Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).
Eine Stunde von diesem Orte süd-ostwärts liegt ein kleines Dörfchen Tiefenbach, von seiner Lage zwischen Bergen so genannt, an deren Fuße die Häuser zu beiden Seiten des Wassers hängen, das sich aus den Thälern von Süd und Nord her just in die Enge und Tiefe zum Fluß hinsammelt. Der östliche Berg heißt der Giller, geht steil auf, und seine Fläche nach Westen gekehrt, ist mit Maibuchen dicht bewachsen. Von ihm ist eine Aussicht über Felder und Wiesen, die auf beyden Seiten durch hohe verwandte Berge gesperrt wird. Sie sind ganz mit Buchen und Eichen bepflanzt, und man sieht keine Lücke, außer wo manchmal ein Knabe einen Ochsen hinauf
Unten am nördlichen Berge, der Geissenberg genannt, der wie ein Zuckerhut gegen die Wolken steigt, und auf dessen Spitze Ruinen eines alten Schlosses liegen, steht ein Haus, worinnen Stillings Eltern und Voreltern gewohnt haben.
Vor ohngefähr dreißig Jahren lebte noch darinn ein ehrwürdiger Greis, Eberhard Stilling, ein Bauer und Kohlenbrenner. Er hielt sich den ganzen Sommer durch im Walde auf, und brannte Kohlen; kam aber wöchentlich einmal nach Hause, um nach seinen Leuten zu sehen, und sich wieder auf eine Woche mit Speisen zu versehen. Er kam gemeiniglich Sonnabends Abends, um den Sonntag nach Florenburg in die Kirche gehen zu können, allwo er ein Mitglied des Kirchenraths war. Hierinnen bestunden auch die mehresten Geschäfte seines Lebens. Sechs großgezogene Kinder hatte er, wovon die zween ältesten Söhne, die vier jüngsten aber Töchter waren.
Einsmals als Eberhard den Berg herunter kam, und mit dem ruhigsten Gemüthe die untergehende Sonne betrachtete, die Melodie des Liedes, Der lieben Sonnen Lauf und Pracht hat nun den Tag vollführet, auf einem Blatt pfif, und dabey das Lied durchdachte, kam sein Nachbar Stähler hinter ihm her, der ein wenig geschwinder gegangen war, und sich eben nicht viel um die untergehende Sonne bekümmert haben mochte. Nachdem er eine Weile schon nahe hinter ihm gewesen, auch ein paarmal fruchtlos gehustet hatte; fieng er ein Gespräch an, das ich hier wörtlich beifügen muß.
»Guten Abend, Ebert!«
Dank hab, Stähler! (indem er fortfuhr auf dem Blatt zu pfeifen.)
»Wenn das Wetter so bleibt, so werden wir unser Gehölze bald zugerichtet haben. Ich denke, dann sind wir in drey Wochen fertig.«
Es kann seyn. (Nun pfif er wieder fort.)
Das soll wohl seyn. Da geht die Sonne hinter den Berg unter, ich kann mich nicht genug erfreuen über die Güte und Liebe Gottes. Ich war so eben in Gedanken drüber; es ist auch Abend mit uns, Nachbar Stähler! der Schatten des Todes steigt uns täglich näher, er wird uns erwischen, ehe wirs uns versehen. Ich muß der ewigen Güte danken, die mich nicht nur heute sondern den ganzen Lebenstag durch mit vielem Beistand getragen, erhalten und versorgt hat.
»Das kann wohl seyn!«
Ich erwarte auch wirklich ohne Furcht den wichtigen Augenblick, wo ich von diesem schweren, alten und starren Leib befreyt werden soll, um mit den Seelen meiner Voreltern, und anderer heiligen Männer, in einer ewigen Ruhe umgehen zu können. Da werd' ich finden: Doktor Luther, Calvinus, Oecolampadius, Bucerus, und andere mehr, die mir unser seeliger Pastor, Herr Winterberg, so oft gerühmt, und gesagt hatte, daß sie nächst den Aposteln, die frömmsten Männer gewesen.
»Das kann möglich seyn! Aber sag' mir, Ebert, hast du die Leute, die du da herzählst, noch gekannt?«
Wie schwazest du? die sind über zweihundert Jahr todt.
»So! – das wäre!«
Dabei sind alle meine Kinder groß, sie haben schreiben und lesen gelernt, sie können ihr Brod verdienen, und haben mich und meine Margrethe bald nicht mehr nöthig.
»Nöthig? – hat sich wohl! – Wie leicht kann sich ein Mädchen oder Junge verlaufen, sich irgend mit armen Leuten abgeben, und seiner Familie einen Klatsch anhängen, wann die Eltern nicht mehr Acht geben können!«
Vor dem allen ist mir nicht bange. Gott Lob! daß mein Achtgeben nicht nöthig ist. Ich hab' meinen Kindern durch
Stähler lachte herzlich! eben wie ein Fuchs lachen würde, wenn er könnte, der dem wachsamen Hahn ein Hühnchen entführt hat, und fuhr fort:
»Ebert, du hast viel Vertrauen auf deine Kinder. Ich denke aber du wirst wohl die Pfeife in den Sack stecken, wann ich dir alles sagen werde, was ich weiß.«
Stilling drehte sich um, stund, und stützte sich auf seine Holzaxt, lächelte mit dem zufriedensten und zuversichtlichsten Gesichte, und sagte: Was weißest du denn, Stähler, das mir so weh in der Seele thun soll?
»Hast du gehört, Nachbar Stilling, daß dein Wilhelm, der Schulmeister, heurathet?«
Nein, davon weis ich noch nichts.
»So will ich dir sagen, daß er des vertriebenen Predigers Morizens Tochter zu Lichthausen haben will, und daß er sich mit ihr versprochen hat.«
Daß er sich mit ihr versprochen hat, ist nicht wahr; daß er sie aber haben will, das kann seyn.
Nun giengen sie wieder.
»Kann das seyn? Ebert! – Kannst du das leiden? Ein Bettelmensch, das nichts hat, kannst du das deinem Sohn geben?«
Gebettelt haben des ehrlichen Mannes Kinder nie; und wann sie's hätten? – Aber welche Tochter mag es seyn? Moriz hat zwo Töchter.
»Dortchen.«
Mit Dortchen will ich mein Leben beschließen. Nie will ich es vergessen! Sie kam einmal zu mir auf einen Sonntag Nachmittag, grüßte mich und Margrethe von ihrem Vater, setzte sich und schwieg. Ich sah ihr an den Augen an, daß sie was wollte, auf den Backen aber daß sie's nicht sagen konnte. Ich fragte sie, braucht ihr was? Sie schwieg und seufzte. Ich ging
»Du hättest sie ihr wohl schenken können; die bekommst du dein Lebetag nicht wieder.«
Das war auch meine Meinung, daß ich ihr das Geld schenken wollte. Hätt' ich es ihr aber gesagt, das Mädchen hätte sich noch mehr geschämt. Ach, sagte sie, bester liebster Vater Stilling! (das gute Kind weinte blutige Thränen) wenn ich seh', wie mein alter Papa sein trocken Brod im Munde herumschlägt, und kann es nicht kauen, so blutet mir das Herz. – Meine Margrethe lief, holte einen großen Topf süße Milch, und seitdem hat sie alle Woche ein paarmal süße Milch dahin geschickt.
»Und du kannst leiden, daß Wilhelm das Mädchen nimmt?«
Wenn er's haben will, von Herzen gern. Gesunde Leute können was verdienen, reiche Leute können das Ihrige verlieren.
»Du hast vorhin gesagt, du wüßtest noch nichts davon. Du weißt doch, wie du sagst, daß er sich noch nicht mit ihr versprochen hat.«
Das weis ich! – Er fragt mich gewiß vorher.
»Hör'! Er dich fragen? Ja, da kannst du lange warten!«
Stähler! ich kenne meinen Wilhelm. Ich hab' meinen Kindern immer gesagt, sie könnten so arm und so reich heurathen als sie wollten und könnten, sie sollten nur auf Fleiß und Frömmigkeit sehen. Meine Margrethe hatte nichts, und ich ein Gut mit vielen Schulden. Gott hat mich gesegnet, ich kann jedem hundert Gulden baar mitgeben.
»Ich bin kein Gleichviels-Mann, wie du! Ich muß wissen was ich thue, und meine Kinder sollen heurathen wie ich's vor's beste erkenne.«
Ein jeder macht die Schuh nach seinem Leisten, sagte Stilling. Nun war er nah vor seiner Hausthür.
Der Schulmeister, Wilhelm Stilling, trat hierauf in die Stube. Nachdem er seine Eltern mit einem guten Abend gegrüßt, setzte er sich auf die Bank, legte die Hand an den Backen, und war tiefsinnig. Er sagte lange kein Wort. Der alte Stilling stocherte seine Zähne mit einem Messer, denn das war so seine Gewohnheit nach Tische zu thun, wenn er auch schon kein Fleisch gegessen hatte. Endlich fing die Mutter an: Wilhelm, mir war als bang, dir sollte was wiederfahren seyn, weil du so lange bleibst. Wilhelm antwortete: O! Mutter! das hat keine Noth. Mein Vater sagt ja oft, wer auf seinen Berufswegen geht, darf nichts fürchten. Hier wurd' er bald bleich, bald roth; endlich brach er stammelnd los, und sagte: Zu Lichthausen (so hieß der Ort, wo er Schule hielt, und dabei den Bauren ihre Kleider machte) wohnt ein armer vertriebener Prediger; ich wäre wohl willens seine jüngste Tochter zu heurathen; wenn ihr beide Eltern es zufrieden seyd, so wird sich keine Hinderniß mehr finden. Wilhelm, antwortete der Vater, du bist drei und zwanzig Jahr alt; ich habe dich lehren lassen, du hast Erkenntniß genug, kannst dir aber in der Welt nicht selber helfen, denn du hast gebrechliche Füße; das Mädchen ist arm, und zur schweren Arbeit nicht angeführt; was
Wilhelm kam auf seine Kammer, an welcher nur ein Laden war, der aber eben so genau nicht schloß, daß nicht so viel Tag hätte durchschimmern können um zu wissen, ob man aufstehen müsse. Dieses Fenster war noch offen, daher trat er an dasselbe, es sah gerade gegen den Wald hin, alles war in tiefer Stille, nur zwo Nachtigallen sangen wechselsweise auf das allerlieblichste. Dieses war Wilhelmen öfters ein Wink gewesen. Er sank an der Wand nieder. O Gott! seufzte er, dir dank ich, daß du mir solche Eltern gegeben hast! O laß sie Freude an mir sehen! Laß mich ihnen nicht zur Last seyn! Dir dank ich, daß du mir eine tugendhafte Frau giebst! O segne mich! –
Nie hat jemand sanfter geschlafen als der Schulmeister. Sein inniges Vergnügen weckte ihn des Morgens früher als sonst. Er stund auf, ging heraus in den Wald, und erneuerte alle seine heilige Vorsätze die er je in seinem Leben sich vorgenommen hatte. Um sieben Uhr gieng er wieder nach Haus, und aß mit seinen Eltern und Schwestern die süße Milchsuppe, und ein Butterbrod. Nachdem sich nun der Vater zuerst, hernach auch der Sohn den Bart abgemacht, die Mutter aber mit den Töchtern sich berathschlaget, wer unter ihnen zu Hause bleiben, und wer in die Kirche gehen sollte, so zog man sich an. Dieses alles war in einer halben Stunde geschehen; sodann gingen die Töchter vor, darnach Wilhelm, und zu hinterst der Vater mit seinem dicken Dornenstocke. Wenn der alte Stilling mit seinen Kindern ausging, so mußten sie allemal vor ihm gehn, damit er, wie er zu sagen pflegte, den Gang und die Sitten seiner Kinder sehen und sie zur Ehrbarkeit anführen könnte.
