätten die Verteidiger, trotz aller Uebermacht, eine verhältnismäßig leichte Aufgabe gehabt. – Aber ganz anders gefährliche Gegner sollten ihnen erstehen.
Inzwischen wurden in aller Eile die so dringend notwendigen Befestigungswerke geschaffen.
Vor allem war die Abteilung der Nonnen, die durch eine schmale Gasse vom Hauptkomplex getrennt gewesen, mit diesem durch starke Barrikaden vereinigt worden. Die Umfassungsmauern hatten Zinnen und Schießscharten erhalten. Alle Ausgänge waren geschlossen und durch Erdarbeiten gestützt. Tonnen, Bretter und Balken bildeten an verschiedenen Stellen Schutzwehren der Beobachtungsposten. Schanzen waren entstanden, sogar eine aus Ziegeln gebaute, die die Umfassungsmauer überragte und die ganze Straße beherrschte.
Ganz besonders aber wurde gleich an der Befestigung des Haupttores gearbeitet, denn das würde, wie schon der erste Angriff bewies, sicher am gefährdetsten sein. Die Portierlogen zu
Von dem Dach der Kathedrale wurde nach ihnen sehnsüchtig ausgespäht. Von dort aus beobachtete
Von hier oben ließ sich ermessen, wie viel vom alten Peking in diesen wenigen Tagen bereits vernichtet worden, von hier oben auch konnte man gewahren, wie das Zerstörungswerk weiter schritt. – Und Tschun sah eine ungeheure Feuersbrunst in der Chinesenstadt hinter dem Tschien men auflodern. Ganze Straßen mußten in Flammen stehen. Wer aber sollte da von solcher Verheerung getroffen werden? Das war ja kein Fremdenviertel. Theater standen dort, große Restaurants, viele der schönsten Läden,
Und auf dem fernen Dach der weißen Kathedrale bekreuzigten sich schaudernd die Späher.
Am nächsten Tage war für den Bischof ein Bote aus dem Gesandtschaftsviertel angelangt. Der erzählte dann, die Boxer hätten jenseits des Tschien men einen chinesischen Laden angezündet, als Strafe für den Besitzer, der mit europäischen Medizinen handelte. Aber weiter, als sie selbst wohl gedacht, hatte der Brand um sich gegriffen. Alle ihre angstvollen Gebete zum Feuergott nützten nichts: Das ganze Viertel lag vernichtet. Ja, das alte Tor selbst, das noch von den Mingherrschern stammte, und dessen Mitteltür sich nur für den Kaiser öffnete, hatte in der ungeheuren Glut Feuer gefangen und war zerstört. »Sie sollen darüber sehr betreten sein,« sagte der Bote, »weil darin ein schlechtes Omen für die Dynastie erblickt wird.« Tschun versuchte, etwas über seine eigenen alten Verwandten zu erfahren, aber der
Ja, in dieser ersten Woche bestand noch ein gewisser Verkehr zwischen dem Petang und den Gesandtschaften. Man hörte ab und zu voneinander, weil es chinesischen Boten bisweilen noch gelang, sich durchzuschmuggeln, Briefe fortzutragen und Antworten mitzubringen.
Ein paar Tage später suchte der Bischof nach einem Boten. Es war ihm die Kunde zugegangen, daß das Tsungli-Yamen den verschiedenen Ta-jens das Ultimatum gestellt hatte, Peking mit sämtlichen Fremden des Gesandtschaftsviertels binnen vierundzwanzig Stunden zu verlassen. Und obschon sicheres Geleit versprochen, witterte der erfahrene alte Bischof sofort eine Falle. Daher wollte er den Ta-jens den Rat senden, es lieber auf jeglichen Verteidigungskampf in Peking selbst ankommen zu lassen. Gleichzeitig wollte er sich aber auch erkundigen, was denn, im Falle einer solchen Auswanderung, über die Tausende chinesischer Christen beschlossen sei,
Da erbot sich Tschun zu dem gefahrvollen Gang.
Bei Morgengrauen brach er auf. Kriechend, an den Mauern entlang huschend, manchmal, beim Nahen unheimlicher Gestalten, hinter Vorsprüngen mit bangem Herzklopfen niederkauernd, kam er nur langsam und mit großen Umwegen vorwärts. Er konnte es sich auch nicht versagen, die Gelegenheit zu benutzen, um bis zum Tschien men vorzudringen. Je näher er aber der Stätte der großen Feuersbrunst kam, desto durchdringender wurde der beklemmende Brandgeruch, der noch über der ganzen Gegend lagerte. Und dann stand er auf dem jedem Pekinger Kind so wohlbekannten Platze. Aber da war alles durch ungeheure Zerstörungsarbeit zu einem fremden und gräßlichen Bilde verändert! Der einst so gewaltig hoch aufragende Trutzturm oben auf der Mauer war nach dem Feuer eingestürzt. Nur ein breiter, unförmlicher
Tschun hätte nun gern nach den beiden alten Verwandten geforscht, doch wo er fragte, erhielt er nur unwirsche Antworten. Denn es waren dies Zeiten, wo, in dem allgemeinen Argwohn, keiner zugeben wollte, von dem anderen etwas zu wissen. Wer vermochte denn auch vorauszusagen, was etwa aus einem unvorsichtigen Worte entstehen konnte!
Am Eingang der Gesandtschaftsstraße fand Tschun eine von Soldaten der fremden Schutztruppen besetzte Barrikade, denn auch hier war ja die Welt zur Festung geworden. Er wurde
Doch nun schritt er weiter in der Gesandtschaftsstraße. Und sogleich wollte es ihm scheinen, als müsse, inmitten all der außergewöhnlichen
So lief die Kunde weiter. Und nun sah man
Zwischen den aufgeregt gestikulierenden und redenden hin- und hereilenden Fremden sah Tschun aber auch chinesische Gestalten, die ihm mehr noch zu denken gaben. Da waren die ihm wohlbekannten Ladenbesitzer des Gesandtschaftsviertels; bisher waren sie geblieben, hatten die Fremden noch diesen Morgen bedient, mit einem seltsamen Grinsen, das die ungeheure Nervenspannung höflich verbergen sollte – aber jetzt schlossen sie ihre Geschäfte mit Bewegungen, in denen etwas Unwiderrufliches lag. Hurtig huschten sie dann davon, sie und viele andere, die plötzlich aus ihren niederen, grauen Häuschen
Und auch Tschun selbst war von einem seltsamen Gefühl der Unruhe erfaßt. Er hätte gehen und immer weiter gehen mögen. Es war, als nahe ihm unabänderlich eine furchtbare Krankheit, und er wolle noch die letzten Minuten vor langer Haft auskosten. Eine unabweisliche Ahnung sagte ihm, daß er sich zum letzten Male für lange, lange Zeit frei bewegte. Eine Last von Verhängnis, von Endgültigkeit lagerte auf allem. Die Menschen, die Dinge schienen noch zu sein – und waren doch eigentlich schon nicht mehr. So fremd, so verändert war alles.
