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Shakespeare
An den Verleger
Dir, guter Mann, führe ich hier auf Dein Verlangen zum zweitenmal, ein Geschöpf vor, das Dir in seiner Kindheit viel Vergnügen gemacht hat. Du kleidetest es damals in Gold und Seide und so gefiel es: itzt, etwas mehr erwachsen, aber noch nicht viel weiser, hat es jenen Flitterstaat abgelegt und wird schwerlich mehr gefallen. Im männlicheren Habit werden Fehler beides merklicher und unverzeihlicher. Versage aber deswegen Deinem ehmaligen Liebling Deinen Beistand noch nicht. Unter meiner beständigen Aufsicht sollen künftig seine kleinen Untugenden, wonicht ausgerottet, doch gezäumt, und seine Tugenden, die Du auch durch das wilde Feuer und den dreisten Blick nicht verkennen wirst, genährt, und zum stehenden Charakter gestärkt und befestigt werde.
Beim nächsten Besuch wird es als Mann erscheinen, in dem vorteilhaftesten Putz, den ich von Chodowiecki für ihn erhalten kann; und dann, mein Freund, sollen hoffentlich Chodowiecki, Du und ich, ein jeder nach seiner Art, Vergnügen und Unterstützung von ihm genießen. Ich bin
Dein
aufrichtiger Freund
der Verfasser
Einleitung zur zweiten Auflage
Nachstehende Abhandlung über Physiognomik, die in dem Göttingischen Taschen-Kalender für dieses Jahr zuerst erschien, und bloß für ihn allein geschrieben war, erscheint hier auf vielfältiges Verlangen in einem gröberen Druck. Unleserlichkeit des Drucks war, nach dem Urteil jener Freunde, der hauptsächlichste Fehler der Abhandlung. Wie nun auch dieses Lob gemeint gewesen sein mag, so habe ich es so verstanden, wie man gemeiniglich sein Lob gern versteht, und außer dem gröbern Druck, wenig auf Verbesserungen gedacht. Zusätze, die auch der flüchtigste Leser des ersten Abdrucks nicht leicht in diesem übersehen wird, kann ich nicht ganz hieher rechnen, sie sind größtenteils des Lichts wegen hinzugekommen, wodurch nicht jede Schrift, so wie nicht jedes Gesicht, gewinnt. Die meisten darunter stunden schon im Manuskript des Aufsatzes und wurden nur, während des Abdrucks, damit nicht ein ganzes, kostbares Sedez-Bändchen mit Physiognomik angefüllt würde, hier und da ausgehoben.
Ich hoffe durch sie, so wenig ich auch sonst damit gewinnen mag, wenigstens bei den bequemeren Köpfen einer ferneren Mißdeutung meiner Absicht vorzubeugen. Diese war gar nicht ein bekanntes weitläuftiges Werk zu widerlegen. Wer dieses tun wollte, müßte es wenigstens nicht in Sedez bei einem Publikum unternehmen, bei welchem groß Quart so viel ist als Demonstration. Ich wollte vielmehr einigen gefährlichen Folgerungen begegnen, die schon hier und da von Jünglingen und Matronen aus jenem Werk gezogen zu werden anfingen; Ich wollte hindern, daß man nicht zu Beförderung von Menschenliebe physiognomisierte, so wie man ehmals zu Beförderung der Liebe Gottes sengte und brennte; Ich wollte Behutsamkeit bei Untersuchung eines Gegenstands lehren, bei welchem Irrtum leichter ist und gefährlicher werden kann, als bei irgend einem andern, Religion ausgenommen; Ich wollte Mißtrauen erwecken gegen jene transzendente Ventriloquenz, wodurch mancher glauben gemacht wird, etwas das auf Erden gesprochen ist, käme vom Himmel; Ich wollte hindern, daß, da grober Aberglaube aus der feineren Welt verbannt ist, sich nicht ein klügelnder an dessen Statt einschliche, der eben durch die Maske der Vernunft, die er trägt, gefährlicher wird, als der grobe. Wir denken feiner, reden feiner
Ich habe gesagt ich wollte der Abhandlung selbst in der Einleitung nicht länger vorgreifen, aber schließen kann ich die Einleitung demohngeachtet noch nicht eher, als ich mich über einiges erklärt habe, was dort teils zu sehr zerstreuen könnte, teils auch vorher zu wissen nötig ist. Wäre die schnelle Ausbreitung der Physiognomik in unserm Vaterland, die Frucht eines sich über alles erstreckenden Beobachtungsgeists, gut, so könnte man einer solchen Ausschweifung desselben einmal desto gelassener zusehen, je früher er alsdann davon zurück kommen würde. Allein wer unserm Zeitalter herrschenden Beobachtungsgeist zuschreibt, der muß nicht wissen was Beobachtungsgeist ist, oder kennt unser Vaterland nicht. Diese schnelle Ausbreitung wird weit leichter und natürlicher aus dem so gemein gewordenen Bestreben erklärt, sich mit den wenigst-möglichen Kenntnissen, den größt-möglichen Anschein davon zu geben; eine Aufgabe aus einer Mathematik, die unsere sonoren Philosophen und Aristarchen verstehen und ausüben, ut apes Geometriam. Denn wo ist es leichter sich das Ansehen eines denkenden Kopfs zu geben als in Untersuchungen, wo Schwierigkeit etwas Zusammenhängendes und Bleibendes zu sagen an physische Unmöglichkeit grenzt, und wo folglich der graubärtige Untersucher immer Verwirrung und Ungewißheit genug antreffen muß, auch die Beobachtung des jüngsten Plunderkopfs wichtig zu finden? Überdas erwirbt die vermeintliche Einweihung in die Mysterien der Physiognomik in der Gesellschaft, zumal der schwachen, jene Art heimlichen, und daher schmeichelhaften Zutrauens, welches gutherzige Geschöpfe und Mädchen nie denen versagen, die die natürliche Schwachheit ihres Herzens näher kennen als die Menge. Es ist ein Mittel zwischen Freundschaft und Liebe, und ähnlicht darin einem gewissen Kredit der Hebammen, denen, wie man mir gesagt hat, auch die ledigen, unschuldigen Mädchen gewogen sein sollen.
Mich selbst. Ich halte es aber für meine Pflicht eine kurze und aufrichtige Rechenschaft von meinen physiognomischen Bemühungen zu geben. Leid ist es mir, daß ich es selbst tun muß, indessen wäre auch rechtskräftige Bestättigung von allem was ich sagen werde, noch zur Zeit in meinen Händen, und ich bin außerdem stolz genug zu glauben, daß wenigstens einige in der Abhandlung gemachte Anmerkungen, so lang bis mir jene abgefordert wird, die Stelle vertreten werden.