Nach der Predigt ging Wilhelm wieder nach Lichthausen, wo er Schulmeister war, und wo auch sein älterer verheyratheter Bruder, Johann Stilling, wohnte. In einem andern Nachbarhause hatte der alte Pastor Moriz mit seinen zwo Töchtern ein paar Kammern gemiethet, in welchen er sich aufhielte. Nachdem nun den Nachmittag Wilhelm seinen Bauern eine Predigt in der Capelle vorgelesen, und mit ihnen nach altem Brauch ein Lied gesungen, so eilte er, so geschwind als es nur seine gebrechliche Füße zulassen wollten, nach Herr Morizen. Der alte Mann saß eben vor seinem Clavier, und spielte ein geistlich Lied. Sein Schlafrock war sehr reinlich, und schön gewaschen, nirgend sah man einen Riß, aber wohl hundert Lappen. Neben ihm auf einer Kiste saß Dorothe, ein Mädchen
»Gut, Dortchen, die Mädchen pflegen doch auch wohl auf die Leibesgestalt zu sehen.«
Der Pastor lächelte zufrieden und fuhr fort: Du wirst nun diesen Abend auch die Küche bestellen müssen, denn der Bräutigam muß mit dir essen. Ich hab' nichts, sagte die unschuldige Braut, als ein wenig Milch, Käse und Brod; wer weiß aber, ob mein Wilhelm damit zufrieden ist? Ja, versetzte Wilhelm, ein Stück trocken Brod mit euch zu essen, ist angenehmer, als fette Milch mit Weisbrod und Eyerpfannenkuchen. Herr Moriz zog indessen seinen abgetragenen braunen Rock mit schwarzen Knöpfen und Knopflöchern an, nahm sein lakirt gewesenes Rohr, ging und sagte: Da will ich zum Amtsverwalter gehn, er wird mir seine Flinte leihen, und dann will ich sehn, ob ich etwas schießen kann. Das that er oft, denn er war in seiner Jugend ein Freund von der Jagd gewesen.
Nun waren unsere Verlobte allein, und das hatten sie beide gewünscht. Wie er fort war, schlugen sie die Hände in einander, saßen neben einander, und erzählten sich, was ein jedes empfunden, geredt und gethan, seitdem sie sich einander gefallen hatten. Sobald sie fertig waren, fingen sie wieder von vorne an, und gaben der Geschichte vielerlei Wendungen; so war sie immer neu: für alle Menschen langweilig, nur für sie nicht.
Friederike, Morizens andere Tochter, unterbrach dieses Vergnügen. Sie stürmte herein, indem sie ein altes Historien-Lied dahersang. Sie stutzte. Stör' ich euch? fragte sie. – Du stöhrst mich nie, sagte Dortchen; denn ich gebe niemals Acht auf das, was du sagst oder thust. Ja du bist fromm, versetzte jene; aber du darfst doch so nah bei den Schulmeister sitzen? doch der ist auch fromm. – Und noch dazu dein Schwager, fiel ihr Dorothe in die Rede, heute haben wir uns versprochen.
Indem sie so vergnügt beysammen saßen, stürmte Friederike wüthend wieder in die Kammer. Ach! rief sie stammelnd, da bringen sie meinen Vater blutig ins Dorf. Jost der Jäger schlägt ihn noch immer, und drei von des Junkers Knechten schleppen ihn fort. Ach! sie schlagen ihn todt! Dortchen that einen hellen Schrei und floh zur Thür hinaus. Wilhelm eilte ihr nach, aber der gute Mensch konnte nicht so geschwind fort, wie die Mädchen. Sein Bruder Johann wohnte nah bei Morizen, dem rief er. Diese beide gingen dann auf den Lärm zu. Sie fanden Morizen in dem Wirthshause auf einem Stuhl sitzen; seine grauen Haare waren von Blut zusammengebacken; die Knechte und der Jäger stunden um ihn, fluchten, spotteten, knüpften ihm Fäuste vor die Nase, und eine geschossene Schnepfe lag vor Morizen auf dem Tisch. Der unpartheyische Wirth trug ruhig Brandwein zu. Friederike bat flehentlich um Gnade, und Dortchen um ein wenig Brandwein, dem Vater den Kopf zu waschen; allein sie hatte kein Geld zu bezahlen, und der Schade war auch zu groß für den Wirth, ihr ein halbes Glas zu schenken. Doch wie die Weiber von Natur barmherzig sind, so brachte die Wirthin einen Scherben, der unter dem Zapfen des Brandweinfasses gestanden, und daraus wusch Dortchen dem Vater den Kopf. Moriz hatte schon vielmal gesagt, daß ihm der Junker Erlaubnis gegeben, so viel zu schießen, als ihm beliebte; allein, der war nun jetzt zum Unglücke verreiset; der Pastor schwieg daher still und entschuldigte sich nicht mehr. So stunden die Sachen, als die Gebrüder Stilling ins Wirthshaus kamen. Die erste Rache die sie nahmen, war an einem Brandweinglase, womit der Wirth aus dem Keller kam, und es sehr behutsam trug, um nichts zu verschütten; wiewohl diese Vorsicht eben so gar nöthig nicht war, denn das Glas war über ein Viertel leer. Johann Stilling wischte dem Wirth über die Hand, daß das
Der alte Moriz wurde in wenig Tagen wieder besser, und
Endlich brach dann der längst gewünschte Donnerstag an. Alles war den Morgen vor der Sonne in Stillings Hause wacker; nur der Alte, der den Abend vorher spät aus dem Wald gekommen war, schlief ruhig bis es Zeit war, mit den Brautleuten zur Kirche zu gehen. Nun gieng man in geziemender Ordnung nach Florenburg, allwo die Braut mit ihrem Gefolge schon angekommen war. Die Copulation ging ohne Widerspruch vor sich, und alle zusammen verfügten sich nun nach Tiefenbach zum Hochzeitmale. Zwei lange Bretter waren in der Stuben neben einander auf hölzerne Böcke gelegt, anstatt des Tisches; Margrethe hatte ihre feinste Tischtücher drüber gespreitet, und nun wurden die Speisen aufgetragen. Die Löffel waren von Ahornholz, schön glatt, mit ausgestochenen Rosen, Blumen und Laubwerk gearbeitet. Die Zulegmesser hatten
Nachdem alle zur Gnüge gegessen und getrunken hatten, so wurden vernünftige Gespräche angestellt. Wilhelm aber und seine Braut wollten lieber allein seyn und reden; sie giengen daher tief in den Wald hinein. Mit der Entfernung von den Menschen wuchs ihre Liebe. Ach, wären keine Bedürfnisse des Lebens! keine Kälte, Frost und Nässe, was würde diesem Paar an einer irdischen Seeligkeit gemangelt haben? Die beiden alten Väter, die sich indessen mit einem Krug Bier allein gesetzt hatten, verfielen in ein ernstes Gespräch. Stilling redete also:
»Herr Mitvater, mir hat immer gedäucht, ihr hättet besser gethan, wann ihr euch an das Laboriren gar nicht gekehrt hättet.«
Warum, Mitvater?
»Wenn ihr eure Uhrmacherei beständig getrieben hättet, so hättet ihr reichlich euer Brod erwerben können; nun aber hat euch eure Arbeit nichts geholfen, und dasjenige, was ihr hattet, ist noch dazu drauf gegangen.«
Ihr habt Recht und auch Unrecht. Wenn ich gewußt hätte, daß dreißig bis vierzig Jahr hingehen würden, eh ich den Stein der Weisen würde gefunden haben, so hätte ich mich freilich bedacht, ehe ich angefangen hätte. Nun aber, da ich durch die lange Erfahrung etwas gelernt habe, und tief in die Erkenntnisse der Natur eingedrungen bin, nun würd' es mir leid thun, wenn ich mich umsonst sollte so lange geplagt haben.
»Ihr habt euch gewiß so lange umsonst geplagt, denn ihr habt euch einmal bisher kümmerlich beholfen. Ihr mögt nun so reich werden als ihr wollt, ihr könnt doch das Elend so
Ich kann euch beweisen, daß es einen Stein der Weisen giebt. Ein gewisser Doktor Helvetius im Haag, hat ein klein Büchlein geschrieben, das güldne Kalb genannt; darinn ist es deutlich bewiesen, so daß niemand, auch der größte Ungläubige, wenn er's lieset, nicht mehr zweifeln kann. Ob ich denselben aber bekommen werde, das ist eine andere Frage. Warum nicht eben sowohl als ein anderer? da er ein freies Geschenk Gottes ist.
»Wenn euch Gott den Stein der Weisen schenken wollte, ihr hättet ihn schon lange! Warum sollte er ihn euch so lange vorenthalten? Zudem ist's ja nicht nöthig, daß ihr ihn habt; wie viel Menschen leben ohne den Stein der Weisen!«
Das ist wahr; aber wir sollen uns so glücklich machen, als wir können.
»Ein dreißigjährig Elend ist gewiß kein Glück; aber nehmt mir nicht übel (er schüttelte ihm die Hand), ich habe, so lang ich lebe, keinen Mangel gehabt, bin gesund gewesen und alt geworden, meine Kinder hab' ich erzogen, lernen lassen, und ordentlich gekleidet. Ich bin recht vergnügt, und also glücklich. Man konnte mir den Stein der Weisen nicht schenken.«
»Aber hört, Mitvater! ihr singt recht gut, und schreibt schön; werdet Schulmeister hier im Dorfe! Friederiken könnt ihr vermiethen. Da hab' ich noch eine Kleiderkammer, darein will ich ein Bett stellen, so könnt ihr bei mir wohnen, und also immer bey euren Kindern seyn.«
Euer Anerbieten, Mitvater, ist sehr gut; ich werd' es auch annehmen, wenn ich nur noch einen Versuch werde gemacht haben.