Einen Augenblick noch kehrte Tschun bei Kuang yin ein. Das Haus wollte er noch einmal sehen, wo die Taitai gewohnt. Ja, die befand sich nun längst in Sicherheit auf fremdem Boden, und las, mit Tinchau auf dem Schoß, von all den Schrecken nur in der Zeitung, während Madame
Aber da – während Tschun noch der Vergangenheit nachsann – kam plötzlich etwas durch die Luft geschwirrt. Pscht! Pscht! machte es, dicht über seinem Kopf. Er hatte den seltsamen Laut noch nie vernommen. Aber ganz unwillkürlich duckte er sich. Machte sich klein und schmal mit hochgezogenen Schultern. Es waren die ersten Kugeln, die gepfiffen kamen. Die Belagerung der Gesandtschaften hatte allen Ernstes begonnen! –
Ohne zu wissen, wie es ihm gelungen, durch alle Fährnisse hindurchzukommen, traf Tschun abends wieder im Petang ein. Die Nachrichten, die er brachte, waren die letzten, die man dort erhielt. Petang und Gesandtschaftsviertel waren
Ja, zu dem Brüllen, den Messern und Fackeln der Boxer, womit der Petang anfänglich angegriffen worden, kam gar bald das Schießen aus modernsten europäischen Waffen. Denn was die Optimisten immer als Unmöglichkeit dargestellt hatten, war nun doch erfolgt – die regulären kaiserlichen Truppen hatten sich den Aufrührern offen angeschlossen. Und jene Kanonen und Gewehre, die die Lieferanten verschiedenster Nationalitäten, unter eifriger Befürwortung
Gegen die zahlreichen Angreifer aber standen die wenigen geschulten Verteidiger nur in kleinen Häuflein. So verlernten sie das Schlafen, mußten auch immer mehr das Essen verlernen. Denn kleiner und kleiner wurden die Rationen. Niemand hatte ja je an die Möglichkeit einer so langen Belagerung gedacht, und der
Trotz alledem ließ es die Besatzung des Petang aber nicht bei der bloßen Abwehr bewenden. So klein sie war, wagte sie doch gelegentlich Ausfälle. An einem Tag war ihr Feuer so wirksam gewesen, daß die angreifenden chinesischen Soldaten sich einen Augenblick zurückziehen mußten. Dabei ließen sie eine ihrer Kanonen unweit des Haupttores stehen. Diesen Augenblick benutzte rasch entschlossen der fremde Offizier und drang mit ein paar seiner Soldaten aus dem Petang in die Straße. Von einem Pater geführt und immer wieder angeeifert, folgte eine Schar Konvertiten, unter denen sich Tschun, als einer der ersten, befand. Sie sollten die verlassene Kanone nehmen und hereinziehen, gedeckt vom Feuer der fremden Soldaten. – Sobald jedoch die Belagerer diese Absicht bemerkten, kehrten sie mit Wutgeheul zurück und eröffneten nun ihrerseits ein wildes Feuer. Aber es gelang den europäischen Schützen, sie aufzuhalten,
Bei dem nur wenige Minuten währenden Ausfall hatte Tschun bloß den einen Gedanken gehabt, sein Bestes zu leisten, um bei der Erbeutung des Geschützes zu helfen, und er hatte sich auch wirklich hervorgetan. – Aber später, als seine erste triumphierende Aufregung verflogen, kamen ihm andere Gedanken. Er sah, wie sich die ausländischen Soldaten über den glücklichen Ausgang des tollkühnen Wagnisses ausgelassen freuten; er hörte, wie sie sich untereinander gratulierten. Das waren nun zwar Gefühle, die sämtliche Belagerte, ob Europäer oder Chinesen, teilten, und Tschun mit ihnen. Aber trotzdem war da irgendein bitterer Nachgeschmack. Etwas wie Hohn, daß solch ein Handstreich überhaupt möglich gewesen, hatte er doch aus den Worten der Soldaten herausgehört. Gegen keinen anderen Feind hätten sie das wagen können. Im bloßen Versuch lag die ganze Geringschätzung, die sie für ihn empfanden. – Und dieser Feind,
Aber die Augenblicke, wo triumphierende Siegesfreude ausbrechen konnte, waren ja überhaupt selten genug. Ernste Sorgen erfüllten den Petang mehr und mehr, oft auch bitterer Kummer.
Bei den zunehmenden Entbehrungen und der steigenden Hitze, die in schwerem Dunste auf der Stadt lagerte, zeigten sich allerhand Krankheiten, besonders unter den vielen Kindern der Flüchtlinge. Es gab aber keinen Arzt im Petang! – Da hatten die Nönnchen viel zu tun. Sie pflegten
Außer für Kranke hatten die Nonnen aber auch für Gesunde zu sorgen. Die vielen verängstigten chinesischen Frauen und Kinder zu beruhigen, ihnen immer wieder Mut zuzusprechen, war vielleicht die schwerste Aufgabe. Von allem, was sie da leisteten, erfuhr Tschun besonders
Am unheimlichsten von all dem vielen Bedrohlichen war aber das unterirdische Wühlen. Seit Tagen schon hatte es besonders dräuend geklungen. Aber trotz allem Suchen und Entgegengraben hatte man die eigentliche Stelle nicht zu finden vermocht. Dann war alles still geworden.
Da eines Morgens geschah das Gefürchtete. Die Mine explodierte. Mit donnerähnlichem Getöse hob furchtbare Gewalt den Boden, schleuderte
Tschun glaubte es alles vom Dach der Kirche aus gesehen zu haben, aber in Wirklichkeit hatte er gar nichts gesehen, denn rascher noch als das ganze Geschehnis war ihm blitzartig der Gedanke durch den Kopf geschossen, daß die Explosion in einem der Frauenquartiere stattfände – dort gerade, wo er eben, ehe er zur Wache ging, die Mutter gelassen hatte. – Da raste er auch schon hinab und durch das Grundstück und langte an, wie er wähnte, während noch das Unheil geschah. Und doch war schon nichts mehr zu sehen, was vor wenigen Sekunden noch dagestanden. Nur ein Berg aufgeworfener Stauberde, aus dem Pfosten und Balken, Ziegelscherben und Dachfirststücke in wildem Durcheinander
Aber mit Tschun waren von allen Seiten auch andere herbeigeeilt. Und während die Soldaten den anstürmenden Feind mit mörderischem Feuer zurückzuschrecken suchten, waren Hunderte von Händen an der Arbeit, in dem Schutt zu wühlen, ihn abzutragen, um womöglich Ueberlebende zu retten. Tschun war als erster dabei, grub mit den Händen, fühlte nicht, wie er selbst längst schon blutete, stand tief unten zwischen den Trümmern, die nun jeden Augenblick auch ihn zu begraben drohten, hatte nur den einen Gedanken, die Mutter zu finden, sie zu retten.
Aber es waren ihrer nur wenige, die noch lebend, ja die überhaupt wiedergefunden wurden. Drunten in der Erde war ein rotes Chaos.
Die Leichname, die unkenntlichen Gliedmaßen wurden dann nachts eilig in einem einzigen großen Grabe eingescharrt. Und Tschun wußte nicht, war etwas von dem dabei, das er, vor wenigen Stunden noch, Mutter genannt, wußte nur, daß sie am Morgen lebend gewesen und daß am Abend nichts mehr von ihr vorhanden war.
Da begannen in der Dunkelheit allerhand eingeborene chinesische Vorstellungen, die das Christentum für gewöhnlich verdrängt hatte, in ihm zu erwachen. Gedankengänge, die Europäern ganz fremd gewesen wären, ließen ihn jetzt vor allem leiden. Es quälten ihn uralte Aberglauben über das, was solche Tote im Jenseits erwartet, deren Körper verstümmelt worden. Er hatte selbst gar nicht gewußt, daß er von diesen Dingen wisse, denn unter den Christen galten sie ja nicht, aber nun waren sie da und
Denn über Tschun hatte zur Stunde jenes
Er selbst aber wußte kaum etwas davon.
Von da ab glitten die wechselnden Ereignisse der Belagerung traumhaft dumpf, beinahe unbemerkt an Tschun vorüber, und er beachtete kaum, daß er während des Kampfes nach der Explosion, als er in den Trümmern grub, selbst einen Streifschuß erhalten hatte. Er empfand eigentlich nur eine zunehmende Müdigkeit, die ihn gleichgültig machte gegen Gefahr, stumpf gegen die sich mehrenden grauenvollen Bilder. Er hatte nur noch den einen Wunsch, in tiefen, tiefen Schlaf zu sinken, einerlei, ob es der Schlaf des Lebens oder des Todes wäre. Aber der Schlaf floh ihn. Mit brennenden Augen, mit schlaffen Gliedern hockte er da. Halb verhungert.
Viele Leben wurden da durch Entbehrung vernichtet. Aber es traten auch neue ins Dasein. Kinder wurden inmitten dieser Schrecken geboren. Und auch die Mütter dieser, so zur Unzeit erscheinenden Erdenbewohner litten bitteren Mangel. – »Gib mir nur einen kleinen Napf Hirsebrei, daß ich etwas Nahrung kriege und mein Kind stillen kann,« riefen sie dem alten Bischof entgegen, wenn er seine täglichen Runden machte. Aber auch er vermochte ja nichts für die also Flehenden.
In gleichem Maße aber, wie all die Leiden gewachsen, hatte sich der Wunsch nach dem Erscheinen der Retter gesteigert. Wer noch zu denken vermochte, der dachte nur noch an sie, die Heißersehnten. Immer wieder hatte man geglaubt,
Waren sie denn von aller Welt verlassen und vergessen? Oder war die ganze übrige Welt selbst untergegangen? Schlief der fremde Gott, daß er die vielen heißen Gebete nicht hörte? Wo blieb die Hilfe, die er seinen Getreuen verspricht?
Doch endlich, als das Ende des Petang nur noch eine Frage von Stunden schien – da kamen die Retter, da waren sie da.
Die ersten, die von draußen durchdrangen, waren Japaner. Das wurde anfänglich kaum beachtet. Es waren eben Befreier. Als aber der erste Erlösungstaumel ein bißchen verrauscht war, dachte Tschun dar über nach. Ja, die Inselzwerge, denen China einst Kunst und Wissen gegeben, auf die es stets etwas gönnerhaft herabgeschaut
Bald folgten ihnen dann andere, weiße Soldaten, und nachher kamen auch Herren aus dem Gesandtschaftsviertel. Sie weinten und lachten durcheinander, als sie sich nun mit dem Bischof und den übrigen Priestern begrüßten. Sie fielen sich gegenseitig in die Arme. Sie benahmen sich ganz so, wie es nun mal in der Natur der Fremden liegt – deren Gefühle stets so durchsichtig wie bei Kindern zutage liegen –, nur daß dies eine ganz außergewöhnliche Gelegenheit war, wie sie niemand je erlebt – da waren sie durch Manier und Zeremonie eben noch ungezügelter als sonst.
Tschun stand dabei und schaute zu. Wie sie sich freuten! freuten!