Von meiner ersten Jugend an waren Gesichter und ihre Deutung eine meiner Lieblings-Beschäftigungen. Ich habe mich und andere gezeichnet, ehe ich die geringste Absicht sah. Ich habe nicht einzelne Blätter, sondern Dutzende von Bogen voll Gesichter gekritzelt und ihre Bedeutung nach einem dunkeln Gefühl darunter geschrieben; oft mit einzeln Worten und oft in Zeilen: Ökonomie; noch zur Zeit nicht gehenkt u.d.gl. Sehr früh habe ich mir Dinge unter Bildern gedacht, die sich andere entweder nicht unter diesen Bildern denken, oder wenigstens mit dem Bleistift auszudrücken nicht in sich selbst erwacht genug sind. Daß die Distanz von 1 bis 100 in unserer Vorstellung größer ist als die von 100 bis 500 habe ich sehr früh bemerkt und durch Linien und Flächen auszudrücken gesucht. Ich habe Bilder von Wochentagen gezeichnet, wozu mir Schulzwang und Schulfreiheit, und vermutliche Beschaffenheit der Mittagskost, und, wo ich mich selbst verstehe, der Laut des Worts die Striche hergaben. Der Tisch wird noch in D. vorhanden sein, auf den ich, zu nicht geringem Vergnügen meiner Spielgefährten, vor fast 20 Jahren, das Bild mit Dinte zeichnete, das ich mir von dem halbfreien, wochehalbierenden und zwischen Freiheit und Zwang selbst wieder geteilten, wohltätigen Mittewochen machte. Die Schlüsse, die ein feinerer Kopf, als der meinige, hieraus auf meine übrigen Fähigkeiten ziehen mag, achte ich in der Tat wenig. Es ist unendlich schwerer der Welt glauben zu machen man sei, was man nicht ist, als würklich zu werden, was man zu sein scheinen will. Es ist ein Unterschied zwischen Quinquenniums-Kredit und Nachruhm. Die Menschen können hier und da hintergangen werden, der Mensch nie. Ich setze diese Ausschweifungen her, und überlasse dem Leser sich selbst den Faden aufzusuchen, durch den sie mit Physiognomik zusammenhängen.
Im Jahr 1765 und 1766 las ich drei Abhandlungen im hiesigen historischen Institut öffentlich vor, die ich aber nachher unterdrückte. Sie setzten eine Idee auseinander, die ich mir damals von einer vollkommenen Schilderung eines Charakters in einer Geschichts-Erzählung machte, mit einer Anwendung auf einige Charaktere des Sallust. Sie enthielten viel Physiognomisches und waren die hauptsächlichste Veranlassung, daß nachher, als Herrn Lavaters erster Entwurf im Hannöverschen Magazin erschien, ein Göttingischer Lehrer mich für den Verfasser dieses schön geschriebenen Aufsatzes hielt. Die ungegründete, aber für mich allemal schmeichelhafte Mutmaßung dieses Gelehrten munterte mich nicht wenig auf fortzufahren. Ein junger Schwede von ungewöhnlichem Geist, mein vertrauter Freund, bestärkte mich in meinem Vorsatz sowohl durch seine eigne Beobachtungen, als auch durch die Versicherung, daß sein Landsmann Graf Tessin es in Physiognomik ehmals zum Erstaunen weit gebracht haben sollte. Im Jahr 1770 sowohl als in 1774 und 1775 stellte ich in England mit großem Eifer physiognomische Beobachtungen an, die oft so gefährlich waren, als die über die Gewitter-Elektrizität, und einmal hätte nicht viel gefehlt, so wäre ich ein physiognomischer Richmann geworden. Ich habe dort Männer gesehen und gesprochen, berühmte und berüchtigte durcheinander, die mit unter die merkwürdigsten der neuern Zeit gehören, und deren Wert und Unwert, durch das Urteil der besten Köpfe von Petersburg bis Madrid längst entschieden ist. Nicht junge, geniesüchtige, kenntnisleere Köpfe, die von dem Strahl eines Zeitungslobs erwärmt, sich ein wenig erheben, und bald darauf zu Tausenden auf immer hinfallen; keine von unsern berühmten nachäffenden Originalen, deren Ruhm erst von einer freundschaftlichen Kandidaten Junta posaunt, nun nur noch als Echo aus leeren Köpfen widerhallt, und deren Profile demohngeachtet gebraucht worden sind, Punkte für die physiognomische Linie der Kraft zu finden. O was wird die Nachwelt sagen, wenn sie von der daunigten, hinbrütenden Wärme des Genies und dem Wort: Es werde, das man von den Schattenrissen dieser Leute, so zuverlässig weglas, als hätte es Dieterich dahin gedruckt, nicht eine Spur in den Werken derselben finden wird? Wie wird sie lächeln, wenn sie dereinst an die bunten herein?
Allein was war am Ende das Resultat aller meiner Bemühungen? Nichts, als ein wenig nähere Bekanntschaft mit dem Menschen und mir, und dann ein Mißtrauen gegen alle Physiognomik, das einen so gänzlichen Bruch zwischen ihr und mir veranlaßte, daß ich fürchte zu einer Ausbesserung desselben oder selbst nur zum Entschluß es wieder zu versuchen, würde mehr Zeit nötig sein, als ich zu leben hoffen kann. Einige Gründe hiervon stehen in der Abhandlung. Alle anzugeben hinderte mich zweierlei: Einmal, die Absicht der Schrift, die auch hier wieder als Kalender-Abhandlung erscheint, das ist, mehr für die Menge als den Gelehrten; und dann die gewisse Hoffnung, die mir zu der Gelegenheit ist gemacht worden die übrigen noch in diesem Jahr anzubringen.
Eben da ich dieses schreibe, wird mir der November des Weimarschen Merkurs gebracht, mit der Versicherung, daß sich darin schon jene Gelegenheit zeige. Es war aber nichts; eine bloße postica sanna, (Nachruf nennt sie der Verfasser) die ein gewisser Z. dieser Abhandlung wegen hinter mir anstimmt. Außer einem hofdeutschfranzösischen Schimpfwort, und einem für diesen galanten Schriftsteller sehr ungeschickten Übergang von vermeintlichem Spott zu wenig ermunterndem Lob, und am Ende einem kleinen Spaß für die auf dem 3-Groschen-Platz, habe ich wenig gefunden, was wider mich wäre. Was der Verfasser für Physiognomik sagt, ist unbeträchtlich, und in der Abhandlung selbst hinlänglich widerlegt; und was er wider Pathognomik mit Mühe vorbringt, ist wohl aus Mißverständnis dahin gekommen, denn ich, ich selbst habe ihre Untrüglichkeit im Kalender schon besser bestritten als er.
Mein Schattenbild, wenn er es zu haben wünscht, kann er bei dem Verleger abfordern. Ich fürchte aus innerer Überzeugung den Physiognomen für Ehre deswegen so wenig, als jeden andern Handschauer und Zeichendeuter für Brod; und weniger. Ein schwärmender Beobachter, der einmal in seinem System ohne Hoffnung zu einem Zurückzug steckt, ist allemal verdächtig, da hingegen der Hunger, zumal in Gesellschaft des schlauen Betrugs, fast so gut beobachtet als er kocht. Auf Lob oder Tadel, auf meinen Schattenriß
Göttingen im Jänner 1778.
Gewiß hat die Zollfreiheit unsrer Gedanken und der geheimsten Regungen unsers Herzens bei uns nie auf schwächern Füßen gestanden als jetzt, wenn man aus der Emsigkeit, der Menge und dem Mut der Helden und Heldinnen, die sich wider sie auflehnen, auf ihren baldigen Umsturz schließen darf. Man dringt von allen Seiten auf die zukommlichsten Werke ihrer Befestigung und wo man sonst geheimen Vorrat vermutet, mit einer Hitze ein, die mehr einem Gotisch-Vandalischen Sturm als einer überdachten Belagerung ähnlich sieht, und viele behaupten, eine förmliche Übergabe könne schlechterdings nicht mehr weit sein. Es gibt aber auch eine Menge minder sanguinischer Menschen, die dafür halten, die Seele liege über ihrem geheimsten Schatz noch jetzt so unzukommlich sicher, als vor Jahrtausenden, und lächle über die anwachsenden Babylonischen Werke ihrer stolzen Stürmer, überzeugt, daß sich, lange vor ihrer Vollendung, die Sprachen der Arbeiter verwirren, und Meister und Gesellen auseinander gehen werden.
