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Zu der Zeit, da der Oberstleutnant Hubert Fabiani nach erfolgter Pensionierung aus seinem letzten Standort Wien – nicht wie die meisten seiner Berufs-und Schicksalsgenossen nach Graz, sondern – nach Salzburg übersiedelte, war Therese eben sechzehn Jahre alt geworden. Es war im Frühling, die Fenster des Hauses, in dem die Familie Wohnung nahm, sahen über die Dächer weg den bayrischen Bergen zu; und Tag für Tag, beim Frühstück schon, pries es der Oberstleutnant vor Frau und Kindern als einen besonderen Glücksfall, daß es ihm in noch rüstigen Jahren, mit kaum sechzig, gegönnt war, erlöst von Dienstespflichten, dem Dunst und der Dummheit der Großstadt entronnen, sich nach Herzenslust dem seit Jugendtagen ersehnten Genuß der Natur hingeben zu dürfen. Therese und manchmal auch ihren um drei Jahre älteren Bruder Karl nahm er gern auf kleine Fußwanderungen mit; die Mutter blieb daheim, mehr noch als früher ins Lesen von Romanen verloren, um das Hauswesen wenig bekümmert, was schon in Komorn, Lemberg und Wien Anlaß zu manchem Verdruß gegeben, und hatte bald wieder, man wußte nicht wie, zur Kaffeestunde zwei- oder dreimal die Woche einen Kreis von schwatzenden Weibern um sich versammelt, Frauen oder Witwen von Offizieren und Beamten, die ihr den Klatsch der kleinen Stadt über die Schwelle brachten. Der Oberstleutnant, wenn er zufällig daheim war, zog sich dann stets in sein Zimmer zurück, und beim Abendessen ließ er es an hämischen Bemerkungen über die Gesellschaften seiner Gattin nicht fehlen, die diese mit unklaren Anspielungen auf gewisse gesellige Vergnügungen des Gatten in früherer Zeit zu erwidern pflegte. Oft geschah es dann, daß der Oberstleutnant sich stumm erhob und die Wohnung verließ, um erst in später Nachtstunde mit dumpf über die Treppe hallenden Schritten zurückzukehren. Wenn er gegangen war, pflegte die Mutter zu den Kindern in dunkler Weise von den Enttäuschungen zu reden, die zwar keinem Menschen erspart blieben, insbesondere aber vom Dulderlos der
Die Spaziergänge mit dem Vater nahmen noch vor Einbruch des Herbstes ein nicht ganz unerwartetes Ende. Schon geraume Zeit hindurch hatte Therese gemerkt, daß der Vater die Wanderungen eigentlich nur fortsetzte, um sich und seine Sehnsucht nicht Lügen zu strafen. Stumm beinahe, jedenfalls ohne die Ausrufe des Entzückens, in die die Kinder früher hatten einstimmen müssen, wurde der vorgesetzte Weg zurückgelegt, und erst zu Hause, im Angesicht der Gattin, versuchte der Oberstleutnant wie in einem Frage- und Antwortspiel den Kindern die einzelnen Momente des eben erledigten Spaziergangs mit verspäteter Begeisterung zurückzurufen. Aber auch das nahm bald ein Ende; der Touristenanzug, den der Oberstleutnant seit seiner Pensionierung alltäglich getragen, wurde in den Schrank gehängt, und ein dunkler Straßenanzug trat an seine Stelle.
Eines Morgens aber erschien Fabiani zum Frühstück plötzlich wieder in Uniform, mit so strengem und abweisendem Blick, daß sogar die Mutter jede Bemerkung über diese plötzliche Veränderung lieber unterließ. Wenige Tage darauf langte aus Wien eine Büchersendung an die Adresse des Oberstleutnants, eine andere aus Leipzig folgte, ein Salzburger Antiquar sandte gleichfalls ein Paket; und von nun an verbrachte der alte Militär viele Stunden an seinem Schreibtisch, vorerst ohne irgendwen in die Natur seiner Arbeit einzuweihen; – bis er eines Tages mit geheimnisvoller Miene Therese in sein Zimmer rief und ihr aus einem sorgfältig geschriebenen, geradezu kalligraphierten Manuskript mit eintöniger, heller Kommandostimme eine vergleichende strategische Abhandlung über die bedeutendsten Schlachten der Neuzeit vorzulesen begann. Therese hatte Mühe, dem trockenen und
Am Weihnachtsabend, wie zum Angebinde, lag für den Oberstleutnant unter den andern, übrigens recht bescheidenen Gaben, mit denen die Familienmitglieder sich gegenseitig beschenkten, ein wohlverschnürtes Postpaket unter dem Baum. Es enthielt das Manuskript mit einem ablehnenden Schreiben der militärischen Zeitschrift, an die der Verfasser es einige Wochen vorher abgesandt hatte. Fabiani, zorngerötet bis an die Haarwurzeln, beschuldigte seine Gattin, daß sie eine offenbar schon vor einigen Tagen eingelangte Sendung gerade heute ihm wie zum Hohn unter den Baum gelegt, warf ihr die von ihr gespendete Zigarrentasche vor die Füße, schlug die Türe hinter sich zu und verbrachte die Nacht, wie man später erfuhr, in einem der verfallenen Häuser nahe dem Petersfriedhof bei einer der Frauenspersonen, die dort Knaben und Greisen ihren welken Leib feilboten.
Er verbrachte von nun an noch mehr Zeit außer Hause, zeigte sich aber daheim umgänglich und harmlos; und man war daran, sich in sein so erfreulich aufgeheitertes Wesen aufatmend zu finden, als er eines Abends die Seinen mit der Frage überraschte, was sie wohl dazu meinen würden, wenn man die langweilige Kleinstadt wieder mit Wien vertauschte, worauf er weitere Andeutungen von einer bald zu erwartenden großartigen Umgestaltung ihrer Lebensverhältnisse vernehmen ließ. Theresen klopfte das Herz so heftig, daß sie jetzt erst erkannte, wie sehr sie sich nach der Stadt zurücksehnte, in der sie die letzten drei Jahre verlebt hatte; obzwar ihr von den Annehmlichkeiten, die das Dasein in einer Großstadt Begüterten bietet, nur wenig vergönnt gewesen war. Und sie wünschte sich nichts Besseres, als wieder einmal wie damals planlos in den Straßen umherzuspazieren und sich womöglich zu verirren, was ihr zwei- oder dreimal begegnet war und sie jedesmal mit einem bebenden, aber köstlichen Schauer erfüllt hatte. Noch leuchteten ihre Augen in der Erinnerung, da sah sie plötzlich ihres Bruders Blick mißbilligend von der Seite auf sich gerichtet; – ganz mit dem gleichen Ausdruck wie vor wenigen Tagen, da sie zu ihm ins Zimmer getreten war, als er eben mit seinem Schulkollegen Alfred Nüllheim die mathematischen Aufgaben durchnahm. Und nun erst ward es ihr bewußt, daß er immer so mißbilligend dreinblickte, wenn sie selbst heiter schaute und in ihre Augen jenes freudige Leuchten kam, wie es jetzt eben wieder geschehen war. Ihr Herz zog sich zusammen. Früher einmal, als Kinder, ja vor einem Jahre noch, waren sie so vortrefflich zueinander gestanden, hatten zusammen gescherzt und gelacht; – warum war dies anders geworden? Was hatte sich denn ereignet, daß auch die Mutter, der sie freilich niemals besonders nahe gewesen, sich immer verdrossener, feindselig beinahe von ihr abwandte? Unwillkürlich richtete
Plötzlich sah der Vater auf die Uhr, erhob sich vom Tisch, sprach von einer wichtigen Verabredung und eilte davon.
Er kam nicht wieder heim in dieser Nacht. Aus dem Wirtshaus, wo er teils unverständliche, teils unflätige Reden gegen das Kriegsministerium und das Kaiserhaus geführt hatte, wurde er auf die Wachstube und am Morgen, nach ärztlicher Untersuchung, in die Irrenanstalt gebracht. Später wurde bekannt, daß er kürzlich an das Ministerium ein Gesuch um Wiedereinstellung in den Dienst mit gleichzeitiger Ernennung zum General gerichtet hatte. Daraufhin war von Wien aus der Auftrag ergangen, ihn unauffällig beobachten zu lassen, und es hatte kaum mehr des peinlichen Auftrittes im Wirtshaus bedurft, um seine Einlieferung in eine Anstalt zu rechtfertigen.
Seine Gattin besuchte ihn dort vorerst alle acht Tage. Therese erhielt erst nach einigen Wochen die Erlaubnis, ihn zu sehen. In einem weitläufigen, von einer hohen Mauer umgebenen Garten, durch eine von hohen Kastanien beschatteten Allee, in einem verwitterten Offiziersmantel, eine Militärmütze auf dem Kopf, kam ihr ein alter Mann entgegen mit fast weißem, kurzem Vollbart, am Arm eines käsebleichen, in einen schmutziggelben Leinenanzug gekleideten Wärters. »Vater«, rief sie tiefbewegt und doch beglückt, ihn endlich wiederzusehen. Er ging an ihr vorbei, anscheinend ohne sie zu kennen, und murmelte unverständliche Worte vor sich hin. Therese blieb fassungslos stehen, dann merkte sie, daß der Wärter ihrem Vater irgend etwas klarzumachen versuchte, worauf dieser zuerst den Kopf schüttelte, dann aber sich
Sie standen auf der breiten, weißen Landstraße im grellen Sonnenschein. Vor ihnen, an den Felsen mit der Feste Hohensalzburg gelehnt, in einer Viertelstunde zu erreichen und doch unendlich weit, lag die Stadt. Die Berge ragten in den Mittagsdunst, ein Leiterwagen mit schlafendem Kutscher knarrte vorbei, aus einem Bauernhof jenseits der Felder sandte ein Hund sein Gebell in die stumme Welt. Therese wimmerte: »Mein Vater.« Die Mutter sah sie böse an. »Was willst du? Er selbst ist schuld daran.« Und schweigend gingen sie die besonnte Straße weiter, der Stadt entgegen.
Bei Tisch bemerkte Karl: »Alfred Nüllheim sagt, daß solche Krankheiten viele Jahre dauern können. Acht, zehn, zwölf.« Therese riß entsetzt die Augen auf, Karl verzog die Lippen und sah von ihr fort an die Wand.
Seit dem Herbst besuchte Therese die vorletzte Lyzealklasse. Sie faßte rasch auf, Fleiß und Aufmerksamkeit ließen zu wünschen übrig. Die Oberlehrerin brachte ihr ein gewisses Mißtrauen entgegen; obwohl sie in der Religionslehre nicht schlechter beschlagen war als ihre Mitschülerinnen und alle religiösen Übungen in Kirche und Schule nach Vorschrift mitmachte, stand sie im Verdacht, der wahren Frömmigkeit zu ermangeln. Und als sie eines Abends in Gesellschaft des jungen Nüllheim, dem sie zufällig begegnet war, von der Lehrerin gesehen wurde, benützte diese die Gelegenheit zu boshaften Anspielungen auf gewisse großstädtische Angewohnheiten und Sitten, die sich nun auch in der Provinz einzubürgern schienen, wobei sie einen nicht
Der junge Nüllheim kam indes öfter in das Haus Fabiani, als es für das gemeinsame Studium mit Karl notwendig gewesen wäre, ja, ein oder das andere Mal auch, wenn Karl nicht daheim war. Dann saß er bei Theresen im Zimmer und bewunderte ihre geschickten Hände, die farbige Blumen auf einen graulila Kanevas stickten, oder hörte ihr zu, wenn sie auf dem verstimmten Pianino schlecht und recht ein Chopinsches Nocturno spielte. Einmal fragte er sie, ob sie immer noch, wie sie gelegentlich geäußert, Lehrerin zu werden beabsichtige. Sie wußte nicht recht darauf zu antworten. Eines nur war gewiß, daß sie hier in diesen Räumen, in dieser Stadt keineswegs mehr lange wohnen würde; sobald als möglich wollte, vielmehr mußte sie einen Beruf ergreifen; lieber anderswo als hier. Die häuslichen Umstände begannen sich zusehends zu verschlechtern, das konnte auch für Alfred kein Geheimnis sein; doch nach wie vor – davon sprach sie nicht – empfing die Mutter ihre Freundinnen oder die sie so nannte, ein oder das andere Mal fanden sich auch Herren ein, und zuweilen dehnten sich die Gesellschaften bis in den späten Abend aus. Therese kümmerte sich wohl wenig darum; doch entfremdete sie sich ihrer Mutter immer mehr. Der Bruder aber zog sich sowohl von ihr als auch von der Mutter völlig zurück; bei den Mahlzeiten wurden nur die unumgänglichsten Worte gewechselt, und manchmal war es Theresen, als würde sie, gerade sie, ohne daß sie sich einer Schuld bewußt gewesen wäre, in unfaßbarer Weise für den Niedergang des Hauses verantwortlich gemacht.
Der nächste Besuch in der Anstalt, vor dem Therese sich beinahe gefürchtet hatte, ließ sich anfangs tröstlich, ja beruhigend für sie an. Der Vater plauderte mit ihr wie in früheren Zeiten, harmlos, beinahe heiter, führte sie in den weitläufigen Alleen des Anstaltsparkes hin und her wie einen willkommenen Gast; und erst beim Abschied machte er alle Hoffnungen Theresens wieder zunichte durch die Äußerung, daß er sie bei ihrem nächsten Besuch
Als sie tags darauf Alfred Nüllheim von ihrem Besuch in der Anstalt berichtete, erbot er sich, sie bei nächster Gelegenheit zu dem Kranken zu begleiten. Er beabsichtigte, was Theresen bekannt war, Medizin zu studieren und sich zum Nervenarzt und Psychiater auszubilden. So trafen sie einander ein paar Tage später, wie zu einem geheimen Stelldichein, außerhalb der Stadt und nahmen gemeinsam den Weg nach der Anstalt, wo der Oberstleutnant Alfred wie einen erwünschten, ja erwarteten Besuch begrüßte. Er erzählte heute von den Garnisonsorten seiner Jugendzeit, auch von dem kroatischen Gut, wo er seine Frau kennengelernt hatte, von dieser selbst aber in einer Art, als wenn sie längst nicht mehr am Leben wäre; und daß er einen Sohn hatte, schien ihm überhaupt völlig entfallen zu sein. Alfred wurde auch dem ordinierenden Arzte vorgestellt, der ihn sehr liebenswürdig, fast wie einen jungen Kollegen behandelte. Es berührte Therese sonderbar, fest schmerzlich, daß Alfred auf dem Heimweg von dem erledigten Besuch ohne jede Traurigkeit, eher in angenehm erregter Weise, wie von einem merkwürdigen, für ihn gewissermaßen bedeutungsvollen Erlebnis sprach und die Tränen nicht merkte, die ihr über die Wangen rannen.
In diesen Tagen fiel es Theresen auf, daß ihre Mitschülerinnen ihr gegenüber ein verändertes Benehmen zur Schau trugen. Man zischelte, man brach plötzlich ein Gespräch ab, wenn sie in die Nähe kam, und die Lehrerin richtete überhaupt kein Wort und keine Frage mehr an sie. Auf dem Nachhausewege von der Schule schloß sich keines der Mädchen ihr an, und in den Augen von Klara Traunfurt, der einzigen, der sie ein wenig nähergekommen war, glaubte sie etwas wie Mitleid schimmern zu sehen. Durch sie erfuhr Therese auch endlich von dem Gerücht, daß die Abendgesellschaften bei der Mutter in der letzten Zeit nicht mehr ganz harmloser Natur wären, ja, es wurde sogar behauptet, daß Frau Fabiani neulich zur Polizei vorgeladen und dort verwarnt worden sei, und nun fiel es Theresen auch auf, daß in der Tat seit zwei oder drei Wochen jene Abendgesellschaften zu Hause ein Ende genommen hatten.