Sie besahen die Befestigungswerke, sie ließen sich beschreiben, wie mühsam und verzweifelt die oft verteidigt worden, sie besahen die weiße Kathedrale, die ganz durchsiebt von Geschossen war, deren bunte Fensterscheiben in Splitter
Ja, die Fremden erwarteten offenbar den Anfang einer guten Zeit für sich. Und wie würde sich diese Zeit wohl für die Chinesen gestalten? dachte Tschun. Was würde für die Tausende aus den hundert Namen geschehen, die, von allem beraubt, irgendwo am Wege umgesunken waren? Die Fremden standen bei ihren Ta-jens in Bücher eingetragen und ihre Besitze waren ausgemessen und festgestellt. Die würden Schadenersatz erhalten. Aber die Einheimischen, die niemand
Das Tor des Petang, das so heftig angegriffen, so unerschrocken verteidigt worden war, stand nun wieder geöffnet. Man konnte ein- und ausgehen, wie man wollte. Das war etwas so Ungewohntes, daß es beinahe wie ein Verstoß gegen die rechte Ordnung der Dinge schien. Manche der aus ihren Pekinger Häusern in den Petang Geflüchteten fürchteten sich auch wirklich
Es gab da Anblicke, die die bis vor kurzem Belagerten trotz allem Grauenvollen, das sie selbst während der letzten Wochen erlebt, doch nicht vermutet hätten. In solchen Gassen, durch die Schnellfeuergeschütze für die Entsatztruppen den Weg gebahnt, lagen Leichen von Boxern und Mandschutruppen zu Haufen angetürmt, wie sie in verzweifelter Flucht gerade übereinander hingestürzt waren. Auf ihren grünlichen Gesichtern lag ein letztes hilfloses Entsetzen und ihre Körper waren in den weiten blauen Kleidern wie wesenlos zusammengesunken. Ein beklemmender fauler Geruch entstieg ihnen in der drückenden Sommerschwüle. Aber es gab keinen Menschen, der daran denken konnte, andere Menschen zu begraben.
In der unmittelbaren Nähe des Petang war alles verbrannt und zerstört. Kaum daß in dem allgemeinen Trümmerhaufen zu unterscheiden war, wo Fußsteige, wo Häuser gewesen. Weiter aber folgten Straßen, wo Gebäude noch standen. Aber über all diesen Straßen lag eine unheimliche Stille; sie waren ganz leer; und diese Leere, diese Stille wirkten beängstigend nach dem steten Getöse, dem Gedränge der letzten Wochen. Die Häuser waren alle fest verschlossen. Kein Laut drang aus ihnen. Das ganze Viertel wie ausgestorben. Und doch fühlte man im Vorübergehen, daß da, zwischen Ritzen und Spalten, tückische und verängstete Augen spähten.
Nun schauten auch die anderen unwillkürlich auf ihre Füße. Sie hatten das vorher gar nicht beachtet, waren gelaufen wie Tiere, die der Haft entsprungen, aber nun gewahrten sie es: ihnen allen hingen die chinesischen Zeugschuhe in Fetzen! Sie trugen sie ja ununterbrochen seit zwei Monaten. Da riefen sie alle: »Wir brauchen auch Schuhe! Wir auch! Wir auch!«
»Früher gab es hier in der Seitenstraße einen Schuhladen,« sagte Tschun, »wenn er nicht zerstört ist, könnten wir da kaufen.«
»Besitzt denn jemand von uns noch Geld?« fragte einer des Häufleins.
Sie sahen sich verdutzt an.
»Ach was Geld, was kaufen!« rief ein anderer, ein großer, starker Bauer, der, durch irgendwelchen Zufall bei Beginn des Aufstandes in Peking anwesend, sich auch in den Petang
»Er hat recht,« riefen die anderen, schnell überzeugt von der neuen Moral, »dies ist eine andere Zeit als sonst!«
Und es war eine andere Zeit.
Sie bogen in die Seitengasse. Der gesuchte Laden bestand noch. Von weitem schon sahen sie den großen Stiefel, den er als Aushängeschild führte. Aber der Laden war fest verschlossen. Er mußte wohl, wie so viele Häuser, verlassen sein, denn auf all ihr Klopfen erfolgte keine Antwort. Da trat der große Landmann vor, stemmte sich gegen die Tür und brüllte hinein: »Wenn nicht sofort geöffnet wird, brech' ich die Tür auf!« – Nun nahten schlürfende Schritte im Innern. Die Tür öffnete sich spaltenweit. Man sah einen Alten, zitternd und grünweiß vor Angst. »Hier ist nichts mehr, ehrenwerte Herren! Hier ist längst alles ausgeplündert!« versuchte er zu
Jeder bediente sich nun rasch. Tschun hatte weiße Trauerschuhe gefunden und sofort angelegt, hatte sogar eine weiße Schnur aufgetrieben, wie sie bei Trauerfällen in den Zopf geflochten wird. Er fühlte sich hierdurch plötzlich wohler. Es war doch nun so, wie es sein sollte.
Als die Schar dann aus dem Laden wieder heraustrat, glänzte es seltsam lüstern in all den schmalen Augen. Das war aber auch ein gar zu wohliges Gefühl gewesen, einfach nehmen zu können, ohne an Zahlung denken zu brauchen! Und jeder hatte auch bereits entdeckt, daß er noch viele Bedürfnisse habe. An Kleidern, eigentlich an allem mangelte es ihnen, besonders aber fehlte es ihnen nun schon so lang an genügendem Essen! Und die Stadt, mit ihren verlassenen Häusern, ihren vergessenen Vorräten, mit all der Habe, die ungenutzt verkam – sie lag da vor ihnen – wen kümmerte es in der allgemeinen Zerstörung und Verwirrung, wenn sie, die so viel verloren und ausgestanden hatten, sich dafür jetzt etwas schadlos hielten? Mancher schlich nun allein davon, wollte wohl geheimen Fährten folgen. Die anderen zogen vereint weiter.
Da war alles bis zur Unkenntlichkeit verändert, vernichtet. Geborstene Mauern, eingestürzte Dächer, Schutt- und Trümmerhaufen. All dieselben trostlosen Dinge, die Tschun acht Wochen lang im Petang hatte entstehen und schlimmer und schlimmer werden sehen. Und wie dort, so auch hier, seltsame, improvisierte Befestigungswerke: Barrikaden, aus dem erbaut, was im Augenblick zur Hand gewesen; und Berge von Sandsäcken, zum Teil aus grober Baumwolle, aber auch aus Vorhängen, Betten, Kleidern, aus allem genäht, was die verschiedenen fremden Taitais gerade besessen. Tschun glaubte einige dieser kostbaren Stoffe, trotz Staub und Schmutz, wiederzuerkennen. Er erinnerte sich, wie ihn die vielen unnützen Vorhänge in den Häusern der Fremden oft gewundert hatten – die fanden nun so ihr Ende! Und er entsann sich auch der langen Verhandlungen, die die Taitais
Im Gegensatz aber zu der Petanggegend, wo die Straßen jetzt so leer und lautlos waren, herrschte hier ein merkwürdiges Leben. Ganz anders als sonst freilich. Chinesen sah man kaum. Aber fremde Soldaten, mehr und mehr Soldaten. Aller Art, aller Länder. Tschun war ganz erstaunt über ihre Verschiedenheit. Sie waren nicht etwa alle weißhäutig wie die Ta-jens, sondern es gab auch langaufgeschossene dunkelfarbige Reiter mit hohem Turban, bei deren Anblick Tschun plötzlich an den alten Einsiedler denken mußte – und daneben magere, unansehnliche Leute, die von tropischer Sonne gedörrt und gelbgebrannt worden – aus einem ganz südlichen Lande sollten sie stammen, das einst China
Am zahlreichsten aber schienen die Inselzwerge zu sein! Sie hielten sich stramm und reckten sich, besonders wenn ihnen die großen, vierschrötigen Kosaken begegneten, die Tschun, wegen ihrer wasserblauen Augen und hanfartigen Haare, unter allen Fremden so besonders abstoßend fand. Seine Gefühle den Inselzwergen gegenüber waren weniger klar. Es ärgerte ihn ja, daß die hier in Peking so gebieterisch auftreten durften, aber dann empfand er doch auch eine gewisse Genugtuung, daß Leute, die so gelb waren wie die Chinesen selbst, mit den weißen Fremden so selbstbewußt verkehrten, daß sie von ihnen offenbar als gleichwertig behandelt wurden. Ja, die Kosaken und die Japaner besah sich Tschun am genauesten. Die Kosaken, ungeschlacht und wuchtig, erinnerten ihn an die schweren Kugeln aus Geschützen des 17. Jahrhunderts, die, neben moderneren Geschossen, während der Belagerung auch bisweilen in den Petang eingeschlagen
In der von vielen Geschossen getroffenen und durchlöcherten Gesandtschaft, wo er selbst früher der Taitai gedient hatte, fand Tschun den Onkel Kuang yin wieder. Der hatte die Belagerung gut überstanden, sah nur etwas magerer aus als sonst und verriet jene Gereiztheit, die Leuten eigen, die während längerer Zeit nicht genügend haben schlafen können. Tschun begrüßte den Onkel noch etwas feierlicher als sonst, wie es sich nach längerer Abwesenheit schickt, während Kuang yin, die weißen Trauerschuhe gewahrend, nach dem Grunde frug und dann die üblichen Trauerworte sprach. Von jenem überschwänglichen Jubel, den die fremden Herren und die Priester beim Wiedersehen gezeigt, war zwischen diesen beiden Verwandten nichts zu merken. Sie hätten ihn aber auch beide völlig unziemlich gefunden.