Die Sache, wovon hier die Rede ist, ist die Physiognomik, und die erwähnten Parteien kein geringer Teil der guten Gesellschaft unsers Vaterlandes. Nach beider Grundsätzen lassen sich zerstreute Anmerkungen darüber in einem Taschen-Kalender rechtfertigen. Nach ersteren ist es das epochemachende Weltumschaffende, und nach letzteren Brauchbarkeit für das Jahr 1778 bei der Toilette.
Der Verfasser ist nicht von der Partei jener Belagerer, und man wird also in nachstehendem Aufsatz keinen förmlichen Unterricht
Um allem alten Mißverständnis auszuweichen und neuem vorzubeugen, wollen wir hier einmal für allemal erinnern, daß wir das Wort Physiognomik in einem eingeschränkteren Sinn nehmen, und darunter die Fertigkeit verstehen, aus der Form und Beschaffenheit der äußeren Teile des menschlichen Körpers, hauptsächlich des Gesichts, ausschlüßlich aller vorübergehenden Zeichen der Gemütsbewegungen, die Beschaffenheit des Geistes und Herzens zu finden; hingegen soll die ganze Semiotik der Affekten oder die Kenntnis der natürlichen Zeichen der Gemütsbewegungen, nach allen ihren Gradationen und Mischungen Pathognomik heißen. Das letztere Wort ist schon zu diesem Gebrauch vorgeschlagen worden. Es wird hier nicht nötig sein ein neues Wort zu machen, das beide unter sich faßte, oder welches besser wäre, statt des erstern ein anderes zu suchen, und dann Physiognomik zum allgemeinen Ausdruck anzunehmen, wie jetzt gewöhnlich ist, und wie es auch deswegen in der Aufschrift zu diesem Aufsatz genommen worden.
Niemand wird leugnen, daß in einer Welt, in welcher sich alles durch Ursache und Wirkung verwandt ist, und wo nichts durch Wunderwerke geschieht, jeder Teil ein Spiegel des Ganzen ist. Wenn eine Erbse in die Mittelländische See geschossen wird, so könnte ein schärferes Auge als das unsrige, aber noch unendlich stumpfer als das Auge dessen, der alles sieht, die Wirkung davon auf der Chinesischen Küste verspüren. Und was ist ein Lichtteilgen, das 1
, von dem Vergangenen geschwängert, gebiert das Künftige. Sehr schön. Aber was für eiteles, elendes Stückwerk ist nicht gleich unsere Wetterweisheit? Und nun gar unsere
Wäre man einmal so weit, daß man mit Zuverlässigkeit sagen könnte, unter 10 Bösewichtern etc. sah immer einer so aus, so könnte man Charaktere so berechnen, wie Mortalität. Allein hier zeigen sich gleich unübersteigliche Schwierigkeiten, völlig von dem Schlag derer, denen die Prophetik ihre Zuverlässigkeit zu danken hat. Denn obgleich im gemeinen Leben, unter dem geschriebenen Gesetz und vor dem menschlichen Richter die Entscheidung über den Charakter leicht sein mag, so ist es doch, wo nicht eine einzige Tat gerichtet, sondern auf einen ganzen Charakter geschlossen werden soll, sehr schwer, und vielleicht unmöglich in einem besondern Fall zu sagen, was ein Bösewicht sei; und an Wahnsinn grenzende Vermessenheit zu sagen, derjenige der aussieht, wie der Kerl, den dieses oder jenes Städtgen für einen Bösewicht hält, ist auch einer. Es ist eine kurrente Wahrheit: Daß es wenig böse Taten gibt, die nicht aus Leidenschaften verübt worden wären, die bei einem andern System von Umständen, der Grund großer und lobenswürdiger hätten werden können. So abgeschmackt freilich eine solche Entschuldigung nach vollbrachter Übeltat wäre, so sehr verdient sie bei dem noch unbescholtenen oder wenigstens unbekannten Mann erwogen zu werden, der eine Voraussetzung von meiner Vernunft von Gott und Rechts wegen fordern kann, die jener meiner Menschenliebe abbettelte. Was wollt ihr also aus Ähnlichkeit der Gesichter, zumal seiner festen Teile, schließen, wenn derselbe Kerl, der gehenkt worden ist, mit allen seinen Anlagen unter andern Umständen statt dem Strick den Lorbeer hätte empfangen können? Gelegenheit macht nicht Diebe allein, sie macht auch große Männer. Hier hilft sich der Physiognome leicht, er sucht ein Prädikat, das vom großen Mann und vom Spitzbuben
Eine nicht genugsame Beherzigung einiger dieser Wahrheiten, verbunden mit ungewöhnlicher Unbekanntschaft mit der Welt und dem Menschen, und einem eben daher entspringenden Unheil
Allein, ruft der Physiognome, Was? Newtons Seele sollte in dem Kopf eines Negers sitzen können? Eine Engels-Seele in einem scheußlichen Körper? der Schöpfer sollte die Tugend und das Verdienst so zeichnen? das ist unmöglich. Diesen seichten Stromjugendlicher Deklamation kann man mit einem einzigen Und warum nicht? auf immer hemmen. Bist du Elender, denn der Richter von Gottes Werken? Sage mir erst, warum der Tugendhafte so oft sein ganzes Leben in einem siechen Körper jammert, oder ist immerwährendes Kränkeln vielleicht erträglicher als gesunde Häßlichkeit? Willst du entscheiden, ob nicht ein verzerrter Körper, so gut als ein kränklicher, (und was ist Kränklichkeit anders als innere Verzerrung?) mit unter die Leiden gehört, denen der Gerechte hier, der bloßen Vernunft unerklärlich, ausgesetzt ist? Sage mir, warum Tausende mit Gebrechen geboren werden, einige Jahre durchwinseln und dann es ist und es
bedeutet; dort gilts die Wörter
Die Seele baut aber doch ihren Körper und kann man nicht aus dem Gebäude auf den Baumeister schließen? Dieses unnütze Lieblings-Sätzgen der Physiognomen kann man ohne Anstand zugeben, wenn man sich vorläufig über den Begriff von bauen vereinigt, und die kleine Einschränkung macht, daß man, um dieses Urteil richtig zu fällen, auch die ganze Absicht des Gebäudes kennen müsse. Offenbar bauen wir unsere Körper nicht so, wie wir Backöfen bauen, und ohne die Einschränkung könnte ein Grönländer, der etwa ein Gradier-Haus sähe, auch schließen: der diese Wohnung baute, war sicherlich ein Thor, erst läßt er den Wind durch die Wände streichen, und dann sorgt er obendrein dafür, laß es auch bei heiterem Himmel nicht an Regenwetter fehlt. Diesem guten Tropf würde ich antworten: Lerne erst das Land kennen, in welchem dieses Gebäude steht, so wirst du, wenn du je so weit kommst, die Weisheit bewundern müssen womit es aufgeführt ist.
