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Es war um die Weihnachtszeit, am Vorabend des Wassilijtages. Das Wetter ließ sich sehr ungnädig an. Einer der grausamen Landstürme, welche die Winter in den Wolgasteppen berüchtigt machen, hatte eine Menge Leute in den abgelegenen Gasthof getrieben, ein Bauernhaus inmitten der flachen, unabsehbaren Steppe. Dort hatten sich auf einem Haufen Adelige, Kaufleute, Bauern zusammengefunden, Russen, Mordwinen und Tschuwaschen. Auf Rang und Würden konnte man in einem solchen Nachtquartier keine Rücksicht nehmen: wohin man sich wendet, alles ist gedrängt voll, die einen trocknen sich, die anderen wärmen sich, die dritten suchen ein wenn auch noch so kleines Plätzchen, auf dem sie bleiben können. In der dunklen, niederen, mit Menschen überfüllten Stube herrscht eine schwere Schwüle und der dichte Dampf der nassen Kleider. Nirgends ist ein unbesetzter Fleck zu sehen: auf den Pritschen, dem Ofen, den Bänken, und selbst auf dem schmutzigen Erdboden, überall liegen Menschen. Der Hauswirt, ein mürrisch blickender Bauer, zeigt weder über seine Gäste, noch über den Verdienst irgendwelche Freude. Zornig schlägt er das Tor hinter den zwei Kaufleuten zu, die als letzte auf Schlitten in den Hof gekommen sind. Er schließt die Pforte ab, hängt den
»Nun kann kommen wer will, und wenn er mit dem Kopf ans Tor schlägt, ich mach nicht auf!«
Aber kaum hatte er es gesagt, seinen weiten Schafspelz abgelegt, sich mit breiter Gebärde auf Raskolniki-Art bekreuzigt und sich fertig gemacht, auf den heißen Ofen zu klettern, als jemand zaghaft an die Scheibe klopfte.
»Wer ist dort?« rief der Hauswirt mit lauter, ärgerlicher Stimme.
»Wir!« antwortete es dumpf hinter dem Fenster.
»Nun, was wollt ihr noch?«
»Laß uns herein, um Christi willen, wir haben uns verirrt, sind ganz erstarrt.«
»Seid ihr viele?«
»Nicht viele, nicht viele, achtzehn im ganzen, achtzehn,« sagte stammelnd und mit den Zähnen klappernd ein anscheinend ganz erfrorener Mensch hinter der Scheibe.
»Ich kann euch nicht einlassen, die ganze Stube ist mit Menschen ausgelegt.«
»Laß uns nur ein wenig in die Wärme!«
»Wer seid ihr denn?«
»Fuhrleute.«
»Mit oder ohne Fuhrwerk?«
»Mit Fuhrwerken, Lieber, Felle führen wir.«
»Felle! Felle führt ihr, und da wollt ihr in der Stube übernachten. Was es jetzt für Leute in Rußland gibt. Schert euch fort!«
»Aber was sollen sie tun?« fragte ein Durchreisender, der auf der obersten Pritsche unter einem Bärenpelz lag.
Der Reisende unter dem Bärenpelz warf dem Wirte im Ton eines sehr energischen Protestes seine Härte vor, aber der würdigte seine Bemerkungen gar keiner Antwort. An seiner Statt ließ sich aus einer entfernten Ecke ein kleiner rothaariger Mensch mit einem Spitzbärtchen vernehmen.
»Verurteilen Sie den Wirt nicht, bester Herr,« begann er, »er weiß das aus Erfahrung und hat es ganz richtig gesagt: unter Fellen ist es ungefährlich.«
»Wirklich?« entgegnete fragend der Reisende unter dem Bärenpelz.
»Ganz ungefährlich, und es ist sogar für sie selbst besser, daß er sie nicht hereinläßt.«
»Warum das?«
»Weil sie eine nützliche Lehre erhalten haben, und wenn jetzt jemand hilflos hierher kommt, findet er noch ein Plätzchen.«
»Wen soll der Teufel jetzt noch herbringen?« sagte der Pelz.
»Hör, du,« mischte sich der Wirt ein, »schwatz' kein so dummes Zeug. Soll vielleicht der Widersacher jemand herbringen, wo ein solches Heiligtum ist? Siehst du nicht dort das Erlöserbild und das Antlitz der Gottesgebärerin?«
»Das ist wahr,« bekräftigte der Rothaarige, »einen erlösten Menschen führt nicht der Teufel, sondern ein Engel geleitet ihn.«
Der Wirt spuckte bloß wütend aus, aber der Rote erklärte gutmütig, daß der Engelsweg nicht für jeden sichtbar sei und daß nur der ihn begreifen könne, der darin Erfahrung habe.
»Sie reden, als ob Sie selbst eine solche Erfahrung hätten?« sagte der Pelz.
»Ja, ich habe sie.«
»Wollen Sie sagen, daß Sie einen Engel gesehen haben, und er Sie geführt hat?«
»Ja, ich habe ihn gesehen, und er hat mich geleitet.«
»Scherzen Sie, oder machen Sie sich lustig?«
»Gott behüte mich, über eine solche Sache zu scherzen!«
»So haben Sie also wirklich etwas derartiges gesehen: wie ist Ihnen der Engel erschienen?«
»Bester Herr, es ist eine sehr lange Geschichte.«
»Wissen Sie, es ist entschieden unmöglich, hier einzuschlafen. Sie tun gut, wenn Sie uns jetzt diese Geschichte erzählen.«
»Nun schön!«
»So erzählen Sie, bitte, wir hören Ihnen zu. Warum hocken Sie aber dort auf den Knien! Kommen Sie zu uns her, wir rücken etwas zusammen.«
»Nein, ich danke Ihnen! Warum soll ich Sie beengen, und zudem ist es schicklicher, wenn ich Ihnen meine Erzählung auf den Knien berichte, denn die Sache ist sehr heilig und sogar schrecklich.«
»Schön, ich beginne.«
»Ich bin, wie Sie mir zweifellos ansehen können, ein ganz unbedeutender Mensch, ich bin nur ein Bauer und habe den Umständen gemäß eine ländliche Erziehung erhalten. Ich bin kein hiesiger, sondern von weit weg, von Beruf bin ich Maurer und im alten russischen Glauben geboren. Als Waise bin ich von Kind auf mit meinen Landsleuten auf Wanderarbeit gegangen und habe an verschiedenen Orten gearbeitet, aber immer mit derselben Gesellschaft, bei meinem Landsmann Luka Kirillow. Dieser Luka Kirillow lebt heute noch: er ist unser größter Bauunternehmer. Sein Geschäft hatte er von altersher, es war schon von seinen Vätern begründet, und er hatte es nicht vergeudet, sondern vergrößert, und sich einen großen und reichen Besitz geschaffen, aber er war und ist ein prächtiger Mensch, der niemand etwas zuleide tut. Und wo sind wir mit ihm nicht gewesen? Ich glaube, wir haben ganz Rußland durchzogen, und nirgends habe ich einen besseren und würdigeren Brotherrn getroffen. Und wir lebten bei ihm ganz friedlich und patriarchalisch, er war Bauunternehmer und unser Leiter wie im Handwerk, so auch im Glauben. Wir zogen mit ihm unsern Weg zu den Arbeiten, wie die Juden auf ihren Wüstenwanderungen mit Moses, und sogar unsere heilige Stiftshütte führten wir mit uns, von
Und kann man es sich ausdenken, daß wir irgendwie durch irgendeine Schickung unseres kostbarsten Heiligtums beraubt werden würden? Indes erwartete uns dieses Leid, und es wurde uns, wie wir später einsahen, nicht durch menschliche Hinterlist bereitet, sondern nach dem Willen unseres Wegführers selbst. Er begehrte für sich selber diese Kränkung, um uns durch Kummer das Heilige begreifen zu machen und uns den wahren Weg zu zeigen, vor dem alle Wege, die wir bis zur Stunde gewandert waren, durch eine dunkle, pfadlose Schlucht liefen. Aber gestatten Sie die Frage, ob meine Erzählung Sie interessiert,
»Nein, wieso denn: fahren Sie gütigst fort!« riefen wir, voll Anteilnahme für seine Erzählung.
»Schön, ich gehorche Ihnen und beginne, so gut ich es kann, von dem Wunder zu berichten, das sich mit dem Engel zutrug.«
»Wir kamen vor eine große Stadt, an ein großes fließendes Wasser, den Dnjeprstrom, um dort eine große und jetzt sehr berühmte Brücke zu bauen. Die Stadt erhebt sich auf dem rechten steilen Ufer, während wir auf dem linken flachen Wiesenufer standen, und vor uns lag die ganze wundervolle Landschaft: alte Kirchen, heilige Klöster mit vielen heiligen Reliquien, dichte Gärten und Bäume, wie man sie in alten Büchern abgebildet findet, spitzwipfelige Pappeln. Du schaust auf all das, und dein Herz brennt in dir gleichsam, so herrlich ist es! Sehen Sie, wir sind natürlich einfache Leute, aber wir fühlen doch die Pracht der gottgeschaffenen Natur! Der Ort hier gefiel uns so sehr, daß wir am ersten Tag mit dem Bau einer vorläufigen Unterkunft für uns begannen; zuerst schlugen wir hohe Pfähle ein, da die Stelle nieder gelegen war, ganz neben dem Wasser. Dann errichteten wir auf diesen Pfählen eine Stube und daneben einen Schuppen. In der Stube stellten wir unser ganzes Heiligtum auf, wie es sich nach dem Gesetz der Väter gehört: längs der einen Wand stellten wir die zusammenlegbare, dreiteilige Heiligenwand auf, zu unterst die großen Bilder, darauf zwei Tafeln für die
Die Brücke, die wir auf sieben Granitjochen bauten, war schon weit über das Wasser hinausgewachsen, und im Sommer des vierten Jahres begannen wir die eisernen Ketten über die Pfeiler zu spannen. Da wurden wir aber in unserer Arbeit etwas aufgehalten: als wir die Kettenglieder nach ihrer Größe aneinander paßten und mit stählernen Nieten zusammenfügten, zeigte es sich, daß viele Bolzen zu lang waren und daß man sie abschneiden mußte. Aber jeder dieser Bolzen war eine englische Stahlstange
»So, Ruß; bist ein tüchtiger Kerl. Verstehst gut Physik.«
Aber was für eine »Physik« konnte unser Maroi kennen! Er hatte ja von der Wissenschaft keine Ahnung und tat nur, wie ihn Gott erleuchtete. Aber unser Pimen Iwanow brüstete sich damit. So war es nach beiden Seiten schlecht: die einen glaubten an die Wissenschaft, von der unser Maroi nicht das geringste wußte, und die anderen sagten, daß Gottes Segen über uns sichtbar Wunder wirke, von denen wir niemals etwas sahen. Und das letzte war für uns schlimmer als das erste. Ich erklärte Ihnen eben, daß Pimen Iwanow ein schwacher Mensch und ein Prahler war, und jetzt muß ich erklären, weshalb wir ihn doch in unserer Gesellschaft duldeten. Er fuhr für uns in die Stadt, um Lebensmittel zu holen, und besorgte die notwendigen
Bei solchem Weibergeschwätz erzählt er ihr, was wir Altgläubige für Menschen wären; wir seien wie die Heiligen, rechtschaffen und gesegnet, und unser Großsprecher
»Ja, Gnädige, wir halten eben das väterliche Gesetz und sind so, daß wir das Herkommen beobachten und einer für den anderen über die Reinheit der Sitten wacht.« Mit einem Wort, er sagt ihr lauter Dinge, die durchaus nicht zum Gespräch mit einer weltlichen Frau gehören. Aber denken Sie sich nur: sie interessiert sich dafür.
»Ich habe gehört,« sagt sie, »daß sich Gottes Segen sichtbar bei euch offenbart.«
Und er bestätigt es ihr sofort:
»Nun ja, Mütterchen,« antwortet er, »er offenbart sich; ganz sichtlich offenbart er sich.«
»Sichtlich?«
»Sichtlich,« sagt er, »Gnädige, sichtlich. Gerade dieser Tage hat einer unserer Leute den mächtigen Stahl wie ein Spinngewebe durchschnitten.«
Die Gnädige klatscht vor Überraschung in die Hände.
»Ach,« sagt sie, »wie interessant! Ich glaube an Wunder und liebe sie schrecklich! Wissen Sie, sagen Sie bitte Ihren Altgläubigen, sie möchten beten, daß Gott mir eine Tochter schenke. Ich habe zwei Söhne und möchte unbedingt eine Tochter. Ist das möglich?«
»Ja, das ist möglich,« antwortet Pimen, »warum nicht? Es ist sehr wohl möglich! Nur ist es in solchen Fällen notwendig, daß Sie für die Öllämpchen opfern.«
Zu seiner großen Befriedigung gibt sie ihm zehn Rubel für Öl, er steckt das Geld in die Tasche und sagt:
»Schön, seien Sie guten Mutes, ich werde es ausrichten.«
Nun war sie vor Freude außer sich und ließ gleich nach der Geburt unseren Hohlkopf rufen; sie feiert ihn, als ob er selbst der Wundertäter wäre, und er nimmt das alles hin. So leichtfertig wird ein Mensch, sein Verstand verdunkelt sich, und sein Gefühl erstarrt. Nach einem Jahr hat die Herrin wieder eine Bitte an unseren Gott, daß nämlich ihr Mann ihr ein Landhaus mieten solle, – und wieder geht es nach ihrem Wunsch, und Pimen verwendet das Geld, das sie für Kerzen und Öl spendete, wie er es für zweckmäßig hält; zu uns gelangte aber nichts. Und tatsächlich ereigneten sich unerklärliche Wunder. Der älteste Sohn der Gnädigen war in der Schule der größte Taugenichts und ein fauler Schlingel, der nichts lernen wollte; als es zum Examen kam, ging sie zu Pimen und beauftragte ihn, zu beten, daß ihr Sohn in die andere Klasse versetzt werde. Pimen sagte:
»Das ist eine schwere Sache. Ich muß alle meine Leute die ganze Nacht beim Gebet zusammenhalten, damit sie bei Kerzen bis zum Morgen flehen.«
Aber sie besteht auf ihren Willen und händigt ihm dreißig Rubel ein: »Betet nur!« Und was denken Sie? Ihr nichtsnutziger Sohn hat solches Glück, daß man ihn in die nächste Klasse versetzt. Die Gnädige kommt fast von Sinnen darüber, daß Gott ihr solche Gefälligkeiten erweist. Sie gibt Pimen Auftrag auf Auftrag, und er hat schon bei Gott für sie Gesundheit erwirkt, eine Erbschaft, einen hohen Rang für ihren Mann und so viele Orden, daß sie auf seiner Brust keinen Platz mehr finden und er einen, wie man sagt, in der Tasche trägt. Es war einfach ein
In einer jüdischen Stadt des Gouvernements war bei den Juden im Handel eine schmutzige Geschichte passiert. Ich kann Ihnen nicht genau sagen, ob sie falsches Geld gehabt oder ein unredliches Geschäft gemacht hatten, jedenfalls mußte die Obrigkeit die Sache aufdecken und hatte eine bedeutende Belohnung dafür ausgesetzt. Die Gnädige ging also zu unserem Pimen und sagte:
»Pimen Iwanowitsch, hier gebe ich Ihnen zwanzig Rubel für Kerzen und Öl. Befehlen Sie den Ihrigen, so eifrig wie möglich zu beten, daß man meinen Mann mit dieser Sache beauftragt.«
Das machte ihm wenig Kummer! Er hatte schon Geschmack an diesen Opfergaben gefunden und antwortete:
»Gut, Gnädige, ich werde es befehlen.«
»Aber daß sie auch tüchtig beten, die Sache ist für mich sehr wichtig.«
»Die werden sich nicht unterstehen, schlecht zu beten, wenn ich es befehle,« beruhigt Pimen, »ich werde ihnen Fasten auferlegen, bis sie es erfleht haben.« Er nahm das Geld und ließ es dabei bewenden, ihr Gemahl aber erhielt noch in derselben Nacht den von ihr gewünschten Auftrag. Bei diesem Segen genügte ihr aber unser Gebet nicht mehr, und sie wollte unbedingt selber unserem Heiligtum ihre Lobpreisung darbringen. Sie sagte es Pimen, und er bekam Angst, weil er wußte, daß wir sie nicht in
»Ich werde,« sagt sie, »was Sie auch sagen mögen, heute gegen Abend ein Boot nehmen und mit meinem Sohne zu Ihnen kommen.«
Pimen redet ihr zu:
»Es ist besser,« sagt er, »wenn wir selber beten. Wir haben einen Schutzengel, dem weihen Sie ein Licht, und wir werden ihm den Schutz Ihres Gemahls anvertrauen.«
»Ach, das ist vortrefflich,« antwortet sie, »ganz vortrefflich! Ich bin sehr froh über diesen Engel; hier ist etwas Geld für Öl, zünden Sie unbedingt drei Lämpchen vor ihm an, und ich werde dann kommen, um es mir anzusehen.«
Pimen gefiel das gar nicht; er kam zu uns und begann zu jammern, daß die Sache so und so stünde.