»Macht keine Probe mehr, Mitvater! sie wird euch gewiß fehlen. Aber laßt uns von etwas anders reden. Ich bin ein so
Ich bin eben kein Sternkundiger, doch aber kenn ich ihn.
»Er steht gemeiniglich des Abends gegen Mittag. Er flammt so grünröthlich. Wie weit mag der wohl von der Erde seyn? Sie sagen, er soll wohl noch viel höher seyn als die Sonne.«
O! wohl tausendmal höher!
»Wie ist das möglich? Ich bin so ein Liebhaber von den Sternen. Ich meyn' immer, ich war schon dabei wenn ich sie besehe. Aber kennt ihr auch den Wagen und den Pflug?«
Ja, man hat sie mir wohl gewiesen.
»O welch ein wunderbarer Gott.«
Margrethe Stillings hörte dieses Gespräch; sie kam und setzte sich bei ihrem Mann. Ach Ebert! sagte sie, ich kann wohl an einer Blume seh'n, daß Gott wunderbar ist. Laßt uns die begreifen lernen! Wir wohnen bei dem Gras und den Blumen; die laßt uns hier bewundern; wann wir im Himmel sind, dann wollen wir die Sterne betrachten.
Das ist recht, sagte Moriz, es sind so viele Wunder in der Natur; wenn wir die recht betrachten, so können wir die Weisheit Gottes wohl kennen lernen. Doch ein jeder hat so etwas, wozu er besonders Lust hat.
So vertrieben die Hochzeitgäste den Tag. Wilhelm Stilling und seine Braut verfügten sich auch nach Hause, und fingen ihren Ehestand an; wovon ich im folgenden Capitel mehreres werde sagen.
Stillings Töchter aber saßen in der Dämmerung unter dem Kirschbaum und sungen folgendes schöne weltliche Liedlein:
Zuweilen kam Johann Stilling seine Eltern zu besuchen. Das ganze Haus freute sich, wann er kam; denn er war ein besonderer Mann. Ein jeder Bauer im Dorf hatte auch Ehrfurcht für ihn. Schon in seiner frühen Jugend hatte er einen hölzernen Teller zum Astrolabium, und eine feine schöne
Die Quadratur des Zirkels und die immerwährende Bewegung beschäftigten ihn zu dieser Zeit. War er nun in ein Geheimniß tiefer eingedrungen, so lief er geschwind nach Tiefenbach um seinen Eltern und Geschwistern seine Entdeckung zu erzählen. Kam er denn unten durchs Dorf herauf, und es erblickte ihn jemand aus Stillings Hause, so lief man gleich und rief alle zusammen, um ihn an der Thüre zu empfangen. Ein jedes arbeitete dann mit doppeltem Fleiß, um nach dem Abendessen nichts mehr zu thun zu haben. Dann setzte man sich um den Tisch, stützte die Ellenbogen drauf, und die Hände an die Backen, aller Augen waren auf Johanns Mund gerichtet.
Alle halfen denn an der Quadratur des Zirkels erfinden; selbst der alte Stilling verwendete vielen Fleiß auf diese Sache. Ich würde dem erfinderischen, oder besser, dem guten und natürlichen Verstande dieses Mannes Gewalt anthun, wenn
Der alte Stilling würde sich geschämt haben, wenn nicht die Gelehrsamkeit seines Sohns, und seine unmäßige Freude darüber, alles Schämen bey ihm verdrängt hätte. Er sagte deswegen nichts weiter, als: Mit Gelehrten ist nicht gut disputiren; lachte, schüttelte den Kopf, und fuhr fort von einem birkenen Klotz Späne zu schneiden, womit man Feuer und Lichter, auch allenfalls eine Pfeife Tobak anzünden konnte. Dieses war so seine Beschäftigung bei müßigen Stunden.
Stillings Töchter waren stark und arbeitsam. Sie pflegten die Erde, und sie gab ihnen reichliche Nahrung im Garten und Felde. Dortchen aber hatte zarte Glieder und Hände, sie wurde geschwind müde, und dann seufzte sie und weinte. Unbarmherzig
Der alte Pastor Moriz besuchte nun auch zum erstenmal seine Tochter. Dortchen weinte für Freuden wie sie ihn sah, und wünschte Hausmutter zu seyn, um ihm recht gütlich thun zu können. Er saß den ganzen Nachmittag bei seinen Kindern, und redete mit ihnen von geistlichen Sachen. Er schien ganz verändert, kleinmüthig und betrübt zu seyn. Gegen Abend sagte er: Kinder! führt mich einmal auf das Geißenberger Schloß. Wilhelm legte seinen eisernen schweren Fingerhut ab, und spuckte in die Hände; Dortchen aber steckte ihren Fingerhut an den kleinen Finger, und nun stiegen sie zum Wald auf. Kinder! sagte Moriz, mir ist hier so wohl unter dem Schatten der Maibuchen. Je höher wir kommen, je freier werd' ich. Es ist mir eine Zeit her gewesen, als einem der nicht zu Hause ist. Dieser Herbst muß wohl der letzte meines Lebens seyn. Wilhelm und Dortchen hatten Thränen in den Augen. Oben auf dem Berge, wo sie biß an den Rhein, und die ganze Gegend übersehen konnten, setzten sie sich an eine zerfallene Mauer des Schlosses. Die Sonne stand in der Ferne nicht hoch mehr über dem blauen Gebürge. Moriz sah starr dorthin, und schwieg lange; auch sagten seine Begleiter nicht ein Wort. Kinder! sprach er endlich, ich hinterlaß euch nichts, wenn ich sterbe. Ihr könnt mich wohl missen. Niemand wird um mich weinen. Ich habe mein Leben mühsam und unnütz zugebracht, und niemand glücklich gemacht. Mein lieber Vater! antwortete Wilhelm, ihr habt doch mich glücklich gemacht.
Nach diesem traurigen Zufall entdeckte man in Stillings Hause eine wichtige Neuigkeit. Dortchen war gesegneten Leibes, und jedermann freuete sich auf ein Kind, deren in vielen Jahren kein's im Hause gewesen war. Mit was für Mühe und Fleiß man sich auf Dortchens Entbindung gerüstet, ist nicht zu sagen. Der alte Stilling selbst freuete sich auf einen Enkel, und hoffte noch einmal vor seinem Ende seine alte Wiegenlieder zu singen, und seine Erziehungskunst zu beweisen.
Nun nahte der Tag der Niederkunft heran, und 1740 den 12ten September, Abends um 8 Uhr, wurde Henrich Stilling gebohren. Der Knabe war frisch, gesund und wohl, und seine
Das Kind wurde in der Florenburger Kirche getauft. Vater Stilling aber, um diesen Tag feyerlicher zu machen, richtete ein Mahl an, bei welchem er den Herrn Pastor Stollbein zu sehen wünschte. Er schickte daher seinen Sohn Johann ans Pfarrhaus, und ließ den Herrn ersuchen, mit nach Tiefenbach zu gehen, um seinem Mahle beizuwohnen. Johann gieng, er that schon den Hut ab, als er in den Hof kam, um nichts zu versehen; aber leider, wie oft ist alle menschliche Vorsicht unnütz! Es sprang ein großer Hund hervor; Johann Stilling griff einen Stein, warf, und traf den Hund in eine Seite, daß er abscheulich zu heulen anfing. Der Pastor sah durchs Fenster was passirte; voll von Eifer sprang er heraus, knüpfte dem armen Johann eine Faust vor die Nase; Du lumpigter Flegel! krisch er, ich will dich lernen meinem Hund begegnen! Stilling antwortete: Ich wußte nicht, daß es Ew. Ehrwürden Hund war. Mein Bruder und meine Eltern lassen den Herrn Pastor ersuchen, mit nach Tiefenbach zu gehen, um der Taufmahlzeit beizuwohnen. Der Pastor ging und schwieg still. Doch murrte er aus der Hausthür zurück: Wartet, ich will mitgehen. Er wartete fast eine Stunde im Hof, liebkosete den Hund, und das arme Thier war auch wirklich versöhnlicher, als der große Gelehrte, der nun aus der Hausthüre herausging. Der Mann wandelte mit Zuversicht an seinem Rohrstab. Johann trabte furchtsam hinter ihm mit dem Hut unterm Arm; den Hut aufsetzen war eine gefährliche Sache; denn er hatte in seiner Jugend manche Ohrfeige von dem Pastor bekommen, wenn er ihn nicht früh genug, das ist, so bald er ihn in der Ferne erblickte, abgezogen hatte. Doch aber eine ganze Stunde lang mit bloßem Haupt, im September, unter freiem Himmel zu gehen, war doch auch entsetzlich! Daher sann er auf einen Fund wie er füglich seinen Kopf bedecken möchte. Plötzlich fiel der Herr Stollbein zur Erde, daß es platschte.
Der alte Stilling stund vor der Thüre, mit bloßem Haupt; seine schönen grauen Haare spielten am Mund; er lächelte den Herrn Pastor an, und sagte, indem er ihm die Hand gab: Ich freue mich, daß ich in meinem Alter den Herrn Pastor an meinem Tisch sehen soll; aber ich würde so kühn nicht gewesen seyn, wenn meine Freude über einen Enkel nicht so groß wäre. Der Pastor wünschte ihm Glück, doch mit angehängter wohlmeinender Drohung, daß, wenn ihn nicht der Fluch des Eli treffen sollte, er mehr Fleiß auf die Erziehung seiner Kinder anwenden müßte. Der Alte stund da in seinem Vermögen und lächelte, doch schwieg er stille und führte Seine Ehrwürden in die Stube. Ich will doch nicht hoffen, sagte der Herr Pastor, daß ich hier unter dem Schwarm von Bauren speisen soll. Vater Stilling antwortete: Hier speißt niemand, als ich und meine Frau und Kinder, ist euch das ein Baurenschwarm? Ei, was anders! antwortete jener. So muß ich euch erinnern, Herr! – versetzte Stilling, daß ihr nichts weniger als ein Diener Christi, sondern ein Pharisäer seyd. Er saß bei den Zöllnern und Sündern, und aß mit ihnen. Er war überall klein und niedrig und demüthig. Herr Pastor! ... meine grauen Haare richten sich in die Höhe; setzt euch oder geht wieder. Hier pocht etwas, ich möchte mich sonst an eurem Kleide vergreifen, wofür ich doch sonsten Respekt habe ... Hier! Herr! hier vor meinem Hause ritt der Fürst vorbei; ich stund da vor meiner Thür; er kannte mich. Da sagte er: Guten
Indem man so da saß und mit Vergnügen speiste, klopfte eine arme Frau an die Thüre. Sie hatte ein klein Kind auf dem Rücken in einem Tuch hängen, und bat um ein Stücklein
Ach lieber Gott! sprach sie. Leider ja! muß ich so gehen (Stillings Mariechen hatte sich neben sie, doch etwas von ihr abgesetzt, sie horchte mit größter Aufmerksamkeit, auch waren ihre Augen schon feucht). Ich bin ja leider ein armes Mensch. Vor zehn Jahren möchtet ihr Leute euch wohl eine Ehre draus gemacht haben, wann ich mit euch gespeist hätte.