Wenn man sich ein wenig umsieht, so wird man finden es fehlt Nichts. Also Du, der du glaubst die Seele schaffe ihren Körper, horche auch du auf das, was Sie dir auf einem andern Weg, als dem ihres Geschöpfs offenbart: halte den für weise, der weise handelt, und den für rechtschaffen, der Rechtschaffenheit übt, und laß dich nicht durch Unregelmäßigkeit in der Oberfläche irren, die in einen Plan gehören, den du nicht übersiehst, in den Plan desjenigen, nach dessen Vorschrift die Seele wenigstens ihren Körper bauen mußte, wenn sie ihn gebaut hat. Rede, sagte Sokrates zum Charmides, damit ich dich sehe, und an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen, steht in einem Buch, das wenig mehr gelesen wird, und, merkwürdig, in einer Rede zweimal hintereinander, von welcher gleichwohl jedes Wort vor Gott gewogen ist.
Allein auf diese Art könnte man die ganze Physik verdächtig machen, antwortet man; wir wissen zwar nicht wie Dummheit und dicke Lippen zusammenkommen, und brauchen es auch nicht zu wissen, genug wir sehen sie beisammen, und das ist hinreichend. Die Antwort hierauf ist längst in allen Logiken gegeben: Das ist es eben worüber wir streiten. Wir geben dem Physiognomen gerne zu, sich unter die Naturlehrer zu zählen, nur muß er keinen größeren Rang unter ihnen behaupten wollen, als der Prophet unter den natürlichen Gang des Uhrwerks, sondern versucht auch, und zwingt Erscheinungen, welche, bloß leidend abzuwarten, ein tausendjähriges Leben voll Aufmerksamkeit erfordert hätten, in einen Tag zusammen: und was hundert Jahre von Versuchen wiederum nicht hätten lehren können, lehrt ihn eine Stunde Rechnung, und monatlange Rechnung wird vielleicht am Ende in ein Blättern von 5 Minuten verwandelt. Jeder Körper, mögt ich sagen, den der Physiker mit der Hand umfaßt, ist ihm ein Modell der Schöpfung, mit dem er machen kann, was er will. So ist es freilich kein Wunder, wenn, durch solche Maschinen gehoben, der Mensch eine Höhe erreicht, die ihn schwindeln macht.
Nun betrachte man einmal den Physiognomen, wie hülflos, und doch wie verwegen, er da steht. Er schließt nicht etwa von langem Unterkinn auf Form der Schienbeine, oder aus schönen Armen auf schöne Waden, oder wie der Arzt aus Puls, Gesichts- und Zungenfarbe auf Krankheit, sondern er springt und stolpert von gleichen Nasen auf gleiche Anlage des Geistes, und, welches unverzeihliche Vermessenheit ist, aus gewissen Abweichungen der äußeren Form von der Regel auf analogische Veränderung der Seele. Ein Sprung, der, meines Erachtens nicht kleiner ist, als der von Kometenschwänzen auf Krieg. Wenn ich in einer kurzen Sentenz die Bedeutung jedes Worts nur um einen Zoll verschiebe, so kann sich der Sinn um Meilen ändern. Wohin haben nicht unbestimmte Wörter geführt? Was in der Haushaltung wenig schadete, leitete in Wissenschaften grade nach entgegen gesetzten Richtungen. Ferner ist es dem Physiognomen schon unendlich schwer den ersten festen Punkt zu finden; die erste unleugbare Erfahrung. Ein dummes Fältgen hinter den Mundwinkeln, oder ein Zahn, den man erst beim seltnen Lachen entdeckte, könnten Newtons Nase zur Lügnerin machen, und so von zwei bis ins unendliche. Die innere Verzerrung nicht einmal gerechnet, die, so unmerklich sie auch dem Auge sein könnte, Folgen haben kann, die dem Geist nur allzumerklich sind. Können
Ist denn aber Physiognomik ganz unsicher? Wir schließen ja täglich aus den Gesichtern, jedermann tut es, selbst die, die wider Physiognomik streiten, tun es in der nächsten Minute, und strafen ihre
Ohnstreitig gibt es eine unwillkürliche Gebärden-Sprache, die von den Leidenschaften in allen ihren Gradationen über die ganze Erde geredet wird. Verstehen lernt sie der Mensch gemeiniglich vor seinem 25. Jahr in großer Vollkommenheit. Sprechen lehrt sie ihn die Natur, und zwar mit solchem Nachdruck, daß Fehler darin zu machen zur Kunst ist erhoben worden. Sie ist so reich, daß bloß die süßen und sauren Gesichter ein Buch füllen würden, und so deutlich, daß die Elefanten und die Hunde den Menschen verstehen lernen. Dieses hat noch niemand geleugnet, und ihre Kenntnis ist was wir oben Pathognomik genannt haben. Was wäre Pantomime und alle Schauspielkunst ohne sie? Die Sprachen aller Zeiten und aller Völker sind voll von pathognomischen Bemerkungen, und zum Teil unzertrennlich mit ihnen verwebt. Man hat sich die Mühe nicht genommen, sie heraus zu suchen und für die Haushaltung besonders vorzutragen, weil man um die Zeit, da man diese Bücher verstehen würde, die Sache schon gemeiniglich besser versteht als sie gelehrt werden kann. Sie ist so unnötig als eine Kunst zu lieben. Sie nach Regeln auszuüben, die die eigne Beobachtung nicht schon gelehrt hätte, würde, in einer wie in der andern, in Irrtum verleiten und lächerlich machen. Hingegen sind unsere Sprachen höchst arm an eigentlich physiognomischen Beobachtungen. Wäre etwas Wahres darin, die Völker hätten es gewiß ebenfalls in diese Archive ihrer Weisheit gelegt. Wo man Spuren antrifft, so sind sie immer verdächtig, und scheinen aus einer einzigen Beobachtung gemacht zu sein, wie Spitzkopf im Deutschen, so können selbst Nomina Propria endlich in Volks-Schimpfwörter übergehen. Laster im Deutschen heißt ursprünglich Verstümmelung und nicht Gebrechen, gehört also zu Poltron. Auch stammt häßlich nicht von hassen. Die Nase kommt in hundert Sprüchwörtern und Redensarten vor, aber immer pathognomisch, als Zeichen vorübergehender Handlung, und niemals physiognomisch, oder als Zeichen stehenden Charakters oder Anlage. Es fehlt ihm über der Nase, sagt man im gemeinen Leben von einem, der nicht viel Verstand hat; nach der neuern Physiognomik müßte man sagen, es fehlt ihm an der Nase. Es gibt allerdings Sprüchwörter, die der Physiognomik das Wort reden, aber was läßt sich nicht mit Sprüchwörtern erweisen. Hüte dich vor den
Shakespeare, der die entferntesten Begriffe, und die sich vielleicht nie in einem Menschenkopf vorher begegnet sind, zu seiner Absicht zu verbinden weiß, der im Stande war, die Welt ein O, und endlich gar die Schaubühne ein hölzernes O zu nennen; der überdas mehr Bemerkungsgeist und Gabe besitzt, von klaren Dingen mit Deutlichkeit zu reden, als vielleicht noch ein Schriftsteller besessen hat: Dieser Shakespeare ist sehr arm an eigentlich physiognomischen Bemerkungen. Es könnte sein, daß hier und da etwas in ihm steckte; der Verfasser hat ihn nie in der Absicht ganz durchgelesen, aber in acht seiner Stücke, die er des wegen durchgegangen hat, hat er nichts gefunden, was Aufmerksamkeit verdient. Hingegen ist er voll der herrlichsten pathognomischen Beobachtungen, auf die glücklichste Weise ausgedruckt. Unter diesen finden sich sogar manche, die noch nicht so kurrent sind, als sie zu sein verdienten, z.E. seine immer lächelnde, musikscheuen Bösewichter und seine Lügner von polierter Lebensart, wenn man solche Bemerkungen hieher rechnen darf. Seine Schimpfwörter, die nur die Oberfläche treffen, und deren ganzer Zweck ist, Mangel an Schönheit aufzurücken, gehören nicht hieher. Seinem durchschauenden Auge wäre die dicklippige Dummheit, der horizontal- und dünnlippige Verstand mit seinen eckigen Augenknochen sicherlich nicht entgangen. Aber in dem großen steinernen O, worin er lebte und schrieb, konnte er sich sehr bald von dem Satz überzeugen: Es gibt keine Physiognomik von einem Volk zum andern, von einem Stamm zum andern und von einem Jahrhundert zum andern.