»Ich habe,« sagte er, »der abscheulichen Ketzerin nicht widersprochen, als sie ihr Begehren äußerte, weil wir ihren Mann notwendig brauchen.« Und so log er uns ganze Körbe voll vor, aber von all dem, was er getan hatte, sagte er nichts. Nun, so unangenehm es uns auch war, es war nichts zu machen Wir nahmen unsere Heiligenbilder möglichst schnell von der Wand und legten sie in ihre Kisten, aus denen wir die Ersatzbilder holten, die wir aus Furcht vor Beamtenüberfällen bei uns hatten. Diese setzten wir auf die Gestelle und erwarteten unseren Gast. Sie kam und war so aufgeputzt, daß es zum Erschrecken war. Sie fegte mit ihren langen, breiten Bändern nur so hin, schaute alle unsere vertauschten Heiligenbilder durch die Lorgnette an und fragte: »Sagen Sie, bitte, welcher ist hier der wundertätige Engel?«
»Wir haben keinen solchen Engel« sagen wir.
Und wie sie auch in uns drang und Pimen schalt, wir zeigten ihr den Engel nicht, sondern führten sie möglichst schnell zum Teetisch und setzten ihr vor, was wir hatten.
Sie mißfiel uns schrecklich, Gott weiß warum: sie sah irgendwie abstoßend aus, obwohl man sie sonst für schön hielt. Wissen Sie, so eine lange Hagere, mit zusammengewachsenen Augenbrauen.
»Solch eine Schönheit gefällt Ihnen nicht?« unterbrach der Bärenpelz den Erzähler.
»Erlauben Sie, was kann einem an einer solchen schlangenähnlichen Gestalt gefallen?« antwortete jener.
»Bei euch hält man wohl eine Frau für schön, wenn sie wie ein Erdhaufen aussieht?«
»Ein Erdhaufen!« wiederholte unser Erzähler lächelnd und ohne gekränkt zu sein. »Warum nehmen Sie das an?« Nach unserer echt russischen Auffassung bevorzugen wir einen Typus, der, unserer Meinung nach, viel ansprechender ist, als der, den die jetzige Leichtfertigkeit schätzt, aber durchaus nicht, was man einen Erdhaufen nennen kann. Wir schätzen nur die langen, mageren nicht, sondern lieben es, wenn die Frau nicht auf langen, sondern auf kräftigen Beinen steht, damit sie nicht konfus herumrennt, sondern wie eine Kugel überall hinrollt und auch hinkommt, während die Lange hin und her läuft und stolpert. Die schlangenhafte Schlankheit schätzen wir ebenso wenig, sondern fordern, daß die Frau erdhafter sei und einen Busen habe, denn wenn er auch für die Figur nicht so schön ist, so spricht er doch von der Mutterschaft; die
Wie wir die Frau hinausbegleitet haben, merkt unser Pimen als eitler Mensch, daß wir sie abfällig kritisieren, und sagt:
»Was habt ihr denn? Sie ist doch gut.«
Aber wir antworten: »Die soll gut sein, wo sie schon im Gesicht nichts Gutes hat! Aber Gott sei mit ihr: wie sie ist, so wird sie auch bleiben.« Wir waren schon froh, daß wir sie hinausbegleitet hatten, und räucherten gleich mit Weihrauch, damit bei uns auch kein Hauch von ihr zurückbleibe. Danach befreiten wir das Stübchen von den letzten Spuren des Gastes. Die Ersatzbilder legten wir in die Kisten zurück in den Verschlag und holten unsere richtigen Bilder wieder hervor. Wir hoben sie auf die Gestelle, wie vorher, und besprengten sie mit Weihwasser.
Am Morgen gingen wir alle an unsere Arbeit, nur Luka Kirillow nicht. Das war in anbetracht seiner Pünktlichkeit erstaunlich, noch erstaunlicher aber war, daß er um acht Uhr ganz verstört und bleich zu uns kam.
Ich wußte, daß er ein Mann war, der sich in der Hand hatte und es nicht liebte, sich unnütz zu grämen, und darum wurde ich aufmerksam und fragte:
»Was hast du, Luka Kirillow?«
Aber er sagt: »Später sage ich es.«
Jung, wie ich damals war, war ich schrecklich neugierig, zudem hatte mich eine Vorahnung gepackt, daß sich irgendetwas Unheilvolles für unseren Glauben ereignet habe. Ich hielt aber den Glauben hoch und war niemals kleingläubig.
Ich konnte es nicht länger aushalten, verließ unter irgendeinem Vorwand die Arbeit und lief nach Hause. Ich dachte mir: solange niemand zu Hause ist, kann ich von Michailiza etwas erfahren. Wenn ihr Luka Kirillow auch nichts eröffnet hat, so durchschaut sie ihn, trotz ihrer Einfalt, und vor mir wird sie nichts verheimlichen, da ich, schon als Kind verwaist, bei ihr an Sohnesstatt aufgewachsen bin, und sie mir wie eine zweite Mutter gewesen ist.
Ich eile zu ihr und sehe sie in einem alten offenen
»Warum sitzen Sie hier, Pflegemutter?« frage ich.
Und sie antwortet:
»Wo soll ich denn sonst bleiben, Marotschka?«
Ich heiße Mark Alexandrow, aber sie nannte mich in ihrer mütterlichen Zärtlichkeit Marotschka.
Was sind das für Dummheiten, denke ich mir, daß sie nicht weiß, wo sie sonst bleiben soll?
»Aber warum,« sage ich, »legen Sie sich denn nicht ein wenig im Schuppen hin?«
»Ich kann nicht, Marotschka,« antwortet sie, »in der großen Stube betet der alte Maroi.«
Aha, denke ich mir, es wird schon so sein, daß sich irgendetwas mit unserm Glauben zugetragen hat; und nun beginnt auch Tante Michailiza:
»Marotschka, du weißt sicher nichts, Kind, von dem, was sich heute nacht bei uns ereignet hat?«
»Nein, Pflegemutter, ich weiß nichts.«
»Ach, es ist schrecklich.«
»Erzählen Sie doch schneller, Pflegemutter!«
»Ich weiß nicht, ob ich es erzählen darf.«
»Warum wollen Sie nicht erzählen?« sage ich: »Bin ich denn für Sie ein Fremder und nicht an Sohnesstatt?«
»Ich weiß, mein Lieber, daß du mir wie ein Sohn bist,« antwortet sie, »aber ich habe kein Vertrauen, daß ich es dir auseinandersetzen kann, denn ich bin dumm und einfältig. Warte doch, nach Feierabend kommt der Onkel, und der wird dir gewiß alles erzählen.«
Aber ich konnte nicht warten und drang in sie:
Ich sehe, wie sie mit den Lidern blinzelt und wie sich ihre Augen mit Tränen füllen, die sie mit dem Brusttuch abwischt; dann flüstert sie mir leise zu:
»Kind, der Schutzengel ist heute Nacht von uns fortgegangen.«
Diese Eröffnung machte mich zittern.
»Sagen Sie doch bitte schnell, wie das Wunder geschehen ist und wer es gesehen hat!«
»Das Wunder, Kind, ist unerklärlich, und niemand außer mir hat es gesehen, weil es tiefe Mitternacht war, als es geschah und ich allein nicht schlief.«
Und dann, meine werten Herren, erzählte sie mir folgende Geschichte:
»Nachdem ich gebetet hatte, war ich eingeschlafen. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich schlief, aber plötzlich sehe ich im Traum eine Feuersbrunst, eine ganz große Feuersbrunst. Es war, als ob alles bei uns verbrannt wäre, und der Fluß führe die Asche mit sich fort, aber an den Strudeln um die Brückenjoche kreist sie noch, und dann schluckt sie der Fluß in die Tiefe.« Und Michailiza träumt, als sei sie hinausgelaufen und stehe in einem alten zerrissenen Hemd ganz unten am Wasser, aber ihr gegenüber am anderen Ufer erhebe sich eine hohe, rote Säule, und oben auf der Säule stehe ein kleiner, weißer Hahn, der in einem fort mit den Flügeln schlage. Michailiza fragt: »Wer bist du?«, denn das Gefühl sagt ihr, daß dieser Vogel ein Vorzeichen sei. Der Hahn aber ruft plötzlich mit menschlicher Stimme »Amen«, sonst nichts, und dann ist er verschwunden, aber um Michailiza herum
Luka Kirillow geht jetzt unverzüglich zum alten Maroi und sagt ihm, wie alles gewesen sei, was seine Frau gesehen habe und was bei uns geschehen war: »Komm und schau!« Maroi kommt, kniet vor dem auf der Erde liegenden Engel nieder und bleibt vor ihm lange unbeweglich, wie ein marmornes Grabbild liegen, dann hebt er aber die Hand, streicht sich über die Tonsur auf dem Scheitel und sagt leise:
»Bringt zwölf reine, neugebrannte Ziegelplatten her!«
Luka Kirillow bringt sie sogleich, Maroi schaut sie an und sieht, daß sie alle rein sind und gerade aus dem Brennofen kommen, und er befiehlt Luka, eine auf die andere zu legen und so eine Art Säule aufzuführen, diese mit einem reinen Handtuch zu bedecken und darauf das Heiligenbild zu legen. Dann verneigt sich Maroi bis zur Erde, und ruft:
»Engel Gottes, streu deine Spuren aus, wohin du willst!«
Er hat diese Worte kaum ausgesprochen, als an der Türe geklopft wird und eine unbekannte Stimme ruft:
»He, ihr Altgläubigen, wer ist euer Ältester?«
Luka Kirillow öffnet die Tür und sieht einen Soldaten mit einer Medaille vor sich stehen.
Luka fragt, was für einen Ältesten er wolle. Und der antwortet:
Luka schickt seine Frau gleich zu Pimen und fragt weiter, worum es sich handle und wer ihn in der Nacht nach Pimen gesandt habe.
Der Soldat sagt:
»Etwas Gewisses weiß ich nicht, aber ich habe so etwas gehört, als ob die Juden dort eine schlimme Geschichte mit unserem Herrn angestellt hätten!«
Aber was es eigentlich sei, kann er nicht erzählen.
»Ich habe gehört,« sagt er, »daß der Herr erst sie versiegelt hätte und dann sie ihn.«
Aber darüber, wie sie einander versiegelt haben, weiß er nichts verständliches zu erzählen.
Währenddes war Pimen gekommen; er schielt selbst wie ein Jude, bald dorthin, bald dahin, und weiß sichtlich selbst nicht, was er sagen soll. Und Luka spricht ihn an:
»Was hast du da gemacht, Spielmann? Geh jetzt und spiel dein Stück nur zu Ende!«
Der setzt sich mit dem Soldaten ins Boot, und sie fahren ab.
Nach einer Stunde kommt unser Pimen zurück, stellt sich munter, aber man sieht, daß es ihm durchaus nicht so zumute ist.
Luka fragt ihn:
»Sprich,« sagt er, »du Windbeutel, und sag ganz aufrichtig, was du dort getan hast.«
Aber jener erwidert: »Nichts«.
Nun, bei dem Nichts blieb es, obwohl es durchaus kein Nichts gewesen war.
Mit dem Herrn, für den unser Pimen gebetet hatte, war eine erstaunliche Geschichte geschehen. Er war, wie ich Ihnen berichtet habe, in die jüdische Stadt gefahren, war dort spät in der Nacht angekommen, als niemand an ihn dachte, hatte sofort alle Läden unter Siegel genommen und die Polizei verständigt, daß er am nächsten Morgen mit der Revision beginnen werde. Die Juden erfuhren es natürlich sofort und gingen gleich, noch in der Nacht, zu ihm, um ihn um ein Übereinkommen zu bitten, da sie große Vorräte von gesetzwidrigen Waren auf Lager hatten. Sie kamen zu ihm und steckten ihm auf einmal zehntausend Rubel zu. Er sagte: Ich kann nicht, ich bin ein hoher Beamter, genieße Vertrauen und nehme keine Bestechungsgelder. Die Juden schnattern untereinander: »Fünfzehntausend«. Er wieder: »Ich kann nicht.« Sie »Zwanzig«. Er darauf: »Versteht ihr denn nicht, daß ich nicht kann: ich habe schon die Polizei verständigt, daß ich morgen mit ihr zusammen revidieren werde«. Sie schnattern wieder und sagen dann:
»Ach, Eure Durchlaucht, das macht nichts, daß Sie die Polizei verständigt haben, wir geben Ihnen fünfundzwanzigtausend, und Sie geben uns dafür bloß bis zum Morgen Ihr Petschaft und legen sich ruhig schlafen: wir brauchen nichts mehr.«
Der Herr überlegt hin und her: Wenn er sich auch für eine hohe Person hält, so scheint auch bei den hohen Personen das Herz nicht von Stein zu sein; er nahm die fünfundzwanzigtausend, gab ihnen das Petschaft, mit dem er siegelte, und legte sich schlafen. Die Juden holten,
»Nun, Euer Hochwohlgeboren, nun halten Sie bitte Revision.«
Er scheint es aber zu überhören und sagt:
»Gebt mir schnell mein Siegel.«
Aber die Juden sagen:
»Ja, geben Sie uns unser Geld.«
Der Herr: »Was? Wie?« Aber sie bleiben dabei:
»Wir haben,« sagen sie, »das Geld Ihnen als Pfand zurückgelassen.«
Er wieder:
»Was, als Pfand?«
»Freilich,« sagen sie, »als Pfand.«
»Ihr lügt,« sagt er, »ihr Halunken, ihr Christusverkäufer, ihr habt mir das Geld ganz gegeben.«
Sie stoßen einander an und lachen.