In derselben Nacht noch geschah es ihr, daß sie durch ein Geräusch im Vorzimmer plötzlich erwachte. Sie hörte, wie die Türe vorsichtig geöffnet und wieder verschlossen wurde; und nachher leise Schritte auf der Treppe. Sie erhob sich aus dem Bett, ging zum Fenster und sah hinab. Nach wenigen Minuten wurde das Haustor geöffnet, sie sah ein Paar heraustreten, einen Herrn in Uniform mit aufgestelltem Kragen und eine verhüllte Frauengestalt, die beide rasch um die Ecke verschwanden. Therese nahm sich vor, von ihrer Mutter Aufklärung zu verlangen. Aber als die Gelegenheit dazu erschien, fehlte ihr der Mut. Sie fühlte wieder, wie unzugänglich und fremd ihr die Mutter geworden war; ja, es schien in der letzten Zeit, als wenn die alternde Frau ihr schrullenhaftes Wesen wie mit Absicht ins Unheimliche steigerte; sie hatte sich einen sonderbar schlürfenden Gang angewöhnt, rumorte sinnlos in der Wohnung umher, murmelte unverständliche Worte und sperrte sich gleich nach dem Essen für Stunden in ihr Zimmer ein, wo sie auf große Bogen Papier mit kratzender Feder zu schreiben anfing. Therese nahm zuerst an, daß ihre Mutter mit dem Entwurf einer auf jene polizeiliche Vorladung bezüglichen Verteidigungs- oder Anklageschrift beschäftigt sei, dann dachte sie, ob die Mutter nicht vielleicht ihre Lebenserinnerungen aufzeichne, von welcher Absicht sie früher manchmal gesprochen hatte; doch bald stellte sich heraus – Frau Fabiani erwähnte es einmal bei Tische wie eine bekannte und eigentlich selbstverständliche Tatsache –, daß sie daran sei, einen Roman zu verfassen. Therese warf unwillkürlich einen verwunderten Blick zu ihrem Bruder hin; der sah an ihr vorbei auf die Sonnenkringel an der Wand.
Anfang Juli legten Karl Fabiani und Alfred Nüllheim ihre Maturitätsprüfung ab. Alfred bestand sie als Bester unter seinen Kollegen, Karl mit eben genügendem Erfolge. Tags darauf trat er eine Fußreise an, nachdem er von Mutter und Schwester so kühl und flüchtig Abschied genommen, als wenn er abends wieder zu Hause sein wollte. Alfred, der einem früheren Plan nach ihn auf der Wanderung hätte begleiten sollen, nahm eine leichte Erkrankung seiner Mutter zum Vorwand, um vorläufig in der Stadt zu bleiben. Er kam auch weiterhin fast täglich in das Haus Fabiani, zuerst um Bücher und Hefte abzuholen, ein nächstes Mal, um Erkundigungen über Karl einzuziehen; und es fugte sich, daß sich an diese Nachmittagsbesuche an den schönen Sommerabenden Spaziergänge mit Therese anschlössen, die sich immer länger ausdehnten.
Eines Abends auf einer Bank in den Anlagen des Mönchsbergs sprach er wieder einmal davon, daß er im Herbst die Wiener Universität beziehen werde, um Medizin zu studieren, was Theresen freilich wie das meiste, was er ihr sagte, nicht neu war, und gestand ihr, was sie auch nicht überraschte, daß er nur deshalb auf eine Ferialreise verzichtet habe, um diese paar letzten Monate in ihrer Nähe zu verbringen. Sie blieb ungerührt, ja wurde eher ärgerlich, denn ihr war nicht anders, als ob dieser junge Mensch, dieser Knabe in all seiner Bescheidenheit ihr eine Art von Schuldschein vorzuweisen sich unterfing, den einzulösen sie wenig Lust verspürte.
Zwei Offiziere gingen vorbei, der eine war Theresen vom Sehen längst bekannt, wie die meisten Herren von den hier garnisonierenden Regimentern; die Erscheinung des andern aber war ihr neu; es war ein glattrasierter, dunkelhaariger, schlanker Mensch, der, was ihr besonders auffiel, die Kappe in der Hand hielt.
Seine Augen streiften Therese ganz flüchtig, aber als Nüllheim und der andere Offizier einander grüßten, grüßte auch er, und zwar, da er barhaupt war, nur durch ein lebhaftes Neigen seines Kopfes, und richtete einen lebhaften, beinahe lachenden Blick auf Therese. Doch er wandte sich nicht nach ihr um, wie sie eigentlich erwartet hätte, und verschwand mit seinem Begleiter bald in einer Biegung der Allee. Die Unterhaltung zwischen Therese und Alfred wollte nicht wieder in Fluß geraten, beide erhoben sich und gingen langsam in der Dämmerung nach abwärts.
Karls Heimkehr wurde für Anfang August erwartet; statt seiner aber kam ein Brief, daß er nach Salzburg nicht mehr zurückzukehren gedenke und den ihm monatlich zugesicherten kleinen Betrag von jetzt an nach Wien zu senden bitte, wo es ihm bereits gelungen sei, sich durch ein Zeitungsinserat eine Lektion bei einem Mittelschüler zu verschaffen. Eine beiläufige Frage nach dem Befinden des Vaters und Grüße an Mutter und Schwester beschlossen den Brief, in dem nicht das leiseste Bedauern über eine doch wahrscheinlich endgültige Trennung mitzuzittern schien. Der Mutter machte Inhalt und Ton des Briefs keinen sonderlichen Eindruck; Therese aber, so kühl auch ihre Beziehungen zu dem Bruder sich allmählich gestaltet hatten, kam sich nun zu ihrer eigenen Verwunderung völlig verlassen vor. Sie nahm es Alfred übel, daß er nicht der Mensch war, ihr über dieses Gefühl des Alleinseins wegzuhelfen, und seine Schüchternheit begann ihr etwas lächerlich zu erscheinen. Als er aber einmal auf einem Spaziergang außerhalb der Stadt ihren Arm nahm und ihn leise drückte, machte sie sich mit übertriebener Heftigkeit von ihm los und verhielt sich noch beim Abschiednehmen am Haustor kalt und abweisend gegen ihn.
Eines Tages machte die Mutter ihr den Vorwurf, daß sie sich überhaupt nicht mehr um sie bekümmere und nur mehr für Herrn Alfred Nullheim Zeit zu haben scheine. In derselben Stunde noch schloß sich Therese ihrer Mutter zu einem Spaziergang durch die Stadt an, bei welcher Gelegenheit sie merken konnte, daß Frau Fabiani von zwei Damen, die früher im Hause verkehrt hatten, nicht gegrüßt wurde. Eine Promenade tags darauf führte sie weiter hinaus bis außerhalb der Stadt; jenseits des Felsentors kam ihnen ein älterer Herr mit grauem Schnurrbart entgegen, der anscheinend an ihnen vorbeigehen wollte; plötzlich aber blieb er stehen und bemerkte in einer etwas affektiert klingenden Sprache: »Frau Oberstleutnant Fabiani, wenn ich nicht irre?« – Frau Fabiani sprach ihn als Graf an, stellte ihm ihre Tochter vor; er erkundigte sich nach dem Befinden des Herrn Oberstleutnants und erzählte ungefragt von seinen beiden Söhnen, die, nach dem kürzlich erfolgten Tod seiner Frau, in einem französischen Konvikt erzogen wurden. Als er sich verabschiedet hatte, bemerkte Frau Fabiani: »Graf Benkheim, der frühere Bezirkshauptmann. Hast du ihn denn nicht erkannt?« Therese
Am Tag nach dieser Begegnung erwartete Therese daheim Alfred Nüllheim, der ihr Bücher bringen und sie zu einem Spaziergang abholen sollte. Es war ihr eigentlich lästig; lieber wäre sie allein spazieren gegangen, trotzdem sie in der letzten Zeit öfters von Herren verfolgt und etliche Male auch schon angesprochen worden war. Wie immer zu dieser Jahreszeit, gab es viele Fremde in der Stadt. Therese hatte seit jeher einen offenen, neugierigen Blick für alles, was nach Vornehmheit und Eleganz aussah; als Zwölfjährige schon in Lemberg hatte sie für einen hübschen jungen Erzherzog geschwärmt, der im Regiment des Vaters als Leutnant diente, und sie bedauerte manchmal, daß Alfred, der doch aus wohlhabendem Hause war, trotz seiner guten Figur und seines feinen Gesichts sich gar nicht nach der Mode, ja geradezu kleinstädtisch zu kleiden pflegte. Die Mutter trat ins Zimmer, äußerte ihre Verwunderung, daß Therese bei dem schönen Wetter noch zu Hause sei, und fing wie beiläufig vom Grafen Benkheim zu sprechen an, den sie heute zufällig wieder getroffen hatte. Er interessiere sich für die kriegswissenschaftliche Bibliothek des Vaters, die er gelegentlich besichtigen wolle, um sie vielleicht käuflich zu erwerben. »Das ist nicht wahr«, sagte Therese, und ohne Gruß verließ sie das Zimmer. Sie nahm Hut und Jacke, lief die Treppe hinab. Im Hausflur begegnete ihr Alfred. »Endlich«, rief sie. Er entschuldigte sich; er war zu Hause aufgehalten worden. Schon dämmerte es. Was ihr denn wäre, fragte Alfred, sie sehe so erregt aus. »Nichts«, erwiderte sie. Übrigens habe sie ihm einen komischen Einfall anzuvertrauen. Wie wär's, wenn sie heute zusammen in einem der großen, schönen Hotelgärten zu Abend essen würden? Er und sie ganz allein unter lauter fremden Leuten? Er errötete. Oh, wie gern, wie gern; aber – leider – gerade heute sei es vollkommen unmöglich. Er habe nämlich kein Geld bei sich; jedenfalls zu wenig für ein gemeinsames Souper in einem der vornehmen Hotels, an die sie denke. Sie lächelte, sie sah ihn an. Er war noch tiefer errötet und rührte sie ein wenig. – »Das
»Was sollte ich Ihnen schreiben?« erwiderte sie ungeduldig. »Was gibt es von hier zu erzählen? Ein Tag wird sein wie der andere.« – »Auch jetzt ist ein Tag wie der andere,« erwiderte er, »und man hat sich doch immer was zu erzählen. Aber ich will auch zufrieden sein, wenn Sie mir nur manchmal einen Gruß senden.«
Aus dem wogenden Feld waren sie wieder auf die Straße hinausgetreten. Die Pappeln ragten hoch; als dunkle Wand in scharf gezogenen Linien schloß der Nonnberg mit seinen düsteren Festungsmauern das Bild ab. »Sie werden Heimweh haben«, sagte Therese plötzlich mild. – »Nur nach dir«, antwortete er. Es war das erste Du, das er an sie richtete, und sie war ihm dankbar dafür, »Warum eigentlich bleibst du mit der Mutter in Salzburg? Was hält euch hier?« – »Was zieht uns anderswo hin?« – »Es wäre am Ende auch möglich, deinen Vater in eine andere Anstalt zu überfuhren – in der Nähe von Wien.« »Nein, nein«, entgegnete sie heftig. – »Du hattest ja die Absicht – du sprachst von einem Beruf, einer Stellung –« – »Das geht nicht so rasch. Ich habe noch eine Lyzealklasse vor mir, auch müßte ich wohl eine Lehrerinnenprüfung machen.« Sie schüttelte heftig den Kopf, denn es war ihr, als sei sie an den Ort, an die Gegend geheimnisvoll gefesselt. Und ruhiger fügte sie hinzu: »Du bist doch zu Weihnachten jedenfalls wieder hier, schon wegen deiner Familie?« – »Bis dahin ist es lang, Therese.« – »Du wirst gar keine Zeit haben, an mich zu denken. Du hast ja zu studieren. Du wirst neue Menschen kennenlernen, auch Frauen, Mädchen.« Sie lächelte, sie fühlte keine Eifersucht, sie fühlte nichts.
Plötzlich sagte er: »In weniger als sechs Jahren bin ich Doktor. Willst du so lange auf mich warten?« – Sie sah ihn an. Sie verstand
Abend für Abend wandelten sie nun draußen vor der Stadt auf wenig begangenen Feldwegen und plauderten von einer Zukunft, an die Therese nicht glaubte. Tagsüber daheim stickte sie, bildete sich weiter im Französischen aus, übte Klavier, las in dem und jenem Buch, die meisten Stunden aber verbrachte sie trag, beinahe gedankenlos, und sah zum Fenster hinaus. So sehnsüchtig sie den Abend und Alfreds Erscheinen erwartete: – meist schon nach der ersten Viertelstunde ihres Beisammenseins verspürte sie Regungen der Langeweile. Und als er wieder einmal auf einem Spaziergang von seiner immer näher heranrückenden Abreise sprach, merkte sie mit leisem Schreck, daß sie diesen Tag eher herbeiwünschte. Er fühlte, daß der Gedanke einer baldigen Trennung sie nicht besonders schmerzlich berührte, gab ihr seine Empfindung zu verstehen, sie erwiderte ausweichend, ungeduldig; der erste kleine Streit hob zwischen ihnen an, stumm schritten sie auf dem Heimweg nebeneinander her und schieden ohne Kuß.
In ihrem Zimmer war ihr öd und schwer ums Herz. Sie saß im Dunkel auf ihrem Bett und sah durchs offene Fenster in die schwüle, schwarze Nacht hinaus. Dort drüben, nicht weit, unter dem gleichen Himmel, wußte sie das traurige Gebäude, wo ihr wahnsinniger Vater seinem vielleicht noch fernen Ende entgegensiechte. Im Nebenzimmer, ihr fremder von Tag zu Tag, mit ruheloser Feder, auch einem Wahn anheimgefallen, wachte die Mutter in den grauen Morgen. Keine Freundin suchte Therese auf, auch Klara längst nicht mehr; und Alfred war ihr nichts, weniger als nichts, denn er wußte nichts von ihr. Er war edel, er war rein, und sie spürte dunkel, daß sie es nicht war, nicht einmal sein wollte. Sie verspottete ihn innerlich, daß er sich ihr gegenüber
Am nächsten Morgen kam ein Brief von Alfred. Er habe die Nacht über kein Auge zugetan; sie möge ihm verzeihen, wenn er sie gestern gekränkt, eine Wolke auf ihrer Stirn verdüstere ihm den heitersten Tag. Vier Seiten lang ging es in diesem Tone fort. Sie lächelte, war etwas gerührt, drückte den Brief wie mechanisch an die Lippen, ließ ihn dann halb absichtlich, halb zufällig aus der Hand auf ihr Nähtischchen gleiten. Sie war froh, daß sie nicht verpflichtet war, ihn zu beantworten; – heute abend traf man einander ja ohnehin am gewohnten Orte des Stelldicheins.