»Es ist in allem eine solche Verwirrung,« brummte er, »man weiß nicht, wo das Notwendigste zu bekommen, keinen Markt gibt es mehr, und dabei ist das Haus, sofern es überhaupt noch steht, voll von Offizieren – statt einem Herrn hat man jetzt Dutzende – und es kommen noch immer mehr hinzu! Und natürlich können sie sich mit niemand verständigen. Da soll ich nun Boys besorgen, die fremde Sprachen verstehen. Für die Stelle bei dem einen Offizier, der in den nächsten Tagen erwartet wird und der in einem besonderen Yamen wohnen soll, habe ich übrigens gleich an Dich gedacht.«
Tschun hatte gar keine Lust, in den Dienst dieses unbekannten Ausländers zu treten. Er konstatierte dies zu seinem eigenen Erstaunen. Früher würde es ihn gerade gelockt haben, auch einen fremden Militärmandarinen mal näher kennen zu lernen. Aber jetzt hatte er eigentlich
Dann erkundigte er sich, ob Kuang yin etwa von den übrigen Verwandten gehört habe. Doch der wußte nur, daß Lin te i und Yang hung mit den Seinen seit dem großen Brande verschwunden waren, und auch von Sin schen und Wang pao hatte er seit dem Entsatz Pekings noch nichts vernommen.
Wie mochte es wohl den Großen der Erde gehen, dachte Tschun, während so viele der Kleinen gedarbt hatten oder ganz verschollen waren! Und er frug: »Was haben die Fremden
Kuang yin lachte. »Streng gefangen? Bewahre! Sie haben sie ja ganz ungestört entweichen lassen!«
»Na,« meinte Tschun, »wenn sie nur unschädlich ist, mag sie meinethalben leben, wo sie will. Nun werden die Fremden wohl den Kaiser Kwang Hsü wieder in seine Rechte einsetzen?«
»Aber nein doch!« rief Kuang yin, »den hat Tzü Hsi auf ihre Flucht ja mitgenommen!«
Tschun sah ihn ungläubig an. »Das haben die Fremden zugelassen? Aber er war doch der einzige, der zu ihnen gehalten hat, der einzige auch, von dem sie hoffen konnten, daß er die Aufgeklärtesten des Landes um sich sammeln würde, um Ordnung herzustellen. Es mußte ihnen doch alles dran liegen, daß er die Regierung wieder in die Hände bekäme?«
»Ach, ich glaube, so weit hat niemand gedacht,« sagte Kuang yin. »Weißt Du, die fremden
»Dann kann sie ja aber noch gar nicht weit weg sein,« sagte Tschun. »Denken die Ta-jens denn nicht daran, ihr die vielen Soldaten nachzuschicken,
»Aber Tschun,« sagte Kuang yin, »hast Du denn die Art der Ta-jens schon völlig vergessen? Ehe die einen gemeinsamen Entschluß fassen! ... Das kennt man doch ... in der höchsten eigenen Lebensgefahr allenfalls ... und eigentlich auch dann kaum.«
»Warum tut es dann nicht ein einzelner mit seinen Truppen?« fragte Tschun.
»Dazu hat sich einer der fremden Offiziere auch schon erboten,« antwortete Kuang yin. »Aber sein Ta-jen soll ihm geantwortet haben, für diesen Fall besäße er von zu Hause keine Instruktionen, und es sei eine zu arge Verantwortung, so etwas allein zu unternehmen. – Zu alledem kommt aber, glaube ich, noch etwas anderes,« setzte Kuang yin dann hinzu.
Tschun sah ihn fragend an. Und Kuang yin fuhr fort:
»Ja, so viel hab ich nämlich schon gemerkt, daß zwischen den Ta-jens und ihren vielen
»Da magst Du recht haben,« sagte Tschun, »unter den Fremden herrscht ja immer Uneinigkeit. Bisher dachten wir freilich, nur zwischen denen der verschiedenen einzelnen Ländchen, aber, wie es scheint, sogar zwischen den verschiedenen
»Freilich, um so besser für uns,« wiederholte Kuang yin, »denn all diese Uneinigkeit wird hoffentlich hindern, daß aus ihrem geeinten Zorn gar zu Schlimmes für uns entsteht.«
»Ja,« fiel Tschun ganz eifrig ein, »daran denk ich jetzt auch immer, denn es wäre doch furchtbar, wenn der Boxerwahnsinn von den Ausländern als Vorwand benutzt würde, uns noch mehr Land zu rauben oder uns durch Syndikate, Geldanleihen und sogenannte Ratgeber noch schärfer bevormunden zu wollen. Ganz unerträglich würde das – denn, weißt Du, je mehr man sich's überlegt: denselben Glauben wie die Ausländer haben wir ja nun mal – und darum mußte man während der Belagerung schon des Gesichts halber zu ihnen halten – aber das ist auch das einzige Gemeinsame. In allem übrigen sind sie uns doch ... fremd ... fremd!«
Er hatte nach dem letzten Wort gesucht und offenbar kein ausdrucksvolleres finden können.
Kuang yin hatte Tschun Unterkunft bis zum Antritt seines neuen Dienstes angeboten. »Einstweilen aber schau Dir die Stadt an – da gibt es jetzt Gelegenheiten, wie sie so bald nicht wiederkehren,« sagte er bedeutungsvoll. Tschun sagte darauf dem Onkel, er fürchte, ihm bei dem neuen Herrn wenig Ehre zu machen, denn er habe ja nichts von seinen Sachen retten können und besitze nur diesen einen Anzug. »In der Lage sind heute viele,« antwortete Kuang yin gleichmütig, »und doch wirst Du sie binnen kurzem in Seide und Zobel einhergehen sehen – ich sagte Dir ja schon: es gibt Gelegenheiten.« Und dann setzte er mit einem schlauen Blinzeln hinzu: »Abends, sobald ich fort kann, gehe ich auch.«
Tschun wollte sich nun vor allem nach den Vettern umsehen, die in anderen Stadtteilen wohnten. Auf dem Weg zu Sin schen begegneten ihm anfänglich noch viele fremde Soldaten.
Dann wurden die Ausländer seltener. Tschun kam nun in entferntere Straßen, wo Europäer und ihre Anhänger nicht wohnten. Hier war während der Boxerherrschaft wenig zerstört worden. Aber die Bewohner mochten wohl fürchten, daß durch den inzwischen eingetretenen Umschwung jetzt die Reihe an sie kommen könnte: Tschun sah manche mit angstvollen Gesichtern und spähenden Blicken vor ihren Häusern stehen, als ob sie Wache hielten, während andere, scheu und eilig, als fürchteten sie, überrascht zu werden, irgend etwas an den Türen zu arbeiten schienen. Was taten sie da? Bereiteten sie besondere Verschlüsse?
Doch sobald Tschun um die Ecke bog, sah er auch schon den Vetter vor seiner Türe stehen. Wie die anderen schien auch er irgend etwas daran zu arbeiten – und, ganz wie die anderen, wollte auch er verschwinden, sobald er einen Fremden nahen sah. Doch Tschun rief ihn an, und nachdem ihn Sin schen erkannt hatte, kam er auf ihn zu und begrüßte ihn so erfreut, daß es Tschun beinahe wunderte. – Und nun sah Tschun, was Sin schen und all die anderen so eifrig und verstohlen trieben: sie entfernten von ihren Türpfosten jede Spur der aufgeklebten feurigroten Papiere, deren schwarze Schriftzeichen die Insassen als treue Boxeranhänger bezeichneten!