»Hörst du,« sagen sie, »hörst, wir haben ihm das Geld ganz gegeben ... Hm, hm, ai, ai, wie könnten wir so dumm sein und so unpolitisch, einer so hohen Persönlichkeit Chabar geben.« (So nennen sie Bestechungsgelder.)
Nun, können Sie sich etwas Schöneres vorstellen als diese Geschichte? Der Herr, versteht sich, hätte nun das Geld zurückgeben sollen, und die Sache wäre zu Ende gewesen, aber er war eigensinnig und wollte sich davon nicht trennen. So verging der Morgen. Der ganze Handel in der Stadt ist gesperrt. Die Leute kommen und wundern sich. Die Polizei fordert das Siegel, und die Juden
Gestatten Sie mir jetzt daran zu erinnern, daß, während ich mit Michailiza auf der Treppe sprach, der alte Maroi sich in der Stube im Gebet befand, wo ihn die Herren Beamten bei ihrem Eindringen auch vorfanden. Er erzählte später, daß sie, gleich als sie hereingekommen waren, die Türe zugeschlagen hätten und gerade auf die Heiligenbilder zugegangen wären. Die einen löschen die Lämpchen aus, die anderen reißen die Bilder von der Wand, legen sie auf den Boden und schreien ihn an: »Bist du der Pope?« Er sagt: »Nein, ich bin kein Pope.« Sie: »Wer ist denn euer Pope?« Aber er antwortet: »Wir haben keinen Popen.« Sie darauf: »Ihr werdet
»Haltet ein, Christenmenschen! Ereifert euch nicht!« Dann wendet er sich an die Beamten, weist auf die an die Eisenstange aufgespießten Ikonen und spricht: »Weshalb beschädigt ihr so das Heiligtum, ihr Herren Beamten? Wenn ihr das Recht habt, es uns zu nehmen, dann werden wir der Gewalt keinen Widerstand leisten, – nehmt es nur. Aber weshalb müßt ihr so seltene, von den Vätern ererbte Kunstwerke beschädigen?«
Aber der Mann der Bekannten Pimens, der die ganze Sache leitete, schrie Luka an:
Luka war ein stolzer Bauer, aber er demütigte sich und antwortete leise:
»Erlauben, Euer Hochwohlgeboren, wir kennen diesen Brauch, wir haben in der Stube anderthalb Hundert Ikonen. Wenn Sie wünschen, geben wir Ihnen für jede Ikone drei Rubel, nehmen Sie sie mit, aber beschädigen Sie die alten Kunstwerke nicht.«
In den Augen des Herrn blitzte es, und er schrie ihn laut an: »Hinaus!« Ganz leise setzte er aber hinzu: »Gib hundert Rubel für das Stück, sonst stecke ich sie alle in den Ofen.«
Luka konnte eine solche Summe weder geben, noch sie sich überhaupt vorstellen und sagte:
»Gott sei mit euch, vernichtet alles, wie ihr wollt, aber wir haben das Geld nicht.«
Aber der Herr schrie ihn wütend an: »Ach du bärtiger Ziegenbock, wie wagst du es, mit uns von Geld zu sprechen?«
Er wurde plötzlich ganz wild, ließ alles, was er an heiligen Darstellungen in der Stube fand, auf die Stange spießen, schraubte dann Muttern an beide Enden und versiegelte diese, so daß niemand die Bilder herunternehmen oder vertauschen konnte. Sie hatten bereits alle Ikonen gesammelt und schickten sich an, fortzugehen. Die Soldaten nahmen die Stange mit den Bildern auf die Schultern und trugen sie zu den Booten. Michailiza hatte sich indes mit dem übrigen Volk unbemerkt in die Stube gedrängt, heimlich das Engelsbild vom Chorpult heruntergestohlen und trug es unter der Schürze in die Kammer. Ihre Hände zitterten dabei aber so, daß sie es fallen
»Aha, ihr Betrüger, ihr wolltet das Bild stehlen, damit es nicht auf die Stange kommt? Nun, da soll es auch nicht hinkommen, aber so werde ich es machen!« – Mit diesen Worten zündete er die Siegellackstange an und drückte das brennende Harz mitten auf das Gesicht des Engels!
Meine besten Herren, seien Sie nicht böse, wenn ich nicht versuche, Ihnen zu beschreiben, was in uns vorging, als der Herr das kochende Harz auf das Antlitz des Engels goß und als dann der grausame Mensch das Bild auch noch emporhob, um sich damit zu rühmen, wie gut er es verstanden hatte, uns zu kränken. Ich entsinne mich nur noch, daß das helle heilige Antlitz rot und versiegelt war, daß das brennende Harz unter dem Petschaft in zwei Strömen, wie Blut mit Tränen gemischt, herabfloß.
Wir stöhnten alle auf, bedeckten unsre Augen mit den Händen und stöhnten, als lägen wir auf der Folter. Dann verloren wir uns in Weheklagen, so daß uns die einbrechende Nacht noch immer weinend und jammernd um unseren versiegelten Engel antraf. Da kam uns in dem Dunkel und der Ruhe, die über dem zerstörten Heiligtum lag, der Gedanke, ausfindig zu machen, wohin man unseren Beschützer gebracht hatte, und wir gelobten, ihn selbst unter Lebensgefahr zu rauben und zu entsiegeln. Zur Ausführung dieses Entschlusses wählte man mich und den jungen Lewontij. Er zählte kaum siebzehn Jahre, war fast noch ein Knabe, aber kräftigen Wuchses und guten Herzens, von Kind auf gottesfürchtig, gehorsam und gutartig, wie ein weißes Roß mit Silberzaum.
Ich will Sie nicht mit Einzelheiten aufhalten, wie ich und mein Gefährte durch alle Nadelöhre schlüpften und überall hinkamen; ich will Ihnen gleich von der Trauer berichten, die uns ergriff, als wir erfuhren, daß man unsere von den Beamten durchbohrten Ikonen, so wie sie auf die Stange aufgespießt waren, in den Keller des Konsistoriums geworfen hatte. Damit war die Sache für uns verloren und wie im Sarge begraben; es war vergeblich, noch weiter an sie zu denken. Erfreulich dagegen war, daß man sich erzählte, der Erzbischof selbst habe diese barbarische Handlungsweise nicht gebilligt, sondern im Gegenteil gesagt: »Wozu das?« Er sei sogar für das alte Kunstwerk eingetreten und habe erklärt: »Es ist ein altes Stück, das man schützen muß«. Schlimm dagegen war, daß, als das durch die Schändung entstandene Unheil noch nicht überwunden war, uns ein neues, größeres durch diesen neuen Verehrer traf: Derselbe Erzbischof nahm, was man hinzufügen muß, nicht in schlimmer, sondern in guter Absicht unseren versiegelten Engel in die Hand und betrachtete ihn lange, dann legte er ihn zur Seite und sagte: »Das verstörte Antlitz! Wie schrecklich hat man es zugerichtet! Man tue dieses Bild nicht in den Keller, sondern stelle es in meine Kapelle aufs Fenster neben den Opfertisch.« Die Diener des Erzbischofes führten
Obwohl unsere Brotgeber, die Engländer, Ärzte kommen ließen, ging niemand zu ihnen hin, und auch ihre
»Bring uns den versiegelten Engel. Wir wollen vor ihm einen Bittgottesdienst halten, er allein kann uns helfen!«
Unser Engländer Jakow Jakowlewitsch nahm sich der Sache an, fuhr selbst zum Erzbischof und sagte ihm:
»So steht es, Eminenz: der Glaube ist eine große Sache, und einem jeden wird alles nach seinem Glauben gegeben; geben Sie uns doch den Engel aufs andere Ufer!«
Der Erzbischof aber wollte davon nichts wissen und sagte:
»Dem darf kein Vorschub geleistet werden.«
Damals erschien uns dieses Wort grausam, und wir verurteilten den Erzbischof leichtfertig, später aber wurde uns offenbar, daß dies alles nicht aus Hartherzigkeit, sondern durch Gottes Vorsehung geschah.
Indessen nahmen die Zeichen kein Ende, und der strafende Finger traf auch den Hauptschuldigen in dieser Sache, Pimen, selbst, der nach diesem Unheil von uns geflohen war, auf dem anderen Ufer lebte und der Staatskirche beitrat. Ich begegnete ihm einmal dort in der Stadt, er begrüßte mich, und ich grüßte ihn wieder. Dann sagte er mir:
»Ich habe gesündigt, Bruder Mark, daß ich mich von eurem Glauben abgeschieden habe.«
Ich antwortete ihm:
»Was einer glaubt, das ist Gottes Sache, aber daß du den Armen um ein Paar Stiefel verkauft hast, das war nicht gut gehandelt; verzeih mir, daß ich dir, wie es der Prophet Amos befiehlt, brüderliche Vorwürfe mache.«
»Sprich mir nicht von den Propheten,« sagte er, »ich kenne die Schrift selbst und fühle, wie die Propheten die auf der Erde Lebenden strafen. Ich selbst habe dafür ein Zeichen.« Und er klagte mir, daß er, als er neulich im Flusse gebadet hatte, am ganzen Körper fleckig geworden sei; er machte seine Brust frei und zeigte mir auf ihr Flecken, wie bei einem gescheckten Pferde, die sich von der Brust bis hinauf zum Halse zogen.
Ich sündiger Mensch hatte schon im Sinne, ihm zu sagen, daß »Gott den Schelm zeichne«, aber ich unterdrückte diese Worte und sagte:
»Nun, was hat das zu bedeuten? Bete nur und sei froh, daß du auf dieser Welt gezeichnet bist, vielleicht wirst du dann in der kommenden rein dastehen.«
Aber er klagte mir, wie unglücklich er darüber sei und was er einbüße, wenn die Flecken auch das Gesicht ergreifen würden. Der Gouverneur selbst habe, als er ihn, Pimen, bei seinem Übertritt in die Kirche sah, große Freude an seiner Schönheit gehabt und dem Stadthauptmann gesagt, er solle Pimen beim Empfang vornehmer Personen unbedingt ganz vorne mit der silbernen Schüssel in den Händen aufstellen. Aber einen fleckigen Menschen könne man doch nicht aufstellen! Was brauchte ich aber seine eitlen und hohlen Worte weiter anzuhören? – Ich drehte mich um und ging.
Seit der Zeit waren wir von ihm geschieden. Seine Flecken wurden immer sichtbarer, aber auch bei uns hörten die Zeichen nicht auf. Schließlich setzte im Herbst, als der Fluß kaum zugefroren war, plötzlich Tauwetter ein,
Dies machte sogar unsere Brotgeber, die Engländer, bestürzt, und irgendjemand riet ihrem Ältesten, Jakow Jakowlewitsch, uns Altgläubige wegzuschicken, um von all dem Übel wieder erlöst zu werden. Der Engländer aber war ein Mensch mit rechtschaffnem Herzen und hörte nicht darauf; er ließ sogar mich und Luka Kirillow zu sich rufen und sagte:
»Kinder, gebt mir selbst einen Rat: kann ich euch nicht irgendwie helfen und euch trösten?«
Wir antworteten ihm, daß es für uns keinen Trost gäbe, solange das uns heilige Antlitz des Engels, das uns überall begleitet hatte, mit Feuerharz versiegelt sei, und daß wir vor Leid vergingen.
»Was gedenkt ihr zu tun?« fragte er.
»Wir wollen ihn einmal vertauschen und sein reines Antlitz, das die gottlose Hand des Beamten unter dem Siegel verborgen hat, entsiegeln.«
»Warum ist euch der Engel so teuer, und kann man euch nicht einen anderen ebensolchen verschaffen?«
»Er ist uns deshalb so teuer,« antworteten wir, »weil er uns beschützt hat; einen anderen können wir aber nicht bekommen, weil dieser in schwerer Zeit von gottesfürchtiger Hand gemalt und von einem Priester des alten Glaubens nach dem Brevier des Pjotr Mogila geweiht worden ist. Jetzt aber haben wir weder Priester noch jenes Brevier.«
Wir antworteten:
»Euer Gnaden, was das anbelangt, so haben Sie keine Sorge: wenn wir ihn nur in unsere Hände bekommen, wird er, unser Beschützer, schon selbst für sich sorgen. Er ist keine Handelsware, sondern eine echte Stroganower Arbeit, und die Stroganower wie die Kostromaer Lacke sind so zubereitet, daß das Bild nicht einmal den Feuerbrand zu fürchten braucht, er läßt das Harz an die zarten Farben nicht einmal heran.«
»Seid ihr davon überzeugt?«
»Ja, das sind wir: dieser Lack ist so stark wie der alte russische Glaube selbst.«
Er schimpfte noch auf jene, die ein solches Kunstwerk nicht zu schätzen verstanden hatten, gab uns die Hand und sagte nochmals:
»Nun, verzagt nicht, ich bin euer Helfer, wir werden euern Engel bekommen. Braucht ihr ihn für lange?«
»Nein,« antworteten wir, »für ganz kurze Zeit.«
»Nun, dann sage ich den Leuten, daß ich für euren versiegelten Engel kostbare goldene Beschläge machen lassen will, und wenn man ihn mir dann gibt, vertauschen wir ihn. Gleich morgen will ich mich daran machen.«
Wir dankten ihm und erwiderten:
»Herr, unternehmen Sie bitte morgen und auch übermorgen noch nichts.«
»Warum das?« fragte er.