Wilhelm Stilling. Das wäre!
Johann Stilling. Es sey denn, daß ihr eine Stollbeinische Natur gehabt hättet.
Vater Stilling. Seyd still, Kinder! Lasset die Frau reden!
»Mein Vater ist Pastor zu –«
Mariechen. Jemini! Euer Vater ein Pastor? (sie rückt näher.)
»Ach ja! Freilich ist er Pastor. Ein sehr gelehrter und reicher Mann.«
Vater Stilling. Wo ist er Pastor?
»Zu Goldingen im Barchinger Land. Ja freilich! Leider ja!«
Johann Stilling. Das muß ich doch auf der Landcharte suchen. Das muß nicht weit vom Mühlersee seyn, oben an der Spitze, gegen Septentrio zu.
»Ach, mein junger Herr! ich weiß keinen Ort nahe dabei, der Schlendrian heißt.«
Vater Stilling. Redet ihr fort! St! Kinder!
»Nun war ich dazumal eine hübsche Jungfer, hatte auch schöne Gelegenheiten zu heyrathen« (Mariechen besah sie vom Haupt bis zum Fuß.) »allein keiner war meinem Vater recht. Der war ihm nicht reich genug, der andere nicht vornehm genug, der dritte ging nicht viel in die Kirche.«
Mariechen. Sage, Johann, wie heißen die Leute die nicht in die Kirche gehen?
Johann Stilling. St! Mädchen! Separatisten.
»Gut! was soll mir geschehn, ich sahe wohl, ich würde keinen bekommen, wann ich mir nicht selber hülfe. Da war ein junger Barbiergesell. –«
Mariechen. Was ist das, ein Barbiergesell?
Wilhelm Stilling. Schwesterchen, frag hernach um alles. Laß jetzt nur die Frau reden. Es sind Bursche die den Leuten den Bart abmachen.
»Das bitte ich mir aus, hat sich wohl! Mein Mann konnte, trotz dem besten Doktor, kuriren. Ach ja! viel, viel Kuren that er. Kurz, ich ging mit ihm fort. Wir setzten uns zu Spelterburg. Das liegt am Spafluß.«
Johann Stilling. Ja, da liegt es. Ein paar Meilen herauf, wo die Milder hineinfließt.
»Ja, da liegts. Ich unglückliches Mensch! – Da wurde ich gewahr, daß mein Mann mit gewissen Leuten Umgang hatte.«
Mariechen. Waret ihr schon kopulirt?
»Wer wollte uns kopuliren? lieber Gott! O ja nicht! –« (Mariechen rückte mit ihrem Stuhl ein wenig weiter von der Frauen ab) »Ich wollte es absolut nicht haben, daß mein Mann mit Spitzbuben umging; denn obgleich mein Vater nur ein Schuhflicker war. –« Die Frau packte ihr Kind auf den Nacken, und lief was sie laufen konnte.
Während dieser weisen Rede, wobei alle Anwesenden höchst aufmerksam waren, saß Wilhelm in tiefen Betrachtungen. Er hatte eine Hand an den Backen gelegt, und sahe starr gerade vor sich hin. Hum! sagte er, alles, was die Frau erzählt hat, scheint mir verdächtig. Im Anfang sagte sie, ihr Vater wäre Pastor zu ... zu ...
Mariechen. Zu Holdingen im Barchinger Land.
Ja, da war es. Und am Ende sagte sie, ihr Vater sey ein Schuhflicker gewesen. Alle Anwesende schlugen die Hände zusammen, und entsetzten sich sehr. Nun erkannte man, warum die Frau weggelaufen war; man entschloß sich also, an jeder Thüre und Oefnung im Hause vorsichtige Klinken und Klammern zu machen, und das wird auch niemand der Stillingschen Familie verdenken, wer einigermaßen den Zusammenhang der Dinge einzusehen gelernt hat.
Dortchen redete die ganze Zeit durch nichts. Warum? kann ich eben nicht sagen. Sie säugte ihren Henrich alle Augenblicke,
Vor und nach verfiel Dortchen in eine sanfte Schwermuth. Sie hatte an nichts in der Welt Vergnügen mehr, aber auch an keinem Theile Verdruß. Sie genoß beständig die Wonne der Wehmuth, und ihr zartes Herz schien sich ganz in Thränen zu verwandeln, in Thränen ohne Harm und Kummer. Gieng die Sonne schön auf, so weinte sie, und betrachtete sie tiefsinnig; sprach auch wohl zuweilen: Wie schön muß der seyn, der sie gemacht hat! Gieng sie unter, so weinte sie. Da gehet der tröstliche Freund wieder von uns, sagte sie dann oft, und sehnte sich weit weg in den Wald, zur Zeit der Dämmerung. Nichts aber war ihr rührender, als der Mond; sie fühlte dann was unaussprechliches, und ging ganze Abende unten an dem Geisenberg. Wilhelm begleitete sie fast immer und redete sehr freundlich mit ihr. Sie hatten beide etwas ähnliches in ihrem Charakter. Sie hätten die ganze Welt voll Menschen missen können, nur eins das andere nicht; dennoch empfanden sie jedes Elend und jeden Druck des Nebenmenschen.
Beinahe anderthalb Jahr war Henrich Stilling alt, als Dortchen an einem Sonntag Nachmittag ihren Mann ersuchte, mit ihr nach dem Geisenberger Schlosse zu spazieren. Noch niemalen hatte ihr Wilhelm etwas abgeschlagen. Er ging mit ihr. So bald sie in den Wald kamen, schlungen sie sich in ihre Arme und gingen Schritt vor Schritt unter dem Schatten der
»Was meinst du, Wilhelm, sollte man sich wohl im Himmel kennen?«
O ja! liebes Dortchen! Christus sagt ja, von dem reichen Mann, daß er Lazarum in dem Schooße Abrahams gekannt habe, und noch dazu war der reiche Mann in der Hölle; daher glaub ich gewiß, wir werden uns in jener Ewigkeit kennen.
»O Wilhelm! wie sehr freue ich mich, wenn ich daran denke, daß wir dann die ganze Ewigkeit durch ganz ohne Kummer, in lauter himmlischer Lust und Vergnügen werden bei einander seyn! Mich dünkt auch immer, ich könnte im Himmel ohne dich nicht seelig seyn. Ja, lieber Wilhelm! gewiß! gewiß werden wir uns da kennen! Hör einmal, ich wünsche das nun so herzlich! Gott hat ja meine Seele und mein Herz gemacht, das so wünschet; er würde es nicht so gemacht haben, wenn ich unrecht wünschte, und wenn es nicht so wäre! Ja, ich werde dich kennen, und dich unter allen Menschen suchen, und dann werd ich seelig seyn!«
Wir wollen uns bei einander begraben lassen, so brauchen wir nicht lange zu suchen.
»O möchten wir doch in einem Augenblick sterben. Aber wo bliebe dann mein lieber Junge?«
Der würde hier bleiben, und wohl erzogen werden, und endlich zu uns kommen.
»Ich würde aber doch viele Sorge um ihn haben, ob er auch fromm werden würde.«
Höre, Dortchen! du bist schon lange her, so besonders schwermüthig gewesen. Wenn ich die Wahrheit sagen soll, du machst mich mit dir betrübt. Warum bist du so gern mit mir allein! Meine Schwestern glauben, du habest sie nicht lieb.
»Doch liebe ich sie recht von Herzen.«
Du weinst oft, als wenn du mißmuthig wärest; das thut mir dann leid. Ich werde auch traurig. Hast du etwas auf
»O nein! ich bin nicht mißmuthig, liebes Kind! ich bin nicht unzufrieden. Ich habe dich lieb, ich habe unsere Eltern und Schwestern lieb, ja, ich habe alle Menschen lieb. Aber ich will dir sagen, wie es mir ist. Wenn ich im Frühling sehe, wie alles aufgeht, die Blätter an den Bäumen, die Blumen und die Kräuter, so ist mir, als wenn es mich gar nicht angienge; es ist mir dann, als wenn ich in einer Welt wäre, worinn ich nicht gehörte. Sobald ich aber ein gelbes Blatt, eine verwelkte Blume, oder dürres Kraut finde, dann werden mir die Thränen los, und mir wird so wohl, so wohl, daß ich es dir nicht sagen kann; und doch bin ich nie freudig dabei. Sonsten machte mich das alles betrübt, und ich war nie fröhlicher, als im Frühling.«
Ich kenne das nicht. So viel aber ist doch wahr, daß es mich recht empfindlich macht.
Indem sie so redeten, kamen sie zu den Ruinen des Schlosses auf die Seite des Berges, und empfanden die kühle Luft vom Rhein her, und sahen wie sie mit den langen dürren Grashalmen und Epheublättern an den zerfallenen Mauren spielte und darum pfiff. Hier ist recht mein Ort, sagte Dortchen, hier müßt ich wohnen. Erzähle mir doch noch einmal die Geschichte vom Johann Hübner, der hier auf dem Schlosse gewohnt hat. Laß uns aber hier auf den Wall gegen die Mauren über sitzen. Ich dürfte um die Welt nicht zwischen den Mauern seyn, wenn du das erzählest, denn ich graue immer, wenn ich's höre. Wilhelm erzählte:
Auf diesem Schlosse haben vor Alters Räuber gewohnt, die gingen des Nachts ins Land umher, stahlen den Leuten das Vieh und trieben es dort in den Hof; da war ein großer Stall; und hernach verkauften sie's weit weg an fremde Leute. Der letzte Räuber, der hier gewohnt hat, hieß Johann Hübner. Er hatte eiserne Kleider an, und war stärker, als alle andere
Nun begann die Sonne unterzugehen, und Dortchen mit ihrem Wilhelm hatten recht die Wonne der Wehmuth gefühlt. Wie sie den Wald hinab gingen, durchdrang ein tödtlicher Schauer Dortchens ganzen Leib. Sie zitterte von einer kalten Empfindung, und es ward ihr sauer Stillings Haus zu erreichen. Sie verfiel in ein hitziges Fieber. Wilhelm war Tag und Nacht bey ihr. Nach vierzehn Tagen sagte sie des Nachts um zwölf Uhr zu Wilhelmen: Komm, lege dich zu Bette. Er zog sich aus, und legte sich zu ihr. Sie faßte ihn in ihren rechten Arm, er lag mit seinem Kopf an ihre Brust. Auf einmal wurde er gewahr, daß das Pochen ihres Pulses nachließ, und dann wieder ein paarmal klopfte. Er erstarrte und rief seelzagend! Mariechen! Mariechen! Alles wurde wacker und lief herzu. Da lag Wilhelm und empfieng Dortchens letzten Athemzug in seinen Mund. Sie war nun todt. Wilhelm war betäubt, und seine Seele wünschte nicht wieder zu sich selbst zu kommen; doch endlich stieg er aus dem Bette, weinte und klagte laut. Selbst Vater Stilling und seine Margrethe gingen zu ihr, und hielten ihr die Augen fest zu, und schluchzeten. Es sah betrübt
Bei diesen Umständen war Wilhelm nicht im Stande sein Kind zu versorgen, oder sonst etwas nützliches zu verrichten. Margarethe nahm also ihren Enkel in völlige Verpflegung, futterte und kleidete ihn auf ihre altfränkische Manier aufs reinlichste. Die Mädchen gängelten ihn, lehrten ihn beten und andächtige Reimchen hersagen, und wenn Vater Stilling Samstags Abends aus dem Walde kam und sich bei den Ofen gesetzt hatte, so kam der Kleine gestolpert, suchte auf seine Knien zu klettern, und nahm jauchzend das auf ihn gesparte Butterbrod; mauste auch wohl selbsten im Quersack um es zu
Die stille Wehmuth Wilhelms verwandelte sich nun vor und nach in eine gesprächige und vertrauliche Traurigkeit. Nun sprach er wieder mit seinen Leuten; ganze Tage redeten sie von Dortchen, sangen ihre Lieder, besahen ihre Kleider, und dergleichen Dinge mehr. Wilhelm fing an ein Wonnegefühl in ihrem Andenken zu empfinden, und einen Frieden zu schmecken der über alles ging, wenn er sich vorstellte, daß über kurze Jahre auch ihn der Tod würde abfordern, wo er denn, ohne einiges Ende zu befürchten, ewig in Gesellschaft seines Dortchens die höchste Glückseligkeit, deren der Mensch nur fähig ist, würde zu geniessen haben. Dieser große Gedanke zog eine ganze Lebensänderung nach sich, wozu folgender Vorfall noch ein großes mit beitrug. Etliche Stunden von Tiefenbach ab, war ein großes adeliches Haus, welches durch eine Erbschaft an einen gewissen Grafen gefallen war.