Er hatte Tschun inzwischen in sein Haus geführt, und da gewahrte dieser eine seltsame Werkstatt: billige bunte Stoffe lagen am Boden, und sämtliche Angehörigen Sin schens fabrizierten daraus eifrigst allerhand Fähnchen in den Landesfarben der verschiedenen fremden Truppen. Die weiße japanische Flagge mit der roten Kugel war am leichtesten zu machen, und sie wurde in großen Mengen hergestellt. »Jetzt sollen diese Fähnchen über unsere Türen kommen, um uns vor den Fremden zu sichern,« erläuterte Sin schen, »ich habe übernommen, sie für die ganze Straße zu liefern. – Ach, und weißt Du, Tschun,« setzte er dann eifrig hinzu, »Du verstehst ja eine der Barbarensprachen, da könntest Du etwas für mich tun: schreib mir doch auf einen
»Wo denkst Du hin?« rief Tschun. »Die Fremden plündern doch überhaupt nicht!«
»Lieber Tschun,« erwiderte Sin schen bedächtig, »Heere der fremden Teufel sind schon einmal nach Peking gekommen, lang ehe Du geboren warst – damals haben sie den Sommerpalast ausgeplündert – sie werden auch diesmal wieder plündern.« Und dann setzte er beinahe entschuldigend hinzu: »Alle Menschen plündern.«
Tschun mußte ihm schließlich den Gefallen tun, ein Papier mit den gewünschten Worten zu beschreiben. Er wurde dazu in ein rückwärts gelegenes Zimmer geführt. Da lagen allerhand geheimnisvolle Ballen, Stoffe und Pelze, aufgerollte Teppiche Auch Vasen standen da, die Tschun nicht kannte. Alles in einem wirren Durcheinander. Sin schen aber erklärte achselzuckend und mit einer weiten Handbewegung:
Nachdem Tschun das Schriftstück fertig verfaßt hatte, das Sin schen als Freund der Fremden beglaubigen sollte, konnte er sich nicht enthalten, ihn zu fragen: »Nun, und Deine eigentlichen großmächtigen Freunde, die sind wohl fort?«
»Du meinst den ehrenwerten Li lien ying,« sagte Sin schen. »Ja, der ist mit der Kaiserin fort. Leute aus seinem Haushalt sind nachher bei mir gewesen und haben mir davon erzählt. Es muß schrecklich gewesen sein, diese Flucht! Früh, zur Stunde des Tigers, während eines schweren Gewitters, sind sie fort, die Kaiserin, der Kaiser und der Ta a ko. Und denk' Dir, nur drei ganz gewöhnliche Maultierkarren hatten sie – und die gnadenreiche Gegenwart trug ein Baumwollkleid wie die Landfrauen, und die chinesische statt der mandschurischen Haartracht, um nicht erkannt zu werden. Im letzten Augenblick hat die Perl-Konkubine, die ja immer vorlaut war, die Kaiserin beschworen, den Kaiser
»Wenig geeignete Namen beim Antritt so kläglicher Reise,« meinte Tschun gleichmütig.
»Ja, wirklich beklagenswert,« sagte Sin schen, »daß die Kaiserin fliehen muß in einem Alter, das doch dem niedrigst Geborenen Anspruch auf Ehrerbietung verleiht!«
»Ach,« sagte Sin schen, »ihr wird jetzt alles aufgebürdet, aber ich weiß doch von Li lien ying, daß es ganz anders zugegangen ist. Während dieser letzten Wochen ist Tzü Hsi zwischen Tuan und Yung Lu hin- und hergezerrt worden, immer schwankend, wer von beiden recht habe. Aber doch hat Tuan sie nie dazu bestimmen können, den endgültigen Befehl zum allgemeinen Angriff aller Truppen zu geben, und er hat auch nie von Yung Lu die schweren Belagerungsgeschütze erhalten, um die er getobt und geschrien hat! Sonst stände es heute anders! Jeder Widerstand wäre umsonst gewesen, und alle fremden Teufel wären vernichtet.«
»Vergiß nicht, daß Du von Deinen neuen Freunden sprichst,« sagte Tschun lachend, »na, es freut mich aber, daß Du doch wenigstens nicht
Sin schen machte eine wegwerfende Gebärde. »Nein, das war natürlich Kindergeschwätz und ihre Gewalt nicht gewichtiger wie Blumenstaub.«
Als Entgelt für das Schutzschreiben erhielt Tschun von Sin schen etliche neue seidene Gewänder. Es war hoher Lohn für geringe Mühe – aber sie kamen dem Vetter selbst ja auch nicht teuer zu stehen.
Kuang yin hatte recht. Diese Zeit bot seltene Gelegenheiten.
Und weiter ging nun Tschun durch die Stadt.
Die Straßen waren jetzt bei nahender Dämmerung voller geworden. Einzelne Gestalten mit Säcken über den Schultern tauchten verstohlen auf, huschten eilig vorbei. Auch ganze Haufen kamen daher gezogen. Leute mit bösen Aeuglein und hart entschlossenen Zügen, die sich zu irgendeinem schlimmen Tun zusammengerottet hatten. Manchmal fielen irgendwo vereinzelte Schüsse. Schmerzensschreie, Hilferufe
Planlos irrte Tschun weiter, bald allein, bald von dieser oder jener Gruppe mitgezogen. Hierhin, dorthin, nur von dem einen Wunsch getrieben, der ihm von klein auf eigen gewesen: den Wunsch, zu sehen. Und er sah. Sah Spuren der Boxer, sah neueres Tun derer, die an ihnen Vergeltung übten.
Er blickte in einen verlassenen Palast, der völlig ausgeräumt war, wo nur noch altertümliche Sättel und Geschirre mit silbernen Beschlägen in einem Winkel lagen, weil sie den Beutesuchern zum eiligen Fortschaffen offenbar zu schwer gewesen; er betrat ein verlassenes Yamen, wo unter seinen Füßen die Scherben unschätzbarer, in blinder Wut zertrümmerter
Als Tschun schließlich wieder in die Gesandtschaftsstraße einbog, hatte er so viel des Schrecklichen gesehen, daß er glaubte, gegen alles ganz stumpf geworden zu sein, und doch bot sich ihm da noch das überraschendste Bild.
»Aber wer soll es denn bekommen?« fragte Tschun leise.
»Dumme Frage – die selbst doch natürlich!«
»Jeder plündert doch für sich.«
Als das meiste wieder notdürftig verstaut war, hoben die Herren selbst die letzten Silberbarren von der Straße und warfen sie als Lohn den Leuten zu, die beim Laden geholfen und die sie eben noch kalten Blutes zu erschießen gedroht hatten.
Es war eben eine Zeit sehr wechselnder Möglichkeiten.
Wider Erwarten traf Tschuns neuer Herr schon am nächsten Tage ein. Verstaubt, übermüdet durch heiße eilige Märsche, rückten seine Soldaten ein. Alle, die jetzt nach dem Entsatz Pekings noch ankamen – und es waren ihrer viele Tausende verschiedener Nationalitäten –, machten den Eindruck von Leuten, die sich um eine große Gelegenheit betrogen dünken. Sie schienen bitter enttäuscht durch den Anblick der Ruinen Pekings. Was sie erwartet hatten, war schwer zu sagen.
Es kostete Mühe, für Tschuns Herrn ein geeignetes Quartier zu finden, denn die besten Gebäude waren von den zuerst Angekommenen gleich besetzt worden. Jene Soldaten, die man Amerikaner nannte und die aus einem anderen
Schließlich war für Tschuns Herrn aber doch auch noch in einem entlegenen Stadtteil ein altes, weitläufiges Yamen gefunden worden. Und es erwies sich, daß es dasselbe war, wo Tschun vor ein paar Monaten die abendliche Schaustellung der Boxer mit angesehen hatte. Welch seltsame Wandlung seitdem! Wie siegessicher war damals in dem überfüllten Hofe der Untergang aller fremden Teufel prophezeit worden! Und jetzt stand das Yamen verlassen. Der Besitzer war vor den Barbaren geflohen und der Kaiserin nachgeeilt, und jene zogen nun hier als Sieger ein.
Um das Yamen für die Fremden bewohnbar zu machen, galt es vor allem, es auszuräumen und all die tausenderlei Dinge wegzuschaffen, die, im Gedanken, daß sie einmal gebraucht werden
»Warum siehst Du so griesgrämig aus?« rief ihm einer der Soldaten zu.
»Würdet Ihr froh aussehen, wenn all das in Eurem Lande geschähe?« antwortete Tschun. Der Soldat und seine Kameraden sahen sich zuerst verdutzt an, und dann brachen sie in ein schallendes Gelächter aus. Es war aber auch zu
Aber sie betrachteten Tschun von da an als einen ungemütlichen Spielverderber und setzten nun ihrerseits etwas hinein, ihn möglichst zu necken. Und es bot sich dazu häufig Gelegenheit, denn Tschuns Amt bestand gerade darin, für die vielen Bewohner des Yamens und ihren ganzen Haushalt den Verkehr mit den Chinesen zu vermitteln. Da gab es immer irgend etwas, was dieser oder jener von ihm wollte. Und hörte er nicht rasch genug auf die verschiedenen Wünsche, so zogen sie ihn gelegentlich am Zopf. Besonders gern tat das ein böser Korporal; er nannte es »die Schnur zur Klingel im Kopf in Bewegung setzen«. Ja, es waren rohe Leute, die von Manier und Zeremonien offenbar noch weniger Ahnung hatten als die Bewohner der Gesandtschaften, die Tschun bisher gekannt hatte. Jene, die ja angeblich geschickt worden waren, »um gute Beziehungen mit China zu pflegen,« hatten etwas von diesem Bestreben doch immerhin auch
Der böse Korporal und seine Soldaten hatten sich auch gleich an dem allgemeinen Geschäft beteiligt. Bald schmückten die merkwürdigsten chinesischen Gegenstände ihre Quartiere. Abends verkleideten sie sich mit golddurchwirkten Mandarinengewändern und sprangen und tanzten wild darin herum. Auch Stücke führten sie auf; sie spielten »Die böse Tzü Hsi« oder »Li hung tschang«. Denn das waren ihnen die geläufigsten Namen, und es ging ihren Trägern in diesen Vorstellungen stets jämmerlich schlecht. Dazu erklangen die leiernden Weisen europäischer Spieldosen, die in allen chinesischen Häusern zu finden waren. Und die vielen Uhren, die ebenfalls einen Gegenstand chinesischer Sammelpassion bildeten, tickten und schlugen die Stunden – diese sonderbarsten Stunden Pekinger Geschichte.