Wir antworteten:
»Weil wir, Herr, vor allen Dingen ein Bild zum Vertauschen
»Das ist eine Kleinigkeit,« sagte er, »ich werde euch selbst aus der Stadt einen Künstler mitbringen, der nicht nur Kopien malt, sondern selbst vortreffliche Porträts.«
»Nein,« antworteten wir, »tun Sie das bitte nicht: erstens würde durch diesen weltlichen Maler vielleicht ein unziemliches Gerede entstehen, zweitens kann ein Maler diese Aufgabe gar nicht erfüllen.«
Der Engländer glaubte es nicht, und so trat ich vor und legte ihm den ganzen Unterschied klar: daß die jetzigen weltlichen Maler eine andere Kunstart haben, daß sie nämlich mit Ölfarben malen, während dort die Farben mit Eiweiß angerieben werden und ganz zart sind. In der neuen weltlichen Malerei ist die Darstellung hingeschmiert und erscheint nur in einiger Entfernung natürlich, während hier alles fließend und noch in der Nähe deutlich ist. Einem weltlichen Maler würde selbst die Wiedergabe der Zeichnung nicht gelingen, weil sie nur gelernt haben, den irdischen Körper abzubilden und was den körperlichen Menschen ausmacht, während in der heiligen russischen Ikonenmalerei der verklärte himmlische Leib dargestellt wird, den sich der materielle Mensch nicht einmal vorstellen kann.
Das interessierte ihn, und er fragte:
»Aber wo gibt es denn solche Meister, die sich heute noch auf diese besondere Art verstehen?«
»Sie sind heute,« berichtete ich ihm weiter, »sehr selten, und selbst damals lebten sie in tiefer Verborgenheit. Im
»Weshalb denn das?« forschte er weiter.
»Weil sie,« antwortete ich, »eine andere Manier haben: bei den Msterern ist die Zeichnung schwerfällig und der Farbton trüb, bei den Palichowern dagegen ist der Ton türkisfarbig, alles schimmert bei ihnen bläulich.«
»Was soll man nun machen?« fragte er.
»Ich weiß es selbst nicht,« antwortete ich. »Ich habe zwar gehört, es gäbe in Moskau noch einen guten Meister, namens Ssilatschow. Er hat in ganz Rußland, auch bei den Unsrigen einen guten Namen, aber er entspricht mehr der Nowgorodschen und der Zarisch-Moskowitischen Art. Unsere Ikone aber ist Stroganower Zeichnung mit den klarsten heiligsten Farben, so daß uns einzig der Meister Ssewastian von der Wolga helfen könnte, aber der ist ein leidenschaftlicher Wanderer und zieht durch ganz Rußland, macht bei den Altgläubigen Ausbesserungen, und niemand weiß, wo er zu finden ist.«
Der Engländer hatte meinen ganzen Bericht mit Vergnügen angehört, lächelte ein wenig und antwortete:
»Ihr seid sehr wunderliche Leute,« sagte er, »aber wenn man euch zuhört, wird es einem wohl, denn ihr scheint alles, was euch angeht, gut zu kennen und sogar in der Kunst Bescheid zu wissen.«
»Warum sollen wir denn von der Kunst nichts erfaßt haben, Herr?« sage ich: »Hier handelt es sich doch um Gotteskunst, und bei uns gibt es unter den ganz einfachen
»Kann denn das sein?«
»Genau so, wie Sie die Handschrift eines Menschen von der eines anderen unterscheiden, so auch jene«, antwortete ich. »Sie schauen nur hin und sehen gleich, ob es Kusjma, Andrej oder Prokofij gemalt hat.«
»An welchen Merkmalen?«
»Es gibt Unterschiede in der Zeichnung, im Ton, in der Raumverteilung, in den Gesichtszügen und in den Bewegungen.«
Er hörte immerfort zu, und ich erzählte ihm, was ich über die Malerei eines Uschakow und eines Rubljow wußte, und vom ältesten russischen Maler Paramschin, dessen Heiligenbilder unsere gottesfürchtigen Fürsten und Zaren ihren Kindern zum Segen schenkten, denen sie sogar in ihren Vermächtnissen befahlen, diese Ikonen wie ihren Augapfel zu hüten.
Der Engländer zog gleich sein Notizbuch heraus, ließ mich den Namen dieses Malers wiederholen und fragte, wo man Arbeiten von ihm sehen könnte. Aber ich antwortete:
»Sie werden vergeblich suchen, Herr. Nirgends ist eine Erinnerung an sie zurückgeblieben.«
»Wo sind sie denn geblieben?«
»Ich weiß nicht,« sagte ich, »ob man sie zum Pfeifenreinigen
»Es kann nicht sein!«
»Im Gegenteil,« antwortete ich, »es kann sehr wohl sein, es gibt Beispiele dafür: der römische Papst hat im Vatikan ein Triptychon, das unsere russischen Ikonenmaler Andrej, Ssergej und Nikita im dreizehnten Jahrhundert gemalt haben. Diese vielfigurigen Miniaturen sollen so wunderbar sein, daß selbst die größten ausländischen Maler, die sie sahen, vor diesem wundervollen Werk in Begeisterung gerieten.«
»Aber wie ist es nach Rom gekommen?«
»Peter der Erste hat es einem ausländischen Mönch geschenkt, und der hat es verkauft.«
Der Engländer lächelte ein wenig, wurde dann nachdenklich und sagte leise, daß bei ihnen in England jedes Bildchen von Geschlecht zu Geschlecht bewahrt werde und daß es so für seine Herkunft selbst Zeugnis ablege.
»Nun, bei uns herrscht wahrhaftig eine andere Sitte,« sagte ich, »das Band der Überlieferungen der Vorfahren ist zerrissen, damit alles neu erscheine, als sei das ganze russische Geschlecht erst gestern von der Henne in den Nesseln ausgebrütet worden.«
»Wenn die bei euch gezüchtete Unwissenheit so groß ist, warum bemühen sich dann nicht wenigstens diejenigen, die die Liebe zum Heimatlichen bewahrt haben, die einheimische Kunst zu erhalten?«
Ich antwortete: »Es ist niemand da, Herr, der uns unterstützen würde, denn in den neuen Kunstschulen verfault allerorts das Gefühl, und der Verstand unterwirft sich der Eitelkeit. Die Fähigkeit zur hohen Begeisterung
Damit schloß ich und schwieg, aber der Engländer sagte:
»Fahre fort, mir gefällt es, wie du urteilst!«
Ich antwortete: »Ich habe schon alles erzählt.« Er aber erwiderte:
»Nein, erzähle mir noch, was ihr unter einem beseelten Bilde versteht.«
Diese Frage, meine werten Herren, war für einen einfachen Menschen ziemlich schwierig, aber es war nichts zu machen, und ich begann zu erzählen, wie in Nowgorod der Sternenhimmel gemalt ist, und dann berichtete ich von dem Kiewer Bild in der Sophienkathedrale, wo zu Seiten des Herrn Zebaoth sieben geflügelte Erzengel
Der Engländer antwortete: »Verzeih mir, mein Lieber, ich verstehe nicht, weshalb du dies erhebend nennst.«
»Weil eine solche Darstellung uns klar sagt, daß es dem Christenmenschen ansteht, zu beten und darnach zu lechzen, sich von dieser Welt zu Gottes unsagbarem Glanze zu erheben.«
»Ja,« erwiderte er, »das kann aber doch ein jeder aus der Schrift und aus dem Gebete erfassen.«
»Nein, durchaus nicht,« antwortete ich, »es ist nicht jedem gegeben, die Schrift zu verstehen, und dem, der sie nicht versteht, gibt auch das Gebet nur Finsternis. Mancher hört die Verheißung der großen und reichen Gnade und schließt daraus, daß damit Geld gemeint sei
Der Engländer erhob sich von seinem Platze und sagte lächelnd: »Und ihr, Sonderlinge, was erbetet ihr euch?«
»Wir beten,« antwortete ich, »um ein christliches Ende und um ein mildes Gericht am jüngsten Tag.«
Er lächelte wieder und zog plötzlich an einer goldgelben Schnur; ein grüner Vorhang ging auf, und hinter ihm saß seine Frau, die Engländerin, auf einem Sessel und strickte vor einer Kerze mit langen Stricknadeln. Sie war eine schöne freundliche Dame, und wenn sie auch nur wenig russisch sprechen konnte, so verstand sie doch alles und hatte gewiß unser Gespräch mit ihrem Manne über die Religion mit anhören wollen.
Und was denken Sie wohl? Kaum war der Vorhang, der sie verdeckt hatte, zurückgezogen, als die Gute sogleich wie erschrocken aufstand, an mich und Luka herantrat und uns Bauern ihre beiden Händchen entgegenstreckte. In ihren Augen blinkten Tränen, und sie sagte:
»Gute Menschen, gute russische Menschen!«
Ich und Luka küßten ihr für dieses gute Wort beide
Der Erzähler hielt inne, bedeckte die Augen mit dem Ärmel, wischte sie still und flüsterte dann: »Sie war eine rührende Frau.« Nachdem er sich gefaßt hatte, fuhr er fort:
Nach ihrer freundlichen Tat begann die Engländerin ihrem Manne etwas in ihrer Sprache auseinanderzusetzen. Wenn wir es auch nicht verstanden, so hörten wir an der Stimme, daß sie ihn für uns bat. Und der Engländer freute sich über die Güte seiner Frau, strahlte vor Stolz, streichelte der Frau immerfort das Köpfchen und girrte in seiner Sprache wie eine Taube: »Gut, gut«, oder was er ihr sonst gesagt haben mag; aber es war ersichtlich, wie er sie lobte und sie in etwas bestärkte. Dann trat er an seinen Schreibtisch, nahm zwei Hundertrubelscheine heraus und sagte:
»Luka, hier hast du Geld, geh und suche den kunstfertigen Heiligenbildermaler, wo du ihn zu finden meinst, damit er euch anfertigt, was ihr braucht. Er kann auch für meine Frau etwas in eurer Art malen; sie will ihrem Sohne eine solche Ikone schenken und gibt euch für eure Bemühungen und Auslagen das Geld.«
Sie aber lächelt durch die Tränen und entgegnet rasch: »Nein, nein, nein, das ist von ihm, aber ich will von mir extra.« Und mit diesen Worten geht sie zur Tür hinaus und bringt einen dritten Hunderter.
»Mein Mann,« sagt sie, »hat mir das für ein Kleid geschenkt, aber ich will kein Kleid, ich stifte es euch.«
Wir weigern uns natürlich es anzunehmen, aber sie will davon gar nichts hören und läuft hinaus, während er sagt:
Wir waren durch diese Verabschiedung natürlich nicht beleidigt, weil wir wohl bemerkt hatten, daß sich der Engländer von uns weggewandt hatte, nur um seine Rührung vor uns zu verbergen.
So haben uns, meine werten Herren, unsere eigenen Landsleute in ihrer Herzensfinsternis verurteilt, und die englische Nation hat uns getröstet und unserer Seele den Eifer wiedergegeben.
Nun wendet sich, meine besten Herren, meine Erzählung dem Ende zu, und ich will Ihnen in Kürze berichten, wie ich meinen lieben, »silbergezäumten« Lewontij mitnahm, wie wir nach dem Ikonenmaler auszogen, welche Ortschaften wir durchwanderten, was für Leute wir sahen, welche neue Wunder sich uns offenbarten, wie wir zuguterletzt fanden, was wir verloren hatten und womit wir zurückkehrten.
Für einen Menschen, der eine Wanderschaft unternimmt, ist der Weggefährte die wichtigste Angelegenheit. Mit einem guten und klugen Kameraden sind selbst die Kälte und der Hunger leichter zu ertragen. Mir ward diese Gabe durch den wunderbaren Jüngling Lewontij zuteil. Wir machten uns zu Fuß auf den Weg. Wir trugen unsere Bündel, hatten eine hinreichende Summe Geldes bei uns und nahmen zum Schutze unseres Lebens und auch des Geldes einen alten, kurzen Säbel mit breiter Klinge mit,
Zu allererst waren wir in Klinzy und Slynka, kehrten dann bei einem der Unsern in Orjol ein, aber nirgends hatten wir ein brauchbares Resultat, nirgends fanden wir einen guten Ikonenmaler. So erreichten wir schließlich Moskau. Was soll ich sagen! Heil dir, Moskau! Heil dir, ruhmvolle Zarin des alten Rußlands! Aber wir Altgläubigen haben in dir keinen Trost gefunden!
Ich spreche ungern davon, aber ich kann nicht verschweigen, daß wir in Moskau nicht den Geist antrafen, den wir erwartet hatten. Wir überzeugten uns mit jedem Tag mehr davon, daß die Altgläubigkeit dort nicht auf Liebe zum Guten und zur Wohlanständigkeit begründet ist, sondern auf purem Eigensinn, und Lewontij und ich begannen uns darüber zu schämen, weil wir dort nur solches sahen, was für den friedlichen Gläubigen beleidigend ist. Aber indes wir uns schämten, schwiegen wir darüber.
Es gab natürlich in Moskau Ikonenmaler, und sogar recht kunstfertige, aber was nützte uns das, wenn alle diese Leute nicht den Geist hatten, von dem die väterlichen Überlieferungen berichten. Bevor sich die gottesfürchtigen Maler der alten Zeiten an die heilige Kunst machten, fasteten und beteten sie, und sie leisteten für viel und für wenig Geld das Gleiche, wie es die Ehre der heiligen Darstellung erforderte. Aber jene malen nur für eine kurze Zeit, nicht mehr für die Dauer, grundieren nur schwach mit Kreidefarben, statt mit alabasternen, und tragen in ihrer Faulheit die Farbe mit einemmal auf, statt wie damals
»Ist es denn möglich,« denken wir uns, »daß unser alter unglücklicher Glaube derartig entstellt worden ist?« Und indem ich mir das denke, sehe ich, daß auch er dasselbe in seinem betrübten Herzen trägt. Aber wir sprachen nicht miteinander darüber, und ich bemerkte nur, wie sich mein Jüngling immer mehr in die Einsamkeit flüchtete.
Einmal schaue ich ihn an und habe Sorge, daß er jetzt in der Verwirrung seines Herzens nur nicht auf unnötige Gedanken kommen möge; und ich sage ihm:
»Was hast du, Lewontij, worüber grämst du dich?«
Und er antwortet:
»Nichts, Onkel, nichts; ich bin einmal so.«
»Komm, gehen wir in die Boscheninstraße, in die Eriwaner Schenke und versuchen dort einen Ikonenmaler zu überreden. Heute haben zwei versprochen hinzukommen und alte Ikonen mitzubringen. Ich habe schon eine eingehandelt und will heute noch eine bekommen.«
Aber Lewontij antwortet:
»Nein, Onkelchen, geh du allein, ich gehe nicht mit.«
»Warum gehst du nicht mit?« frage ich.