»Nicht zu wohl! das Herz ist noch so wund daß es blutet; doch fange ich an mehrern Trost zu finden.«
So gehts, Meister Stilling, wenn man mit seinen Begierden sich zu sehr an etwas Vergängliches anfesselt. Und wir sind gewiß glücklicher wenn wir Weiber haben, als hätten wir keine. Wir können sie von Herzen lieben; allein wie nützlich ist es doch auch, wenn man sich übet, auch diesem Vergnügen abzusterben, und es zu verläugnen; gewiß wird uns denn der Verlust nicht so schwer fallen.
»Das läßt sich recht gut predigen, aber thun, thun, leisten, halten, das ist eine andere Sache.«
Niclas lächelte und sagte: Freilich ist es schwer, besonders wenn man ein solches Dortchen gehabt hat; doch aber wenns nur jemand ein Ernst ist, ja wenn nur jemand glaubt, daß die Lehre Jesu Christi zur höchsten Glückseligkeit führet, so wirds einem Ernst. Alsdenn ist es wirklich so schwer nicht, als man sichs vorstellt. Laßt mich euch die ganze Sache kürzlich erklären. Jesus Christus hat uns eine Lehre hinterlassen, die der Natur der menschlichen Seele so angemessen ist, daß sie, wann sie nur befolgt wird, nothwendig vollkommen glücklich machen muß. Wenn wir alle Lehren aller Weltweisen durchgehen, so finden wir eine Menge Regeln, die so zusammenhangen, wie sie sich ihr Lehrgebäude geformt hatten. Bald hinken sie, bald laufen sie, und dann stehen sie still; nur die Lehre Christi, aus den tiefsten Geheimnissen der menschlichen Natur herausgezogen, fehlet nie, und beweiset, dem der es recht einsieht, vollkommen, daß ihr Verfasser den Menschen selber müsse gemacht haben, indem er ihn bis auf den ersten Grundtrieb kannte. Der Mensch hat einen unendlichen Hunger nach Vergnügen, nach Vergnügen, die im Stande sind ihn zu sättigen, die immer was neues ausliefern, die eine unaufhörliche
»Sagt mir doch dieses alles vor, Freund Niclas! ich muß es aufschreiben, ich glaube daß es wahr ist, was ihr sagt.«
Niclas wiederholte es von Herzen, und immer mit einem bißgen mehr oder weniger, und Wilhelm schrieb es auf, so wie ers ihm vorsagte.
»Aber, fuhr er fort, wenn wir durch die Nachfolge der
Niclas lächelte und sagte: Davon läßt sich all einmal weiter reden. Nehmts nur eine Weile so, daß wie er uns durch sein heiliges reines Leben, da er in der Gnade vor Gott und den Menschen hinwandelte, eine freye Aussicht über unser Leben, über die verworrne Erdhändel verschafft hat, daß wir durch einen Blick auf ihn muthig werden, und offen der Gnade die über uns waltet, zur größern Einfalt des Herzens, mit der man überall durchkommt, so hat er auch, sag ich, sein Kreuz hin in die Nacht des Todes gepflanzt, wo die Sonne untergeht und der Mond sein Licht verliert, daß wir da hinauf blicken, und ein »Gedenke mein!« in demüthiger Hoffnung rufen. So werden wir durch sein Verdienst selig, wenn ihr wollt; denn er hat sich die Freiheit der Seinen vom ewigen Tod scharf und sauer genug verdient, und so werden wir durch den Glauben selig, denn der Glaube ist Seligkeit. Laßt euch indessen das all nicht anfechten, und seyd im Kleinen treu, sonst werdet ihr im Großen nichts ausrichten. Ich will euch ein Paar Blätter hier lassen, die aus dem französischen des Erzbischofs Fenelon übersetzt sind; sie handeln von der Treue in kleinen Dingen; auch will ich euch die Nachfolge Christi des Thomas von Kempis mitbringen, ihr könnt da weiter Nachricht bekommen.
Ich kann nicht eigentlich sagen, ob Wilhelm aus wahrer Ueberführung diese Lehre angenommen, oder ob der Zustand seines Herzens so beschaffen gewesen, daß er ihre Schönheit empfunden, ohne ihre Wahrheit zu untersuchen. Gewiß, wenn ich mit kaltem Blut den Vortrag dieses Niclasens durchdenke, so find ich daß ich nicht alles reimen kann, aber im Ganzen ists doch herrlich und gut.
Wilhelm kaufte von Niclasen einige Ellen Stof, ohne sie
Die ganze Beschäftigung dieses Mannes ging während dieser Zeit dahin, mit seinem Schneiderhandwerke seine Bedürfnisse zu erwerben; (denn er gab für sich und sein Kind wöchentlich ein erträgliches Kostgeld ab an seine Eltern) und dann, alle Neigungen seines Herzens, die nicht auf die Ewigkeit abzielten, zu dämpfen; endlich aber auch seinen Sohn in eben den Grundsätzen zu erziehen, die er sich als wahr und festgegründet eingebildet hatte. Des Morgens um vier Uhr stund er auf, und fing an zu arbeiten; um sieben weckte er seinen Henrichen, und beym ersten Erwachen erinnerte er ihn freundlich an die Gütigkeit des Herrn, der ihn die Nacht durch von seinen Engeln bewachen lassen. Danke ihm dafür, mein Kind! sagte Wilhelm, indem er den Knaben ankleidete. War dieses geschehen, so muste er sich in kaltem Wasser waschen, und dann nahm ihn Wilhelm bei sich, schloß die Kammer zu, und fiel mit ihm vor dem Bette auf die Kniee, und betete mit der größten Inbrunst des Geistes zu Gott, wobei ihm die Thränen oft häufig zur Erde flossen. Dann bekam der Junge sein Frühstück, welches er mit einem Anstand und Ordnung verzehren muste, als wenn er in Gegenwart eines Prinzen gespeiset hätte. Nun muste er ein kleines Stück im Catechismus lesen, und vor und nach auswendig lernen; auch war
Am Nachmittag, von zwo bis drei Uhr, oder auch etwas länger, lies ihn Wilhelm in den Baumhof und Geisenberger Wald spatzieren; er hatte ihm daselbst einen Distrikt angewiesen, den er sich zu seinen Belustigungen zueignen, aber über welchen er nicht weiter ohne Gesellschaft seines Vaters hinausgehen durfte. Diese Gegend war nicht größer, als Wilhelm aus seinem Fenster übersehen konnte, damit er ihn nie
Diese Gegend, Stillings Baumhof und ein Strich Waldes, der an den Hof gränzte, wurde von unserm jungen Knaben also täglich bei gutem Wetter besucht, und zu lauter idealischen Landschaften gemacht. Da war eine egyptische Wüste, in welcher er einen Strauch zur Höle umbildete, in welche er sich verbarg und den heiligen Antonius vorstellte, betete auch wohl in diesem Enthusiasmus recht herzlich. In einer andern Gegend war der Brunn der Melusine; dort war die Türkei, wo der Sultan und seine Tochter, die schöne Marcebilla, wohnten; da war auf einem Felsen das Schloß Montalban, in welchem Reinold wohnte u.s.w. Nach diesen Oertern wallfahrte er täglich, kein Mensch kann sich die Wonne einbilden die der Knabe daselbst genoß; sein Geist floß über, er stammelte Reimen und hatte dichterische Einfälle. So war die Erziehung dieses Kindes beschaffen bis ins zehnte Jahr. Eins gehört noch hierzu. Wilhelm war sehr scharf; die mindeste Uebertretung seiner Befehle bestrafte er aufs schärfeste mit der Ruthe. Daher kam zu obigen Grundlagen eine gewisse Schüchternheit in des jungen Stillings Seele, und aus Furcht für den Züchtigungen suchte er seine Fehler zu verhelen und zu verdecken, so daß er sich nach und nach zum Lügen verleiten ließ; eine Neigung die ihm zu überwinden bis in sein zwanzigstes Jahr viele Mühe gemacht hat. Wilhelms Absicht war, seinen Sohn beugsam und gehorsam zu erziehen, um ihn zu Haltung göttlicher und menschlicher Gesetze fähig zu machen; und eine gewissenhafte Strenge führte, däuchte ihn, den nächsten Weg zum Zwecke; und da konnte er gar nicht begreifen, woher es doch käme, daß seine Seligkeit, die er an den schönen Eigenschaften seines Jungens genoß, durch das Laster der Lügen, auf welchem er ihn oft ertappte, so häßlich
Der alte Stilling sah alles dieses ganz ruhig an. Die strenge Lebensart seines Sohnes beurtheilte er nie; lächelte aber wohl zuweilen und schüttelte die grauen Locken, wann er sah, wie Wilhelm nach der Ruthe grif, weil der Knabe etwas gegessen oder gethan hatte, das gegen seinen Befehl war. Dann sagte er auch wohl in Abwesenheit des Kindes: Wilhelm! wer nicht will, daß seine Gebote häufig übertreten werden, der muß nicht viel befehlen. Alle Menschen lieben die Freiheit. – Ja, sagte Wilhelm dann, so wird mir aber der Junge eigenwillig. Verbeut du ihm, erwiederte der Alte, seine Fehler, wann er sie eben begehen will, und unterrichte ihn warum; hast du es aber vorhin verboten, so vergißt der Knabe die vielen Gebote und Verbote, fehlt immer, du aber must dein Wort handhaben, und so giebts immer Schläge. Wilhelm erkannte dieses, und ließ vor und nach die mehresten Regeln in Vergessenheit kommen; er regierte nun nicht mehr so sehr nach Gesetzen, sondern ganz monarchisch; er gab seinen Befehl immer wenns nöthig war, richtete ihn nach den Umständen ein, und nun wurde der Knabe nicht mehr so viel gezüchtigt, seine ganze Lebensart wurde in etwas aufgeweckter, freier und edler.