Manchmal drangen die Fremden in Tschun, er solle sie führen, denn er kenne gewiß gute
Tschun wünschte sich aus alledem oft heraus. Er war, ohne es selbst zu wissen, überreizt und abgespannt von allen Entbehrungen und Schrecknissen der Belagerungszeit und hätte Ruhe und Vergessen gebraucht. Aber schon Kuang yins halber, dem sonst vielleicht Unannehmlichkeiten daraus erwachsen wären, mußte er bei diesen neuen Herren aushalten. So diente er ihnen denn, so gut er es vermochte, und ließ sich, des eigenen Ansehens halber, nie etwas zuschulden kommen; aber er tat es verdrossenen Gemüts, und immer größer wurde die Geringschätzung, mit der er im stillen auf all diese zeitweiligen fremden Machthaber herabschaute.
Denn so wie vor wenigen Monaten noch private Feindschaft bei den Boxern Christen und Christenanhänger zu denunzieren liebte, so äußerte sich jetzt manche Rache, indem sie Verhaßte
Auch Tschuns neuer Herr erhielt eine Anzeige, daß in seiner Nachbarschaft ein früherer Boxer hause, der bei der Zerstörung und Plünderung von Häusern der Fremden tätig gewesen sei, und der noch jetzt Waffen bei sich verberge und schlimme Anschläge führe.
Der Denunzierte war ein junger Händler, den ursprünglich Sin schen an Tschun empfohlen hatte, und dem dann auch, da er vorteilhafte Bedingungen stellte, bestimmte Vorratslieferungen für die Truppe von dem Offizier übertragen worden waren. Da er den Händler vorgeschlagen hatte, wäre es Tschun sehr peinlich gewesen, wenn er sich als unzuverlässig erwiesen
Es ward nun ein Zug nach dem Hause des angeblichen Boxers unternommen. Der ließ die Fremden bereitwilligst ein und zeigte ein ganz unbefangenes Wesen. Als Tschun ihm im Auftrag seines Herrn eröffnete, wessen er beschuldigt würde, beschwor er entrüstet, das sei alles erlogen. Allein bei der Haussuchung, die der Korporal und die Soldaten alsobald unternahmen, erwies sich ein Teil der Beschuldigungen sofort als richtig, denn in rückwärts gelegenen Teilen des weitläufigen Hauses entdeckten sie wohlverborgen eine Anzahl Kisten, und als sie diese nun, trotz des Protestes des Händlers, daß sie ihm nicht gehörten, in den Hof schleppten und aufbrachen, fanden sich darin nicht nur Waffen, sondern auch allerhand europäische Gebrauchsgegenstände, die offenbar aus den geplünderten Missions- und Gesandtschaftsgebäuden stammen mußten. Der Mann beschwor nun wieder, daß
Zu seiner Vernehmung war dann einer der gelehrten Herren, die Chinesisch konnten, aus der Gesandtschaft gebeten worden. Es kam aber nichts dabei zutage. Der angebliche Boxer blieb ebenso hartnäckig bei seinem Leugnen, wie der herbeigeeilte Ankläger bei seiner Beschuldigung; ja, dieser sagte jetzt sogar aus, er selbst habe den Beklagten bei den Zerstörungen im Fremdenviertel mit Fackel und Schwert wüten sehen. Aufgefordert, den Freund zu bezeichnen, für den er vorgab, die Kisten aufbewahrt zu haben, weigerte sich der Händler, seinen Namen zu nennen. Alle Indizien sprachen gegen ihn.
Schließlich wandte sich der Herr, der das Verhör führte, an Tschun, den er von seiner früheren Dienstzeit bei der Taitai her ja kannte, und frug ihn: »Da Du den Mann empfohlen hast, kannst
»Sicherlich nicht!« antwortete Tschun.
»Nun, und was ist jetzt Deine Ansicht? Glaubst Du, daß es einer ist oder nicht? Ihr wißt doch am besten über einander Bescheid.«
Tschun aber war inzwischen selbst schwankend geworden. Die Anklage, die er anfänglich für einen bloßen Racheakt gehalten, sah jetzt doch anders aus. So sagte er nur: »Ich weiß nicht.«
»Aber Du mußt doch eine Ansicht haben,« fuhr der gelehrte Herr fort, »willst Du sie mir nicht sagen?«
»Ich kann darüber nicht sprechen,« antwortete Tschun.
»Warum denn nicht?« drang der Herr in ihn.
Da antwortete Tschun ganz leise: »Weil ich nicht gegen meine Landsleute aussage.«
Der fremde Herr schaute ihn einen Augenblick ganz verwundert an, dann zuckte er die Achseln und sagte:
Der Händler wurde erschossen. In einem der Höfe des Yamens stand er vor einer Mauer. Er war ganz gefaßt. Der Korporal kommandierte; dann krachten die Schüsse aus den Gewehren der Soldaten. Ganz wie Tschun es bei der Verteidigung des Petang so oft erlebt. Einige der Kugeln flogen daneben und schlugen in das Gemäuer. Aber die anderen hatten gut getroffen. Der Händler stürzte nieder und rührte sich nicht mehr. Zusammengesunken, als sei der Körper in den weiten Kleidern verschwunden, so lag er da. Auch wieder ganz so, wie Tschun es während der Belagerungswochen bei so vielen chinesischen Leichen gesehen. Aber das eben noch lebensvolle und jetzt so stille Gesicht wies ein merkwürdig verklärtes Lächeln auf. Tschun mußte plötzlich an den jungen fremden Offizier denken, der kurz vor dem Entsatz des Petang noch gefallen war und dort zu Füßen der steinernen Madonna begraben ruhte. Ganz so verklärt lächelnd hatte der ausgesehen, und der alte
Später kamen seine Verwandten. Sie baten um Auslieferung der Leiche. Sie hatten sehr Angst, daß sie ihnen von den Fremden am Ende gar vorenthalten würde. Drum sprachen sie sehr leise und unterwürfig, wie Leute, die, um die Erfüllung eines Herzenswunsches zu erlangen, bereit sind, etwas mehr oder minder Erniedrigung mit in den Kauf zu nehmen. Aber so demütig sie auch taten, Tschun sah doch den unzähmbaren Haß in ihren rasch wieder gesenkten Augen lodern.
Ihre Bitte ward von dem Herrn gewährt.
Tschun half ihnen, die Leiche aufnehmen. »Eine Sünde, eine Schande ist's,« hörte er sie dabei murmeln. »So ein stiller, guter Mensch!« »Und mit den I ho Chüan hat er nie etwas zu tun gehabt.«
Es war nur ein Hauch, ein Bewegen der Lippen gewesen und hatte doch einen Klang von Verhängnis. Tschun ward es ganz kalt bei den Worten. Er fühlte, daß sie kein unüberlegter Schmerzensausbruch, keine leere Drohung waren, sondern daß ihnen eine bestimmte Absicht zugrunde liegen mußte. Er wünschte, er hätte die Worte nicht gehört. Aber da er sie gehört hatte, konnte er sie aus seinem Bewußtsein nicht mehr wegwischen. Sie belasteten ihn mit einer Verpflichtung. Er empfand, daß irgendein grausiger Anschlag gegen seinen neuen Herrn und dessen Leute geplant wurde. Und so wenig er sie liebte, erkannte er doch die Forderung, sie zu schützen, wo vielleicht er allein es vermochte, da ja nur er eine Gefahr für sie ahnte. Aber
Ohne weiteres Besinnen schlich er sich fort und folgte dem Trauerzuge nach. Daß er gleich kam, um vor dem aufgebahrten Toten seine Verbeugung zu machen, konnte von den Hinterbliebenen ja nur gut aufgenommen werden, und vielleicht gelang es ihm, irgendetwas zu erfahren, so daß er weiteres Unheil verhüten konnte. Freilich hätte es sich geziemt, zu solchem Besuch feierliche Kleidung anzulegen und vor allem das weiße Tuch Mao tao bei sich zu tragen, womit die rote Quaste des Hutes beim Betreten eines Trauerhauses bedeckt wird – aber es waren ja so ungewöhnliche Umstände – da durften vielleicht doch einmal die Regeln der Zeremonie umgangen werden!
Im Trauerhause waren die nötigsten Vorbereitungen für den Empfang des Toten getroffen worden, so gut es in diesen Zeiten kriegerischer Verwirrungen eben ging. Zettel, die den
Dem Toten flocht man eine weiße Schnur in den Zopf, und dann wurden ihm die Sterbekleider angelegt, die keine Metallknöpfe haben dürfen, da sie im Jenseits zu schwer sein würden; auch Stiefel mit weichen Sohlen bekam er und den offiziellen Hut, doch ohne rote Fäden. Also angetan, bahrte man ihn in der Mitte des Hauptgemaches auf, wie es ihm in seinen zwei Eigenschaften als ältester Sohn und als derzeitiges Haupt der Familie zukam.