Einmal, zweimal nötigte ich ihn nicht, aber das drittemal fordere ich ihn wieder auf:
»Gehen wir, Lewontjuschka, gehen wir, Junge.«
Aber er verneigt sich rührend und bittet:
»Nein, Onkelchen, weißes Täubchen, laß mich zu Hause bleiben.«
»Aber was ist denn das, Ljowa, du bist doch mit mir als Helfer mitgekommen und sitzt immer zu Hause. So habe ich nicht viel von deiner Hilfe, mein Täubchen.«
»Nun, du Teurer, Väterchen Mark Alexandrowitsch, Gebieter, fordere mich nicht auf, dorthin zu gehen, wo man ißt und trinkt und unziemliche Reden über das Heilige führt, ich könnte der Versuchung unterliegen.«
Das war das erste bewußte Wort über seine Gefühle, und es traf mich ins Herz, aber ich stritt nicht mit ihm und ging allein. An jenem Abend hatte ich ein langes Gespräch mit zwei Ikonenmalern, und durch sie widerfuhr mir ein schreckliches Leid. Es ist entsetzlich, was sie mit mir gemacht haben. Der eine hatte mir für vierzig Rubel eine Ikone verkauft und ging weg; der andere aber sagte:
»Schau zu, Mensch, daß du vor dieser Ikone nicht betest.«
Ich frage: »Warum?«
Er antwortet: »Weil es Teufelsmalerei ist.« Damit kratzt er mit dem Nagel an dem Bild, an der einen Ecke fällt die Farbschicht ab, und auf dem Grund darunter ist ein Teufelchen mit einem Schwanz gemalt. Er kratzt an einer anderen Stelle die Schicht herunter, und unter ihr ist wieder ein Teufelchen.
»Das bedeutet, daß du nicht bei ihm, sondern bei mir bestellen sollst«.
Da sah ich klar, daß sie derselben Bande angehörten und verabredet hatten, an mir schlecht und unehrlich zu handeln. Ich ließ ihnen die Ikone zurück und ging fort, die Augen voller Tränen, und lobte Gott, daß mein Lewontij, dessen Glaube eben im Gären war, dies nicht gesehen hatte. Wie ich nach Hause komme, sehe ich in den Fenstern des Stübchens, das wir gemietet hatten, kein Licht, sondern höre von dort ein leises, zartes Singen. Sogleich erkenne ich Lewontijs angenehme Stimme, und er singt mit einem Ausdruck, als ob er jedes Wort in Tränen badete. Ich trete leise ein und bleibe, damit er mich nicht hört, vor der Türe stehen und höre, wie er die Josephsklage singt:
Dieser Vers, wenn Sie ihn zu kennen geruhen, ist ohnedies so klagevoll, daß man ihn nicht gleichgültig anhören kann, und Lewontij singt ihn und weint und schluchzt dabei:
»Meine Brüder haben mich verkauft.«
Er weint, und weint, als ob er am Grabe seiner Mutter stehe und singt weiter, und ruft die Erde an zur Weheklage über die Sünde der Brüder.
Diese Worte können einen Menschen immer erregen, mich erregten sie aber jetzt besonders, da ich doch eben von ähnlich streitenden Brüdern weggegangen war. Die Worte hatten mich so gerührt, daß ich selbst aufschluchzte. Lewontij hört es, verstummt und ruft: »Onkel, hör Onkel!«
»Weißt du, wer unsere Mutter ist, von der hier gesungen wird?« fragt er.
»Rahel,« antworte ich.
»Nein,« entgegnet er, »in alter Zeit war es die Rahel, jetzt hat es aber eine andere, geheimnisvolle Bedeutung.«
»Wieso geheimnisvoll?« frage ich.
»Nun, dieses Wort hat einen verwandelten Sinn.«
»Du Kind,« sage ich, »paß auf: ist es nicht gefährlich, was du hier grübelst?«
»Nein,« erwidert er, »ich fühle es in meinem Herzen, daß unser Erlöser sich unseretwegen kreuzigen läßt, weil wir ihn nicht mit einigen Herzen und einigen Lippen suchen.«
Ich erschrak noch mehr: wohin will der Junge nur damit hinaus? Und ich sage ihm:
»Weißt du, Lewontjuschka, gehen wir lieber schneller aus Moskau fort in die Gegend von Nischnij-Nowgorod, um dort den Ikonenmaler Ssewastjan zu suchen; ich habe heute gehört, daß er dort umherzieht.«
»Gut, gehen wir,« antwortet er, »hier in Moskau quält mich schmerzhaft ein böser Geist, aber dort sind Wälder, die Luft ist reiner, und dort, hörte ich, lebt auch der Starez Pamwa, ein Einsiedler ganz ohne Neid und Zorn, den ich gern gesehen hätte.«
»Der Einsiedler Pamwa,« erwidere ich ihm streng, »dient der herrschenden Kirche, was haben wir mit ihm zu schaffen?«
»Nun, was ist das für ein Unglück?« antwortet er: »Ebendeshalb will ich ihn ja sehen, um zu begreifen, was für ein Segen auf der herrschenden Kirche ruht.«
»Die Angehörigen der herrschenden Kirche,« sage ich, »richten sich in ihrem Glauben nicht nach dem Himmel, sondern nach dem Tor des Aristoteles und bestimmen den Weg auf dem Meere nach dem Stern des heidnischen Gottes Remphan, du aber willst mit ihnen den Blickpunkt gemeinsam haben?«
Aber Lewontij antwortet: »Du fabelst, Onkel: es hat nie einen Gott Remphan gegeben, sondern alles ist durch die eine Allweisheit geschaffen.«
Daraufhin werde ich noch dümmer und sage: »Die Kirchlichen trinken Kaffee«.
»Nun, was ist das für ein Unglück?« antwortet Lewontij; »Der Kaffee ist eine Bohne und wurde dem König David als Geschenk dargebracht.«
»Woher,« sage ich, »weißt du denn das alles?«
»Ich hab es in Büchern gelesen.«
»Nun, wisse dann: alles steht in den Büchern nicht geschrieben.«
»Was ist dort nicht geschrieben?« fragt er.
»Was? Was dort noch nicht geschrieben ist?« Ich weiß gar nicht mehr, was ich sagen soll, und poltere los:
»Die Kirchlichen essen Hasen, und der Hase ist unrein.«
»Beschimpfe nicht, was Gott geschaffen hat, es ist Sünde.«
»Wie soll ich den Hasen nicht beschimpfen, wo er doch unrein ist, von Eselsart, Zwittereigenschaften hat und beim Menschen dickes, melancholisches Blut erzeugt?«
»Schlaf, Onkel, du redest ungereimtes Zeug.«
Ich muß Ihnen gestehen, daß ich damals noch nicht klar wußte, was in der Seele dieses gesegneten Jünglings vorging; ich war nur sehr erfreut, daß er nicht weitersprechen wollte, denn ich sah selbst ein, daß mein Herz nichts von dem wußte, was ich sprach, und so schwieg ich denn und dachte mir nur, während ich mich niederlegte:
»Nein, diese Zweifel sind bei ihm aus Gram entstanden. Morgen werden wir aufstehen und uns auf den Weg machen; dann wird sich alles in ihm zerstreuen.« Für alle Fälle aber hatte ich in meinem Sinn beschlossen, einige Zeit schweigend neben ihm einherzugehen, um ihm zu zeigen, daß ich noch sehr zornig auf ihn sei.
Nur brachte ich in meinem wetterwendischen Charakter nicht die Kraft auf, mich böse zu stellen, und so begannen wir bald wieder miteinander zu sprechen, und nicht über göttliche Dinge, weil er viel belesener war als ich, sondern über die Gegend, wozu uns die riesigen dunklen Wälder anregten, durch die unser Weg führte. Ich bemühte mich, mein Moskauer Gespräch mit Lewontij zu vergessen, und entschloß mich, auf der Hut zu sein und nicht irgendwie auf den Starez Pamwa, den Einsiedler zu stoßen, der Lewontij so begeistert hatte und über dessen erhabenen Lebenswandel ich selbst unfaßbare Wunder von kirchlich Gläubigen gehört hatte.
»Nun,« denke ich mir, »was soll ich mir große Sorgen machen, wenn ich ihm aus dem Wege gehe? Er selbst wird uns doch gewiß nicht suchen.«
Und so wandern wir wieder friedlich und wohlbehalten und kommen schließlich in Ortschaften, in denen wir
»Er ist hier gewesen und ist eben, vor einer Stunde weggegangen.«
Wir eilen ihm nach, aber es gelingt uns nicht ihn einzuholen.
Einmal an einer Wegkreuzung gerate ich mit Lewontij in Streit. Ich sage: »wir müssen rechts gehen«, und er sagt: »links«. Schließlich hätte er mich beinahe überredet, aber ich beharrte auf meiner Meinung. Wir gehen also und gehen, und schließlich merke ich, daß ich nicht mehr weiß, wohin wir geraten sind, und daß weder ein Pfad, noch eine Spur weiterführt.
Ich sage dem Jüngling: »Kehren wir um, Ljowa!«
Aber er antwortet: »Nein ich kann nicht mehr weitergehen, Onkel, ich habe keine Kraft mehr.«
Ich frage besorgt: »Kindchen, was fehlt dir denn?«
Und er erwidert: »Siehst du denn nicht, wie mich der Frost schüttelt?«
Ich sehe, wie er am ganzen Körper zittert und wie seine Augen umherirren. So plötzlich war es geschehen, meine werten Herren. Er hat über nichts geklagt, ist flink einhergegangen, und nun setzt er sich mit einem Male in einem Wäldchen aufs Gras, lehnt seinen Kopf an einen hohlen Baumstumpf und sagt:
Dies geschah gegen Abend.
Ich war sehr erschrocken, und während ich wartete, ob sein Anfall nicht nachlassen würde, brach die Nacht herein. Es war Herbstzeit und trüb, die Gegend war unbekannt, ringsum nichts als Fichten und alte Tannen, und der Knabe starb einfach hin. Was sollte ich tun? Unter Tränen sagte ich ihm:
»Ljowuschka, Väterchen, raff dich zusammen, vielleicht erreichen wir ein Nachtlager.«
Aber er neigt das Köpfchen zur Seite, wie eine abgemähte Blume, und spricht wie im Fiebertraum:
»Rühr mich nicht an, Onkel Marko, rühr mich nicht an und fürchte dich nicht.«
Ich sage: »Ich bitte dich, Ljowa, wie soll man sich in solch einer unwegsamen Einöde nicht fürchten?«
Aber er sagt: »Wache, und du wirst behütet werden.«
Ich denke: »Herrgott, was ist denn mit ihm los?« Trotz meiner Angst beginne ich zu horchen, und es scheint mir, als höre ich tief im Wald etwas knistern. »Gnadenreicher Herr!« denke ich mir: »Das ist gewiß ein wildes Tier, das uns gleich zerreißen wird!« Lewontij kann ich schon nichts mehr zurufen, denn ich sehe, daß er gleichsam aus sich selbst herausgeflogen ist und mir enteilt, und so bete ich nur noch: »Engel Christi, beschütze uns in dieser schrecklichen Stunde!« Das Knistern kommt immer näher und ist schon dicht bei uns. Ich muß Ihnen hier, meine werten Herren, eine große Gemeinheit gestehen: ich war so
Plötzlich sehe ich aus der Dunkelheit, an die sich meine Augen bereits gewöhnt haben, etwas heraustreten, aber ich kann durchaus nicht erkennen, ob es ein Tier oder ein Räuber ist. Aber wie ich genauer hinschaue, kann ich genau unterscheiden, daß es weder das eine, noch das andere ist, sondern ein kleiner Greis in einer Kutte; ja, ich kann sogar das Beil erkennen, das er im Gürtel stecken hat, und das große Holzbündel auf seinem Rücken. Er kommt auf die Lichtung heraus, atmet hastig, als wolle er die Luft von allen Seiten her einsammeln, wirft dann mit einem Male sein Bündel zur Erde und geht sofort, als habe er die Nähe eines Menschen gewittert, gerade auf meinen Gefährten zu. Er tritt an ihn heran, beugt sich über ihn, schaut ihm ins Gesicht, nimmt ihn dann bei der Hand und sagt: »Steh auf, Bruder.« Und was glauben Sie? Ich sehe, wie er Lewontij aufstehen hilft, ihn zu seinem Bündel führt, es ihm auf die Schultern legt und sagt: »Trag es hinter mir her!« Und Lewontij trägt es.
Sie können sich vorstellen, meine werten Herren, wie ich vor solch einem Wunder erschrecken mußte. Woher war dieser stille, gebieterische Alte gekommen, und wie hatte mein Ljowa, der noch eben dem Tode nahe schien, die Kraft gewonnen, gleich das Holzbündel zu tragen!
Ich trat an den Alten heran und rief:
»Verehrter!«
Und er erwiderte: »Was willst du?«
»Wohin führst du uns?«
»Ich führe niemanden,« sagte er, »alle führt Gott.«
Bei diesen Worten blieb er stehen, und ich sah, daß sich vor uns eine niedrige Mauer mit einem Tor erhob, und in dem Tor ein kleines Pförtchen angebracht war. Der Alte begann daran zu klopfen und rief: »Bruder Miron! Bruder Miron!«
Aber von drinnen antwortet unwirsch eine grobe Stimme:
»Wieder hast du dich nachts herumgetrieben. Bleib im Wald zu Nacht! Ich lasse dich nicht herein!«
Doch der kleine Greis begann zu flehen und freundlich zu bitten:
»Laß ein, Bruder!«
Plötzlich riß der Grobian von innen die Türe auf, und ich sah einen Menschen in der gleichen Kutte, wie sie der
»Segne dich Gott, mein Bruder, für diesen Dienst.«
»Heiland«, denke ich mir, »wohin sind wir geraten!«
Und plötzlich erleuchtet und entsetzt es mich wie ein Blitz:
»Gott sei mir gnädig! Wenn es nur nicht Pamwa, der zornlose Einsiedler ist. Dann wäre es besser gewesen, ich wäre im dunklen Wald umgekommen oder hätte mir bei einem wilden Tier oder einem Räuber ein Lager gesucht, als unter diesem Dache!«
Kaum hatte er uns in seine kleine Hütte hineingeführt und ein gelbes Wachslicht angezündet, als ich schon erriet, daß wir uns wirklich in einer Waldeinsiedelei befanden. Und ich kann mich nicht mehr beherrschen und frage:
»Verzeih mir, gottesfürchtiger Mann, wenn ich dich frage, ob es sich für mich und meinen Gefährten geziemt, hier zu bleiben, wohin du uns geführt hast?«
Er aber antwortet:
»Gottes ist die ganze Erde, und gesegnet sind alle Lebenden. – Lege dich hin und schlafe!«
»Nein«, erwidere ich, »erlaube, daß ich dir sage: wir gehören dem alten Glauben an.«
»Wir sind alle vom Leibe Christi, er umfängt uns alle.«
Und damit führt er uns in einen Winkel, wo auf dem Boden eine dürftige Lagerstatt aus Matten hergerichtet ist und am Kopfende ein mit Stroh bedeckter Holzklotz liegt, und sagt zu uns beiden: »Schlaft!«
»Verzeih, Mann Gottes, noch eine Frage ...«
Er antwortet: »Wozu fragen: Gott weiß alles.«
»Nein, sage mir: wie heißt du?«
Aber er erwidert mit dem für ihn ganz unpassenden Weiberspruch:
»Man nennet mich den Enterich, wie man mich heißt, das weiß ich nicht.« Und mit diesen leeren Worten kriecht er mit seinem Lichtlein in eine kleine Kammer, eng wie ein Holzsärglein, aber hinter der Wand vernimmt man wieder die Stimme des Grobians:
»Untersteh dich nicht, Licht zu brennen: du zündest noch die Zelle an. Aus dem Büchlein kannst du am Tage beten, jetzt aber bete im Dunkeln.«
»Ich werde nicht, Bruder Miron«, antwortet jener, »ich werde nicht.« Und bläst das Lichtlein aus.