Henrich Stilling wurde also ungewöhnlich erzogen, ganz ohne Umgang mit andern Menschen; er wuste daher nichts von der Welt, nichts von Lastern, er kannte gar keine Falschheit und Ausgelassenheit; beten, lesen und schreiben war seine
»Ich lese.«
Kannst du denn schon lesen?
Henrich sah ihn an, verwunderte sich und sprach: Das ist ja eine dumme Frage, ich bin ja ein Mensch. – Nun las er hart, mit Leichtigkeit, gehörigem Nachdruck und Unterscheidung. Stähler entsetzte sich und sagte: Hol' mich der T ... so was hab ich mein lebtag nicht gesehn. Bei diesem Fluch sprang Henrich auf, zitterte und sah schüchtern um sich; wie er endlich sah, daß der Teufel ausblieb, rief er: Gott, wie gnädig bist du! – trat darauf vor Stählern und sagte: Mann! habt ihr den Satan gesehen? Nein, antwortete Stähler. So ruft ihm nicht mehr, versetzte Henrich, und ging in eine andere Kammer.
»Man sagt guten Morgen sobald man in die Stube kommt.«
Stollbein merkte mit wem er's zu thun hatte, daher drehte er sich mit seinem Stuhl neben ihn und fuhr fort: Kannst du auch den Catechismus?
»Noch nicht all.«
Wie noch nicht all, das ist ja das erste was die Kinder lernen müssen.
»Nein, Pastor, das ist nicht das erste; Kinder müssen erst beten lernen, daß ihnen Gott Verstand geben möge, den Catechismus zu begreifen.«
Herr Stollbein war schon im Ernst ärgerlich, und eine scharfe Strafpredigt an Wilhelmen war schon ausstudirt; doch diese Antwort machte ihn stutzig. Wie betest du denn? fragte er ferner.
»Ich bete: lieber Gott! gieb mir doch Verstand, daß ich begreifen kann, was ich lese.«
»Ihr seyd nicht mein Vater.«
Ich bin dein geistlicher Vater.
»Nein, Gott ist mein geistlicher Vater; ihr seyd ein Mensch ein Mensch kann kein Geist seyn.«
Wie, hast du denn keinen Geist, keine Seele?
»Ja freylich! wie könnt ihr so einfältig fragen? Aber ich kenne meinen Vater.«
Kennst du denn auch Gott, deinen geistlichen Vater?
Henrich lächelte. »Sollte ein Mensch Gott nicht kennen?«
Du kannst ihn ja doch nicht sehen.
Henrich schwieg, und hohlte seine wohlgebrauchte Bibel, und wies dem Pastor den Spruch Röm. I.V. 19. und 20.
Nun hatte Stollbein genug. Er hieß den Knaben hinaus gehen, und sagte zu dem Vater: Euer Kind wird alle seine Voreltern übertreffen; fahret fort, ihn wohl unter der Ruthe zu halten; der Junge wird ein großer Mann in der Welt.
Wilhelm hatte noch immer seine Wunde über Dortchens Tod; er seufzte noch beständig um sie. Nunmehr nahm er auch zuweilen seinen Knaben mit nach dem alten Schloß, zeigte ihm seiner verklärten Mutter Tritte und Schritte, alles was sie hier und da geredet und gethan hatte. Henrich verliebte sich so in seine Mutter, daß er alles was er von ihr hörte, in sein eignes verwandelte, welches Wilhelmen so wohl gefiel, daß er seine Freude nicht bergen konnte.
Einsmals an einem schönen Herbstabend gingen unsere beyde Liebhaber des selgen Dortchens in den Ruinen des Schlosses herum, und suchten Schneckenhäuschen, die daselbst sehr häufig waren. Dortchen hatte daran ihre größte Belustigung gehabt. Henrich fand neben einer Mauer unter einem Stein ein Zulegmesserchen mit gelben Buckeln und grünen Stiel. Es war noch gar nicht rostig, theils, weil es am Trocknen lag, theils weil es so bedeckt gelegen, daß es nicht drauf regnen konnte. Henrich war froh über diesen Fund, lief zu seinem
Nun führte Wilhelm seinen Henrichen zum erstenmal in die Kirche. Er erstaunte über alles was er sah; sobald aber die Orgel anfing zu gehen, da wurde seine Empfindung zu mächtig, er bekam gelinde Zückungen; eine jede sanfte Harmonie zerschmolz ihn, die Molltöne machten ihn in Thränen fliessen, und das rasche Allegro machte ihn aufspringen. Wie erbärmlich auch sonst der gute Organist sein Handwerk verstund, so war es doch Wilhelmen unmöglich seinen Sohn davon abzubringen, nicht nach geendigter Predigt den Organisten und seine Orgel zu sehen. Er sah sie, und der Virtuose spielte ihm zu Gefallen ein Andante, welches vielleicht das erstemal in der Florenburger Kirche war, daß dieses einem Baurenjungen zu Gefallen geschah.
Nun sah auch Henrich zum erstenmal seiner Mutter Grab. Er wünschte nur ihre noch übrige Gebeine zu sehen; da das aber nicht geschehen konnte, so setzte er sich auf den Grabeshügel, pflückte einige Herbstblumen und Kräuter auf demselben, steckte sie vor sich in seine Knopflöcher und ging weg. Er empfand hier nicht so viel als bei Findung des Messers; doch hatte er sich, nebst seinem Vater, die Augen roth geweint. Jener Zufall war plötzlich und unerwartet, dieser aber vorbedächtlich überlegt; auch war die Empfindung der Kirchenmusik noch allzu stark in seinem Herzen.
Der alte Stilling bemerkte nun auch die Beruhigung seines Wilhelms. Mit innigem Vergnügen sahe er alle das Gute und Liebe an ihm und seinem Kinde; er wurde dadurch noch mehr aufgeheitert und fast verjüngt.
Als er einsmal im Frühling auf einen Montag Morgen nach dem Walde zu seiner Handthierung ging, ersuchte er Wilhelmen ihm seinen Enkel mitzugeben. Dieser gab es zu, und Henrich freute sich zum höchsten. Wie sie den Giller hinauf gingen, sagte der Alte: Henrich, erzähl uns einmal die Historie
Henrich Stilling hatte mit größter Aufmerksamkeit zugehöret. Nun sprach er: Gott sey Dank, daß ich solche Eltern gehabt habe! Ich will sie alle nett aufschreiben, damit ichs nicht vergesse. Die Ritter nennen ihre Voreltern Ahnen, ich will sie auch meine Ahnen heissen. Der Großvater lächelte und schwieg.
Des andern Tages gingen sie wieder nach Hause, und Henrich schrieb alle die Erzählung in ein altes Schreibbuch, das er umkehrte, und die hinten weiß gebliebene Blätter mit seinen Ahnen vollpfropfte.
Mir werden die Thränen los, da ich dieses schreibe. Wo seyd ihr doch hingeflohen, ihr selge Stunden? Warum bleibt nur euer Andenken dem Menschen übrig! Welche Freude überirrdischer Fülle schmeckt der gefühlige Geist der Jugend! Es giebt keine Niedrigkeit des Standes, wenn die Seele geadelt ist. Ihr meine Thränen, die mein durchbrechender Geist herauspreßt, sagts jedem guten Herzen, sagts ohne Worte, was ein Mensch sey, der mit Gott seinem Vater bekannt ist, und all seine Gaben in ihrer Größe schmeckt!
»Vater, ich weiß nicht woher ich die Kosten bestreiten soll.«
Ist das deine schwerste Sorge, Wilhelm? Wird dir dein lateinischer Junge auch noch Freude machen? da sorg nur!
»Was Freude! sagte der Pastor; mit eurer Freude! Hier ist die Frage, ob ihr was rechts aus dem Knaben machen wollt, oder nicht. Soll was rechts aus ihm werden, so muß er Latein lernen, wo nicht so bleib er ein Lümmel wie –«
»Ich glaube ihr wollt mich foppen, versetzte der Prediger.«
Nein, Gott bewahr uns! erwiederte Eberhard, nehmt mir nicht übel; denn euer Vater war ja ein Wollenweber, und konnte auch kein Latein; doch sagten die Leute, er wäre ein braver Mann gewesen, wiewohl ich nie Tuch bei ihm gekauft habe. Hört, lieber Herr Pastor, ein ehrlicher Mann liebt Gott und den Nächsten, er thut recht und scheut niemand, er ist fleißig, sorgt für sich und die Seinigen, damit sie Brod haben mögen. Warum thut er doch das alles? –
»Ich glaube wahrhaftig ihr wollt mich catechisiren, Stilling! Braucht Respekt und wisst mit wem ihr redet. Das thut er, weil es recht und billig ist daß ers thut.«
Zürnet nicht daß ich euch widerspreche; er thuts darum, damit er hier und dort Freude haben möge.
»Ei was! damit kann er doch noch zur Hölle fahren.«
Mit der Liebe Gottes und des Nächsten?
»Ja! ja! wenn er den wahren Glauben an Christum nicht hat.«
Das versteht sich nun endlich von selber, daß man Gott und den Nächsten nicht lieben kann, wann man an Gott und sein Wort nicht glaubt. Aber antworte du, Wilhelm! Was dünkt dich?
Mich dünkt, wenn ich wüste, woher ich die Kosten nehmen sollte, so würde ich den Jungen wohl hüten, daß er nicht zu lateinisch würde. Er soll immer die müßigen Tage Cameelhaar-Knöpfe machen und mir nähen helfen, bis man sieht was Gott aus ihm machen will.