Denn der Vater des Toten war merkwürdigerweise fort. Das erfuhr Tschun sogleich. Aber niemand erwähnte, wo er eigentlich sei.
Außer den Verwandten, die die Leiche abgeholt hatten, der Mutter und der Witwe, waren da noch die nächsten Freunde versammelt, denen
Danach mischte sich Tschun in einem Nebenzimmer unter die Verwandten und übrigen Gäste. Sie alle sprachen von dem Toten, priesen sein stilles freundliches Wesen und ergingen sich in heftigen Ausbrüchen gegen diese Barbaren, die ihm, einem Unschuldigen, ein so jähes Ende bereitet. »Und er konnte doch gar nicht anders!« rief einer, »ich frage Euch alle: er durfte doch nicht etwa seinen Vater verraten?«
»Sicherlich nicht! Er hat recht gehandelt!« antworteten sie einstimmig.
Tschun horchte gespannt auf; er begann die geheimen Zusammenhänge zu ahnen.
»Er hat alles auf sich genommen, um den Vater zu schützen,« begannen die Freunde wieder,
Und einer der Verwandten sagte seufzend: »Ja, wenn die Kaiserin darum wüßte, sie verliehe ihm sicher posthume Ehren!«
»Wahrlich, Du hast recht,« fiel ein anderer Vetter ein, »manch einem ist um geringeres Verdienst ein Gedenkbogen errichtet worden.«
»Nun, wenigstens erhält er ein Begräbnis, so großartig, wie er selber nie geträumt,« meinte ein Freund.
»Aber das ist nicht genug,« murmelte ein Vetter und schaute die anderen Verwandten bedeutungsvoll an.
Nun lauschte Tschun noch gespannter, denn jetzt, so hoffte er, würden sie in der Erregung doch sicher von ihrem Vorhaben reden. Aber die Vettern nickten sich nur schweigend zu. Und dann ging das Gespräch auf das Begräbnis über, lange Berechnungen seiner mutmaßlichen Kosten wurden angestellt, und jeder zählte die Fälle
Das Thema war unerschöpflich. Tschun fühlte, daß er jetzt nichts mehr erfahren würde. Enttäuscht erhob er sich und nahm Abschied.
Als er dann in dem äußeren Hof des Hauses stand, wo noch die von den fremden Soldaten erbrochenen und geleerten Unheilskisten standen, gewahrte er zwei kleine Kinder. Die Söhnchen des toten Händlers waren es, um die sich, bei dem plötzlichen Schicksalsschlag, offenbar niemand sonderlich kümmern konnte. – Sie hatten ein paar Fetzen weißen Trauerstoffes erwischt und sich damit die drolligen bezopften Köpfchen umwickelt. So ausstaffiert, warfen sie sich mit ehrfürchtigen Gebärden vor einer der Kisten nieder, als sei es ein Sarg, in dem ein Toter liegt.
Tschun schaute ihnen einen Augenblick zu, wie sie sich so ernsthaft feierlich benahmen, ganz wie sie es von den Großen gesehen. Dann trat er
»Ja«, antwortete das kleinste Kind, »die fremden Teufel haben ihn tot gemacht! nun ist er auch fort!«
Und der größere Knabe fiel erklärend ein: »Der Großvater ist nämlich auch fort, ganz rasch ist er fort, aber der ist nicht tot, der ist zum Prinzen Tuan geflohen in die Verbannung!«
»Aber«, erzählte der Kleinste mit wichtiger Miene, »unsere großen Vettern haben gesagt, sie würden die fremden Teufel dafür strafen, daß sie den Vater tot gemacht haben. Im Hause, wo sie wohnen, werden die Vettern sie braten.«
Tschun stockte der Atem. Aber er zwang sich, ganz gleichgültig zu fragen: »Und wann wollen die Vettern denn die bösen Fremden braten?«
»Nach der Beerdigung, haben sie gesagt,« antwortete das Kind. »Nachts, wenn die fremden Teufel alle schlafen, wollen sie hinziehen. Mit vielen Kannen voll Petroleum werden sie das Holz begießen.«
Und bei den Worten glomm es in den Schlitzäuglein der beiden Kinder, als ob aus ihnen selbst böse Flämmchen hervorzüngelten.
Tschun aber atmete auf. Nach der Beerdigung erst, hatten sie gesagt, dann hatte er also noch Zeit, zu überlegen. Denn die würde doch erst in ein paar Tagen sein. – Er eilte nun davon, sinnend, was zu tun. Diesen Anschlag mußte er verhindern, das stand fest. Aber wie es am besten anzufangen, wußte er nicht. Seinem Herrn alles, was er ermittelt hatte, erzählen, das wäre das einfachste gewesen. Vielleicht rührte sogar ihn der Gedanke an diesen Sohn, der die Schuld des Vaters auf sich genommen hatte und unschuldig in den Tod gegangen war? Vielleicht begnügte er sich, dann die Wachen zu verdoppeln, und ermächtigte Tschun, das den Verwandten des Händlers zu sagen, und sie vor unüberlegten leidenschaftlichen Taten zu warnen? – Das
So langte Tschun endlich im Yamen wieder an. Es war später geworden, als er gedacht.
»Na,« riefen sie höhnisch, »jetzt wirst Du es aber schön kriegen! Der Herr hat mehrmals nach Dir gefragt. Er ist sehr aufgebracht, daß Du einfach wegläufst, wie es Dir paßt.«
»Ja,« sagte der Korporal, »ich soll gleich melden, sobald Du zurück bist, zum mindesten kriegst Du schweren Arrest.«
Im selben Augenblick kam aber auch schon Tschuns Herr selbst von seinem Hause her in den Hof. Die Soldaten salutierten und gingen dann in der Richtung ihrer Quartiere davon. Zögernd, um noch etwas von dem Auftritt zu erhaschen. Der Korporal trat ein paar Schritte seitwärts.
»So, da bist Du also endlich wieder!« rief der Offizier, Tschun gewahrend, und sein Gesicht ward ganz rot, »was soll denn das heißen, ohne Urlaub wegzulaufen! Wo bist Du gewesen?«
»Ich war bei den Hinterbliebenen des Händlers,« antwortete Tschun.
Tschun war ratlos, was zu antworten. Bei der Stimmung, in der sein Herr sich augenblicklich befand, und in Gegenwart des Korporals, konnte er unmöglich den wahren Zweck seines Besuchs nennen. Das hätte alles verdorben. Die verschiedensten Gedanken schossen ihm wirr durch den Kopf. Und dann sagte er, glücklich, eine Antwort gefunden zu haben: »Ich wollte Ihnen mein Beileid bezeigen.«
Der Offizier sah Tschun zuerst verdutzt an und dann brach er in ein hartes Lachen aus. »Du willst mich wohl zum Narren halten, redest da wie ein großer Herr von »Beileid bezeigen«. Nun, ich frag' Dich nochmals: Was wolltest Du dort? Aber sprich die Wahrheit – sonst ...«
Der Fremde sah ihn scharf an und zuckte die Achseln. »Na,« sagte er, »wenn Du es durchaus nicht anders willst, werden wir Dir die Flausen mal vertreiben,« – und er winkte den bösen Korporal heran. Der stand stramm, hörte, was der Herr ihm sagte, und salutierte. Und während dann der andere davonging, hatte er Tschun auch schon ergriffen. »Dorthin, marsch!« kommandierte er, wies nach den Soldatenquartieren und gab Tschun einen Fußtritt, um ihn in die gewünschte Richtung zu dirigieren. Tschun taumelte ein paar Schritte vorwärts. »Heda Ihr dort, kommt mal her,« rief der Korporal einigen Soldaten zu, die da herumstanden. Dann gab er ihnen ein paar Befehle.
Und ehe Tschun überhaupt begriffen, was geschehen sollte, hatten ihn zwei der Leute auch schon gepackt und umgedreht, und während sie ihn niederhielten, hieb ein Dritter auf seinen
Da sagte der Korporal: »Hauman zu, der Kerl muß ein dickes Fell haben, er muckst ja nicht mal!«
Aber Tschun war noch immer wie gelähmt. Er hätte sich gar nicht bewegen können, auch jetzt nicht, wo die Hiebe schärfer fielen.
»Es ist eigentlich eine viel zu milde Strafe für so 'nen Boxerfreund,« sagte der Korporal. »Ohne viel Federlesens hätt' man ihn erschießen sollen, wie den andern Kerl.«
Und wie um dem möglichst nahe zu kommen, wurden die Schläge nun immer entsetzlicher. Aber Tschun rührte sich noch immer nicht. Er wäre lieber gestorben, als den Schmerz zu zeigen, den er empfand. Damit wäre ja das, was viel unerträglicher war als der Schmerz, die Schande, zugestanden gewesen. So biß er die Zähne aufeinander und wiederholte sich innerlich unablässig in bitterem Trotz: Ihr könnt mir doch nichts anhaben, Ihr könnt nicht, Ihr fremden
Dann endlich ließen ihn die Soldaten los. Wie ein Bündel Lumpen sank er zusammen. Blieb regungslos, scheinbar tot, liegen, solange die Soldaten in der Nähe waren. Nur seine schmalen Augen lebten. Aus dem gelben, seltsam grünweiß gewordenen Gesicht blinzelten sie verstohlen hervor und beobachteten die Fremden mit einem neuen bösen Ausdruck – angstvoll und tückisch zugleich.