Ich flüstere: »Vater, wer ist es, der Euch so barsch bedroht?«
»Es ist mein Diener Miron, ein guter Mensch ... er behütet mich.«
»Nun ist es aus«, denke ich mir, »es ist der Einsiedler Pamwa. Es kann niemand anders sein, als er, der Zorn- und Neidlose. Jetzt ist das Unglück da! Er hat uns hieher gebracht und sengt uns jetzt, wie der Feuerbrand das Fett. Das einzige, was übrigbleibt, ist, morgen beim Morgengrauen Lewontij von hier zu entführen und zu fliehen, damit er nicht wisse, wo wir sind.« Ich klammerte mich an diesen Plan und beschloß nicht zu schlafen, um den Jüngling beim ersten Morgenschimmer zu wecken und zu fliehen.
Ach, wie schön ist er! Wie vergeistigt! Als wenn ein Engel vor mir säße und für seine Erdenwandlung in unscheinbarer Gestalt Bastschuhe flechte. Ich betrachte ihn und sehe, daß auch er mich anschaut, lächelt und sagt:
Ich erwidere: »Was ist denn mein Werk, gottesfürchtiger Mann? Oder weißt du alles?«
»Ich weiß, ich weiß,« sagt er, »macht denn der Mensch einen weiten Weg ohne Zweck? Alle, Bruder, alle suchen die Wege Gottes. Helfe dir Gott in deiner Demut.«
»Was sagst du, heiliger Mann, meine ›Demut‹? Du bist demütig, aber was habe ich in meiner Eitelkeit für eine Demut?«
Aber er antwortet:
»Ach nein, Bruder, nein, ich bin nicht demütig, ich bin ein großer Sünder, denn ich wünsche teilzuhaben am Himmelreich.«
Und im Bewußtsein dieser Sünde faltet er mit einem Male die Hände und beginnt wie ein kleines Kind zu weinen.
»Herr!« betet er, »zürne mir nicht für diesen Eigenwillen, werfe mich auf den Grund der Hölle und befiehl deinen Teufeln, mich zu quälen, wie ich es verdient habe!«
»Nein,« denke ich mir, »nein, es ist, Gott sei Dank, nicht der scharfsichtige Einsiedler Pamwa, es ist einfach ein geistesumnachteter Greis.« Ich dachte mir, daß doch niemand bei gesundem Verstande auf das Himmelreich verzichten und beten könne, Gott möge ihn zur Peinigung den Teufeln geben. Einen solchen Wunsch hatte ich in meinem ganzen Leben noch von niemand gehört, und so wandte ich mich von der Klage des Greises ab, da ich sie für eine Verrücktheit und eine von den Teufeln geschickte Versuchung hielt. Dann dachte ich mir, daß ich noch immer hier liege, während es doch Zeit zum Aufstehen
»Vater, ich habe alles vollbracht, jetzt segne mich!«
Der Starez sieht ihn an und antwortet:
»Friede sei mit dir: ruhe dich aus!«
Und ich sehe, wie sich mein Jüngling vor ihm wieder bis zur Erde verneigt, hinausgeht, und der Einsiedler wieder an seinen Bastschuhen arbeitet.
Da springe ich mit einem Male auf und denke:
»Nein, jetzt nehme ich schnell meinen Ljowa, und fort von hier!« Damit trete ich in den kleinen Vorraum und sehe dort meinen Jüngling ausgestreckt auf der Holzbank daliegen, die Hände auf der Brust gefaltet.
Um meine Unruhe nicht zu verraten, frage ich ihn laut:
»Weißt du vielleicht, wo ich Wasser schöpfen kann, um das Gesicht zu waschen?« Und ich setze flüsternd hinzu: »Beim lebendigen Gott beschwöre ich dich, laß uns so schnell wie möglich von hier gehen!«
Dabei sehe ich ihn genauer an und merke, daß Ljowa nicht atmet ... Er ist dahingegangen ... Gestorben ...
Und ich schreie mit einer Stimme, die wie eine fremde klingt:
»Pamwa, Vater Pamwa, du hast meinen Knaben getötet!«
Aber Pamwa tritt leise auf die Schwelle und sagt freudig:
»Fortgeflogen ist unser Ljowa!«
Mich packt der Zorn:
»Ja,« antworte ich unter Tränen, »er ist fortgeflogen.
Und dann werfe ich mich zu den Füßen des Entschlafenen nieder und stöhne und weine, bis am Abend die Mönche aus dem kleinen Kloster kommen, seinen Leichnam waschen, in einen Sarg legen und davontragen, denn er war am Morgen, während ich schlief, zur herrschenden Kirche übergetreten.
Mit dem Vater Pamwa sprach ich kein Wort mehr. Was hätte ich ihm auch sagen können: beschimpfte man ihn, so segnete er, – hätte man ihn geschlagen, so würde er sich bis zur Erde verneigt haben. Unüberwindlich war dieser Mensch in seiner Demut! Wovor sollte er auch erschrecken, wenn ihm selbst die Hölle begehrenswert erschien? Nein, ich hatte nicht umsonst vor ihm gezittert und gefürchtet, daß er uns ansengen werde wie der Feuerbrand das Fett. Mit seiner Demut würde er selbst alle Teufel aus der Hölle vertreiben oder zu Gott bekehren. Wenn sie anfingen ihn zu quälen, würde er sie bitten: »Peinigt mich grausamer, ich habe es verdient.« Nein, nein, solche Demut kann nicht einmal der Satan ertragen. Er würde sich beide Hände an ihm wundschlagen, würde sich die Nägel abreißen und dann selber seine ganze Ohnmacht vor Dem, der solche Liebe erschaffen, erkennen und in Scham vor Ihm vergehen!
So sagte ich mir denn, daß dieser Greis mit den Lindenbastschuhen der Hölle zum Verderben geschaffen sei. Und ich streifte die ganze Nacht im Walde umher, wußte selbst nicht, weshalb ich nicht das Weite suchte, und dachte unablässig:
»Wie mag er wohl beten, auf welche Weise, nach welchen
»Gott!« erdreiste ich mich zu urteilen, »wenn die herrschende Kirche nur zwei solche Menschen hat, so sind wir verloren, denn dieser Mensch ist ganz beseelt von Liebe.«
Immer wieder muß ich an ihn denken, und gegen Morgen ergreift mich ein heftiges Verlangen, ihn vor meinem Weggang wenn auch nur für einen Augenblick wiederzusehen.
Kaum habe ich dies gedacht, als ich wieder dasselbe Knistern vernehme, und der Vater Pamwa wieder mit Beil und Holzbündel aus dem Walde heraustritt und sagt:
»Was säumst du so lange? Beeile dich, dein Babylon zu errichten!«
Dieses Wort schien mir bitter, und ich sagte:
»Weshalb machst du mir diesen Vorwurf? Ich errichte kein Babylon und scheide mich vom babylonischen Pfuhl.«
Aber er antwortet:
»Was ist Babylon? Eine Säule des Dünkels, schmeichle dir nicht mit deiner Rechtschaffenheit, sonst verläßt dich dein Engel.«
Ich sage: »Vater, weißt du denn, weshalb ich wandere?« Und ich erzähle ihm unser ganzes Leid. Und er hört alles an, hört und antwortet:
»Der Engel ist geduldig, der Engel ist mild; wie es der Herr ihm befiehlt, so kleidet er sich, was er ihm befiehlt,
Damit entfernt er sich von mir, aber ich kann die Augen nicht von ihm wenden, kann mich nicht bezwingen, falle nieder und verneige mich vor ihm bis zur Erde. Als ich das Gesicht erhebe, ist er nicht mehr da, ob ihn nun die Bäume verdeckten, oder ... Gott weiß, wohin er verschwunden ist.
Ich begann über seine Worte nachzudenken: der Engel lebt in der Seele des Menschen und ist versiegelt, aber die Liebe wird ihn befreien, und plötzlich kommt mir in den Sinn: »Wenn er selbst der Engel war, und Gott ihm befohlen hat, mir in dieser Gestalt zu erscheinen, – so werde ich nun wie Lewontij sterben!«
Von diesem Gedanken erfaßt, entsinne ich mich kaum mehr, wie ich auf einem Baumstamm über den Bach komme und zu laufen beginne: sechzig Werst ohne Rast, immer in der Angst und der Vorstellung, den Engel gesehen zu haben, bis ich auf einmal ein Dorf erreiche und dort den Ikonenmaler Ssewastjan finde. Wir verständigten uns bald, besprachen alles und beschlossen, uns schon am nächsten Tag auf den Weg zu machen. Aber unsere Vereinbarung war ohne jede Wärme, und unsere Reise noch weniger, einmal weil der Ikonenmaler Ssewastjan ein nachdenklicher Mensch war, und dann wohl noch mehr, weil ich nicht mehr derselbe war, wie zuvor. Vor meiner Seele stand der Einsiedler Pamwa, und meine Lippen flüsterten die Worte des Propheten Jesajas: »Der Geist Gottes spricht aus dem Munde dieses Menschen.«
Der Ikonenmaler Ssewastjan und ich legten den Rückweg rasch zurück und fanden, nachts bei unserer Baustelle angelangt, alles wohlbehalten vor. Nachdem wir die Unsrigen begrüßt hatten, gingen wir gleich zu Jakow Jakowlewitsch. Der verlangte voll Neugierde gleich den Ikonenmaler zu sehen; er betrachtete dann in einem fort dessen Hände und zuckte nur mit den Achseln, weil seine Hände übergroß, wie Harken waren und ganz schwarz, wie auch Ssewastjan selbst schwarz wie ein Zigeuner aussah. Jakow Jakowlewitsch sagte ihm:
»Ich wundere mich, Bruder, wie du mit diesen Riesenhänden zeichnen kannst!«
»Warum denn? Warum sollen meine Hände nicht dazu taugen?«
»Du kannst doch,« sagt er, »etwas Kleines mit ihnen gar nicht ausführen?«
Jener fragt: »Warum?«
»Ja, weil deinen Gelenken die Geschmeidigkeit fehlt.«
Aber Ssewastjan erwidert: »Das ist Unsinn! Können mir denn meine Finger etwas erlauben oder nicht erlauben? Ich bin ihr Herr, und sie sind meine Diener, die mir gehorchen.«
Der Engländer lächelt: »Also wirst du unseren versiegelten Engel nachbilden?«
»Warum denn nicht?« antwortete jener. »Ich gehöre nicht zu den Meistern, die ihr Werk fürchten, sondern mich fürchtet das Werk. So genau werde ich ihn nachbilden, daß Sie ihn vom echten nicht werden unterscheiden können.«
»Welchem Heiligen zu Ehren soll sie sein?«
»Ja, das weiß ich nicht,« antwortete er, »ihr ist das gleich, nur daß es ihr gefällt.«
Ssewastjan dachte nach und fragte:
»Worum betet denn deine Gemahlin am meisten zu Gott?«
»Ich weiß nicht, mein Freund, ich weiß es nicht, aber ich denke, wahrscheinlich daß aus den Kindern ehrliche Menschen werden.«
Ssewastjan dachte wieder nach und antwortete:
»Gut, ich werde ihren Geschmack treffen.«
»Wie willst du ihn treffen?«
»Ich werde etwas darstellen, was die Beschaulichkeit vertieft und dem Geist des Gebetes Ihrer Gemahlin wohlgefällig ist.«
Der Engländer ließ für ihn im Dachstübchen seines eigenen Hauses alles herrichten, aber er arbeitete nicht dort, sondern setzte sich an das Fensterchen auf dem Dachboden über Luka Kirillows Stube und begann dort seine Tätigkeit.
Aber was er da gemacht hat, meine werten Herren, das hatten wir uns gar nicht vorgestellt. Als das Gespräch auf die Kinder kam, da dachten wir, er werde Roman den Wundertäter darstellen, zu dem man wegen Unfruchtbarkeit betet, oder den Kindermord in Jerusalem, was den Müttern, die ihre Fruchtbarkeit verloren haben, immer
»Kannst du noch kleiner darstellen?«
Ssewastjan antwortet: »Ja«.
»Dann kopiere mir auf meinen Fingerring das Porträt meiner Frau.«
Aber Ssewastjan antwortet: »Nein, das kann ich nicht.«
»Warum denn nicht?«
»Was ist das für ein Unsinn!«
»Das ist durchaus kein Unsinn,« antwortet er. »Wir haben aus gottesfürchtiger Zeit eine Bestimmung, die auch in einem Patriarchenbrief bestätigt wird: Wenn einer zu einem so heiligen Werk wie die Ikonenmalerei berufen ist, so ist es einem geziemend lebenden Ikonenmaler geboten, nichts denn heilige Darstellungen zu malen.«
Jakow Jakowlewitsch sagt darauf:
»Und wenn ich dir fünfhundert Rubel dafür gebe?«
»Und wenn Sie mir fünfhunderttausend bieten würden, es wäre ganz gleich, Sie würden sie behalten.«
Das Gesicht des Engländers strahlte, aber er sagte im Scherz zu seiner Frau: »Wie gefällt dir das, daß er es für eine Erniedrigung hält, dein Gesicht zu malen?«
Aber auf englisch fügte er hinzu: »Oh, ein guter Charakter«. Und dann sagte er:
»Nun seht zu, Brüder, jetzt bringen wir die Sache zum Abschluß. Wie ich sehe, habt ihr für alles Regeln: also nehmt euch jetzt in acht, um nichts zu versäumen oder zu vergessen, was irgendwie stören könnte.«
Wir antworteten, daß wir nichts derartiges voraussähen.
»Nun, dann gebt acht,« sagt er, »ich beginne.« Und dann fährt er zum Erzbischof mit der Bitte, er möge ihm erlauben, um seinen Eifer zu beweisen, die Beschläge des versiegelten Engels vergolden und den Rahmen neu malen zu lassen. Der Erzbischof will weder zusagen, noch
Erlauben Sie, meine werten Herren, hier daran zu erinnern, daß seit dem Beginn meiner Geschichte ziemlich viel Zeit verflossen war und es schon auf Weihnachten ging. Aber dort ist das Wetter um diese Zeit mit dem unsrigen nicht zu vergleichen; es ist launisch, und einmal verbringt man diesen Feiertag bei Winterwetter, das anderemal vom Regen durchnäßt; den einen Tag friert es, den nächsten taut es; bald ist der Fluß mit schmutzigem Eise bedeckt, bald schwillt er an und führt Eisschollen wie beim Hochwasser im Frühling. Mit einem Wort, es herrscht dort um diese Zeit ganz unbeständiges Wetter, oder, wie man es in der Gegend nennt: »Schlackwetter«, – und so war es auch jetzt.