Gegen Mittag trat ihre Mutter zu ihr ins Zimmer mit süßlichem Lächeln: der Graf Benkheim sei hier und habe eben die Bibliothek des Vaters zum zweitenmal – von einem ersten Besuch hatte die Mutter nichts erwähnt – eingehender Besichtigung unterzogen. Er sei bereit, sie zu einem sehr anständigen Preis zu erwerben, und habe sich herzlich nach dem Befinden des Vaters, übrigens auch nach Theresen erkundigt. Als Therese mit gepreßten Lippen stumm sitzen blieb und weiterstickte, trat die
Als sich die Türe hinter ihm geschlossen hatte, war zuerst ein dumpfes Schweigen; Therese schickte sich an, wortlos das Zimmer zu verlassen, da hörte sie die Stimme ihrer Mutter hinter sich: »Du hättest wohl etwas freundlicher sein können.« Therese wandte sich von der Türe her um: »Ich war es viel zu sehr«, und wollte gehen. Nun begann die Mutter ganz unvermittelt, als hätte sich seit Tagen oder Wochen der Groll in ihr gestaut, mit bösen Worten Therese wegen ihres unmanierlichen, ja frechen Benehmens mit Vorwürfen zu überhäufen. Ob der Graf nicht mindestens ein so feiner Herr sei wie der junge Nüllheim, mit dem das Fräulein Tochter überall in Stadt und Umgebung und zu jeder Tages- und Nachtzeit zu sehen sei? Ob es nicht hundertmal anständiger sei, sich einem soliden, gesetzten, vornehmen Herrn gegenüber mit einiger Zuvorkommenheit zu benehmen, als sich einem Studiosus an den Hals zu werfen, der mit ihr doch nur seinen Spaß treibe? Und immer unzweideutiger, mit schonungslosen Worten, gab sie der Tochter zu verstehen, welches Wandels sie sie schon längst verdächtige, und ohne Scham sprach sie aus, was sie darum um so mehr von ihr zu erwarten und zu fordern sich für berechtigt halte. »Denkst du, es geht so fort? Wir hungern, Therese. Bist du so verliebt, daß du es nicht merkst? Und der Graf würde für dich sorgen, – für uns alle, für den Vater auch. Und niemand müßte es wissen, nicht einmal dein junger Herr
Es war Mittagszeit, die Straßen fast menschenleer. Wohin? fragte sich Therese. Zu Alfred, der im Hause seiner Eltern wohnte? Ach, der war nicht Manns genug, sich ihrer anzunehmen, sie zu beschützen vor Gefahr und Schande. Und die Mutter, die sich einbildete, er sei ihr Geliebter! Es war zum Lachen, wahrhaftig. Wohin also? Hätte sie nur Geld genug gehabt, sie wäre einfach zum Bahnhof gelaufen, davongereist wo immer hin, am liebsten gleich nach Wien. Dort gab es Gelegenheit genug, sich auf anständige Weise durchzubringen, auch wenn man nicht die letzte Lyzealklasse gemacht hat. Die Schwester einer Schulkameradin zum Beispiel war neulich sechzehnjährig als Kinderfräulein bei einem Hof- und Gerichtsadvokaten in Wien in Stellung getreten, und es ging ihr vortrefflich. Man müßte sich die Sache nur angelegen sein lassen. War es denn nicht längst ihr Plan gewesen? Unverzüglich kaufte sie eine Wiener Zeitung, ließ sich auf einer beschatteten Bank des Mirabellgartens nieder und las die kleinen Anzeigen. Sie fand manche Angebote, die für ihre Zwecke in Betracht kamen. Jemand suchte eine Bonne zu einem fünfjährigen Mädchen, ein anderer eine zu zwei Knaben, ein dritter zu einem geistig etwas zurückgebliebenen Mädchen, in dem einen Hause wurde etwas Kenntnis des Französischen, in einem anderen Fertigkeit in Handarbeiten, in einem dritten Anfangsgründe des Klavierspiels gewünscht. Mit all dem konnte sie dienen. Man war nicht verloren, Gott sei Dank, und bei der nächsten Gelegenheit würde sie einfach ihre Sachen packen und davonfahren. Vielleicht ließe es sich sogar so einrichten, daß sie zugleich mit Alfred nach Wien reiste. Sie lächelte vor sich hin. Ihm vorher gar nichts sagen und einfach in den gleichen Zug einsteigen – ins selbe Coupé, wäre das nicht lustig?! Aber da ertappte sie sich auch schon bei dem Gedanken, daß sie eigentlich lieber allein, ja, lieber sogar mit irgendwem andern diese Reise unternehmen würde, mit einem Unbekannten, mit dem eleganten Fremden zum Beispiel – es war wohl ein Italiener oder Franzose – der ihr früher auf der Salzachbrücke so unverschämt ins Gesicht gestarrt hatte. Und, zerstreut weiterblätternd, las sie in der Zeitung von einem Feuerwerk im Prater, von einem Eisenbahnzusammenstoß, von
Langsam ging sie nach Hause, sie war ruhig, und in ihrem Herzen kein Zorn gegen die Mutter mehr. Das karge Mittagessen war wann gehalten worden, die Mutter stellte es ihr wortlos auf den Tisch und langte nach der Zeitung, die Therese auf den Tisch gelegt hatte. Sie suchte nach der Romanfortsetzung und las mit gierigen Augen. Therese nahm nach dem Essen ihre Stickerei zur Hand, setzte sich ans Fenster und dachte an das Fräulein Maria Meitner, das nun im Gefängnis saß. Ob sie wohl Eltern gehabt hatte? Ob sie eine Verstoßene war? Ob sie am Ende auch andere Männer in der Tiefe ihres Herzens lieber gehabt hatte als ihren Geliebten? Und warum hatte sie ein Kind bekommen? Es gab ja so viele Frauen, die ihr Leben genossen und keine Kinder bekamen. Allerlei fiel ihr ein, was sie im Lauf der letzten zwei oder drei Jahre in der Residenz und hier von Schulkolleginnen erfahren hatte. Der Inhalt so manchen unanständigen Gesprächs, wie sie dergleichen Unterhaltungen zu nennen pflegten, wurde in ihr lebendig, und ein plötzlicher Widerwille stieg in ihr auf gegen alles, was mit dergleichen Dingen zusammenhing. Sie erinnerte sich, daß sie schon vor zwei oder drei Jahren, zu einer Zeit also, da sie fast noch ein Kind gewesen, mit zwei Freundinnen zusammen beschlossen hatte, ins Kloster zu gehen, und in diesem Augenblick war ihr, als regte sich in ihr eine ganz ähnliche Sehnsucht wie damals. Nur daß diese Sehnsucht heute etwas anderes und mehr bedeutete: Unruhe, Angst – als gäbe es nirgendwo als hinter Klostermauern Sicherheit vor all den Gefahren, die das Leben in der Welt mit sich brachte.
Doch wie nun die Schwüle allmählich wich und über die Häuserwände bis in den vierten Stock hinauf die Abendschatten zogen,
Sie traf ihn draußen vor der Stadt wie gewöhnlich. Seine Augen glänzten mild, und ein solcher Adel schien von seiner Stirn zu strahlen, daß ihr ganz weh ums Herz wurde. Sie fühlte sich ihm in schmerzlicher Weise überlegen, weil sie um soviel mehr vom Leben wußte oder ahnte als er; und zugleich seiner nicht ganz würdig, weil er aus so viel reineren Lüften kam als sie. In Gestalt und Haltung glich er seinem Vater, dem sie oft genug in den Straßen der kleinen Stadt begegnet war, ohne daß er ihrer geachtet oder auch nur gewußt hätte, wer sie war. Auch Alfreds Mutter, die große blonde Frau, und seine beiden Schwestern kannte sie von Angesicht; die mochten wohl etwas vermuten; denn neulich einmal, bei einer zufälligen Begegnung, hatten sie sich beide zugleich neugierig nach ihr umgewandt. Sie waren zwanzig und neunzehn und würden wohl bald beide heiraten. Die Familie war wohlhabend und hochgeachtet. Ja, die hatten es leicht. Und daß der Dr. Sebastian Nüllheim, Arzt in den besten Familien der Stadt, je ins Narrenhaus kommen könnte, das war ein völlig unfaßbarer Gedanke. – Alfred merkte, daß Therese mit ihren Gedanken wo anders war, er fragte sie, was ihr sei, sie schüttelte nur den Kopf und drückte innig Alfreds Hand. Die Tage waren schon kurz, es begann zu dunkeln. Alfred und Therese saßen auf einer Bank im Grünen; weit dehnte sich die Ebene, die Berge waren fern, ein dumpfes Rauschen klang aus der Stadt herbei, der Pfiff einer Lokomotive hallte lang und leise, jenseits der Wiese, über die Landstraße, rollte ab und zu ein Wagen, Fußgänger schatteten vorüber. Alfred und Therese hielten einander umschlungen, Theresens Herz schwoll vor Zärtlichkeit; und wenn sie später dieser ersten Liebe dachte, war es immer wieder diese Abendstunde, die in ihrem Gedächtnis aufschwebte: sie und er auf einer Bank zwischen Feldern und Wiesen, auf weithingedehnter Ebene, darüber die Nacht, die sich von Berg zu Berg spannte, verklingende Pfiffe aus der Ferne und von einem unsichtbaren Teich her Fröschegequak.
Manchmal sprachen sie von der Zukunft. Alfred nannte Therese seine Liebste, seine Braut. Sie müsse auf ihn warten, in sechs Jahren spätestens sei er Doktor, und dann würde sie sein Weib. Und
Eines Morgens trat sie zu Theresen ans Bett mit flimmernden Augen, reichte ihr ein Zeitungsblatt hin; da war auf dem für dergleichen vorbehaltenen Raum der Beginn eines Romans abgedruckt: »Der Fluch des Magnaten, von Julie Fabiani-Halmos«. Und sie setzte sich auf den Bettrand, während Therese für sich zu lesen begann. Die Geschichte fing an wie hundert andere, und jeder Satz erschien Theresen, als hätte sie ihn schon hundertmal gelesen. Als sie fertig war und der Mutter wie in Bewunderung, doch wortlos, zunickte, nahm diese die Zeitung zur Hand und las nun das Ganze laut, wichtig und ergriffen vor. Dann sagte sie: »Drei Monate lang wird der Roman laufen. Die Hälfte habe ich schon bezahlt bekommen – fast so viel wie eine halbjährige Oberstleutnantspension.«
Als Therese am Abend dieses Tages mit Alfred zusammentraf, war er zu ihrer angenehmen Überraschung sorgfältiger, geradezu elegant gekleidet, ja, man hätte ihn für einen der vornehmen Reisenden nehmen können, wie zu dieser Zeit so viele in der Stadt zu sehen waren. Alfred freute sich der Befriedigung, die er in Theresens Augen las, und eröffnete ihr mit scherzhafter Förmlichkeit, daß er sich die Ehre gebe, sie für heute zu einem Abendessen im Hotel Europe einzuladen. Vergnügt nahm sie an, und bald saßen sie beide in dem hell erleuchteten, parkartigen Garten an einem köstlich gedeckten Tisch, für sich allein, unter vielen unbekannten Menschen, wie ein vornehmes Paar auf der Hochzeitsreise. Der Kellner nahm etwas herablassend Alfreds Bestellung entgegen; ein vortreffliches Mahl wurde aufgetragen, und an ihrem Appetit merkte Therese, daß sie sich tatsächlich seit längerer Zeit nicht so eigentlich satt gegessen hatte. Auch der milde, süße Wein schmeckte ausgezeichnet, und während sie anfangs etwas eingeschüchtert sich kaum recht umzusehen gewagt hatte, ließ sie nun die Augen immer lebhafter und unbefangener im Kreise gehen. Von da und dort richteten sich Blicke auf sie, nicht nur von jüngeren und älteren Herren, auch von Damen, Blicke des Wohlgefallens, ja der Bewunderung. Alfred war sehr aufgeräumt, redete allerlei galantes, ziemlich törichtes Zeug, wie es sonst seine Art gar nicht war, und Therese lachte manchmal in einer unnatürlich grellen Weise dazu auf. Als Alfred sie zum dritten- oder
Sie gingen schweigend durch die stillen Gassen, Alfred nahm Theresens Arm, drückte ihn an den seinen. »Was würdest du dazu sagen,« bemerkte er in einem leichten Ton, der ihm nicht wohl anstand, »wenn man noch in ein Kaffeehaus ginge?« Sie lehnte ab. Es sei schon zu spät. – Ach ja, ein Schulbub! Er hätte nun wohl etwas anderes verlangen dürfen als eine Abschiedsstunde im Kaffeehaus. Warum zum Beispiel rief er nicht dort den Kutscher
Am nächsten Tag, während sie mit der Mutter bei Tische saß, brachte man aus der Blumenhandlung wundervolle weiße Rosen in einem schlanken, geschliffenen Kelch. Ihr erster Gedanke war: der Offizier, ihr nächster: Alfred. Doch auf dem Kärtchen stand zu lesen: »Graf Benkheim bittet das liebe kleine Fräulein Therese die mitfolgenden bescheidenen Blumen freundlichst entgegennehmen zu wollen.« Die Mutter sah vor sich hin, als ginge sie das Ganze nichts an. Therese stellte das Glas mit den Blumen auf die Kommode, vergaß, sich wieder an den Tisch zu setzen, nahm ein Buch zur Hand und ließ sich in den Schaukelstuhl am Fenster sinken. Die Mutter aß allein weiter, sprach kein Wort und verließ dann mit schlürfendem Schritt das Zimmer.
Am gleichen Abend, auf dem Weg zum Bahnhof, in dessen Nähe Therese für heute eine Zusammenkunft mit Alfred verabredet hatte – sie wählten beinahe täglich einen anderen Punkt –, begegnete Therese dem Offizier. Er grüßte mit vollendeter Höflichkeit, ohne die Tatsache ihrer geheimen Vertrautheit auch nur durch ein Lächeln unzart zu betonen. Sie dankte unwillkürlich, dann aber beschleunigte sie ihre Schritte, so daß sie fast ins Laufen geriet, und war froh, daß Alfred, der sie schon erwartete, ihre Erregung nicht merkte. Er schien verlegen, verstimmt. Sie gingen die staubige, etwas langweilige Straße gegen Maria Plain weiter in einem mühseligen Gespräch, darin des gestrigen Abends mit keinem Worte gedacht wurde, kehrten bald wieder um, da ein Gewitter drohte, und trennten sich früher als sonst.
Es war längst nicht mehr die einzige Unaufrichtigkeit, die sie sich ihm gegenüber vorzuwerfen hatte. Wenige Tage nach jener Begegnung in der Nähe des Bahnhofs hatte sie den jungen Offizier wiedergesehen: er war ihr auf dem Domplatz entgegengetreten, als sie eben die Kirche verließ, die sie manchmal zu dieser Stunde nicht so sehr aus Frömmigkeit als aus einer Sehnsucht nach friedlichem Alleinsein in dem hohen, kühlen Raum zu betreten pflegte. Und er, als wäre es die natürlichste Sache von der Welt, war vor ihr stehengeblieben, hatte sich vorgestellt – sie verstand nur den Vornamen Max – und hatte sie um Entschuldigung gebeten, daß er diese Gelegenheit, auf geraume Zeit hinaus die letzte, zu benützen sich die Freiheit nehme, um Therese endlich persönlich kennenzulernen. Denn nun gehe er mit dem Regiment, dem er seit einem Monat zugeteilt sei, auf Manöver für drei Wochen, – und während dieser drei Wochen, das wünschte er sich so sehr, sollte doch das Fräulein Therese – oh, selbstverständlich kenne er ihren Namen, Fräulein Therese Fabiani sei durchaus keine unbekannte Persönlichkeit in Salzburg, und von der Frau Mama stehe ja jetzt ein Roman im Tageblatt; – nun, er wünsche, daß Fräulein Therese an ihn während seiner Abwesenheit wie an einen guten Bekannten denke, wie an einen Freund, einen stillen, schwärmerischen, geduldig hoffenden Freund. Und dann hatte er ihre Hand genommen und geküßt – und war auch schon verschwunden. Sie hatte sich rings umgesehen, ob irgend jemand von dieser Begegnung etwas bemerkt hätte. Doch der Domplatz lag fast menschen leer im grellen Sonnenschein, nur drüben gingen ein paar Frauen, die ihr natürlich vom Sehen bekannt waren – wen kannte man nicht in der kleinen Stadt –, aber
Eines Morgens – nach einem Abend, der gewesen war wie so viele andere vorher – kam ein Brief von ihm. Nur ein paar Worte. Wenn sie sie läse, so schrieb er, säße er schon im Zug nach Wien; er hätte es nicht übers Herz gebracht, ihr das gestern abend zu sagen, sie möge es verstehen und verzeihen, er liebe sie unsagbar, er wisse es in diesem Moment stärker als je, daß diese Liebe ewig währen würde. – Sie ließ das Blatt sinken, sie weinte nicht, aber sie war sehr unglücklich. Aus. Sie wußte, daß es aus war für immer. Und es war mehr unheimlich als traurig, daß sie das wußte er nicht. – Die Mutter kam aus der Stadt zurück. Sie war auf dem Markt gewesen, einkaufen. »Weißt du, wer heute früh«, fragte sie vergnügt, »mit Koffer und Tasche an mir vorbeigefahren ist zur Bahn? Dein Seladon. Ja, nun ist er fort, hast du nicht gesehen.« Es war ihre Art, solche verblaßten, aus der Mode gekommenen Romanphrasen ins Gespräch einzustreuen. Die Aufgeräumtheit der Mutter ließ deutlich erkennen, daß sie nun das schwerste, ja, das einzige Hindernis ihrer Pläne für beseitigt hielt. Therese aber dachte im gleichen Augenblick: Fort, nur fort. Heute noch, gleich, ihm nach. Die paar Gulden für die Reise borg' ich mir aus – Klara hoffentlich ...