Nun weiter. Die pathognomischen Zeichen, oft wiederholt, verschwinden nicht allemal völlig wieder, und lassen physiognomische Eindrücke zurück. Daher entsteht zuweilen das Torheits-Fältgen durch alles bewundern und nichts verstehen; das scheinheilige Betrüger-Fältgen, die Grübchen in den Wangen, das Eigensinns-Fältgen, und der Himmel weiß was für Fältgen mehr. Pathognomische Verzerrung, die die Ausübung des Lasters begleitet, wird noch überdas oft durch Krankheiten, die jenem folgen, deutlicher und scheußlicher, und so kann pathognomischer Ausdruck von Freundlichkeit, Zärtlichkeit, Aufrichtigkeit, Andacht, und überhaupt moralische Schönheit in physische für den Kenner und Verehrer der moralischen übergehen. Dieses ist der Grund der Gellertschen Physiognomik, (wenn sich dieses Wort noch von einer Sammlung von Bemerkungen, die einen Grund zu wahrscheinlichen Schlüssen vom Charakter auf die Gesichtsbildung, aber nicht umgekehrt, enthalten, gebrauchen läßt) der einzigen wahren, wenn es Tugend macht schöner, Laster häßlicher. Allein diese Züge beurteile man mit der größten Behutsamkeit, sie lügen zum Erstaunen oft, und zwar hauptsächlich aus folgenden Ursachen. Es ist schon oben erinnert worden, daß der eine gleich gezeichnet wird für etwas, was dem andern tausendmal unbezeichnet hingeht. Dem einen fällt nach einer durchgeschwärmten Nacht, die Wange in die Zahnlücke, da den andern die aufgehende Sonne so jugendlich hinter der Bouteille und beim Mädgen sieht, als ihn die untergehende gesehen hat. Die Bedeutung jedes Zugs ist also in einer zusammengesetzten Verhältnis aus der Brüchigkeit der Fibern und der Zahl der Wiederholungen. Ferner, (und dieses kann sich der voreilige Physiognome nicht genug merken) ist denn der, der bei ruhendem Gesicht aussieht, wie mein Freund oder ich, wenn ich spotte, deswegen ein Spötter, oder der bei hellem Wachen aussieht, wie ich, wenn ich schläfrig bin, deswegen ein Schläfriger? Keine Urteile sind gemeiner als diese, und keine können falscher sein. Denn einmal können jene Züge auch durch andere Ursachen dahin gekommen sein, als durch Spottübung und Schläfrigkeit oder Schuld, und auch noch selbst durch Schuld, aber nicht durch Spottübung und Schläfrigkeit. Und darin ist freilich der Mensch von allen bekannten erschaffenen Wesen unterschieden. Ich meine: Nachäffung, und Bestreben, seine Oberfläche der Oberfläche berühmter, bewunderter und beliebter Menschen ähnlich zu machen, ihre Fehler und lächerliche, ja böse Angewohnheiten nachzuahmen, bringt erstaunliche Revolutionen auf dem Gesicht hervor, die sich gar nicht bis in das Herz oder den Kopf erstrecken. So werden Kopfhängen, hochweises Stirnerunzeln, Lispeln, Stammeln, Gang, Stimme, die horchende Kopfhaltung, das kurzsichtige gelehrte Blinzen, vornehmes Trübsehen, empfindsame Melancholie, leichtfertige Lebhaftigkeit, das bedeutende Augenwinken und die satyrische Miene, andern nachgetan, so gut als das Gähnen; von einigen vorsätzlich und vorm Spiegel studiert, von andern ohne daß sie es wissen. Es gibt Leute, denen die Satyre selbst aus den Augen zu winken und zu spötteln scheint, und die dabei so unschuldig sind wie die Lämmer und eben so stumpf. Der Verfasser hat einen jungen vortrefflichen Menschen gekannt, der sich in Gesellschaft eines berühmten Mannes ein dezisives Aufwerfen des Kopfs und verachtendes
Fast lächerlich ist der Beweis für die Zuverlässigkeit der Physiognomik, den man aus der täglichen ja stündlichen Ausübung derselben herleiten will. So bald wir einen Menschen erblicken, so ist es allerdings dem Gesetz unsers Denkens und Empfindens gemäß, daß uns die nächstähnliche Figur, die wir gekannt haben, sogleich in den Sinn kommt, und gemeiniglich auch unser Urteil sogleich bestimmt. Wir urteilen stündlich aus dem Gesicht, und irren stündlich. So weissagt der Mensch von Zeitläuften, Erbprinzen, und Witterung; der Bauer hat seine Tage, die die Witterung des ganzen Jahrs bestimmen, gemeiniglich Festtage, weil er da müßig genug ist zu physiognomisieren. Jeder Mensch ist des Tages einmal ein Prophet. Ja die angehenden Physiognomen schließen sogar aus den Namen, und die Balthasare scheinen ihnen den Friedrichen nachzustehen. Ich glaube, es sind wenig Menschen, die nicht irgend einmal etwas diesem Ähnliches getan und gedacht haben, so lächerlich es auch klingen mag. Die angenommenen Namen satyrischer Schriftsteller werden nach solchen Regeln zusammen gesetzt. Wollten wir die Leute, von denen wir nach dem ersten Anblick urteilen, alle durch jahrlangen, genauen Umgang prüfen, ich glaube, es würde der Physiognomik ärger ergehen, als der Astrologie. Einbildungskraft und Witz kommen hierbei gefährlich zu statten, daher sind die tiefsten Denker gemeiniglich die schlechtesten Physiognomen. Sie sind mit einer flüchtigen Ähnlichkeit nicht so leicht befriedigt, da der flüchtige Physiognome in jedem Dintenfleck ein Gesicht und in jedem Gesicht eine Bedeutung findet. Alles dieses ist aus Ideen-Assoziation e so wunderbar zusammen gesetzt ist, daß ich nie ohne Vergnügen daran denke. Wer über den Ursprung der Wörter nachgedacht hat, wird diese Bemerkung nicht unwichtig finden, und sie leicht an andere anzuketten wissen, die schon mehr ins Reine gebracht sind. Diese subtilen Feinde der Wahrheit, deren eine unzählige Menge in uns liegt, entfliehen bei hell-tagender Vernunft, einzeln, bei den meisten, aller Beobachtung. Kaum hat sich aber auch jener Tag in den Zwischenräumen eines unruhigen Schlafs, in einer Fieberhitze oder schwärmerischen Aussicht auf Restaurator-Ehre zur Dämmerung geneigt, so steigen sie oft zu einem hohen Grad von Klarheit vergrößert hervor, ich habe davon einige mit großem Vergnügen gehascht und zu künftigem psychologischen Gebrauch in meinem Cabinet aufbewahrt. Jene Frau, die glaubte der Pabst müßte ein Drache, oder ein Berg oder eine Kanone sein, verdient mehr Aufmerksamkeit als Spott. Es geht uns allen so, wenn wir träumen und wer will die Grenze zwischen Wachen und Träumen angeben;