In dem Jahre, in das meine Erzählung fällt, war diese Unbeständigkeit sehr verdrießlich. Während ich mit dem Ikonenmaler auf dem Wege war, hatten wir, ich weiß nicht wie oft, bald Winter-, bald Sommerwetter. Was unseren Bau betrifft, war die Zeit sehr dringend, da die sieben Pfeiler fertig waren und eben die Ketten von einem zum anderen Ufer gespannt wurden. Unsere Arbeitgeber wollten natürlich die Ketten so schnell wie möglich miteinander verbinden, um an ihnen eine Notbrücke zur Materialbeschaffung während des Hochwassers aufzuhängen. Es gelang aber nicht, denn kaum hatte man die Ketten gespannt, als ein derartiger Frost einsetzte,
»Wartet, Kinder, morgen bringe ich euch euren Schatz.«
Herrgott, was empfanden wir bei dieser Nachricht! Zuerst wollten wir es geheim halten und nur dem Ikonenmaler mitteilen; aber kann denn das Menschenherz so etwas für sich behalten? Anstatt das Geheimnis zu wahren, liefen wir zu allen unsrigen, klopften an die Fensterchen, flüsterten miteinander und bemerkten gar nicht, daß wir von Hütte zu Hütte liefen. Der Schnee erstrahlte im Frost wie Edelsteine, und am klaren Himmel funkelte der Hesperus.
In dieser freudigen Hast verbrachten wir die ganze Nacht, und in der gleichen begeisterten Stimmung erwarteten wir den Tag. Vom frühen Morgen ab wichen wir keinen Schritt von unserem Ikonenmaler und wußten kaum, wohin wir ihm die Stiefel nachtragen sollten, denn jetzt war die Stunde da, in der alles von seiner Kunst abhing. Er brauchte nur einen Wunsch über eine Handreichung oder etwas ähnliches laut werden zu lassen, als schon gleich zehn davonrannten und in ihrem Eifer übereinander stolperten. Selbst der alte Maroi lief sich die Absätze von den Stiefeln weg. Nur der Ikonenmaler selbst war ruhig, da er ähnliches schon mehr als einmal erlebt hatte, und bereitete sich ohne alle Hast zu seiner Arbeit vor: er rührte Eiklar mit Kwas an, prüfte den Lack, legte ein altes Brettchen in der Größe der Ikone zurecht,
Ach, was waren es für Augenblicke, und sie dauerten vom Morgengrauen bis gegen Abend. Endlich sehen wir, wie von der Stadt her der Schlitten des Engländers auf dem Eise daherjagt, gerade auf uns zu ... Uns alle überläuft ein Schauer, wir werfen die Mützen zur Erde und beten:
»Gott, Vater der Geister und der Engel, sei Deinen Knechten gnädig!« Und während des Gebetes fallen wir nieder auf den Schnee und breiten voll Verlangen die Hände aus, als wir plötzlich über uns die Stimme des Engländers hören:
»He, ihr Altgläubigen, da habe ich euch was mitgebracht!« Und er übergibt uns ein kleines Bündel in einem weißen Tuch.
Luka empfängt es und erstarrt: er fühlt etwas zu Kleines und zu Leichtes darin. Er lüftet die eine Ecke des Tuches und sieht, daß es nur der Beschlag von unserer Ikone ist und nicht der Engel selbst.
Wir stürzen auf den Engländer zu und sagen ihm unter Weinen:
»Man hat Euch betrogen, Euer Gnaden, das ist nicht die Ikone, man hat Euch nur ihren silbernen Beschlag mitgegeben.«
»Was faselt ihr da? Ihr habt mir doch selbst gesagt, daß ich nur um den Beschlag bitten solle, und den habe ich auch erbeten, aber ihr wißt einfach nicht, was ihr wollt!«
Wir sehen, daß er aufgebracht ist, und versuchen ganz vorsichtig, ihm klarzumachen, daß wir die Ikone selbst brauchen, um eine Kopie von ihr herzustellen. Aber er hört uns nicht mehr an, jagt uns davon und erweist uns einzig die Gnade, zu befehlen, ihm den Ikonenmaler zu schicken.
Ssewastjan begibt sich zu ihm, und der Engländer fährt auf ähnliche Weise auch ihn an:
»Deine Bauern,« sagt er, »wissen nicht, was sie wollen, sie haben nur um den Beschlag gebeten und erklärt, daß du, um einen Abriß zu machen, nur die Maße brauchtest. Jetzt heulen sie, daß er ihnen nichts nütze. Aber ich kann weiter nichts tun, weil der Erzbischof das Bild selbst nicht hergibt. Also fälsche rasch das Bild, wir wollen es mit dem Beschlag bekleiden, und dann stiehlt mir der Sekretär das echte Bild.«
Der Ikonenmaler Ssewastjan versucht, als verständiger Mensch, ihn mit milder Rede umzustimmen und antwortete:
»Nein, Euer Gnaden, unsere Bauern verstehen ihre Sache schon; wir brauchen wirklich das Bild selbst. Das hat man nur zu unserer Kränkung ausgedacht, daß wir angeblich nur feststehende Nachahmungen malen könnten.
Der Engländer hörte sich das alles an, aber dann jagte er den Ssewastjan wie uns hinaus; wir hören auch keine weiteren Entschlüsse mehr von ihm, und so sitzen wir, meine werten Herren, wie die Krähen am Flusse und wissen nicht, ob wir ganz verzweifeln, oder ob wir noch hoffen sollen. Zum Engländer wagen wir uns nicht mehr, und nun beginnt auch noch das Wetter mit unsrer Stimmung wesenseins zu werden. Ein entsetzliches Tauwetter bricht an, es regnet ohne Unterlaß, der Himmel sieht tagsüber wie eine Rauchwolke aus und ist nachts so finster, daß der Hesperus, der doch sonst im Dezember kaum vom Himmelsbogen verschwindet, kein einziges Mal aufglänzt. Alles war düster wie in einem Gefängnis. Und ebenso begingen wir auch das Weihnachtsfest. Am Heiligenabend aber brach ein Gewitter los, und dann setzte ein Gußregen ein, der zwei Tage und zwei Nächte unaufhörlich niederströmte. Er schwemmte den ganzen
Auch der Engländer hatte anderes zu tun; das Unwetter hatte auf ihn solchen Eindruck gemacht, daß er fast von Sinnen gekommen wäre: er ging, wie man sich erzählte, immer umher und fragte alle, denen er begegnete: »Wohin bloß, wohin?« Dann hatte er sich plötzlich beherrscht, ließ Luka zu sich rufen und sagte:
»Weißt du was, Bauer: gehen wir deinen Engel stehlen!«
Luka antwortete: »Einverstanden!«
Aus Lukas Erzählung war zu entnehmen, daß der Engländer geradezu danach dürstete, Gefahren auszukosten. Er hatte also vor, morgen zum Erzbischof in das Kloster zu fahren, den Ikonenmaler als einen Vergolder mitzunehmen und zu bitten, man möge ihm die Ikone zeigen, damit sein Begleiter eine genaue Kopie für die Beschläge anfertigen könne. Währenddessen würde Ssewastjan Gelegenheit haben, sich den Engel deutlich einzuprägen,
»Warum nicht?« sagten wir. »Wir sind mit allem einverstanden.«
»Nur gebt acht,« sagte er, »und denkt daran, daß ich sonst als Dieb dastehe; aber ich will euch glauben, daß ihr mich nicht preisgebt.«
Luka Kirillow antwortete:
»Wir sind nicht, Jakow Jakowlewitsch, solchen Geistes, daß wir unsere Wohltäter verraten. Ich werde die Ikone in Empfang nehmen und Ihnen die beiden zurückbringen, die echte und die Kopie.«
»Nun, und wenn du durch etwas daran verhindert wirst?«
»Nun, du stirbst plötzlich oder ertrinkst?«
Luka dachte nach: wie soll plötzlich ein derartiges Hindernis eintreten? Aber dann bedenkt er, daß etwas derartiges in der Tat vorkommen könne, daß der Schatzgräber den Schatz finde, aber auf dem Weg zum Markte einem tollen Hunde begegne, – und er antwortete:
»Für diesen Fall, gnädiger Herr, lasse ich Ihnen einen Menschen zurück, der, wenn ich nicht eintreffe, die ganze Schuld auf sich nimmt und selbst den Tod erduldet, Sie aber nicht preisgibt.«
»Und wer ist es, auf den du dich so verläßt?«
»Der Schmied Maroi,« antwortete Luka.
»Dieser Alte?«
»Ja, er ist nicht jung.«
»Aber er sieht gar zu einfältig aus!«
»Wir brauchen auch seinen Verstand nicht. Aber er ist ein Mensch, der würdigen Geist in sich trägt.«
»Was für ein Geist kann denn in einem dummen Menschen wohnen?«
»Der Geist, Herr,« antwortete Luka, »wird nicht nach dem Verstande bemessen, der Geist atmet, wo er will und wächst gleich dem Haar bei dem einen lang und üppig und bei dem andern spärlich.«
Der Engländer überlegte:
»Gut, gut. Das sind alles interessante Empfindungen. Aber wie soll er mir heraushelfen, wenn ich in die Patsche gerate?«
»Das macht er so,« antwortete Luka: »Sie werden in der Kirche am Fenster, und Maroi draußen vor dem Fenster stehen. Bin ich dann bis zum Schlusse des Gottesdienstes
Das gefiel dem Engländer:
»Interessant,« sagte er, »interessant. Aber warum soll ich dem dummen Menschen mit dem Geiste glauben, daß er nicht selbst davonläuft?«
»Nun, das ist eben Sache des gegenseitigen Vertrauens.«
»Gegenseitiges Vertrauen,« wiederholte er ... »Hm, gegenseitiges Vertrauen! Soll ich für einen dummen Bauern nach Sibirien, oder er für mich unter die Knute? Hm, hm, wenn er sein Wort hält ... unter die Knute ... Das ist interessant.«
Man schickte nach Maroi, erklärte ihm, worum es sich handle, und er sagte: »Nun, was ist dabei?«
»Und du wirst nicht davonlaufen?« fragte der Engländer.
Maroi antwortete: »Warum denn?«
»Damit man dich nicht peitscht und nach Sibirien verschickt.«
Aber Maroi erwiderte: »Nun, weiter nichts?«
Der Engländer ist vor Freude lebendig geworden:
»Reizend,« sagt er, »wie interessant!«
Gleich nach der Unterredung begann die Aktion. Am Morgen setzten wir die große herrschaftliche Barkasse in Stand und fuhren den Engländer ans andere Ufer. Dort setzte er sich mit dem Ikonenmaler Ssewastjan in eine Kalesche und fuhr zum Kloster. Nach einer guten
Wir fragen:
»Hast du sie gesehen, Teurer, und kannst du sie jetzt nachmachen?«
»Ich habe sie gesehen,« antwortet er, »und werde sie genau treffen, vielleicht, daß sie etwas lebhafter in den Farben wird, aber das ist kein Unglück, denn wenn die echte Ikone herkommt, werde ich in einem Nu das Leuchten der Farben dämpfen.«
»Väterchen,« bitten wir, »gib dir Mühe!«
»Schon gut,« erwidert er, »werde mich schon bemühen.«
Und kaum hatten wir ihn zurückgerudert, als er sich auch gleich an seine Arbeit setzte, und um die Dämmerung war der Engel auf dem Täfelchen fertig und glich unserm versiegelten, wie ein Tropfen Wasser dem andern, nur die Farben schienen etwas frischer.
Gegen Abend schickte der Vergolder die neuen Beschläge, und nun kam die gefährliche Stunde unseres Diebstahls.
Wir hatten, wie es sich versteht, alles vorbereitet und warteten auf den gegebenen Augenblick. Kaum ließen sich vom anderen Ufer her die ersten Glockenklänge zur Abendmesse vernehmen, als wir zu dritt ein Boot bestiegen, ich, Luka und der alte Maroi, der ein Beil, einen Meißel, eine Brechstange und ein Seil mitgenommen hatte, um mehr einem Diebe zu gleichen. Wir steuerten gerade auf die Klostermauer zu.
Die Dämmerung bricht um diese Jahreszeit früh an, und obwohl es Vollmondwoche war, blieb die Nacht pechschwarz, eine richtige Diebesnacht. Am anderen Ufer
Ich ergreife die Ruder, kann sie aber vor Schreck nicht in die Dollen einlegen. Schließlich gelingt es mir, ich stoße vom Ufer ab und frage: »Onkel, habt ihr den Engel bekommen?«
»Ich habe ihn, rudre stärker!«
»Erzähle doch,« forsche ich weiter, »wie habt ihr ihn bekommen?«
»Genau wie es geplant war.«
»Werden wir noch rechtzeitig zurückkommen können?«
»Wir müssen es können: eben erst haben sie mit der großen Litanei begonnen. Rudre! Wohin ruderst du?«
Ich sehe mich um: Großer Gott, ich rudere wirklich nicht in unsere Richtung, und doch scheint es mir, daß ich richtig quer über die Strömung halte, aber unsere
Aber mit Gottes Gnade erreichen wir das Ufer, springen beide aus dem Boot und laufen, was wir laufen können. Der Ikonenmaler ist schon bereit; er handelt kaltblütig und entschlossen. Vor allem nimmt er die Ikone, und als alle vor ihr niederfallen und sich verneigen, läßt er sie den versiegelten Engel küssen und schaut selbst bald auf ihn, bald auf die Kopie und sagt: »Sie ist gut! Man muß sie nur ein wenig mit Safran dämpfen und etwas mit schmutziger Farbe tönen.« Damit nimmt er die Ikone, spannt sie in den Schraubstock, richtet die Säge her ... und dann fliegt sie nur. Wir alle stehen herum und schauen voller Angst zu, ob er die Ikone nicht beschädige. Stellen Sie sich vor, wie er mit seinen übergroßen Händen das Bild, welches kaum stärker als ein Blättchen dünnsten Schreibpapieres ist, vom Brett abtrennt. Wie leicht ist da ein Unglück geschehen: wenn die Säge nur um ein Haar schief geht, so schneidet sie es durch und zerreißt das Antlitz! Der Ikonenmaler Ssewastjan aber verrichtete die schwierige Arbeit mit solcher Kaltblütigkeit und Kunstfertigkeit, daß es einem, wenn man ihn dabei betrachtete, gleich ruhig ums Herz wurde. Wie er das Bild als dünnste Schicht abgetrennt hat, schneidet er in einem Augenblick das Ausgesägte aus den Rändern heraus, nimmt seine Kopie, zerknittert sie in der Faust und schlägt sie dann auf die Tischkante, als wolle er sie zerreißen und vernichten; schließlich betrachtet er die Leinwand gegen das Licht, und nun ist das neue Bildchen voller Sprünge
Dann wurde die Kopie in einem Nu mit Lack bedeckt, und wir setzten sie in den Rahmen. Nun nahm Ssewastjan das echte, vom Brett abgetrennte Bild und verlangte so schnell wie möglich einen Fetzen von einem alten Filzhute.