Sie verließ das Haus, bald stand sie unter den Fenstern, hinter denen ihre Freundin wohnte, aber sie konnte sich kein Herz fassen, die Treppen hinaufzugehen. Übrigens waren die Vorhänge heruntergelassen, vielleicht waren Traunfurts aus der Sommerfrische noch nicht zurück. Doch da trat Klara aus dem Haustor, hübsch und adrett gekleidet wie immer, hold und unschuldig anzusehen, begüßte Therese mit übertriebener Herzlichkeit und war gleich bei den Themen, die sie am meisten liebte. Ohne etwas Bedenkliches oder gar Unanständiges in Worten auszudrücken, spielte unter dem, was sie sagte, eine ununterbrochene Welle zweideutiger Gedanken. Nachdem sie beiläufig bedauert, daß man jetzt so gar nicht mehr zusammenkomme, erwähnte sie gleich die Familie Nüllheim, in einem Ton, der Therese nicht zweifeln ließ, daß die Freundin ihre Beziehungen zu Alfred für anders geartet hielt, als sie in Wirklichkeit waren. Therese, nicht verletzt, sondern nur im Gefühl ihrer Unschuld, klärte Klara auf, worauf diese einfach und fast etwas verächtlich bemerkte: »Wie kann man so dumm sein.« Eine bekannte Dame näherte sich, und Klara verabschiedete sich auffallend rasch von Theresen. –
Abends zu der Stunde, in der Therese sonst mit Alfred zusammenzukommen pflegte, versuchte sie ihm zu schreiben. Sie wunderte sich, wie schwer es ihr von der Hand ging, und so ließ sie sich an ein paar flüchtigen Worten genügen: daß sie noch viel unglücklicher sei als er, daß sie keinen anderen Gedanken habe als ihn allein und daß sie hoffe, Gott werde alles zum Guten wenden. – Sie trug den Brief auf die Post, ach, sie wußte, daß es ein dummer und unaufrichtiger Brief war, ging gleich wieder heim, vermochte nichts Rechtes anzufangen, nahm eine Handarbeit vor, versuchte zu lesen, spielte Skalen und Läufe, endlich, unruhig und gelangweilt zugleich, blätterte sie in den Zeitungsnummern,
Am nächsten Tag kam wieder ein Brief von Alfred, und so weiter Tag für Tag. Er berichtete, wie der Vater ihn am Bahnhof erwartet, ihm ein Zimmer in der Alservorstadt, in der Nähe der medizinischen Lehranstalten, gemietet habe, mit ihm Museen und Theater besuche; und wie aus des Vaters ganzem Benehmen hervorgehe, daß er etwas zu ahnen scheine. So habe er einmal während des Abendessens im Restaurant davon gesprochen, daß sich junge Leute gern allerlei in den Kopf setzten, was am Ende doch nicht durchzuführen sei, auch er habe in der Jugend dergleichen durchgemacht und natürlich überwunden; was allem vorangehe, das sei eben die Arbeit, der Beruf, der Ernst des Lebens. Therese fand, daß Alfred das nicht so ausführlich hätte berichten müssen. Wollte er etwa schon jetzt die Verantwortung von sich abwälzen? Sie hatte ja nichts von ihm verlangt. Er mochte tun, was er wollte. Es war schwer, ihm etwas Rechtes zu erwidern, wie es überhaupt nicht leicht war, Stoff für die Briefe zu finden, die sie ihm täglich schreiben sollte, da doch hier in der kleinen Stadt, wie sie entschuldigend und etwas übellaunig betonte, alles seinen gewohnten, langweiligen Gang weiterlief. Und was sich wirklich ereignete, das, ja gerade das konnte sie dem liebsten natürlich nicht erzählen. Nichts von dem letzten Besuch des Grafen Benkheim, bei welchem er sehr unterhaltend
Von diesem Besuch berichtete sie an Alfred in Ausdrücken innerster Anteilnahme, ja töchterlichen Schmerzes, die, wie sie wohl fühlte, ihren tatsächlichen Empfindungen kaum entsprachen; – so wenig wie die Worte der Zärtlichkeit und Sehnsucht, die sie an den fernen Geliebten richtete. Aber was blieb ihr übrig? Sie konnte ihm unmöglich die Wahrheit schreiben; – nicht daß sie manchmal geradezu vergeblich versuchte, sich seine Züge vorzustellen, daß sie den Ton seiner Stimme zu vergessen begann, daß oft Stunden vergingen, in denen sie seiner gar nicht dachte; – viel öfter aber eines andern, an den sie eigentlich nicht hätte denken sollen und dürfen.
Eines Abends, als sie eben dabei war, ihm auf einen wehmütigen Brief zu antworten, mühselig, geradezu in Verzweiflung, erschien der Graf Benkheim. Er fragte, ob er nicht störe, sie war froh, nicht weiter schreiben zu müssen, und so kam sie ihm freundlicher entgegen, als es sonst ihre Art war. Er schien dies mißzuverstehen, rückte näher an sie heran und sprach zu ihr in einer Weise, die ihr völlig ungewohnt war. Ganz ohne Umschweife, ja, als wenn irgendwelche Gespräche zwischen ihnen stattgefunden hätten, die ihn zu solchem Ton ermutigen durften, begann er: »Also, wie denkt das kleine Fräulein über die Weltreise? Übrigens
Als der Graf sich entfernte, hatte er allen Anlaß, zu glauben, daß ihm verziehen worden war, und konnte nicht ahnen, daß Theresens scheinbare Ruhe nur in dem festen Entschluß die Ursache hatte, ihre Reise-und Fluchtpläne ohne weiteren Verzug ins Werk zu setzen.
In Erwiderung auf Zeitungsannoncen schrieb sie nach Graz, Klagenfurt, Brünn, für alle Fälle auch nach Wien und erbat sich die Antworten postlagernd. Sie erhielt keine, außer von Vermittlungsbureaus in Wien und Graz, die aber vor allem eine Anzahlung verlangten. Schon dachte sie aufs Geratewohl davonzufahren, aber da geschah es ihr, daß sie, anfangs zu ihrer eigenen Verwunderung, sich zu Hause besser zu behagen anfing. Die Mutter verhielt sich freundlich, es fehlte im Haushalt an nichts, und vom Grafen Benkheim war eine Art von Entschuldigungsschreiben eingelangt, liebenswürdig, nicht ohne Humor, sogar etwas rührend; und bei seinem nächsten Besuch benahm er sich so tadellos,
An einem Regentag im Abenddämmer stand Therese in der Einfahrt des Postgebäudes und las den eben an sie gelangten Antwortbrief einer Dame aus Wien, als sie jemanden hinter sich sagen hörte: »Guten Abend, mein Fräulein.« Sie hatte die Stimme gleich erkannt; ein köstlicher Schauer floß ihr durch den Leib, und ohne das Wort auszusprechen, es nur zu denken, fühlte sie mit ihrem ganzen Wesen: Endlich. Sie wandte sich langsam um, lächelte dem Leutnant entgegen wie einem längst Erwarteten, und es war zu spät, als sie sich besann, daß sie lieber nicht so glückselig hätte lächeln sollen. »Ja, da bin ich«, sagte der Leutnant leichthin, ergriff Theresens Hand und küßte sie gleich ein paarmal hintereinander. »Seit einer Stunde bin ich zurück, und das erste menschliche Geschöpf, das mir begegnet, sind Sie, Fräulein Therese. Wenn das nicht ein Wink des Schicksals ist« ... und er behielt ihre Hand fest in der seinen. – »Also schon aus, die Manöver?« fragte Therese, »das ist aber geschwind gegangen.« – »Eine Ewigkeit war ich fort«, sagte der Leutnant. »Sollten Sie das gar nicht gemerkt haben?« – »Wahrhaftig, nein, es können doch höchstens acht Tage gewesen sein.« – »Einundzwanzig Tage und einundzwanzig Nächte, und in jeder habe ich von Ihnen geträumt. Bei Tag übrigens auch. Soll ich Ihnen erzählen, was?« – »Ich bin nicht neugierig.« – »Aber ich bin's im höchsten Grade. Und daher möchte ich für mein Leben gern wissen, was in dem Brieferl da steht, das man sich so geheimnisvoll von der Post abgeholt hat.«
Sie hielt den Brief noch in der Hand, nun knitterte sie ihn zusammen, verbarg ihn in der Tasche ihres Regenmantels und blickte dem Leutnant lustig-verschlagen ins Auge. »Aber hier, glaube ich,« sagte der Offizier, »ist nicht der rechte Ort, um sich miteinander auszuplaudern. Wollen das gnädige Fräulein nicht einen armen verregneten Leutnant unter Ihre Fittiche nehmen?« Er nahm ihr den Schirm ohne weiteres ab, spannte ihn über sie
Am nächsten Abend aber huschte sie am Tor vorüber, genau um sieben; er stand da, im Flur, eine Zigarette rauchend, die Kappe in der Hand, wie an jenem Tag, da sie ihn zum erstenmal gesehen, und die gelben Aufschläge seines Waffenrocks leuchteten so hell, als wären es die schönsten Farben in der ganzen Welt. Und auch seine Augen, sein ganzes Gesicht leuchtete auf. Hatte er ihren Namen geflüstert oder nicht? – sie wußte es kaum. Jedenfalls nickte sie, trat zu ihm ins Tor, und in seinen Arm geschmiegt ging sie die enge, gewundene Steintreppe mit ihm hinauf bis zu einer breiten, dunkelbraunen Holztüre, die nur angelehnt war, hinter ihnen beiden aber, wie durch einen Zauber, geräuschlos sich schloß.
Sie hielten ihr Glück geheim. Niemand in der Stadt wußte, daß Therese Abend für Abend über die dämmerige Treppe in die Wohnung des Leutnants schlich, niemand sah sie ein paar Stunden darauf das Haus wieder verlassen; und wer sie etwa gesehen, erkannte die Verschleierte nicht. Auch die Mutter, in ihre Arbeit völlig eingesponnen, merkte nichts oder wollte nichts merken. Frau Fabiani war von einem großen illustrierten Journal in Deutschland aufgefordert worden, einen Roman zu liefern, was sie Theresen mit stolzer Genugtuung mitteilte, und saß nun ganze Tage und halbe Nächte lang unablässig schreibend hinter versperrter Türe. Die Sorge um die bescheidene, jetzt wieder fast ärmliche Wirtschaft blieb Theresen allein überlassen; doch Mutter und Tochter legten zu dieser Zeit auf die Befriedigung äußerlicher Bedürfnisse noch weniger Wert als sonst.
Von Alfred kamen indes Tag für Tag Briefe voll Zärtlichkeit und Leidenschaft, die Therese auch ihrerseits viel zärtlicher und leidenschaftlicher beantwortete, als sie früher überhaupt fähig gewesen wäre. Sie war sich dabei keiner Lüge bewußt, denn sie liebte Alfred um nichts weniger als vorher, ja, manchmal wollte ihr scheinen, mehr als zur Zeit, da er ihr noch nahe gewesen war. Die Worte, die zwischen ihnen brieflich hin und her gingen, hatten mit dem, was Therese zu gleicher Zeit wirklich erlebte, so gar nichts zu tun, daß sie sich sowohl dem einen als dem anderen Liebenden gegenüber von jeder Schuld frei fühlte.
Für Therese waren diese Theaterbesuche eine willkommene Zerstreuung, für die Mutter eine Quelle von Anregungen und Erregungen der verschiedensten Art. Es geschah ihr nicht nur, daß sie in den vorgeführten Dramen zufällige Ähnlichkeiten mit eigenen Erlebnissen oder solchen, die sich in ihrer Nähe zugetragen, zu erkennen glaubte; sie entdeckte auch offenbare Anspielungen, die der ihr vollkommen unbekannte oder auch schon verstorbene Autor in sein Werk hatte einfließen lassen oder die vielleicht sogar von der Theaterdirektion mit Rücksicht auf die berühmte Romanschriftstellerin eingefügt worden waren; und sie verfehlte nicht, bei solcher Gelegenheit die neben ihr sitzende Therese durch verständnisheischende Blicke auf solche merkwürdige Zufälle, die es für sie keineswegs waren, aufmerksam zu machen.
Der Graf Benkheim hatte seine Besuche im Hause Fabiani indes vollkommen eingestellt. Es fiel Theresen nicht weiter auf, und sie erinnerte sich seiner erst wieder, als sie ihn eines Abends in der Proszeniumsloge mit einer Dame erblickte, die ihr tags zuvor in einer französischen Posse nicht so sehr durch schauspielerisches Talent als durch die Extravaganz der Toilette aufgefallen war.
Eines Abends, kurz nach ihrem Eintritt in Maxens Zimmer, während sie eben Hut und Schleier ablegte, wurde an die Türe geklopft, zu ihrer Verwunderung rief Max ohne weiteres »Herein«,
Bei der nächsten Zusammenkunft in Maxens Wohnung ging es erheblich heiterer zu. Der Oberleutnant hatte kalten Aufschnitt und Backwerk mitgebracht, und schon nach der ersten Flasche Wein stellte es sich heraus, was für Therese natürlich keine Überraschung bedeutete, daß der Oberleutnant und die Schauspielerin auf vertrauterem Fuße miteinander standen, als sie das letztemal hatten verraten wollen. Immerhin hielt sie sich noch ein wenig zurück, sprach bald wieder von ihrer Mutter, die zwar zu Weihnachten nicht kommen könne, sie aber am Palmsonntag von hier abholen werde; und später, als die kleine Gesellschaft in einem Kaffeehaus saß und aus einer Ecke der Komiker des Theaters mit kordialem Winken ein »Servus Lintscherl!« herüberrief, dankte sie kaum und bemerkte nur: »Was der freche Bengel sich einbild't!«
Der Winter war spät, doch gleich mit heftigen Schneefällen hereingebrochen; die Stadt, die ganze Landschaft hüllte sich in wohltuend mildes Weiß; und als infolge von Verwehungen Verkehrsstörungen auf der Eisenbahnstrecke eintraten, überkam Therese das beruhigende Gefühl eines umfriedeten und gesicherten Daseins, wodurch sie erst inne ward, daß unablässig auf dem Grund ihrer Seele die Angst vor einem plötzlichen Eintreffen Alfreds geschlummert hatte.