Jedermann macht sich nach seiner Lage in der Welt, und seiner Ideen im Kopf, nach seinem Interesse, Laune und Witz, weil er das ganze Gesicht nicht fassen kann, einen Auszug daraus, der nach seinem System das Merkwürdigste enthält und den richtet er, daher sieht jeder in vier Punkte etwa so geordnet ':' ein Gesicht, und nicht alle einerlei; eben daher auch das Disputieren über die Ähnlichkeit der Porträte und Ähnlichkeit zweier Leute. Zwei schließen aus dem Anblick eines Brustbildes, auf die Länge des Mannes, der eine, er sei groß der andere er sei klein, und keiner kann sagen warum. Beim Pferd und Ochsen gings an, wenn der Maßstab dabei wäre, aber beim Menschen auch wieder nicht, und doch will man aus Stirne, Nasen und Mund Schlüsse ziehen, deren Verwegenheit gegen jene gerechnet unendlich ist. Allein Felix Heß und Lambert hatten einerlei Nasen, das ist doch sonderbar. Allerdings sonderbar, daß zwei Leute einerlei Nasen haben, die Himmel weit von einander unterschieden sind, und wovon keiner der andere hätte werden können, auch wenn er gewollt hätte. Aber beide waren tiefsinnige Männer. Fürwahr mir gehen die Augen über, wenn ich das Meisterstück der Schöpfung, das bereits einzusehen gelernt hat, daß es von den Absichten, warum es da ist nur die wenigsten kennt, so behandelt sehe. Es regnet allemal wenn wir Jahrmarkt haben, sagt der Krämer, und auch allemal wenn ich Wäsche trocknen will, sagt die Hausfrau. Gesetzt auch gleiche Nasen würden von gleichen Ursachen geformt, so ist erst noch auszumachen, ob sich Lambert und Felix Heß nicht noch in andern Stücken geglichen haben, die der eigentlichen Nasenwurzel näher, als den Instrumenten des Tiefsinns lagen. Und können nicht sehr verschiedene Ursachen denselben scheinbaren Effekt vorbringen? Ist dieses nicht; können dieselben Nasen und Stirnen nicht durch verschiedene Ursachen entstehen; und kann nicht, nachdem Nase und Stirne einmal stehen, inneres Fortwachsen biegsamer Teile noch immer Formen schaffen, die den Physiognomen auf ewig zum besten haben werden: so möchte ich wohl wissen, wer das bewiesen hat, oder beweisen will. So gut einer bei schön geformtem äußern Ohr nicht bloß taub werden, sondern sogar taub geboren sein kann, so gut kann einer bei der schönsten Nase schlecht riechen und ein Narr sein, und noch leichter etwas, das nicht so ausgezeichnet
Die festen und unbeweglichen Teile, zumal die Form der Knochen, trügen, einmal weil sie bei jeder Art von Verbesserung des verbesserlichen Geschöpfs, die noch lange nachher Platz hat, nachdem diese ihre völlige Festigkeit erreicht haben, noch statt findet; und zweitens weil, da ihre Form so wenig von unserm Willen abhängt, auch der Einfluß äußerer Ursachen, unvermeidlicher ist und ein einziger Druck oder Stoß allmählig Veränderungen würken kann, deren Fortgang keine Kunst mehr aufzuhalten im Stand ist. Auch, wenn sich etwas daraus herleiten ließe, so wären die festen Teile doch immer nur eine beständige Größe, ein einziges, in unzähligen Fällen unbeträchtliches Glied der unendlichen Reihe durch die der Charakter des Menschen gegeben ist. Herr Lavater hält die Nase für das bedeutendste Glied, weil keine Verstellung auf sie würkt. Sehr gut, wenn Übergang von Wahrheit zu Verstellung und von Verstellung zu Wahrheit die einzige Veränderung im Menschen wäre. Allein bei einem Wesen das nicht allein durch moralische sondern physische Ursachen würklich verändert werden kann, ohne daß die Nase deswegen folgt, sollte ich denken, wäre ein so unveränderliches Glied, nicht allein für die Wahrheit unbedeutend, sondern wider dieselbe verführerisch. Je feiner und folgsamer der Ton desto richtiger und wahrer der Abdruck. Die beweglichen Teile des Gesichts die nicht allein die pathognomischen, unwillkürlichen Bewegungen, sondern auch die willkürlichen der Verstellung angeben und aufzählen, sind daher meines Erachtens weit vorzuziehen. Selbst Zurückgang im Charakter kann hier analogischen Zurückgang im Weiser verursachen. Der Weiser kann trügen. Freilich leider! Aber was die Form der festen Teile Bedeutendes hat, ward ihnen durch ähnliche Ursachen unter ähnlichen Bedingungen eingedruckt. Ich gestehe gerne, auch das ruhende Gesicht mit allen seinen pathognomischen Eindrücken, bestimmt den Menschen noch lange nicht. Es ist hauptsächlich die Reihe von Veränderungen in demselben, die kein Porträt und vielweniger der abstrakte Schattenriß darstellen kann, die den Charakter ausdrückt, ob man gleich oft glaubt, was
Ja die letzteren sind sogar wichtiger als jene, je näher sie würklichen Handlungen liegen. Drei Köpfe, die sich, wie aus einer einzigen Form gegossen, glichen, könnten, wenn sie zu lächeln oder zu sprechen anfingen, alle Ähnlichkeit verlieren. Wer kann dieses leugnen, als der, der es nicht versteht.
Diesem Räsonnement muß man nicht die angeblichen Erfahrungen der Physiognomen entgegensetzen wollen. Sie irren sich, wenn sie aus Schatten-Rissen oder Porträten von Personen urteilen, die sie gar nicht kennen, so entsetzlich, daß wenn man die Treffer mit den Fehlern verglichen sähe, das Glückspiel gleich in die Augen fallen würde. Sie machen es aber wie die Lottospieler, publizieren Blättgen voll glücklicher Nummern, und behalten die Quartanten, die man mit unglücklichen anfüllen könnte, für sich. Auch die getroffenen sind es oft nur in Orakelwörtern, mit Spiel-Raum für den Sinn; und oft sieht der Physiognome Forschungs-Geist in den Augenknochen, oder poetisches Genie in den Lippen des Mannes, weil er sie in dessen Schriften aus Mangel an Kenntnissen und Geschmack oder durch Journale verführt, zu finden glaubt. Dem Denker, der jene Schriften leer findet, wird dadurch die ganze Kunst verdächtig.