Das gefällt mir nicht übel, Wilhelm, sagte Vater Stilling; so rath ich auch. Der Junge hat einen unerhörten Kopf etwas zu lernen; Gott hat diesen Kopf nicht umsonst gemacht; laß ihn lernen was er kann und was er will; gib ihm zuweilen Zeit dazu, aber nicht zu viel, sonst kommt er dirs an's Müßiggehen, und liest auch nicht so fleißig; wenn er aber brav auf dem
»Hm! Hm! ein Herr wird, brummte Stollbein, er soll kein Herr werden, er soll mir ein Dorfschulmeister werden, und dann ists gut wann er ein wenig Latein kann. Ihr Bauersleute meint, das ging so leicht ein Herr zu werden. Ihr pflanzt den Kindern den Ehrgeiz ins Herz, der doch vom Vater dem Teufel herkommt.«
Dem alten Stilling heiterten sich seine grossen hellen Augen auf; er stund da wie ein kleiner Riese (denn er war ein langer ansehnlicher Mann) schüttelte sein weißgraues Haupt, lächelte und sprach: Was ist Ehrgeitz? Herr Pastor!
Stollbein sprang auf und rief: Schon wieder eine Frage, ich bin euch nicht schuldig zu antworten, sondern ihr mir. Gebt Acht in der Predigt, da werdet ihr hören was Ehrgeitz ist. Ich weis nicht, ihr werdet so stolz, Kirchenältester! ihr wart sonst ein sittsamer Mann.
Wie Ihrs aufnehmt, stolz oder nicht stolz. Ich bin ein Mann; ich hab Gott geliebt und ihm gedient, jedermann das Seinige gegeben, meine Kinder erzogen, ich war treu; meine Sünden vergiebt mir Gott, das weis ich; nun bin ich alt, mein Ende ist nah; ob ich wohl recht gesund bin, so muß ich doch sterben; da freu ich mich nun drauf, wie ich bald werde von hinnen reisen. Laßt mich stolz drauf seyn, wie ein ehrlicher Mann mitten unter meinen großgezogenen frommen Kindern zu sterben. Wenn ichs so recht bedenk', bin ich munterer als wie ich mit Margrethen Hochzeit machte.
»Man geht so mit Strümpf und Schuh nicht in Himmel!« sagte der Pastor.
Die wird mein Großvater auch ausziehen, eh er stirbt, sagte der kleine Henrich.
Ein jeder lachte, selbst Stollbein muste lachen.
Nun wars fertig. Stollbein ging nach Hause.
Zu dieser Zeit ging eine große Veränderung in Stillings Hause vor, die drei ältesten Töchter heuratheten auswärts, und also machte Eberhard und seine Margrethe, Wilhelm, Mariechen und Henrich die ganze Familie aus. Eberhard beschloß auch nunmehr sein Kohlbrennen aufzugeben, und blos seiner Feldarbeit zu warten.
Die Tiefenbacher Dorfschule wurde vacant, und ein jeder Bauer hatte Wilhelm Stilling im Auge ihn zum Schulmeister zu wählen. Man trug ihm die Stelle auf; er nahm sie ohne Widerwillen an, ob er sich gleich innerlich ängstigte, daß er mit solchem Leichtsinn sein einsames heiliges Leben verlassen und sich unter die Menschen begeben wollte. Der gute Mann hatte nicht bemerkt, daß ihn nur der Schmerz über Dortchens Tod, der kein ander Gefühl neben sich litt, zum Einsiedler gemacht hatte, und daß er, da dieser erträglicher wurde, wieder Menschen sehen, wieder an einem Geschäfte Vergnügen finden konnte. Er legte sichs ganz anders aus. Er glaubte, jener heilige Trieb fange an bei ihm zu erkalten, und nahm daher mit Furcht und Zittern die Stelle an. Er bekleidete sie mit Treue und Eifer, und fing zuletzt an zu muthmassen, daß es Gott nicht ungefällig seyn könnte, wenn er mit seinem Pfund wucherte und seinem Nächsten zu dienen suchte.
Nun fing auch unser Henrich an in die lateinische Schule zu gehen. Man kann sich leicht vorstellen, was er für ein Aufsehen unter den andern Schulknaben machte. Er war blos in Stillings Haus und Hof bekannt, und war noch nie unter
Indessen ging doch des jungen Stillings latein lernen vortreflich von statten, wenigstens lateinische Historien zu lesen, zu verstehen, lateinisch zu reden und zu schreiben. Ob das nun genug sey, oder ob mehr erfordert werde, weis ich nicht, Herr Pastor Stollbein wenigstens forderte mehr. Nachdem Henrich ohngefehr ein Jahr in die lateinische Schule gegangen, so fiel es gemeldetem Herrn einmal ein, unsern Studenten zu examiniren. Er sah ihn aus seinem Stubenfenster vor der Schule stehen, er pfif, und Henrich flog zu ihm. Lernst auch brav?
»Ja, Herr Pastor.«
Wie viel Verba anomala sind?
»Ich weiß es nicht.«
Wie, Flegel, du weist's nicht? Es möchte leicht, ich gäb dir eins auf's Ohr. Sum, possum, nu! wie weiter?
»Das hab ich nicht gelernt.«
He, Madlene! ruf den Schulmeister.
Der Schulmeister kam.
Was laßt ihr den Jungen lernen?
Der Schulmeister stand an der Thüre, den Hut unterm Arm, und sagte demüthig:
»Latein.«
Da! ihr Nichtsnutziger, er weis nicht einmal, wie viel verba anomala sind.
»Weist du das nicht, Henrich?«
Nein, sagte dieser, ich weis es nicht.
Der Schulmeister fuhr fort: Nolo und Malo was sind das vor Wörter?
»Das sind verba anomala.«
Fero und Volo was sind das?
»Verba anomala.«
Stollbein versetzte: Er soll aber die Regeln alle auswendig lernen; geht nach Haus, ich wills haben!
(Beyde.)
Ja, Herr Pastor!
Von der Zeit an, lernte Henrich mit leichter Mühe auch alle Regeln auswendig, doch vergaß er sie bald wieder. Das schien seinem Charakter eigen werden zu wollen; was sich nicht leicht bezwingen ließ, da flog sein Genie über weg. Nun genug von Stillings Latein lernen! wir gehen weiter.
Der alte Stilling fing nunmehro an seinen Vater-Ernst abzulegen und gegen seine wenige Hausgenossen zärtlicher zu werden; besonders hielt er Henrichen, der nunmehr 11 Jahr alt war, viel von der Schul zurück, und nahm ihn mit sich, wo er seiner Feldarbeit nachging; redete viel mit ihm von der Rechtschaffenheit eines Menschen in der Welt, besonders von seinem Verhalten gegen Gott; empfahl ihm gute Bücher, sonderlich die Bibel zu lesen, hernach auch was Doktor Luther, Calvinus, Oecolampadius und Bucerus geschrieben haben. Einsmalen gingen Vater Stilling, Mariechen und Henrich des Morgens früh in den Wald um Brennholz zuzubereiten. Margrethe hatte ihnen einen guten Milchbrei mit Brod und Butter in einen Korb zusammen gethan, welchen Mariechen auf dem Kopf trug; sie ging den Wald hinauf voran, Henrich folgte und erzählte mit aller Freude die Historie von den vier Heymons Kindern, und Vater Stilling schritt auf seine Holzaxt sich stützend seiner Gewohnheit nach, mühsam hinten drein und hörte fleißig zu. Sie kamen endlich zu einem weit entlegenen Ort des Waldes, wo sich eine grüne Ebne befand, die am einen Ende einen schönen Brunnen hatte. Hier laßt uns bleiben, sagte Vater Stilling, und setzte sich nieder; Mariechen nahm ihren Korb ab, stellte ihn hin und setzte sich auch. Henrich aber sah in seiner Seele wieder die Egyptische Wüste
Indessen sassen Mariechen und Henrich beysammen und waren vertraulich. Erzähle mir doch, Baase! sagte Henrich, die Historie von Joringel und Jorinde noch einmal. Mariechen erzählte:
»Es war einmal ein altes Schloß mitten in einem großen dicken Wald; darinnen wohnte eine alte Frau ganz allein, das war eine Erzzauberinn. Am Tage machte sie sich bald zur Katze, oder zum Hasen, oder zur Nachteule; des Abends aber wurde sie ordentlich wieder wie ein Mensch gestaltet. Sie konnte das Wild und die Vögel herbeylocken, und dann schlachtete sie's, kochte und bratete es. Wenn jemand auf hundert Schritte nah bey's Schloß kam, so muste er stille stehen und konnte sich nicht von der Stelle bewegen, bis sie ihn los sprach; wenn aber eine reine keusche Jungfer in diesen Kreis kam, so verwandelte sie dieselbe in einen Vogel und sperrte sie denn in einen Korb ein, in die Kammern des Schlosses. Sie hatte wohl sieben tausend solcher Körbe mit so raren Vögeln im Schlosse.
Nun war einmal eine Jungfer, die hieß Jorinde; sie war schöner als alle andere Mädchens, die, und dann ein gar schöner Jüngling, Namens Joringel, hatten sich zusammen versprochen. Sie waren in den Brauttagen, und hatten ihr größtes Vergnügen eins am andern. Damit sie nun einsmalen vertraut zusammen reden könnten, gingen sie in den Wald spatzieren.
Joringel sah nach Jorinde. Jorinde war in eine Nachtigal verwandelt, die sang Zicküth Zicküth. Eine Nachteule mit glühenden Augen flog dreymal um sie herum und schrie dreymal Schu – hu – hu – hu. Joringel konnte sich nicht regen; er stand da wie ein Stein, konnte nicht weinen, nicht reden, nicht Hand noch Fuß regen. Nun war die Sonne unter; die Eule flog in einen Strauch, und gleich darauf kam eine alte krumme Frau aus diesem Strauch hervor, gelb und mager, große rothe Augen, krumme Nase, die mit der Spitze an's Kinn reichte. Sie murmelte und fing die Nachtigal, trug sie auf der Hand fort. Joringel konnte nichts sagen, nicht von der Stelle kommen; die Nachtigal war fort; endlich kam das Weib wieder und sagte mit dumpfer Stimme: Grüß' dich Zachiel! Wenns Möndel ins Körbel scheint, bind los Zachiel zu guter Stund! Da wurd Joringel los; er fiel vor dem Weib auf die Knie, und bat, sie möchte ihm seine Jorinde wieder geben; aber sie sagte, er sollte sie nie wieder haben und ging fort. Er
Wie ich von euch in Wald hinein ging, sah ich weit vor mir ein Licht, eben so als wenn Morgens früh die Sonne aufgeht. Ich verwunderte mich sehr. Ei! dacht ich, dort steht ja die Sonne am Himmel; ist das denn eine neue Sonne? Das muß ja was wunderlichs seyn, das muß ich sehen. Ich ging drauf an; wie ich vorn hin kam, siehe da war vor mir eine Ebne, die ich mit meinen Augen nicht übersehen konnte. Ich hab mein lebtag so herrlichs nicht gesehen; so ein schöner Geruch, so eine kühle Luft kam da'rüber her, ich kanns euch nicht sagen. Es war so weiß Licht durch die ganze Gegend, der Tag mit der Sonne ist Nacht dagegen. Da standen viel tausend prächtige Schlösser, eins nah beym andern. Schlösser! – ich kanns euch nicht beschreiben! als wenn sie von lauter Silber wären. Da waren Gärten, Büsche, Bäche. O Gott wie schön! – Nicht weit von mir stand ein großes herrliches Schloß. (Hier liefen dem guten Stilling die Thränen häufig die Wangen herunter, Mariechen und Henrichen auch.) Aus der Thür dieses Schlosses kam jemand heraus, auf mich zu, wie eine Jungfrau. Ach! ein herrlicher Engel! – Wie sie nah bei mir war, ach Gott! da
Ein altes Herkommen, dessen ich (wie vieler andern) noch nicht erwähnt, war; daß Vater Stilling alle Jahr selbsten ein Stück seines Hausdaches, das Stroh war, eigenhändig decken muste. Das hatte er nun schon acht und vierzig Jahr gethan, und diesen Sommer sollt es wieder geschehen. Er richtete es so ein, daß er alle Jahr so viel davon neu deckte, so weit das Roggenstroh reichte, das er für dies Jahr gezogen hatte.