Damit begann der äußerst schwierige Prozeß der Entsiegelung.
Man gab dem Ikonenmaler einen Hut, und er zerriß ihn sofort über dem Knie in zwei Teile, bedeckte mit dem einen den versiegelten Engel und schrie: »Das heiße Plätteisen!«
Im Ofen lag auf sein Geheiß ein schweres Schneiderbügeleisen. Michailiza packte es mit der Ofengabel und reichte es Ssewastjan. Jener umwickelte den Griff mit einem Lappen, spuckte auf das Eisen und legte es auf den Filzfetzen. Von dem Filz steigt ein böser Gestank auf, aber der Ikonenmaler wiederholt es noch und noch einmal und nimmt es dann plötzlich weg. Seine Hand fliegt wie der Blitz; der Rauch steigt schon in einer Säule hoch, aber Ssewastjan versteht zu backen: mit der einen Hand dreht er langsam den Filzlappen und mit der anderen führt er geschickt das Eisen. Mit jedemmal fährt er langsamer, aber fester darüber und dann wirft er plötzlich den Fetzen und das Eisen weg und hält
Der eine weint, der andere betet, der dritte beugt sich über die Hände des Ikonenmalers, um sie zu küssen, nur Luka Kirillow vergißt seine Aufgabe nicht, sondern kargt mit jeder Minute. Er reicht Ssewastjan die Kopie und sagt:
»Nun, mach schneller fertig!«
Aber jener antwortet: »Mein Werk ist beendet, ich habe alles getan, was ich übernommen habe.«
»Und das Siegel aufdrücken?«
»Wohin?«
»Ja hierher, auf das Gesicht des neuen Engels, wie es bei jenem alten war.«
Aber Ssewastjan schüttelt den Kopf und antwortet:
»Nein, ich bin kein Beamter, daß ich mich erfrechen würde, so etwas zu tun.«
»Was sollen wir nun anfangen?«
»Ja, das weiß ich doch nicht. Ihr hättet dafür einen Beamten oder einen Deutschen herbitten sollen. Das habt ihr jetzt versäumt, nun tut es selbst.«
Luka erwidert:
»Was glaubst du wohl! Um nichts in der Welt werden wir uns dazu erfrechen.«
Und der Ikonenmaler antwortet:
»Auch ich werde mich nicht erfrechen.«
Während der wenigen Minuten dieses Streites stürzt plötzlich die Frau Jakow Jakowlewitschs totenbleich ins Zimmer und spricht:
Wir antworten, wir seien fertig und auch wieder nicht fertig: das Wichtige sei vollbracht, aber eine Kleinigkeit vermöchten wir nun nicht.
Sie erwidert: »Auf was wartet ihr denn? Hört ihr denn nicht, was sich draußen tut?«
Wir horchen und erbleichen noch mehr als sie. In unserer Sorge hatten wir dem Wetter keine Aufmerksamkeit geschenkt, und nun hören wir es draußen toben: das Eis geht!
Ich springe hinaus und sehe, wie das Eis schon über den ganzen Fluß treibt, wie die Schollen krachend und berstend übereinander springen. Besinnungslos stürze ich zu den Booten, ... kein einziges ist mehr da, alle sind fortgeschwemmt. Mir stockt die Zunge im Munde, so daß ich kein Wort über die Lippen bringe, und mir scheint es, ich versinke in die Erde ... Ich stehe da ... rühre mich nicht ... und gebe keinen Laut von mir.
Aber während wir hier im Dunkeln umherirren, hatte die Engländerin, die mit Michailiza in der Stube zurückgeblieben war, die Ursache der Verzögerung erfahren, die Ikone ergriffen ... und einen Augenblick später eilt sie, in der einen Hand eine Laterne haltend, mit dem Bild auf die Treppe hinaus und schreit:
»Nehmt! Fertig!«
Wir schauen hin: auf dem Antlitz des neuen Engels ist das Siegel!
Luka steckt die beiden Ikonen sofort in den Busen und schreit:
»Das Boot!«
Und ich sage Ihnen, das Eis treibt daher wie eine Herde, zerschellt an den Pfeilern und erschüttert die Brücke, so daß die armdicken Ketten dröhnen.
Wie die Engländerin dies hört, wirft sie die Hände empor und schreit mit unmenschlicher Stimme: »James!« Und sie fällt in Ohnmacht.
Und wir stehen dabei und fühlen nur das eine: »Wo bleibt jetzt unser Wort? Was wird jetzt mit dem Engländer, was mit dem alten Maroi?«
Eben ertönt vom Glockenturm des Klosters das dritte Läuten.
Da rafft sich Onkel Luka auf und ruft der Engländerin zu:
»Komm zu dir, Gnädige, deinem Manne wird nichts geschehen. Vielleicht wird der Henker das alte Fell unseres Maroi peitschen und sein ehrliches Gesicht mit dem Brandzeichen entehren, aber das soll erst nach meinem Tode geschehen.« Dabei bekreuzigt er sich und geht.
Ich schreie ihm zu: »Onkel Luka, wo willst du hin? Lewontij ist umgekommen, auch du wirst es!« Und ich eile ihm nach, um ihn aufzuhalten. Allein er hebt das vor seinen Füßen liegende Ruder auf, das ich bei unserer Ankunft auf die Erde geworfen habe, schwingt es über mich und schreit: »Fort, oder ich schlage dich tot!«
Meine werten Herren, ich habe mich in meiner Erzählung offen genug als kleinmütig bekannt, als ich den verstorbenen Knaben Lewontij auf der Erde seinem Schicksal überließ und selbst auf einen Baum kletterte; aber ehrlich und offen sage ich Ihnen, daß ich hier vor dem Ruder Onkel Lukas nicht erschrocken und auch nicht
»Stimmt den Chor an!«
Unser Vorsänger Arefa steht bei uns, vernimmt es und beginnt sogleich: »Ich öffne die Lippen«. Die anderen fallen ein, und so schreien wir den Chor dem Sturmgeheul entgegen, und Luka bangt nicht vor den Todesschrecken und schreitet über die Brückenketten weiter. Binnen einer Minute hat er das erste Joch zurückgelegt und steigt zum zweiten nieder ... Und weiter? Die Dunkelheit umfängt ihn, er ist nicht mehr zu sehen: ob er noch geht oder schon herabgestürzt ist und von den verfluchten Schollen in den Strudel getrieben wird, wir wissen es nicht, wir wissen nicht, ob wir für seine Rettung oder für die ewige Ruhe seiner starken, liebenswerten Seele beten sollen.
Was war inzwischen am anderen Ufer geschehen? Seine Eminenz der Erzbischof zelebrierte wie gewöhnlich die Abendmesse und ahnte nicht, daß inzwischen am Nebenaltar ein Diebstahl ausgeführt wurde. Unser Engländer Jakow Jakowlewitsch, der mit seiner Erlaubnis an diesem Altar stand, stahl den Engel und schickte ihn, wie er es geplant hatte, mit seinem Mantel
So beweisen sie einander ihren Edelmut, und keiner will dem anderen gestatten, ihn im gegenseitigen Vertrauen zu übertreffen. Aber zu ihrer beider Glauben gesellt sich noch ein dritter, stärkerer, von dessen Wirken sie jedoch nichts wissen. Als der letzte Glockenschlag der Nachtmesse verklungen war, öffnete der Engländer leise das Klappfenster, damit der alte Maroi hereinsteige, und war schon im Begriff, sich zurückzuziehen, als er plötzlich bemerkte, daß sich der alte Maroi abgewendet hatte, ihn nicht mehr ansah, sondern gespannt nach dem Flusse hinüberschaute und in einem fort wiederholte:
»Helfe ihm Gott herüber, helfe ihm Gott herüber, helfe ihm Gott herüber!«
Dann sprang er plötzlich auf, tanzte wie betrunken und schrie:
»Gott hat ihm herübergeholfen, Gott hat ihm herübergeholfen!«
Jakow Jakowlewitsch geriet in helle Verzweiflung und dachte:
Der alte Maroi stammelt: »Ich habe geschaut, wie du mit Laternen über die Ketten gingst.«
Luka erwidert: »Ich hatte keine Laterne dabei.«
»Woher kam das Leuchten?«
Luka antwortet:
»Ich weiß nicht, ich habe kein Leuchten gesehen, ich bin so schnell gelaufen, wie ich konnte, und weiß nicht einmal, wie ich herübergekommen und nicht gefallen bin.«
»Das waren Engel ... ich habe sie gesehen, und darum überlebe ich diesen Tag nicht und sterbe noch heute.«
Luka aber hat keine Zeit, viel zu reden, und so antwortet er dem Alten nicht, sondern reicht dem Engländer beide Ikonen durch das Fenster. Der nimmt sie und fragt:
»Warum ist kein Siegel darauf?«
Luka fragt: »Wieso ist keines?«
»Ja, es ist keines.«
Da bekreuzigt sich Luka und sagt:
»Nun ist es aus. Jetzt ist keine Zeit, es auszubessern. Dieses Wunder hat der Engel der herrschenden Kirche vollbracht, und ich weiß weshalb.«
Damit stürzt Luka in die Kirche, drängt sich in den Altarraum, wo man den Erzbischof eben entkleidet, wirft sich ihm zu Füßen und spricht:
»Ich bin ein Gotteslästerer, und das habe ich getan!« Und er erzählt ihm alles. »Nun befehlen Sie, daß man mich in Ketten legt und ins Gefängnis abführt.«
Der Bischof hört voll Würde alles an und antwortet:
»Durch Betrug habt ihr das Siegel von eurem Engel
Luka erwidert:
»Ich sehe es, Eminenz, und erbebe. Befehlen Sie nur rasch, daß man mich dem Strafgericht überliefert.«
Aber der Erzbischof antwortet in vergebendem Tone:
»Kraft der mir von Gott gegebenen Gewalt vergebe ich dir und spreche dich los. Bereite dich vor, morgen Christi allerreinsten Leib zu empfangen.«
Nun, und weiter, meine werten Herren, glaube ich, daß ich Ihnen nichts mehr zu erzählen habe. Luka Kirillow und der alte Maroi kehrten am nächsten Morgen zurück und sagten:
»Väter und Brüder, wir haben die Herrlichkeit des Engels der herrschenden Kirche gesehen, die Vorsehung Gottes über ihr und die Güte ihres Hierarchen; wir sind selbst von ihm mit dem heiligen Öl gesalbt worden und haben heute bei der Messe den Leib und das Blut des Erlösers empfangen.«
Ich trug in mir schon lange, seit dem Besuch beim Starez Pamwa, das Verlangen, mich im Geiste mit ganz Rußland zu vereinigen und rief:
»Und wir gehen mit dir, Onkel Luka!«
Und so versammelten wir uns alle zu einer Herde, wie Schäflein unter einem Hirten, und hatten kaum begriffen, wozu und wohin der versiegelte Engel uns alle geführt hatte, warum seine Wege zu Beginn verworren waren, und wie er sich dann der Menschenliebe willen entsiegelte, die sich in jener schrecklichen Nacht offenbarte.
Der Erzähler war zu Ende. Die Hörer schwiegen; schließlich aber räusperte sich jemand und bemerkte, daß in dieser Geschichte alles zu erklären sei: Michailizas Träume, die Erscheinung, die sie im Halbschlaf erblickte, das Herunterfallen des Engels, den eine hereingelaufene Katze oder ein Hund herabgestoßen hatte, auch Lewontijs Tod, der schon vor seiner Begegnung mit Pamwa krank gewesen war, das alles sei erklärlich. Zu erklären sei schließlich auch die zufällige Erfüllung der Worte des in Rätseln sprechenden Pamwa.
»Begreiflich ist auch«, fügte der Hörer hinzu, »daß Luka mit dem Ruder über die Ketten gegangen ist: die Maurer sind bekannt als Meister im Steigen und Klettern, und mit dem Ruder hatte er das Gleichgewicht gehalten. Es ist schließlich auch begreiflich, daß Maroi um Luka ein Leuchten gesehen hat, das er für Engel hielt. Einem aufs äußerste gespannten, vor Kälte erstarrten Menschen mag allerlei vor den Augen flimmern! Ich würde es selbst noch begreiflich finden, wenn zum Beispiel der alte Maroi, seiner Voraussage nach, den Tag nicht überlebt hätte ...«
»Er hat ihn nicht überlebt«, erwiderte Mark.
»Vortrefflich! Auch hierin ist nichts Verwunderliches, wenn ein achtzigjähriger Greis nach solchen Aufregungen und einer derartigen Erkältung stirbt. Aber was mir in der Geschichte ganz unerklärlich bleibt, ist, wie das Siegel, das die Engländerin auf den neuen Engel aufgedrückt hatte, verschwinden konnte?«
»Nun, das ist gerade das Allereinfachste«, sagte Mark
»Wie konnte das geschehen?«
»Nun so: auch die Engländerin wollte sich nicht erdreisten, das Gesicht des Engels zu beschädigen, und so befestigte sie das Siegel auf einem Papier, das sie unter den Beschlag schob. Das war sehr klug und kunstfertig von ihr gehandelt, als aber Luka die Heiligenbilder auf seiner Brust beim Tragen erschütterte, fiel das Siegel ab.«
»Nun, jetzt ist also die ganze Geschichte einfach und natürlich.«
»Ja, so schließen viele, daß hier alles auf ganz gewöhnliche Weise vor sich gegangen sei, und nicht nur die gebildeten Herrschaften; denen sie bekannt geworden ist, sondern auch die Unsrigen, die im Schisma verblieben sind, lachen darüber, daß uns eine Engländerin mit einem Papierchen der Kirche zugeschoben habe. Aber wir streiten nicht gegen solche Beweise. Jeder beurteilt es so, wie er es glaubt, uns aber ist es gleich, auf welchen Wegen der Herr den Menschen zu finden weiß und aus welchem Gefäß er ihn tränkt, wenn er ihn nur sucht und seinen Durst nach Vereinigung mit dem Vaterlande stillt. – Aber da kommen schon die Fell-Bauern aus dem Schnee gekrochen. Haben sich anscheinend ausgeruht, die Herzigen, und werden gleich weiterfahren. Vielleicht nehmen sie mich ein Stück mit. Die Wassilijnacht ist vorbei. Ich habe Sie ermüdet und Ihnen vielerlei von mir berichtet. Dafür habe ich die Ehre, Sie zum neuen Jahr zu beglückwünschen, und verzeihen Sie mir Unwissendem um Christi Willen!«