Die Schneefälle hörten auf, sonnige Wintertage kamen, und Therese unternahm mit Max an Sonntagen Schlittenpartien ins Gebirgsland, nach Berchtesgaden und zum Königssee; anfangs zu zweit, dann auch in Gesellschaft von anderen Offizieren und deren Freundinnen, die fast alle dem Theater angehörten; und Max ließ es ohne Eifersucht geschehen, wenn in rauchigen Wirtshausstuben bei dampfendem Punsch von den Kameraden auch Theresen gegenüber die Grenzen einer noch erlaubten Galanterie nicht eben streng eingehalten wurden.
Die Nacht vom ersten zum zweiten Weihnachtsfeiertag verbrachte Therese mit Max in einem Gasthof am Königssee. Und als am nächsten Mittag der Schlitten sie vor ihrem Wohnhaus abgesetzt hatte und sie doch in einiger Besorgnis vor dem Unwillen der Mutter die Treppe hinaufgegangen war, überreichte ihr jene wortlos mit vorwurfsvoller Miene einen eingeschriebenen Expreßbrief, der, wie sie strafend bemerkte, schon am Abend vorher
Kurz nach Neujahr war es, daß Therese vor dem Hause des Leutnants Klara begegnete, ihrer alten Freundin, die sich eben auf dem Heimweg von der Eisbahn befand. Sie begrüßten einander, und Klara, als hätte sie nur die Gelegenheit abgewartet, begann Theresen lebhafte Vorwürfe zu machen, nicht etwa wegen ihres Lebenswandels, sondern wegen ihrer Unbedachtsamkeit. »Was hast du davon,« sagte sie, »daß man soviel von dir spricht. Schau' mich an. Ich halt' schon beim Vierten, und kein Mensch hat eine Ahnung. Und wenn du's überall herum erzähltest, – kein Mensch möcht's dir glauben.« Und lachend versprach sie Theresen, sie in den nächsten Tagen zu besuchen und ausführlicher von ihren Abenteuern zu berichten, wonach sie eine wahre Sehnsucht verspüre. Therese sah der Davoneilenden mit vielfach gemischten Gefühlen nach; von allen das lebhafteste war dies: völlig allein zu sein. Immer kam diese Erkenntnis über sie, wenn irgendwer sich ihr gegenüber besonders aufgeschlossen und vertrauensvoll zu geben vermeint hatte.
Alfreds Brief – so sehr er ein Abschiedsbrief geschienen – blieb nicht der letzte. Ein paar Wochen hatte er geschwiegen, nun aber kamen plötzlich Briefe in einem ganz neuen Ton; mit Vorwürfen, mit Beschimpfungen; er gebrauchte Worte, von denen Therese nicht geahnt, daß ein Mensch wie Alfred sie jemals zu Papier
Klaras Besuch ließ ziemlich lange auf sich warten. Erst an einem späten Februartage, als der Schnee zu schmelzen begann und durch das mittags offenstehende Fenster die ersten Frühlingslüfte in Theresens Zimmer wehten, trat die Freundin bei Theresen ein; – aber statt, wie versprochen, einen Bericht ihrer Abenteuer zu liefern, teilte sie mit, daß sie mit einem Ingenieur verlobt sei, daß ihr Geplapper von neulich nur kindische Großsprecherei gewesen sei, aus Ärger über das zögernde Verhalten des Bräutigams, und daß sie darauf rechne, Therese werde niemals etwas davon verlauten lassen. Dann schwärmte sie von ihrem Verlobten und von dem stillen Glück, das ihr in dem Frieden des kleinen Gebirgsdorfs bevorstehe, wohin er als Leiter eines Eisenbahnbaues berufen sei. Sie blieb kaum eine Viertelstunde, umarmte Therese flüchtig zum Abschied und lud sie nicht zur Hochzeit ein.
In diesen trügerischen Vorfrühlingstagen fühlte Therese ohne eigentlichen Schmerz, wie ihre Zärtlichkeit für Max sich allmählich zu verflüchtigen begann, und die Leere, die Aussichtslosigkeit ihres Daseins kamen ihr immer bedrückender zu Bewußtsein. Die Anstalt, in der ihr Vater weilte, hatte sie seit Monaten nicht mehr betreten. Als nicht unwillkommener Vorwand für diese Versäumnis hatte ihr eine Bemerkung des Assistenzarztes anläßlich ihres letzten Besuches gedient: daß nämlich der Vater
Als sie zu ihrem Vater in das zellenartige kleine Zimmer trat, saß er an einem Tisch mit Landkarten und Büchern vor sich, wie Therese ihn so oft zu früherer Zeit gesehen, und er wandte sich zu ihr mit einem Blick, in dem es wie früher von Vernunft, ja von Lebensfreude zu blitzen schien. Aber kaum hatte sein Blick ihre Erscheinung erfaßt, ob er sie nun erkannt hatte oder nicht – dies sollte ihr niemals klar werden –, so verzerrte sich der Ausdruck seines Gesichtes; seine Finger krampften sich zusammen, und plötzlich ergriff er einen der dicken Bände, als wollte er ihn der Tochter an den Kopf schleudern. Der Wärter fiel ihm in die Hände. Im selben Augenblick trat der Arzt ein, und sich durch einen raschen Blick mit Theresen verständigend, sagte er: »Es ist Ihre Tochter, Herr Oberstleutnant. Sie haben gewünscht, sie zu sehen. Nun ist sie da. Sie wollten ihr gewiß etwas sagen. – So beruhigen Sie sich doch«, fügte er hinzu, da es dem Wärter kaum möglich war, des Wütenden Herr zu werden. Nun erhob der Oberstleutnant die rechte, freigewordene Hand, und gebieterisch wies er nach der Türe. Als Therese nicht sofort Miene machte, diesem Wink Folge zu leisten, nahm sein Auge einen so drohenden Ausdruck an, daß der Arzt selbst Therese an den Schultern faßte und rasch aus dem Zimmer zog, dessen Türe der Wärter sofort hinter ihr schloß. »Sonderbar,« sagte der Arzt auf dem Gang zu Therese, »auch wir Ärzte lassen uns doch immer wieder täuschen. Als ich ihm heute morgen von Ihrem bevorstehenden Besuch Mitteilung machte, schien er höchst erfreut. Man hätte ihm die Landkarten und Bücher nicht geben sollen.«
Langsam ging sie der Stadt zu. Er weiß alles, dachte sie. Darum hat er mich hinausgejagt. Was soll nun mit mir werden –? Und plötzlich, in ihre Bedrücktheit leuchtend wie ein Blitz, kam ihr der Einfall, daß Max, wenn er seinen Abschied nehme, um in das Fabrikunternehmen seines Oheims einzutreten, wovon er in der letzten Zeit manchmal sprach, sie heiraten könnte, ja, eigentlich müßte. Einer seiner Kameraden hatte erst vor wenigen Wochen den Dienst quittiert, um ein Mädchen von ziemlich zweifelhaftem Ruf zu ehelichen; während Max Therese doch als anständiges Mädchen kennengelernt und, wie nun einmal der Ausdruck lautete, verfuhrt hatte. Zum erstenmal auch stellte sich ihr das, was zwischen ihm und ihr vorgegangen war, im Klange dieses Wortes dar, und sie lehnte sich auf. War sie nicht die Tochter eines hohen Offiziers? und, wenn auch unbemittelt, aus guter Familie? Stammte die Mutter nicht sogar aus einem alten Adelsgeschlecht? Max war es ihr einfach schuldig, sie zu seiner Frau zu machen.
Schon bei ihrem nächsten Zusammentreffen mit Max, ohne eine passende Gelegenheit abzuwarten, wagte sie eine Anspielung; Max verstand zuerst nicht recht oder wollte nicht verstehen, und Therese lächelte und küßte ihm seine üble Laune fort; – beim nächsten Mal wurde sie deutlicher, es kam zu Verstimmung, Zank und Streit; Therese, wenn auch ohne eigentliche Zärtlichkeit für Max, doch immer noch recht verliebt in ihn, gab ihre Versuche so plötzlich auf, als sie sie begonnen, und ließ die Dinge weitergehen, wie sie gehen wollten.
Der Frühling nahte, die Theatersaison ging ihrem Ende zu. Es wäre Theresen kaum aufgefallen, daß Max in der letzten Zeit öfters dienstlich verhindert war, sie bei sich zu empfangen, auch nicht, daß er einmal auf ein paar Tage, gleichfalls in einer angeblich dienstlichen Angelegenheit, hatte verreisen müssen –, wenn nicht eines Abends, als am Gasthaustisch der Name einer in der Stadt sehr beliebten Schauspielerin ausgesprochen wurde, ein Kamerad Max zugelächelt und dieser mit einer unwilligen Gebärde das verräterische Lächeln gleichsam abgewehrt hätte. Bei dem nächsten Theaterbesuch konnte es Theresen, die nun einmal mißtrauisch geworden war, nicht entgehen, daß die junge Dame, zum Aktschluß mit den übrigen Darstellern hervorgerufen, ihren Blick auf Max verweilen ließ, der in der ersten Reihe saß, und daß dieser ihr leise zunickte. Therese ließ ihre Mutter unter irgendeinem Vorwand allein nach Hause gehen und paßte den Leutnant ab, der davon sehr unangenehm berührt schien. Ihr Anerbieten, ihn in seine Wohnung zu begleiten, wies er mit der Begründung zurück, daß er mit Kameraden verabredet sei. Er wurde dann plötzlich sehr liebenswürdig, erbot sich seinerseits, Therese bis zu ihrem Haus zu begleiten, nahm ihren Arm, führte sie tatsächlich bis zu ihrem Tor und verwünschte seine Verabredung mit scheinbar so ungeheucheltem Ärger, daß sich Therese für diesmal beruhigen ließ.
Als sie die Türe zu ihrem Zimmer rasch öffnete, sah sie zu ihrem Staunen ihre Mutter, die vor der Kommode kniete und sich an der untersten Lade zu schaffen machte. Nun, da Therese eintrat, schrak die Mutter heftig zusammen und stammelte: »Ich wollte nur nachsehen – deine Sachen in Ordnung bringen; du hast ja nie Zeit.« – »Mitten in der Nacht meine Sachen in Ordnung bringen –? was du nicht sagst!« – »Rege dich nicht auf, Kind, ich hab' es wahrhaftig nicht bös gemeint.« Und verlegen setzte sie hinzu: »Du kannst ja nachschauen, ob dir was fehlt.« Sie ging, und Therese kniete sofort vor die geöffnete Lade hin. Nachdem sie Alfreds Briefe zum Teil verbrannt hatte, waren in größeren Abständen noch drei oder vier gekommen, nicht mehr von Beschimpfungen erfüllt, wie die früheren, sondern eher etwas sentimental und düster gehalten, wie wenn sich ein Gewitter allmählich in der Ferne verzöge. Von diesen Briefen fehlten etliche, und auch von den flüchtigen Billetts, die Max manchmal
Als sie in früher Abendstunde sein Zimmer betrat, war Max, wie es zuweilen vorkam, noch nicht daheim. Ein Gedanke, der ihr bisher stets fremd gewesen war, flog ihr, wie in der Erinnerung an etwas gestern Erlebtes, durch den Sinn: einmal einen Blick in den Schrank und in die Laden ihres Geliebten zu tun; und um sich dieser häßlichen Versuchung zu entziehen, nahm sie eines der Bücher zur Hand, die auf dem Tisch lagen. Max pflegte zu lesen, was ihm eben der Zufall ins Haus wehte: Romane, ab und zu ein Theaterstück, das meiste in abgegriffenen Exemplaren, da es schon durch manche Hände gegangen zu sein pflegte, ehe es in die seinen geriet. Therese schlug ein Buch auf, die illustrierte Ausgabe eines Hackländerschen Romans, warf dann einen zerstreuten Blick in ein umfangreicheres, mit Karten versehenes Generalstabswerk, ohne sich um dessen Inhalt zu kümmern, und als sie es unwillkürlich wegschob, merkte sie, daß darunter, wie mit Absicht verborgen, das gedruckte Bühnenmanuskript eines neueren Stückes lag, das sie erst vor wenigen Tagen hier hatte spielen sehen. Sie durchblätterte das Exemplar und merkte, daß immer derselbe weibliche Name, Beate, rot unterstrichen war. Beate –? Hatte so nicht in dem neulich gesehenen Stück der Name einer Person gelautet, die von der Dame gespielt worden war, mit der in Beziehungen zu stehen sie Max schon seit einigen Tagen
Sie folgte ihm wieder auf sein Zimmer. Er riß sie auf seine Knie nieder und schwor, daß er sie und immer nur sie geliebt habe und »so was« nie wieder passieren werde. Sie glaubte ihm kein Wort, aber sie blieb. Als sie gegen Morgen nach Hause kam, schloß sie sich in ihr Zimmer ein; müd und angeekelt packte sie ihre Sachen, ließ ein paar kühle Abschiedsworte für ihre Mutter zurück, und mit dem Mittagszug fuhr sie nach Wien. –
Die erste Nacht ihres Wiener Aufenthaltes verbrachte Therese in einem unansehnlichen Gasthof nahe dem Bahnhof, und am nächsten Morgen, nach einem vorgesetzten und genau überlegten
Aus der Zeitung hatte sie sich Adressen aufgeschrieben, wo ein Kinderfräulein oder eine Erzieherin gesucht wurde, und wanderte nun den ganzen Tag, mit einer kurzen Mittagspause in einem wohlfeilen Restaurant, von Haus zu Haus, öfters wurde sie zu jung befunden, öfters abgewiesen, weil sie noch nicht in der Lage war, Zeugnisse vorzuzeigen; einige Male benagten ihr selbst die Leute nicht, bei denen sie hätte Aufnahme finden können, endlich, in der Müdigkeit des heranbrechenden Abends, entschloß sie sich, in einer Beamtenfamilie mit vier Kindern von drei bis sieben Jahre Stellung zu nehmen.
Im Verhältnis zu dem, was sie hier erfahren sollte, war das Leben daheim auch in der schlimmsten Zeit immer noch geradezu üppig gewesen. Die Kinder, stets hungrig, brachten in die armselige Wohnung nur Lärm, aber keine Fröhlichkeit; die Eltern waren verdrossen und bösartig; Therese, genötigt, mit eigenem Geld ihre Nahrung aufzubessern, war nach wenigen Wochen mit ihrer Barschaft zu Ende, und unfähig, den üblen Ton der Leute weiter zu ertragen, verließ sie das Haus.
In ihrer nächsten Stellung bei einer Witwe mit zwei Kindern behandelte man sie wie einen Dienstboten, in einer dritten war es die unleidliche Unreinlichkeit der Umgebung, in einer vierten die freche Zudringlichkeit des Hausherrn, die Therese bald wieder vertrieb. So wechselte sie ihre Stellung noch einige Male, nicht ohne zu fühlen, daß zuweilen ihre eigene Ungeduld, ein gewisser Hochmut, der wie anfallsweise über sie kam, eine ihr selbst unerwartete Gleichgültigkeit gegenüber den Kindern, die ihrer Obhut anvertraut waren, Mitschuld an ihrer Unfähigkeit trugen, sich unter einem fremden Dache einzuleben. Es war eine so mühe- und sorgenvolle Zeit, daß Therese kaum jemals zu einem richtigen Sichbesinnen gelangte; doch manchmal, wenn sie etwa in einem schmalen Bett an einer kalten Mauer liegend durch das Weinen eines ihrer Pfleglinge mitten in der Nacht geweckt wurde, oder wenn im Morgengrauen Stiegenlärm und Dienstbotengeschwätz sie aus dem Schlafe störten, oder wenn sie in einem traurigen, kleinen Garten vor der Linie mit fremden Rangen,
Die wenigen freien Nachmittage, die ihr vergönnt waren, pflegte sie erschöpft, wie sie war, meist an ihrem Dienstort zu verbringen, insbesondere, nachdem der einmalige Versuch eines gemeinsamen Spazierganges mit einem Kinderfräulein aus der Nachbarschaft in peinlicher Weise mißglückt war. Diese Person, die bisher immer von allerlei Anfechtungen zu erzählen gewußt hatte, denen sie in ihren verschiedenen Stellungen von Seiten der Hausväter oder Haussöhne ausgesetzt gewesen und die sie siegreich abgeschlagen; – an diesem Sonntagnachmittag im Prater hatte sie sich auch die frechste Anrede von jungen Leuten jeder Art gefallen lassen und sich am Ende in ihren Antworten so wenig Zwang angetan, daß Therese in einem unbeobachteten Augenblick, von einem plötzlichen Ekel erfaßt, verschwunden und allein nach Hause gegangen war.