Wache, nüchterne Vernunft sieht wohl woher dieses Irren entspringt, und gibt sich nicht mit Untersuchungen ab, die nicht für sie sind; wagt sie sich je ohne Plan in solche Felder, welches freilich zuweilen sehr großen Leuten begegnen kann, so geschieht es gemeiniglich nur in den Stunden, wo sie in der Gesellschaft des muntern Witzes und der verführerischen Einbildungskraft, einen kleinen Hieb hat. Man untersuche daher einmal die Physiognomen und man wird finden, es sind gemeiniglich Personen, deren lebhafte Einbildungskraft ihnen beim Anblick der meisten Gesichter, die verwandten so sehen und so sprechen einerlei Ursprungs sind. Auch richtet die Gesellschaft solche Bemerkungen nicht als bare Philosophie, sondern als Witz, dessen Reiz, wohl gar durch den Strich von verwegner Leichtfertigkeit noch gewinnt, der die erstere geschändet hätte. Oft sind sie unschuldiger, und sehen den Leuten nur das an, was sie schon von ihnen wissen. Die Prüfung der Bemerkung ist in den meisten Fällen so flüchtig, als die Bemerkung selbst. Man esse einmal den Scheffel Salz, welchen schon Aristoteles verlangt, mit dem Mann, über dessen Herz und Kopf man so flüchtig urteilte, und man wird finden, was alsdann werden wird. Aber irren ist menschlich; nicht immer, es ist zuweilen......., weit weniger.
Das hohe Alter der Physiognomik zeigt von ihrem verführerischen Reiz und ihr schlechter Fortgang, (Zurückgang könnte man sagen) bei immer zunehmenden Hülfsmitteln, von ihrer Nichtigkeit.
Was aber unserm Urteil aus Gesichtern noch so oft einige Richtigkeit gibt, sind die, weder physiognomischen und pathognomischen, untrüglichen Spuren ehmaliger Handlungen, ohne die kein Mensch auf der Straße oder in Gesellschaft erscheinen kann. Die Liederlichkeit, der Geiz, die Bettelei etc. haben ihre eigne Livree, woran sie so kenntlich sind, als der Soldat an seiner Uniform, oder der Kaminfeger an der seinigen. Eine einzige Partikel verrät eine schlechte Erziehung, und die Form unseres Hutes und Art ihn zu setzen, unsern ganzen Umgang und Grad von Geckerei. Selbst die Rasenden würden öfters unkenntlich sein, wenn sie nicht handelten. Es wird mehr aus Kleidung, Anstand, Kompliment beim ersten Besuch, und Aufführung in der ersten viertel Stunde, in ein Gesicht hinein erklärt als die ganze übrige Zeit aus demselben wieder heraus. Reine Wäsche und ein simpler Anzug bedecken auch Züge des Gesichts.
Doch wir müssen abbrechen, und wollen statt neuer Erläuterungen, die sich ins unendliche vervielfältigen ließen, lieber die Hauptsätze kurz zusammennehmen, damit man ein so weitläuftiges Werk nicht wieder falsch verstehe und dem Leser überlassen, sich nach seiner Lage in der Welt, entweder den bequemsten Beweis oder die bequemste Widerlegung dazu selbst aufzusuchen. Ausgemacht scheint uns folgendes:
2) Von der äußeren Form des Kopfs, in welchem ein freies Wesen wohnt, muß man nicht reden wollen wie von einem Kürbis, so wenig als Begebenheiten, die von ihm abhängen, berechnen, wie Sonnenfinsternissen. Man sagt mit eben dem Grad von Bestimmtheit, der Charakter des Menschen liege in seinem Gesicht, indem man sich auf die Lesbarkeit von allem in allem beruft, als man, sich auf den Satz des zureichenden Grundes stützend, behauptet er handle maschinenmäßig.
3) Die Form der festen Teile sowohl als der beweglichen, hängt auch von äußern Ursachen ab, die gemeiniglich geschwinder und kräftiger würken, als die innern; und doch gibt der Mensch jedem sichtbaren Eindruck, selbst der Verzerrung durch die Pocken, Zahnlücken etc. physiognomischen Sinn. Das menschliche Gesicht ist nämlich eine Tafel, wo jedem Strich transzendente Bedeutung beigelegt wird; wo geringer Krampf aussehen kann wie Spötterei, und eine Schmarre wie Falschheit. Eben so hindert Widerstand von außen, Zähigkeit der Teile, allen pathognomischen Eindruck.
4) Jeder Bewegung der Seele korrespondiert in verschiedenen Graden von Sichtbarkeit, Bewegung der Gesichts-Muskeln, daher sind wir geneigt, auch ruhenden Gesichtern, die jenen bewegten ähnlich sind, die Bedeutung der letztern beizulegen, und dehnen daher die Regel zu weit aus.
5) Selbst den dauernden Spuren ehmaligen pathognomischen Ausdrucks auf dem Gesicht, von dem noch das wenige sichere abhängt, das die Physiognomik hat, ist nur in den äußersten Fällen zu trauen, wo sie so stark sind, daß man die Leute gezeichnet nennen möchte, und auch alsdann nur, wenn sie in Gesellschaft mit andern Kennzeichen stehen, die schon eben das weisen; da bestärken sie freilich. Umgekehrt kann man gar nicht schließen: wo diese Züge nicht sind, ist keine Bosheit. Bei den Gesichtern der gefährlichsten Menschen konnte man sich oft nichts denken, alles steckte hinter einem Flor von Melancholie, durch den sich nichts deuten ließ: Die
6) Daß der Maler und der Dichter ihre Tugendhaften schön, und ihre Lasterhaften häßlich vorstellen, kommt nicht von einer durch Intuition erkannten notwendigen Verbindung dieser Eigenschaften her, sondern weil sie alsdann Liebe und Haß mit doppelter Kraft erwecken, wovon die eine den Menschen am Geist, die andere am Fleisch anfaßt. Malten oder schrieben sie für ein einziges Volk, oder gar für einen einzigen Menschen, so würde die Volks-Schönheit, oder das Gesicht der Geliebten, des Herzens-Freundes und des verehrten Vaters, noch sicherer die Tugend empfehlen. So entstunden italienische Christus-Gesichter. Sokrates, wenn wir ihn nicht näher kennten, würde ein ähnliches in der Römischen Schule erhalten haben. Es ist landesübliche Schönheit jener Gegend, ohne Spur widriger, und selbst nur bei schwachen Zeichen angenehmer, die sanfteste Gemütsstille nur wenig aufhebender Affekten. Von der andern Seite hat selbst Schwanz, Schwärze und Klaue dienen müssen, das Laster und die Bosheit für eine gewisse Klasse von Menschen zu zeichnen. Bei andern wählte der Maler feinere Farben und Zeichen, nach Maßgabe seiner Erfahrung. Holbein macht einen
7) Tugend macht schöner, aber die größte Schönheit, die sie unter einem gewissen Himmelsstriche hervorbringt, ist so sehr von jener Winkelmannischen unterschieden, daß vielmehr bis ans Ende der Welt jeder ehrliche deutsche Bauer darin von jedem neapolitanischen Dieb übertroffen werden wird, und ihr Reiz bestehet so wenig in dem, was die Wollust so nennt, als das Glück, das die Tugend gewährt, in einer eisernen Gesundheit und einer Revenüe von 20 000 Talern. Laster macht allezeit häßlicher, jedoch bei übrigens gleichem Grad von Stärke, mit sehr verschiedenem Grad von Sichtbarkeit. Zuweilen ist es nur ein kleiner Zug, der sich erst beim genauen Umgang zeigt.