Sobald aber die Soldaten mit dem Korporal davongegangen waren, kroch Tschun am Boden entlang zu seinem Schlafwinkel. Ganz merkwürdig tierische Bewegungen hatte er dabei. Wie
Und nun waren auch die Erinnerungen alle da. Tschun war zum Bewußtsein dessen erwacht, was er erlebt hatte. Schon lag er auch nicht mehr, sondern saß aufrecht da und starrte in die Finsternis. Was er vor sich sah und anstarrte, das waren ein paar Worte, die in flammenden Zeichen gegen die dunkle Wand gemalt zu sein schienen: »Hier kann ich nicht bleiben«. Und dann hörte er seine eigene Stimme sagen: »Hier will ich nicht bleiben«. Es war ganz elementar und unabweislich. Gerade wie damals, wo er, als Junge, bei der Ungerechtigkeit des alten Yang hung und der Seinen, dieses selbe zwingende Gebot empfunden hatte.
Das schien ihm lang, lang her. Damals war er um Schutz zu den Fremden geflohen. Ja, da mußte es freilich lange her sein! Denn heute! ... Und Tschun lachte voll bitteren Hohnes bei dem Gedanken, daß er je, um Schutz und Gerechtigkeit zu finden, zu den Fremden habe fliehen können. Was warf er denn damals Yang hung und den Seinen vor? Daß sie ihn geschlagen und Dieb genannt, ohne daß das von ihnen bewiesen. Ganz dasselbe taten ja aber diese Fremden und noch viel, viel mehr. Und dabei schauten sie mit Verachtung auf die Chinesen und nannten sich höhere Wesen!
Er selbst hatte sie einst auch dafür gehalten. War vertrauend zu ihnen gekommen, im Glauben, daß sie, wie für ihn, den einzelnen, so auch für das ganze Land, nur Wohlwollen und gute Gaben brächten. Welcher Wahn war das gewesen! Nein! wahrlich, die waren keine höheren Wesen, keine besseren Menschen! Und sie brachten nichts Gutes und wollten niemand wohl. Sie wollten ja nur möglichst viel für sich
Die Jahre, die er im Fremdenviertel verlebt, zogen noch einmal im Fluge an ihm vorüber, die Jahre, die mit soviel seltsam schönen Erwartungen begonnen, und die nun heute so endeten – in Ekel und Empörung.
Denn es war zu Ende. Unwiederbringlich. All sein Glaube an die Fremden war dahin. Nie mehr könnte er von ihnen Gutes erwarten. Nicht für sich. Nicht für sein Land. Sie erschienen ihm jetzt hassenswert. Und er haßte sie mit all seinen Kräften. Ja, er schöpfte neue Kräfte aus diesem großen Hasse. Und nie würde er von
Und als der Tag zu grauen begann, schlich Tschun aus seiner Kammer. Vorbei an den Quartieren der noch schlafenden fremden Soldaten. Rückwärts bei den Pferdeställen wollte er hinaus. Da würden nun bald die Kulis, die den Mist fortzuschaffen hatten, von draußen kommen und ihre Arbeit beginnen. So würde er unbemerkt entkommen können, und wenn ihn einer der Kulis etwa doch gewahren sollte, würde der ihn nicht hindern, noch angeben. Das waren ja Landsleute, Chinesen! –
Hinter einen Vorsprung der Stallgebäude gedrückt, wartete er eine Weile. Dann knarrten Türen. Schritte erschallten. Leben begann sich in dem weitläufigen Yamen zu regen. Ein verschlafener Soldat nahte und schloß das Tor für die schon draußen wartenden Kulis auf. Tschun
Erst als eine weite Strecke zwischen ihm und dem Yamen lag, getraute er sich, seine Schritte allmählich zu verlangsamen. Und dann hielt er in seinem Lauf ganz inne.
Er befand sich jetzt auf der gewölbten Brücke, die den Kanal im Gesandtschaftsviertel überspannt. Dieselbe Stelle war es, wo er, vor Jahren, als er von Yang hung zu der Taitai geflohen war, auch gerastet hatte. Aber der Anblick, der sich ihm heute bot, war sehr anders als damals. Lockend, voller Versprechungen, war ihm alles erschienen, an jenem fernen, flimmernden Frühlingsmorgen, wo spielendes Licht alle Dunkelheit löste. – Heute sah er von hier oben auf Reihen und Reihen verwüsteter Häuser. Zerlöchert, der Dächer beraubt, standen sie da, und
Die einzige Aehnlichkeit mit dem damaligen Bilde waren die vielen fremden Fahnen, die auch heute an hohen Masten über den verstümmelten Gebäuden im kühlen Frühwind wehten. Und sie hatten sich noch sehr vermehrt, flatterten heute nicht nur über den Gesandtschaften, sondern waren auf den verschiedensten chinesischen Bauwerken aufgepflanzt, wo immer fremde Truppen einquartiert lagen. In allen Stadtteilen, ja selbst auf den höchsten Punkten der verbotenen Stadt, zwischen den herbstlich werdenden Bäumen, sah man sie wehen. – Als ob ganz Peking den Fremden gehöre.
Bei diesem Gedanken vergaß Tschun die Schmach, die ihm selbst geschehen. Sie war ja nur ein kleiner Teil der großen Schmach, die auf dem ganzen Lande lastete, und die durch jede dieser sich blähenden fremden Fahnen versinnbildlicht wurde. Tschun selbst war es gelungen, sich von seinem fremden Herrn freizumachen. Er
Ja, wie Tschun so auf der hohen, gewölbten Brücke stand und herabblickte auf die Flaggen, die lauter einzelne Nationen repräsentierten, war ihm plötzlich, als überschaue er die ganze Welt, diese Riesenkugel, die durch den Weltenraum kreist. Und er glaubte zu sehen, wie, von allen Seiten, die verschiedenartigsten Menschen an der Kugel emporkrochen, alle nach einem bestimmten Punkte hin. Dieser Punkt aber war sein Land, sein China. Eines der letzten Gebiete der Welt, die noch nicht zerstückelt und aufgeteilt sind. Doch das war es ja gerade, was jetzt geschehen sollte! Die verschiedenartigen, winzigen Wesen, die auf der Kugel so eilig herankrochen, die führten ja alle große Messer bei sich, und damit wollte jeder
Doch da, und während Tschun noch also sinnend auf der Brücke stand, kam von jenseits der hohen Mauer, aus der Chinesenstadt her, ein Schwarm grauer Tauben gezogen. Mit weit ausgestreckten Flügeln glitten sie dahin durch das kühle Licht des herbstlichen Morgens. Und aus den Bambuspfeifchen, die sie unter den Schwungfedern trugen, tönten seltsam wehmütige, langgezogene Klänge zur Erde herab. Wie ein gespenstischer Trauerchor wirkte es. Als klagten dort oben die Geister eines einstmaligen, stolz in sich abgeschlossenen Chinas um alles, was seil ihren Tagen ihrem Lande geschehen. – Und heute achtete Tschun auf diese Töne, heute verstand er ihre Sprache. Ein großes Heimweh erfaßte ihn nach jenem China, dem er einst selbst
Und Tschun begriff, daß, wenn sein China überhaupt weiter leben und bestehen sollte, es jetzt erst recht heißen mußte, weiterzustreben zu jenen Zielen, für die es alte Abgeschlossenheit einst aufgegeben. Aber zu diesen Zielen, so wollte ihm scheinen, mußten sich andere Wege finden lassen als die verdächtigen, von den stets eigensüchtigen Fremden gewiesenen. Fortschreiten galt es. Aber Fortschritt war doch nicht bloß ein Importgut, das ausschließlich bei den Fremden ellenweise gekauft werden konnte?
Aber blieb noch Zeit dazu? Hatten in den vielen Regierungs-Yamen des ganzen Landes, vor allem aber dort drüben unter den goldenen Dächern der Kaiserlichen Paläste, weltfremde Machthaber nicht gar zu lange geschlummert? Lag, unter den Trümmern des alten Chinas, die Möglichkeit eines neuen nicht vielleicht auch schon begraben? – Wer vermochte es heute schon zu sagen?
Ein Frösteln, wie kalter Zweifel, überkam Tschun in dem kühlen Morgen. Doch unwillig schüttelte er es ab und straffte die Glieder. Seine Kräfte wenigstens sollten jener Möglichkeit gehören. Und wie er, dachten sicherlich viele Junge. – Die mußten sich sammeln zum Werke. –
Und Tschun nahm seinen Lauf wieder auf. Hin zum kommenden China.