Die Nachrichten aus Salzburg waren in dieser ganzen Zeit spärlich gewesen; sie selbst hatte bei ihrer fluchtartigen Abreise eine Adresse natürlich nicht angegeben, und die erste Antwort, die sie endlich nach Monaten an ein Stellungsbureau erbeten hatte, fiel so flüchtig aus, wie es ihre eigenen Abschiedsworte gewesen waren. Klang aber anfangs in den Briefen der Mutter noch ein Ton der Verletztheit durch, so hätte man aus den späteren schließen können, daß Therese eigentlich im besten Einvernehmen mit ihr das Haus verlassen hatte. Und waren auch Theresens Briefe bei aller Zurückhaltung so abgefaßt, daß eine mitfühlende Seele immerhin die Jämmerlichkeit und das Elend ihrer Existenz aus ihnen hätte herauslesen können – die Mutter schien dergleichen nicht zu bemerken, und es kam sogar vor, daß sie ihrer Genugtuung über Theresens Wohlbefinden Ausdruck gab. Doch was Hohn hatte scheinen können, war nichts anderes als Zerstreutheit. Oft genug kamen in diesen Briefen völlig gleichgültige, ja Theresen unbekannte Namen vor. Vom Vater hieß es nur, daß sein Zustand »im ganzen unverändert« sei, und vom Bruder war
Die Adresse war angegeben, und so machte sich Therese an einem freien Spätsommernachmittag auf den Weg zu ihm. In einem ärmlichen, doch ordentlich gehaltenen Zimmer saß sie ihm gegenüber, durch dessen Fenster nichts zu sehen war als eine nackte Mauer mit Luken, hinter denen die Treppe eines benachbarten Hauses hinanstieg. Wie Therese aus Karls Fragen entnahm, wähnte er sie erst vor kurzer Zeit hier angekommen, fand es höchst vernünftig, daß sie sich auf eigene Füße gestellt habe, äußerte sich bedauernd zum Siechtum des Vaters, das sich noch über Jahre hinziehen könne, und tat der Mutter überhaupt keine Erwähnung. Er erzählte ferner, daß er die zwei Söhne eines klinischen Professors gegen ein sehr mäßiges Entgelt viermal wöchentlich drei Stunden lang unterrichte, was ihm für später immerhin manchen Vorteil bringen könnte, und sprach mit auffallender Lebhaftigkeit von allerlei Mißständen an der hiesigen Universität, von der Protektionswirtschaft, von der Bevorzugung der Professorensöhne, insbesondere aber von der Verjudung der Hochschule, die einem den Aufenthalt in den Hörsälen und Laboratorien geradezu verleiden könne. Nach einiger Zeit entschuldigte er sich, daß er nun leider fort müsse, da jeden Sonntagabend eine Zusammenkunft gleichgesinnter Kollegen in einem Kaffeehaus stattfinde, bei der er als Schriftwart nicht fehlen dürfe. Er begleitete Therese die Treppe hinunter und verabschiedete sich von ihr schon am Haustor mit einem flüchtigen: »Laß bald wieder von dir hören.« Sie blickte ihm nach, er schien ihr gewachsen, sein Gewand saß ordentlich, aber etwas schlotternd, er trug einen steifen braunen Hut und erschien ihr mit seinem ungewohnt hastigen Gang in seiner ganzen so veränderten Erscheinung wie ein fremder Mensch. Entmutigt und wie neuerdings vereinsamt, denn nun merkte sie erst, daß sie sich von diesem Besuche irgend etwas erwartet hatte, nahm sie wieder den Weg nach Hause.
Seit einigen Wochen war sie in Stellung im Hause eines Reisenden, wo sie das einzige fünfjährige Söhnchen zu betreuen hatte. Den Vater hatte sie nur zweimal flüchtig zu sehen bekommen, als einen kleinen, immer eiligen, vergrämten Mann, die Frau verhielt sich mit einer gewissen gleichgültigen Freundlichkeit ihr gegenüber, den Buben, ein hübsches blondes Kind, hatte sie beinahe liebgewonnen, und so hoffte sie, daß ihr in diesem Haus endlich ein längeres Verweilen gegönnt sein würde. Als sie an einem Sonntagabend früher als erwartet heimkam, fand sie das Kind schon zu Bette gebracht, aus dem benachbarten Zimmer hörte sie flüsternde Stimmen; nach einer kurzen Weile trat die Frau heraus in einem flüchtig umgeworfenen Morgenkleide, verlegen und ärgerlich, ersuchte sie, in der Nähe etwas kalten Aufschnitt zu besorgen, und als Therese wieder heimkehrte, fand sie die Frau sorgfältig angekleidet am Bett des Kindes sitzen, mit ihm ein Bilderbuch durchblätternd. Gegenüber Theresen zeigte sie sich heiter und unbefangen, plauderte ungewohnterweise mit ihr über häusliche Angelegenheiten; am nächsten Morgen aber, unter einem nichtigen Vorwand, erteilte sie ihr die Kündigung. Wieder stand Therese auf der Straße. Zum erstenmal kam ihr der Gedanke, wieder heimzureisen. Aber ihr Geld reichte kaum für das Billett, und so begab sie sich mit ihrem kleinen Handkoffer wieder einmal auf den Weg in das alte Vorstadthaus auf der Wieden mit den vielen Höfen und Stiegen, wo sie bei der Witwe Kausik schon etliche Male in den Pausen zwischen einer Stellung und der andern übernachtet hatte. Sie schlief dort in einem elenden Zimmer zusammen mit der Frau und den Kindern; im ganzen Hause roch es nach Petroleum und schlechtem Fett, auf dem Hof gab es schon um drei Uhr morgens den Lärm von knarrenden Rädern, wieherden Pferden und rohen Männerstimmen, der sie immer vor der Zeit, auch diesmal wieder, aus dem Schlafe weckte. Die Stunden des ruhigen, allmählichen Erwachens, wie sie ihr noch vor kurzer Zeit in der Heimat vergönnt gewesen waren, kamen ihr in wehmütige Erinnerung, zum erstenmal faßte sie mit Schrecken die Tiefe ihres Abstiegs und die Geschwindigkeit, mit der er sich vollzog. Und mit vollkommen klarer Besinnung erwog sie zum erstenmal die Möglichkeit, von ihrer Jugendfrische, von ihren körperlichen Reizen, wie es so viele andere in ihrer Lage taten, Nutzen zu ziehen und sich
Die Witwe Kausik, die sich als Bedienerin ihr kärgliches Brot verdiente, übrigens eine gutmütige, wenn auch oft übellaunige Person, pflegte um fünf Uhr früh aufzustehen. Bald darauf erhoben sich auch die Kinder, und die öde Unruhe, die den Tag in der armseligen Stube einleitete, trieb auch Therese aus dem Bett. In einer weißen, an den Rändern gesprungenen, unförmigen Tasse bekam sie ihren Frühstückskaffee, später begleitete sie die Kinder der Frau Kausik, einen Buben und ein Mädchen von neun und acht Jahren, die ihr sehr anhänglich waren, zur Schule, und eine Stunde drauf, nach einem Spaziergang durch den Stadtpark, dessen frühsommerliches Blühen ihre Stimmung ein wenig aufheiterte, sprach sie in einem Stellungsbureau vor, wo sie als eine Person, die es nirgends lange aushielt, ohne Freundlichkeit behandelt wurde. Immerhin gab man ihr wieder einige Adressen an, und nach einigen mißglückten Versuchen stieg sie endlich um die Mittagsstunde mit recht herabgestimmten Hoffnungen die Treppe eines vornehmen Ringstraßenhauses hinan, wo für zwei Mädchen von dreizehn und elf Jahren eine Erzieherin gesucht wurde. Die Frau des Hauses, hübsch und ein wenig geschminkt, schickte sich eben zum Fortgehen an und schien zuerst ungeduldig, als sie sich aufgehalten sah. Doch ließ sie Therese eintreten und verlangte ihre Zeugnisse zu sehen. Einer plötzlichen Eingebung folgend erwiderte Therese, daß sie noch keine vorweisen könne, da sie zum erstenmal eine Stellung anzunehmen gedenke. Zuerst von ablehender Haltung, schien die Dame im
Am nächsten Tag um ein Uhr trat Therese in den Salon, wo sie die Dame des Hauses in Gesellschaft ihrer Töchter fand, und Therese glaubte an dem freundlichen Benehmen der beiden wohlerzogenen Kinder zu merken, daß sie von der Mutter günstig gestimmt worden waren. Bald darauf trat auch der Herr des Hauses ein; im Ton eines leichten Vorwurfs bemerkte er, daß er die Kanzlei früher verlassen habe als sonst; auch er schien bereits für Therese voreingenommen, insbesondere ihre Abstammung aus einer Offiziersfamilie hatte auch auf ihn ihre Wirkung nicht verfehlt, und als Therese auf eine Frage erwiderte, daß ihr Vater vor ungefähr einem Jahre aus Kränkung über seine vorzeitige Pensionierung gestorben sei, lag es auf den Mienen sämtlicher Familienmitglieder wie persönliches Mitgefühl. Der ihr gebotene Monatsgehalt war zwar geringer, als sie erwartet, trotzdem konnte sie ihre Freude kaum verbergen, als sie mit dem Bedeuten entlassen wurde, am nächsten Tage ihre Stellung im Hause anzutreten.
Bei Frau Kausik fand sie einen Brief der Mutter vor mit der Mitteilung, daß der Vater gestorben sei. Sie hatte einen leisen Schauer, fast ein Schuldgefühl zu überwinden, dann erst kam sie zum Bewußtsein ihres Schmerzes. Ihrer ersten Eingebung folgend nahm sie ihren Weg zum Bruder, der von dem traurigen Ereignis noch nicht in Kenntnis gesetzt war. Er schien nicht sonderlich betroffen, ging schweigend im Zimmer hin und her, endlich blieb er vor Theresen stehen, die sich, da auf den beiden Stühlen Bücher lagen, auf den Bettrand gesetzt hatte, und küßte sie, wie einer Verpflichtung nachkommend, flüchtig auf die Stirn. »Hörst du sonst etwas von Hause?« fragte er dann. Therese berichtete das Wenige, was sie wußte, unter anderm, daß die Mutter die Wohnung verlassen, die Möbel verkauft und ein möbliertes Zimmer bezogen habe. »Die Möbel verkauft?!« wiederholte Karl mit einem sauern Lächeln. »Sie hätte uns eigentlich fragen müssen.« Und auf Theresens verwunderten Blick: »Du
Auf dem Heimweg trat sie in eine Kirche und verweilte dort längere Zeit, ohne zu beten, doch andächtig, ja inbrünstig des Verstorbenen gedenkend, der ihr nun in einer früheren Gestalt vor Augen stand, so, wie sie ihn als Kind gekannt und geliebt hatte. Sie erinnerte sich der fröhlichen, lauten Art, mit der er damals ins Zimmer zu treten, sie vom Boden, wo sie gespielt, emporzuheben, an sich zu drücken und zu herzen gepflegt hatte, und sofort gesellte sich dieser Erscheinung auch die damalige ihrer Mutter bei, hell und jugendlich, ja, so strahlend, wie sie sie in Wirklichkeit eigentlich niemals gesehen. Und wieder kam jener Schauer über sie, den sie heute schon einmal gefühlt hatte, wenn sie daran dachte, in welch kurzer Frist diese beiden Menschen sich so völlig hatten verändern können, daß sie ihr nun beide wie längst Dahingeschiedene, längst Begrabene erschienen, die mit dem eben verstorbenen, wahnsinnigen Oberstleutnant und mit der unordentlichen, boshaften und etwas unheimlichen alternden Romanschreiberin in Salzburg überhaupt nicht das geringste gemein hatten.
Am nächsten Tag trat Therese ihre neue Stellung an. Durch besondere Liebenswürdigkeit versuchte man, ihr über die Verlegenheit des ersten Mittagstisches hinwegzuhelfen, an dem sie auch den Sohn des Hauses, George, wie man seinen Namen französisch aussprach, kennenlernte, einen leidlich hübschen Burschen von achtzehn Jahren, der als Student der Rechte an der Universität inskribiert war.
Für sich selbst hatte Therese wenig Zeit übrig. An jedem zweiten Sonntag hatte sie »Ausgang«, wie der Ausdruck lautete, doch wußte sie kaum, was sie mit ihren freien Stunden anfangen sollte, und benutzte sie ohne rechte Lust zu Spaziergängen und, selten, zu einem Theaterbesuch. Über die Behandlung im Hause hatte sie sich auch weiterhin kaum zu beklagen, trotzdem kam
Der Frühling kam heran, und am zweiten Osterfeiertage, früh am Nachmittag, erwartete Therese auf dem Stefansplatz die Gouvernante eines den Eppichs befreundeten Hauses, eine gutmütige, ziemlich verblühte Person, für die sie vom ersten Augenblick an nicht so sehr Freundschaft als Mitleid empfunden hatte. Das Fräulein ließ auf sich warten, und Therese vergnügte sich indes damit, die Vorübergehenden zu betrachten, die an diesem milden blauen Feiertag, alle wie von Sorgen befreit, irgendeinem heiteren Ziele zuzustreben schienen. An Liebespaaren war kein Mangel; Therese, ohne daß sich gerade Neid in ihr regte, empfand es als
Sie ging die dicht belebte Allee weiter und war nun im Bereich der Musikkapellen, die in den überfüllten Restaurationsgärten nicht nur für die Gäste an den Tischen spielten. Hunderte, Tausende wandelten vorüber, blieben stehen, drängten sich an die Zäune, und Therese freute sich, wie die Orchester einander ablösten und ineinandergriffen, wie in die sanfte Weise des einen nahen plötzlich von einem entfernteren her ein wüster Trommelschlag oder Tschinellenklang tönte und wie das Traben der Pferde, das Flüstern, Reden, Lachen der Menge, ja, wie die Lokomotivpfiffe vom Eisenbahnviadukt her gleichfalls an dem großen Festkonzert zum Empfange des Frühlings mitwirkten. –
Bisher hatte ihre dunkle, schlichte Kleidung und ihre unbewegte, fast gewohnheitsmäßig strenge Miene jede Zudringlichkeit von ihr ferngehalten. Nur als sie früher für eine kurze Weile
Davon war er nicht mehr abzubringen, und er tat sogar, als wenn es ihm ganz ernst damit wäre. Alles stimme dafür: die unauffällige, aber, wie er sich ausdrückte, hochdistinguierte Kleidung, die Haltung, der Gang, der Blick, – und er blieb hinter ihr stehen, ließ sie ein paar Schritte vorausgehen, um Haltung und Gang von rückwärts zu bewundern. »Hoheit,« sagte er plötzlich, als sie wieder in den Bereich der Musikkapellen gelangt waren, »es wäre mir eine besondere Ehre, Hoheit zu einem Souper einzuladen, aber die Wahrheit zu sagen – Armut ist keine Schande und Reichtum kein Unglück –, mein Vermögen beläuft sich leider nur auf einen Gulden netto. Das würde kein sehr fürstliches Mahl werden. Also müßten sich Hoheit Ihr Nachtmahl selber zahlen.«
Sie fragte ihn lachend, ob er verrückt sei. »Nichtsdestoweniger«, erwiderte er ernsthaft.