Die Zeit des Dachdeckens fiel gegen Michaelstag, und rückte nun mit Macht heran; so daß Vater Stilling anfing darauf zu Werk zu legen. Henrich war dazu bestimmt ihm zur Hand zu langen, und also wurde die lateinische Schule auf acht Tage ausgesetzt. Margrethe und Mariechen hielten täglich in der Küche geheimen Rath, über die bequemsten Mittel wodurch er vom Dachdecken zurückgehalten werden möchte. Sie beschlossen endlich beide, ihm ernstliche Vorstellungen zu thun, und ihn vor Gefahr zu warnen; sie hatten die Zeit während dem Mittagessen dazu bestimmt.
Margrethe brachte also eine Schüssel Muß, und auf derselben vier Stücke Fleisches, die so gelegt waren, daß ein jedes just vor den zu stehen kam, für den es bestimmt war. Hinter ihr her kam Mariechen mit einem Kumpen voll gebrockter
Ich weiß nicht, Ebert, sagte Margrethe, indem sie ihre linke Hand auf seine Schultern legte, du fängst mir so an zu verfallen. Spürst du nichts in deiner Natur?
»Man wird als alle Tage älter, Margrethe.«
O Herr ja! Ja freylich, alt und steif.
Ja wohl, versetzte Mariechen und seufzte.
Mein Großvater ist noch recht stark vor sein Alter, sagte Henrich.
»Ja wohl, Junge, antworte der Alte. Ich wollte noch wohl in die Wette mit dir die Leiter nauf laufen.«
Henrich lachte hart. Margrethe sah wohl, daß sie auf dieser Seite die Vestung nicht überrumpeln würde; daher suchte sie einen andern Weg.
Ach ja, sagte sie, es ist eine besondere Gnade, so gesund in seinem Alter zu seyn; du bist, glaub ich, nie in deinem Leben krank gewesen, Ebert?
»In meinem Leben nicht, ich weiß nicht was Krankheit ist; denn an den Pocken und Rötheln bin ich herumgegangen.«
Ich glaub doch, Vater! versetzte Mariechen, ihr seyd wohl verschiedene malen vom Fallen krank gewesen; denn ihr habt uns wohl erzählet, daß ihr oft gefährlich gefallen seyd.
Und das viertemal, fuhr Margrethe fort, wirst du dich todt fallen, mir ahnt es. Du hast letzthin im Wald das Gesicht gesehen; und eine Nachbarinn hat mich kürzlich gewarnt und gebeten, dich nicht aufs Dach zu lassen; denn sie sagte, sie hätte des Abends, wie sie die Küh gemolken, ein Poltern und klägliches Jammern neben unserm Hause im Wege gehört. Ich bitte dich, Ebert! thu mir den Gefallen, und laß jemand anders das Haus decken, du hasts ja nicht nöthig.
»Margrethe! – kann ich, oder jemand anders denn nicht in der Strasse ein ander Unglück bekommen? Ich hab das Gesicht gesehen, ja, das ist wahr! – unsere Nachbarin kann auch diese Vorgeschicht gehört haben; Ist dieses gewiß? wird dann derjenige dem entlaufen, was Gott über ihn beschlossen hat? Hat er beschlossen, daß ich meinen Lauf hier in der Strasse endigen soll, werd ich, armer Dummkopf von Menschen! das wohl vermeiden können? und gar wenn ich mich todt fallen soll, wie werd ich mich hüten können? Gesetzt, ich blieb vom Dach, kann ich nicht heut oder morgen da in der Strassen einen Karren Holz losbinden wollen, drauf steigen, straucheln und den Hals abstürzen? Margrethe! laß mich in Ruh; ich werde so ganz grade fortgehen, wie ich bis dahin gegangen bin; wo mich dann mein Stündchen überrascht, da werd ichs willkommen heissen.«
Margrethe und Mariechen sagten noch ein und das andere, aber er achtete nicht drauf, sondern redete mit Henrichen von allerhand die Dachdeckerei betreffenden Sachen; daher sie sich zufrieden gaben und sich das Ding aus dem Sinne schlugen.
Des andern Morgens stunden sie frühe auf, und der alte Stilling fing an, während daß er ein Morgenlied sang, das alte Stroh loszubinden und abzuwerfen, womit er denn diesen Tag auch hübsch fertig wurde; so daß sie des folgenden Tages schon anfingen das Dach mit neuem Stroh zu belegen; mit einem Wort, das Dach ward fertig, ohne die mindeste Gefahr
Des folgenden Mittwochs Morgens stund Eberhard ungewöhnlich früh auf, ging im Hause umher von einer Kammer zur andern, als wenn er was suchte. Seine Leute verwunderten sich, fragten ihn, was er suche? Nichts, sagte er. »Ich weiß nicht, ich bin so wohl, doch hab ich keine Ruhe, ich kann nirgend still seyn, als wenn etwas in mir wäre, das mich triebe, auch spür ich so eine Bangigkeit, die ich nicht kenne. Margrethe rieth ihm, er sollte sich anziehen und mit Henrichen nacher Lichthausen gehen, seinen Sohn, Johann, zu besuchen. Er war damit zufrieden; doch wollte er zuerst die Rasen oben auf den Hausfirst legen, und dann des andern Tages seinen Sohn besuchen. Dieser Gedanke war seiner Frauen und Tochter sehr zuwider. Des Mittags über Tisch ermahnten sie ihn wieder ernstlich vom Dach zu bleiben; selbst Henrich bat ihn jemand vor Lohn zu kriegen, der vollends mit der Deckerei ein Ende mache. Allein der vortrefliche Greiß lächelte mit einer unumschränkten Gewalt um sich her; Ein Lächeln, das so manchem Menschen das Herz geraubt und Ehrfurcht eingeprägt hatte! Dabei sagte er aber kein Wort. Ein Mann, der mit einem beständig guten Gewissen alt geworden, sich vieler guten Handlungen bewust ist, und von Jugend auf sich an einen freyen Umgang mit Gott und seinem Erlöser gewöhnt hat, gelangt zu einer Größe und Freiheit, die nie der größte Eroberer erreicht hat. Die ganze Antwort Stillings auf diese, gewiß treugemeinte Ermahnungen der Seinigen, bestund darinn: Er wollte da auf den Kirschbaum steigen, und sich noch einmal recht satt Kirschen essen. Es war nemlich ein Baum, der hinten im Hof stund, und sehr spät, aber desto vortrefflichere Früchte trug. Seine Frau und Tochter verwunderten
Indessen stieg Vater Stilling mit dem Rasen das Dach hinauf. Henrich schnitzelte an einem Hölzchen; indem er darauf sah, hörte er ein Gepolter; er sah hin, vor seinen Augen wars schwarz wie die Nacht – Lang hingestreckt lag da der theure liebe Mann unter der Last von Leitern, seine Hände vor der
Nun wurden Stillings Kinder alle sechs zusammen berufen, die sich auch des andern Morgens Donnerstags zeitig einfanden; Sie setzten sich alle rings ums Bette, waren stille, klagten und weinten. Die Fenster wurden mit Tüchern zugehangen, und Margrethe wartete ganz gelassen ihrer Hausgeschäfte. Freytags Nachmittags fing der Kopf des Kranken an zu beben, die oberste Lippe erhob sich ein wenig und wurde blaulicht, und ein kalter Schweiß duftete überall hervor. Seine Kinder rückten näher ums Bette zusammen. Margrethe sah es auch; sie nahm einen Stuhl und setzte sich zurück an die Wand ins Dunkele; alle sahen vor sich nieder und schwiegen. Henrich saß zu den Füßen seines Großvaters, sah ihn zuweilen mit nassen Augen an und war auch stille. So saßen sie alle bis Abends neun Uhr. Da bemerkte Cathrine zuerst, daß ihres Vaters Odem still stand. Sie rief ängstlich: Mein Vater stirbt! – Alle fielen mit ihrem Angesicht auf das Bette, schluchsten und weinten. Henrich stund da, ergriff seinem Großvater beide Füße und weinte bitterlich. Vater Stilling hohlte alle Minuten tief Odem, wie einer der tief seufzet, und von einem Seufzer zum andern war der Odem ganz stille; an seinem ganzen Leibe regte und bewegte sich nichts als der Unterkiefer, der sich bei jedem Seufzer ein wenig vorwärts schob.
Margrethe Stillings hatte bis dahin bei all ihrer Traurigkeit noch nicht geweint; so bald sie aber Catharinen rufen hörte, stund sie auf, ging ans Bett, und sah ihrem sterbenden Manne ins Gesicht; nun fielen einige Thränen die Wangen herunter; sie dehnte sich aus (denn sie war vom Alter ein wenig gebückt)
Die Nachbarn kamen indessen, um den Entseelten anzukleiden. Die Kinder stunden auf, und die Mutter hohlte das Todtenkleid. Bis den folgenden Montag lag er auf der Baare; da führte man ihn nach Florenburg, um ihn zu begraben.
Herr Pastor Stollbein ist aus dieser Geschichte als ein störrischer wunderlicher Mann bekannt, allein ausser dieser Laune war er gut und weichherzig. Wie Stilling ins Grab gesenkt wurde, weinte er helle Thränen; und auf der Kanzel waren unter beständigem Weinen seine Worte: Es ist mir leid um dich, mein Bruder Jonathan! Wollte Gott, ich wäre für dich gestorben! und der Text zur Leichenrede war: Ei du frommer und getreuer Knecht! du bist über weniges getreu gewesen, ich will dich über viel setzen; gehe ein zu deines Herrn Freude!
Sollte einer meiner Leser nach Florenburg kommen, gegen der Kirchthür über, da wo der Kirchhof am höchsten ist, da