8) Talent und überhaupt die Gaben des Geistes haben keine Zeichen in den festen Teilen des Kopfs. Dieses zu beweisen, muß man den ausgesuchten Silhouetten von denkenden Köpfen, auch ausgesuchte von nicht denkenden und Narren beifügen, und nicht Gelehrten von sorgfältiger Erziehung, einen Dorf-Narren gegenüberstellen. Bedlam wird von Leuten bewohnt, die, wenn sie nicht wie versteinert vor sich hinstarrten, oder mit den Sternen lächelten, oder auf den Gesang der Engel horchten, oder den Sirius ausblasen wollten, oder mit untergesteckten Armen schaudernd zusammen führen, Respekt einflößen würden. Noch weniger wird sich aus der Form der Knochen allein schließen lassen. Um einen Kopf von jedem Skelett, der nicht monströs wäre, würde ein geschickter Künstler, ohne aus dem Wahrscheinlichen herauszugehen, eine Hülle von
9) Physiognomik ist also äußerst trüglich. Die wirkenden Leidenschaften haben zwar ihre Zeichen, und lassen oft merkliche Spuren zurück, das ist unleugbar, und daher rührt, das was die Physiognomik Wahres hat. Es ist aber auch dieses bei dem größten Teil des menschlichen Geschlechts so unsicher und schwankend, daß wir, wenn wir die Köpfe ohne Hut und Perücke, ohne Pflaster, Schminke, Schmarren, Kupfer, Finnen und Bewegung sähen, den Charakter mit eben so vieler Sicherheit herauswürfeln, als aus den Zügen erraten würden. In den Bewegungen der Gesichtsmuskeln und der Augen liegt das meiste, jeder Mensch, der in der Welt lebt, lernt es finden; es lehren, heißt den Sand zählen wollen.
Nützlicher wäre ein anderer Weg den Charakter der Menschen zu erforschen, und der sich vielleicht wissenschaftlich behandeln ließe: Nämlich aus bekannten Handlungen eines Menschen, und die zu verbergen er keine Ursache zu haben glaubt, andere nicht eingestandene zu finden. Eine Wissenschaft, welche Leute von Welt in einem höheren Grad besitzen, als die armen Tröpfe glauben können, die ihr Opfer täglich werden. So schließt man von Ordnung in der Wohnstube auf Ordnung im Kopf, von scharfem Augenmaß auf richtigen Verstand, von Farben und Schnitt der Kleider in gewissen Jahren auf den ganzen Charakter mit größerer Gewißheit, als aus hundert Silhouetten von hundert Seiten von eben demselben Kopf. Wer sagt, ich bin ein hitziger Kopf, wenn ich anfange, ist ein gutes Lamm; und der fromme Schwärmer, der jeden Augenblick ausruft, ich bin ein schwaches Werkzeug, würde sich unversöhnlich beleidigt glauben, wenn man ihm antwortete: das haben wir längst gedacht. Verschwiegenheit hat unzertrennlich verschwisterte Tugenden. Aus der Mätresse schließt man auf den Mann, wenigstens auf viele seiner Verhältnisse gegen uns. Wer gegen sein Gesinde gut ist, ist meistens im Grunde gut: man verstellt sich nicht leicht gegen Leute, die man für ihre Dienste bezahlt und von einem abhängen, die man der Ehre der Verstellung gegen sie nicht würdig achtet, und die man nicht fürchtet. Die guten Romanen- und Schauspieldichter, Le Sage und Shakespeare enthalten solche Züge, wie weggeworfen. Der letztere in Menge, aber ohne alle prahlhafte Hinweisung, daher man sie so oft übersieht. Aber was hilft das alles bei der schlausten
Allein was auch sophistische Sinnlichkeit eine Zeitlang dagegen einwenden mag, so ist wohl der Satz gewiß, es ist kein dauernder Reiz ohne unverfälschte Tugend möglich, und die auffallendste Häßlichkeit, so lange sie nur nicht ekelhaft ist, vermag sich dadurch Reize zu geben, die irgend jemand unwiderstehlich sind. Die Beispiele dieser Art unter Personen beiderlei Geschlechts sind freilich selten, allein nicht seltner als die Tugenden die jenen Reiz hervorbringen. Ich meine hier vorzüglich die himmlische Aufrichtigkeit, das bescheidene Nachgeben ohne Wegwerfung seiner selbst, das allgemeine Wohlwollen ohne dankverdienerische Geschäftigkeit, die sorgfältige Schonung der Delikatesse anderer Personen auch in Kleinigkeiten, Bestreben jedem in Gesellschaft unvermerkt Gelegenheit zu geben sich zu zeigen, ferner Ordnungsliebe ohne kleinliches Putzen und Reinlichkeit ohne Geckerei im Anzug. Dem Verfasser sind Beispiele hiervon von Frauenzimmern bekannt, die wenn er sie hersetzen könnte, auch die häßlichsten mit Mut erfüllen würden. Was diese Tugenden würken, wenn sie sich zur Schönheit gesellen, wird jeder Leser leichter finden, wenn er in die Geschichte seines eignen Herzens sehen will, als ich es hier beschreiben könnte. Eben so kann das Laster, wo es biegsamen Stoff findet, in einem hohen Grade verzerren, zumal wenn dazu, bei roher Erziehung und gänzlichem Mangel an Kenntnis sittsamer Falten, oder gar an Willen sie anzunehmen, es nicht ein einziges Mal des Tages, in irgend einer Stunde der bezahlten Pflicht, Zeit findet die Risse auszuflicken. Diese Betrachtungen haben den Verfasser längst begierig gemacht, von einem gebornen Beobachter des Menschen, der dabei ein großer Zeichner wäre, und in einer großen Stadt gelebt hätte, denselben Knaben und dasselbe Mädchen auf zween verschiedenen Pfaden des Lebens vorgestellt zu sehen; und zwar sollte ihre Geschichte mehr durch Züge des Gesichts als Handlung gezeigt werden. Er glaubte damals schon, und der Beifall einiger Gelehrten, die lange vor ihm über diese Materien gedacht haben, hat ihn nachher in diesem Glauben bestärkt, daß die Ausführung dieses Gedankens des größten Künstlers nicht unwürdig wäre. Alles, was der Künstler je über Schönheit und Häßlichkeit bemerkt, und alle übrige Beobachtungen, die den Gedanken verstanden haben, mit dem größten Beifall aufgenommen worden. Schade nur, daß durch das häufige, nicht allemal ganz geschickte Abdrucken, die Kupferstiche endlich Veränderungen erlitten haben, die grade Herrn Chotowieckis und meiner Absicht entgegen waren. Die Undeutlichkeit der Züge, durch die die Tugend verliert, ist dem Laster vorteilhaft; wäre also noch länger fortgedruckt worden, so hätten beide Reihen, die aus einem Punkt entsprangen, bald darauf sich stark trennten, sich endlich wieder in einem Punkt vereinigt; und dieses wäre, wenn man den letzten Punkt nicht etwa von der Verwesung verstanden hätte, ein Satz mit Kupferstichen erläutert gewesen, die grade das Gegenteil lehren. Hier sind ähnliche Kupferstiche weggeblieben, dort wurden sie als eine Erläuterung eines einzigen Satzes zur Zierde des Almanachs gebraucht: hier hätten sie nicht erscheinen können, ohne auch andern Sätzen, die es mehr bedurften, ähnliche Erläuterungen beizufügen, wozu jetzt die Zeit viel zu kurz, und überhaupt der Aufsatz noch zu unvollkommen war.