Sie beschleunigte ihre Schritte. Es sei spät, sie müsse nach Hause. Nun, so würde sie ihm doch wenigstens gestatten, daß er sie bis zur Hofequipage begleite, die sicher irgendwo auf sie warte. Beim Schweizerhaus –? beim Preuscherschen Museum? Oder beim Viadukt? Sie waren indes auf einen Seitenweg gelangt; in einem einfacheren Wirtsgarten hinter einem grünen Staketzaun bei Bier, Salami und Käse ließ ein geringeres Publikum sich's behaglich sein und an der Musik genügen, die in abgerissenen Klängen aus benachbarten und ferneren Gärten herübertönte. Und bald, zu ihrem eigenen Staunen, saß Therese mit ihrem Begleiter an einem ziemlich wackeligen Tisch mit rotgeblümter Decke, und beide verzehrten mit Appetit, was ihnen der schwitzende, in einen fettglänzenden Frack gekleidete Kellner vorsetzte. – »Oh, Herr Swoboda«, sprach ihn Theresens Begleiter an, als kennte er ihn längst, und stellte allerlei spaßhafte Fragen an ihn. »Was macht der Herr Großpapa? Noch immer Wahrsager? Und das Fräulein Tochter? Immer noch Dame ohne Unterleib?« Dann überbot er sich in komischen Entschuldigungen, daß er es gewagt, die Prinzessin in ein so unmögliches Lokal zu bringen. Aber hier sei auch weniger Gefahr, daß ihr Inkognito gelüftet werde. Dann lenkte er ihre Aufmerksamkeit auf einzelne Figuren;
Alles, was er so zum besten gab, war nicht im geringsten witzig und im Ausdruck ziemlich trivial; und Therese fühlte das wohl. Aber nach den langen Monaten, in deren Verlauf niemand ein harmlos-lustiges Wort zu ihr gesprochen, in dieser stets drückenden Atmosphäre von Unfreiheit und Anstand, hatte sich in Theresen unbewußt eine solche Sehnsucht nach Fröhlichkeit aufgespart, daß sie jetzt, an der Seite eines Menschen, den sie vor einer Stunde noch nicht gekannt, unbeobachtet, frei, überdies von zwei rasch genossenen Gläsern Wein leicht benommen, begierig die erste armselige Gelegenheit ergriff, selbst ein wenig fröhlich zu sein und zu lachen. Flüchtig überlegte sie, was ihr Begleiter eigentlich sein mochte. Maler vielleicht? oder Schauspieler? Nun, was immer – jedenfalls war er jung und unbekümmert, und ganz bestimmt war es lustiger heute, als es damals in Salzburg in dem vornehmen Hotelgarten mit Alfred gewesen war. Und sie fragte ihren Begleiter, ob er Salzburg kenne. Salzburg? aber natürlich war er dort gewesen. Auch in Tirol, auch in Italien, auch in Spanien –; bis Malta sei er gekommen. Ob sie denn noch nicht erraten habe, daß er ein Handwerksbursche sei, ein patentierter Handwerksbursche, der mit dem Ränzel durch die Welt wandere? Gestern erst sei er wieder hier angelangt, eigentlich mit der Absicht, morgen wieder sein Bündel zu schnüren. Aber wenn er die Hoffnung hegen dürfe, ihre Hoheit wiederzusehen, so sei er bereit, ein paar Tage zuzugeben, und Nächte, setzte er beiläufig hinzu.
Der Zahlkellner stand da, sie beglichen, jeder für sich, ihre Zeche, dann verließen sie den Garten; der Unbekannte nahm Theresens Arm und ließ ihn nicht los. Zwischen Buden, Schießstätten, Wirtshäusern, Ringelspielen, während überall der Feiertagslärm allmählich zu verklingen begann, schritten sie dem Ausgang zu.
»Nun, wenn der Spaß zu Ende ist,« sagte er mit einem unerwarteten Ernst, »so schickt es sich wohl, daß ich mich in aller Form vorstelle: Kasimir Tobisch. Früher einmal«, setzte er mit Selbstironie hinzu, »von Tobisch, aber«, so erklärte er gleich, es habe wenig Sinn, den Adel zu fuhren, wenn man ein armer Schlucker sei. Und nun sollte die Gnädigste einmal raten, was er außerdem noch sei. – »Maler«, sagte sie, ohne sich lange zu bedenken. – Er nickte rasch. Es stimmte. Er wäre Maler und Musiker, je nachdem. Ob die Gnädigste nicht einmal sein Atelier besichtigen wolle? Als sie darauf nicht einmal antwortete, begann er wieder von seinen Reisen zu reden. Oh, nicht nur in Italien sei er gewesen, auch in Paris, auch in Madrid und in England, als Maler und Musiker. Orchestermusiker, er spiele so ziemlich alle Instrumente, von der Flöte bis zur großen Trommel. Ach, was war Madrid für eine Stadt, geheimnisvoll und romantisch. Aber Rom, das ging doch über alles. Die Katakomben zum Beispiel: eine Million Skelette und Totenköpfe rief unter der Erde, – es war nicht gemütlich, dort unten herumzuspazieren. Wenn man sich verirrte, war man verloren. Einem seiner Freunde war es passiert, aber er wurde noch gerettet. – Und das Colosseum – ein Riesenzirkus, hunderttausend Menschen hatten Platz darin. Jetzt war es verfallen, und der Mond stand darüber. Natürlich nur bei Nacht. Haha!
Sie näherten sich dem Hause, in dem Therese wohnte, sie ersuchte ihn zurückzubleiben, auf seine Bitte gab sie ihm Namen und Adresse; – und überdies ein Stelldichein für heute in zwei Wochen. Sie merkte, daß er ihr in einiger Entfernung folgte und an der Ecke stehenblieb, bis sie im Tor verschwunden war.
Innerhalb dieser vierzehn Tage kamen drei Briefe von ihm. Der erste war höflich und galant, der zweite in lustigerem Ton gehalten, er nannte Therese »Prinzessin« und »Eure Hoheit« und unterschrieb sich Kasimir, großer Trommler, Flötist und patentierter Handwerksbursche. Der dritte Brief aber hatte schon einen Hauch von Zärtlichkeit, und unterschrieben war er, wie in Zerstreutheit, mit den Initialen C.v.T.
Sie trafen einander, wie bestimmt war, am Praterstern. Es regnete in Strömen. Kasimir erschien ohne Schirm, im romantischen Faltenwurf eines Radmantels. Er hatte Billetts für die Nachmittagsvorstellung des Karltheaters in der Tasche. Oh, sie kosteten nichts, er war gut bekannt mit dem Direktor, auch mit einigen Mitgliedern. Man traf zuweilen in Restaurants, auf Atelierfesten zusammen. Nun, Fest, das mußte man nicht so wörtlich nehmen. Aber die Wahrheit zu sagen, es ging manchmal recht fidel dabei zu, wenn auch lange nicht so fidel wie zum Beispiel in Paris bei ähnlichen Gelegenheiten, zum mindesten nicht so ungeniert. Dort gab es einen Künstlerball, bei dem die Modelle völlig unbekleidet tanzten, manche, was vielleicht noch schlimmer war, nur in durchsichtige, rote, blaue, grüne Schleier gehüllt. – So unterhielt er sie auf dem kurzen Weg zum Theater. Dann saßen sie dritte Galerie, zweite Reihe; man gab eine Operette, wie Therese solche auch in Salzburg nicht viel besser oder schlechter aufgeführt gesehen hatte. Auf der Bühne geriet manches ganz lustig, aber was ihr Kasimir dazwischen ins Ohr flüsterte, machte sie bald lachen, bald erröten, und als er in dem verdunkelten Zuschauerraum allzu zärtlich wurde, mußte sie sich's endlich verbitten. Nun war er wie ausgewechselt und hielt sich anständig und still auf seinem Sitze bis zum Schluß, antwortete nicht einmal auf ihre Fragen, was freilich wieder nur eine Art von Spaß war.
Als sie am Schluß der Vorstellung auf die Straße traten, war es noch hell, und der Regen dauerte fort. Sie begaben sich in ein naheliegendes Kaffeehaus, saßen in einer Fensternische; Therese blätterte in illustrierten Zeitungen, Kasimir sah interessiert einer Billardpartie zu, gab den Spielern Ratschläge und versuchte selber einen Stoß, der mißglückte, woran er dem schlechten Queue Schuld gab. Therese fand es sonderbar, daß er sich so wenig um sie kümmerte, und als er sich doch wieder einmal ihr zuwandte,
Am nächsten Abend schon schickte er ihr ein Zettelchen hinauf, daß er an der Straßenecke warte, er müsse sie dringend sprechen. Die Frau des Hauses war zugegen und sah Therese rot werden. Es sei keine Antwort nötig, bedeutete Therese dem Boten. Nun ließ Kasimir bis zum Tage des schon verabredeten Stelldicheins nichts von sich hören.
Therese wartete am Eingang des Stadtparks. Gegenüber, vor einem Ringstraßen-Café, saßen die Gäste im Freien und sonnten sich. Ein blasses Kind bot Theresen Veilchen zum Kauf an. Sie nahm einen kleinen Strauß. Ein Vorübergehender flüsterte ihr etwas ins Ohr, eine völlig unverblümte Aufforderung in so unverschämten Worten, daß sie nicht einmal wagte, sich umzuwenden. Sie wurde blutrot, aber nicht aus Zorn allein. War sie nicht
Doch da kam er heran in einem ganz lichten Sommeranzug, nicht eben vom besten Schneider, wie man wohl bemerken konnte, aber er saß ihm ganz gut; den weichen Hut in der Hand, wie gewöhnlich, die andere Hand in der Hosentasche, ging er frei und leicht. Sie lächelte und war froh. Er küßte ihr die Hand, sie wandelten im Stadtpark hin und her, Arm in Arm, standen am Teich, sahen den Kindern zu, die die Schwäne futterten, Kasimir erzählte von einem Pariser Park und von einem Teich, darin er eines Abends herumgerudert war und im Kahn, im Schatten eines künstlichen Felsens, übernachtet hatte. »Wohl nicht allein?« meinte sie. Er legte die Hand beteuernd aufsein Herz. »Ich weiß nicht mehr. Vergangene Dinge.« – Therese wollte Von Paris und Rom und all den fernen Städten nichts mehr hören. Wenn er sich dahin sehne, so solle er doch lieber gleich wieder davonreisen. Er drückte ihren Arm fest an den seinen und lud sie ein, auf der Terrasse des Kursalons mit ihm eine Jause zu nehmen. An einem kleinen Tischchen ließen sie sich nieder, und Therese bekam plötzlich eine lächerliche Angst, daß man sie hier mit Kasimir sehen und darüber »ihrer Herrschaft« berichten könnte. Unter diesem Wort, das ihr durch den Sinn fuhr, beugte sie unwillkürlich den Kopf, und Kasimir, der sehr vornehm dasaß, mit überschlagenen Beinen, eine Zigarette rauchend, sagte ihr geradezu ins Gesicht, was in ihr vorginge. Sie schüttelte leise den Kopf, aber die Tränen waren ihr nahe. »Armes Kind«, sagte Kasimir, und mit Entschiedenheit fugte er hinzu: »Das soll anders werden.« Er rief nach dem Kellner, zahlte, die Geldstücke klapperten großartig und etwas lächerlich auf der Marmorplatte, dann stieg er mit Therese die breiten Stufen in den Park hinab. Er erzählte ihr, wie sehr er sich nach ihr gesehnt habe. Nur in der Arbeit habe er einige Ruhe gefunden. Er sprach von einem Bild, das er eben male, einer phantastischen Landschaft, »tropisch-utopisch«, und von anderen, die er fast fertig im Kopfe trage »Heimatsbilder«. – »Heimatsbilder?« – Ja, denn sonderbarerweise habe er auch so etwas wie eine Heimat. Und er sprach von dem kleinen
Sie spazierten durch Vorstadtstraßen, die Therese nicht kannte. Sie dachte ihres Kindertraums: sich auf fremden Wegen verlieren, von irgendwo wieder zurückkehren, wo einen niemand vermutet hatte. »Hier wären wir«, sagte Kasimir einfach. Sie blickte auf. Sie standen vor einem Zinshaus, das aussah wie hundert andere, er hielt ihren Arm fest, trat mit ihr ins Tor, sie gingen die Treppe hinauf, vorbei an Türen mit angenagelten Visitenkarten oder Messingschildern, an Gangfenstern, hinter denen gleichgültige Schatten huschten, und endlich ganz oben unter dem Dach öffnete Kasimir mit knarrendem Schlüssel eine Tür. In dem ziemlich geräumigen Vorzimmer stand nichts als eine Wäscherolle, die Wände waren fast kahl, an einer hing ein Abreißkalender. Durch die nächste Tür traten sie ins Atelier. Das riesige Fenster war fast zu zwei Drittel durch einen dunkelgrünen Vorhang verhängt, so daß es auf der einen Seite beinahe Tag, auf der anderen beinahe Nacht war. Im Dunkel stand eine große Staffelei mit einem durch ein schmutziges Tuch verhängten Bild. Auf einer alten Kommode lagen Bücher, auf einer länglichen Kiste eine Palette mit verschmierten Farben, daneben ein bläulicher Samtmantel. Auf dem Fußboden, halb gefüllt, standen kleinere und größere trübe Fläschchen und Flaschen. Es roch nach Terpentin, getranten Stiefeln und einem süßlichen Parfüm. Aus einem Winkel heraus leuchtete die Lehne eines roten Fauteuils. Kasimir warf seinen Hut kühn in eine Ecke, trat auf Therese zu, nahm ihren Kopf in beide Hände, guckte ihr vergnügt und etwas schielend in die Augen, umfaßte sie, zog sie zu dem Fauteuil hin und auf seinen Schoß nieder. Da der eine Fuß des Fauteuils nachzugeben schien, schrie sie leicht auf. Er beruhigte sie, dann begann er sie zu küssen, langsam, wie mit Bedacht. Sein Schnurrbart
Um Kasimir öfters als alle vierzehn Tage nur einmal zu sehen, mußte Therese zu allerlei Ausreden ihre Zuflucht nehmen; – bald schützte sie einen Theaterbesuch mit einer Freundin, bald eine unerläßliche Zusammenkunft mit ihrem Bruder vor, um gelegentlich auch abends das Haus verlassen zu können. Da sie im übrigen ihre Pflichten als Erzieherin gewissenhaft erfüllte, schien man ihr diese kleinen Unregelmäßigkeiten nicht weiter übelzunehmen.
Der Freund Kasimirs, mit dem er seiner Angabe nach das Atelier gemeinsam bewohnte, war unerwartet, so erzählte Kasimir, von einer Reise zurückgekehrt und die Alleinbenützung des Raumes für ihn fraglich und unsicher geworden. So war das Liebespaar, wenn es ungestört sein wollte, darauf angewiesen, in übeln Gasthofzimmern flüchtig einzukehren, deren Miete, wenn Kasimir nicht eben bei Kasse war, von Therese bezahlt werden mußte. Sie tat es nicht ungern, ja, es bereitete ihr eine gewisse Genugtuung. Freilich hatten seine ständigen Geldverlegenheiten zur Folge, daß er häufig recht mißgestimmt war; und einmal geschah es, daß er Therese ohne jeden ersichtlichen Grund in der heftigsten Weise anfuhr. Aber als sie, dieses Tones ungewohnt, wortlos von seiner Seite aufstand, sich rasch ankleidete und Miene machte, sich zu entfernen, warf er sich vor ihr auf die Kniee und erflehte ihre Verzeihung, die sie ihm, allzu rasch, wie sie fühlte, zu gewähren bereit war.
In den ersten Julitagen sollte die Familie des Advokaten nach Ischl aufs Land ziehen. Therese dachte daran, ihre Stellung zu wechseln, nur um Kasimir nahebleiben zu können. Er selbst aber riet ihr ab und versprach ihr, sie im Sommer zu besuchen, sich vielleicht nah von ihr, in einem Bauernhaus, einzumieten oder, wenn's nicht anders ging, irgend etwas Abenteuerliches zu unternehmen, nur um bald wieder mit ihr beisammen zu sein.
Am letzten Sonntag, vor der Übersiedlung nach Ischl, machten sie einen Ausflug in den Wiener Wald. Am späten Nachmittag saßen sie in einem Wirtsgarten auf einem Wiesenhang, ringsum
Die Sonne war lange fort, der Wald stand schwarz und still. Aus der Ebene stieg sanft der Abend. Quer über den Hang, am Wirtshaus vorbei, marschierten Studenten mit roten Kappen. Unwillkürlich sah Therese hin, ob ihr Bruder nicht unter ihnen wäre. Aber der trug ja keine Kappe. Daß er bei einer Couleur war, das hatte sie ja auch nur gelogen, wie so vieles andere. Was Karl wohl dazu sagen würde, wenn ihre Angst sich als begründet erwiese? Ach, was ginge es ihn an! Ihn so wenig wie andere. Wem war sie Rechenschaft schuldig? Niemandem, nur sich selbst.
Es war beinahe dunkel, als sie sich mit Kasimir auf den Rückweg machte. Er schlang den Arm um sie, sie gingen den Wiesenhang abwärts, den Wald entlang. An einer abschüssigeren Stelle gerieten sie ins Laufen, fast fiel sie hin, sie lachten wie Kinder. Er umschlang sie fester, sie fühlte sich wieder wohl. Allzu rasch waren sie in der Ebene; und durch die belebten Straßen, zwischen
Sie konnte das nächste Wiedersehen kaum erwarten. Zweimal schrieb sie ihm in dieser Zeit, kurze, zärtliche Briefe, und erhielt keine Antwort. Eine unbestimmte Angst durchbebte sie, die aber geradezu in Seligkeit dahinschmolz, als er ihr am Samstagabend am gewöhnlichen Treffort an der Stadtparkecke heiter, strahlend und jung entgegenkam. Warum er ihr nicht geantwortet habe. – Geantwortet? Wieso? Er hatte keinen Brief bekommen. Wohin hatte sie ihm denn geschrieben? Ins Atelier? Aber hatte sie denn vergessen, daß er übersiedelt war? – Übersiedelt –? – Aber ganz bestimmt hatte er ihr's neulich gesagt. Der Freund war abgereist, nach München, man mußte das Atelier aufgeben; und so hatte er vorläufig ein kleines Zimmer bezogen, als Übergang gewissermaßen und dafür jedenfalls gut genug.
Sie hatten nicht weit zu gehen; bis zu einem sehr alten Haus in einer engen, schwach beleuchteten Gasse der inneren Stadt. Eine schmale Treppe hinauf stiegen sie in das vierte Stockwerk, Kasimir öffnete die Wohnungstür, das Vorzimmer war dunkel, aus der Küche, durchs Schlüsselloch, schimmerte ein Licht, und es roch nach Petroleum. Sie traten ins Zimmer. In der Fensteröffnung stand finster der Rauchfang des gegenüberliegenden Hauses, Das Dach war so nahe, daß man es fast mit Händen greifen
Kasimir blieb lange aus. Der Gedanke durchfuhr sie, daß er vielleicht gar nicht zurückkommen würde. Wieder kam ihr der Einfall, den Schrank zu öffnen, aber er hatte, ohne daß sie es gemerkt, den Schlüssel abgezogen. Ein kleiner Koffer stand unter der Bettstelle. Sie zog ihn hervor, er war unversperrt, ein paar armselige geflickte Wäschestücke lagen darin und eine ausgefranste Krawatte. Sie schloß wieder zu und schob den Koffer an seinen Platz zurück. Sie war erschüttert. Kasimirs Armut schnitt ihr ins Herz, tiefer, als eigenes Elend es je getan. Sie fühlte eine
Als er nun eintrat, ein kleines Päckchen und eine Flasche Wein in der Hand, fiel sie ihm stürmisch um den Hals, und er ließ ihre Zärtlichkeiten mit Herablassung über sich ergehen. Ob es nur der Wein war, der ihr die Seele leicht machte und die Zunge löste, oder dieses Einandernahesein, wie sie es noch niemals empfunden, – plötzlich, sie wußte nicht wie, in seine Arme geschmiegt, gestand sie ihm, was sie nun seit Tagen schon in der Brust verschlossen trug. Er wollte es nicht recht ernst nehmen. Er war überzeugt, daß sie sich irrte. Man müßte doch noch einige Zeit abwarten, dann würde man ja weiter sehen. Und er sagte mancherlei Dinge, die sie geschmerzt hätten, wenn sie sie völlig hätte verstehen, ja, nur recht hätte anhören wollen.
Als sie miteinander die Treppe hinuntergingen, war zwischen ihnen alles so, als wenn sie ihm überhaupt nichts gesagt hätte. Mitternacht war lange vorbei, als sie vor Theresens Haustor Abschied nahmen. Er hatte es heute wieder besonders eilig; es war ja auch alles verabredet, seine Adresse kannte sie, er die ihre, und vielleicht in wenigen Wochen schon würde man wieder beisammen sein – im Grünen unter dem Sternenhimmel.
Die Ischler Villa lag vornehm in einem großen Garten. Vom Balkon aus sah man das Kur- und Badepublikum auf der Esplanade hin und her wandeln. Die Stimmung im Hause Eppich, dessen männliche Mitglieder noch in der Stadt verblieben waren, schien wie befreit, die beiden Mädchen fröhlich, wie Therese sie noch niemals gesehen, und die Mutter freundlicher, liebenswürdiger zu ihr, als sie es in der Stadt zu sein pflegte. An Besuchen fehlte es nicht. Ein eleganter junger Mann mit einer kleinen Glatze der in der Stadt manchmal, auch mit anderen Gästen, bei Eppichs zu Mittag gespeist hatte, erschien beinahe täglich, und in der Dämmerung saß er mit der Frau des Hauses rückwärts im Garten. Therese unternahm mit den beiden Mädchen längere Spaziergänge, jüngere und ältere Freundinnen mit ihren Erzieherinnen, ziemlich erwachsene Knaben, auch junge Herren schlössen sich an, zuweilen fuhr man an einen nahen See zu kleinen Ruderpartien,
Schon tags darauf reiste Therese in Begleitung der Damen Eppich, einer befreundeten Dame mit Sohn und Töchter und des eleganten jungen Mannes mit der kleinen Glatze nach Salzburg. Gleich am Bahnhof trennte sich Therese von den übrigen und eilte zu ihrer Mutter, die in ein geräumiges, lichtes Erkerzimmer in einem neuen Haus übersiedelt war. Frau Fabiani empfing ihre Tochter mit ruhiger Herzlichkeit; jenes fahrig-unheimliche Wesen der letzten Jahre war beinahe verschwunden, doch schien sie plötzlich eine ganz alte Frau geworden. Sie freute sich, zu hören, daß es ihrer Tochter gut ginge; auch sie habe sich glücklicherweise nicht zu beklagen. Sie verdiene, was sie brauche, und etwas darüber; und das Alleinsein, sie gestand es gerne, kam ihrer Arbeit in jeder Hinsicht zustatten. Sie ließ sich von Theresen über ihre jetzige Stellung und über ihre früheren allerlei berichten, und Therese war beinahe gerührt über das Interesse, das ihr die Mutter entgegenbrachte. Doch während des Mittagsmahls, das aus einem benachbarten Gasthof besorgt und an dem kleinen Tischchen im Erker aufgetragen wurde, fing die Unterhaltung zu stocken an, und Therese empfand mit Unbehagen, daß sie bei einer zerstreuten, alten, fremden Frau zu Gaste war.
Mit seiner Liebe und ohne seine liebe – sie war in gleicher Weise allein.
Sie entfernte sich leise, ohne die Mutter aufzuwecken, und wandelte eine Weile in den Straßen der Stadt umher, die zu dieser heißen Sommernachmittagsstunde still und verlassen waren. Zuerst war sie versucht gewesen, allerlei Stellen aufzusuchen, die mit Erinnerungen für sie verknüpft waren; aber diese Erinnerungen schienen ihr nun ohne Glanz. Und sie selbst fühlte sich so müde, so ausgelöscht, als wenn das Leben für sie zu Ende wäre. So begab sie sich bald, ohne inneren Anlaß, fast mechanisch, in das Hotel, wo ihre Reisegesellschaft abgestiegen war; diese aber hatte einen Ausflug unternommen, und Therese in der kühlen Halle durchblätterte illustrierte Zeitungen; und als ihr Blick durch die Glastüre zufällig in das Schreibzimmer fiel, kam ihr der Gedanke, nochmals einen Brief an Kasimir zu richten. Sie schrieb in Worten einer heißen Zärtlichkeit, die gemeinsame Stunden der Lust in seinem Gedächtnis neu erwecken sollten, schilderte ihm verlockend die Möglichkeit eines Zusammenseins nachts im Garten der Villa oder im Wald und erwähnte mit Absicht nichts von dem, was sie eigentlich bewegte.
Als sie den Brief geendet, verließ sie etwas erleichtert das Hotel, und es blieb ihr nichts anderes übrig, als sich wieder in die Wohnung ihrer Mutter zu begeben. Diese saß schon bei ihrer Arbeit, Therese nahm von der Bücherstellage einen Band, der ihr eben in die Hand geriet; es war zufällig ein Kriminalroman, von dem sie bis in die Dämmerung hinein vollkommen gefangen blieb. Nun legte auch die Mutter ihre Arbeit beiseite und lud Therese zu einem kleinen Spaziergang ein; schweigsam gingen die beiden Frauen in der kühlen Abendluft den Fluß entlang und saßen endlich in einem bescheidenen, von Reisenden kaum je besuchten Wirtsgarten, wo Frau Fabiani vom Wirt als Stammgast begrüßt wurde und zu Theresens Verwunderung drei Krügel
Der Morgen war hold und hell, Therese saß im Mirabellgarten im Farbenglanz und Duft von tausend Blumen. Zwei junge Mädchen, Schulkolleginnen von einst, kamen vorüber, von denen sie nicht gleich erkannt wurde, aber bald wandten sie sich wieder nach ihr um, kamen auf sie zu, und ein Grüßen und Fragen ging hin und her. Therese erzählte, sie sei Gesellschafterin in einem vornehmen Wiener Hause und habe hier ihre Mutter besucht, dann erkundigte sie sich, was es in der kleinen Stadt Neues gäbe. Aber da sie sich weder nach Max, noch nach Alfred zu fragen getraute, hörte sie nur lauter Klatsch, der sie nicht im geringsten anging. Es war ihr, als sei sie den beiden Schulkameradinnen, die im gleichen Alter mit ihr waren, um Jahre voraus; sie hatte mit ihnen, mit dieser Stadt nichts mehr zu schaffen und war froh, als sie eine Stunde später auf dem Bahnhof mit ihrer Ischler Gesellschaft zusammentraf, um abzureisen.
Die nächsten Tage in der Ischler Villa erwartete sie fieberig eine Nachricht von Kasimir. Vergebens. Ihr erregtes Wesen begann aufzufallen, es wurde ihr klar, daß sie irgend etwas unternehmen, daß sie zum mindesten mit irgend jemandem sprechen mußte. Wem aber sollte sie sich anvertrauen? Am nächsten fühlte sie sich der fünfzehnjährigen Bertha, die jeden Tag in einen andern verliebt war und sich vor dem Schlafengehen an Theresens Herz auszuweinen pflegte. Gerade dieses Kind, so schien es ihr, hätte sie am besten verstehen und trösten können. Aber bald sah sie die Unsinnigkeit ihres Einfalls ein, und sie schwieg. Unter den Erzieherinnen und Gesellschafterinnen, denen das sommerliche Beisammensein sie näher gebracht hatte, war keine, zu der sie sich hingezogen fühlte. Manche von ihnen mochte wohl ihre persönlichen Erfahrungen haben, doch Therese fürchtete Spott, Indiskretion, Verrat. Sie wußte natürlich, daß es Mittel und Wege gäbe, ihr zu helfen, doch es war ihr auch nicht unbekannt, daß
Sie gab sich eine letzte Frist von acht Tagen, um eine Nachricht von Kasimir zu erwarten. Während dieser Zeit fand sie in den Zerstreuungen des Landaufenthalts immerhin einige trügerische Ablenkung und Beruhigung. Als die acht Tage verstrichen waren, erbat sie sich drei Tage Urlaub. Sie hätte wegen der Verlassenschaft von ihrem Vater her mit ihrem Bruder dringend persönlich zu sprechen. Der Urlaub wurde ohne weiteres gewährt.
Sie kam in Wien zur Mittagsstunde an und fuhr geradeswegs nach dem Wohnhause Kasimirs. Sie eilte die Treppen hinauf. Eine alte Frau öffnete. Hier wohnte kein Herr Kasimir Tobisch, hier hatte nie ein Herr dieses Namens gewohnt. Vor einigen Wochen allerdings hatte ein junger Mann dieses Zimmer bezogen, eine kleine Angabe geleistet, doch schon am nächsten Tag war er wieder verschwunden, ohne sich polizeilich gemeldet zu haben. Therese ging betroffen und beschämt. Beim Hausbesorger erfuhr sie, daß einige Briefe an einen Herrn Kasimir Tobisch im Hause eingelaufen seien; der erste sei auch abgeholt worden, die andern waren unbehoben. Therese sah sie vor sich, erkannte ihre eigene Schrift. Sie bat, daß man sie ihr ausfolge. Der Hausbesorger weigerte sich. Sie entfernte sich glührot im Gesicht und fuhr nach dem Hause, wo Kasimir das Atelier bewohnt hatte. Hier war der Name Tobisch dem Hausbesorger völlig unbekannt. Vielleicht, daß die zwei Maler etwas wüßten, die jetzt im Atelier oben wohnten? Therese eilte hinauf. Ein älterer Mensch in einem weißen, farbenbeschmutzten Kittel öffnete ihr. Er wußte nichts von einem Herrn namens Kasimir Tobisch; vor ihm selbst hätte ein Ausländer hier gewohnt, ein Rumäne, der abgereist sei, ohne den Rest der Miete zu bezahlen. Therese stammelte einen Dank für die Auskunft, in den Augen des Malers schimmerte es wie Mitleid. Als sie die Treppe hinunterging, fühlte sie seinen Blick im Nacken. Nun stand sie auf der Straße. Trotz allem glaubte sie nicht, daß Kasimir Wien verlassen habe. Sie mußte ja nicht gleich zurück,
Als sie sich in ihrem Zimmer vom Staub der Reise und des Umherlaufens gereinigt, war noch lange der Abend nicht da. Von ihrem Fenster im vierten Stock blickte sie in den Dunst der Straße, aus der das Rauschen und Rattern eintönig und feindselig zu ihr heraufdrang. Wenn hier unten Kasimir vorüberginge, fragte sie sich, und sie geschwind die Treppe hinabliefe – könnte sie ihn noch erreichen? – Ja, würde sie ihn überhaupt erkennen von hier oben aus? Die Gesichter da unten verschwammen ihr alle. Vielleicht ging er wirklich eben vorüber, und sie wußte es nicht. Sie beugte sich hinab, es wurde ihr schwindlig; sie trat vom Fenster zurück und setzte sich an den Tisch. Der Straßenlärm dämpfte sich ab, ihre Einsamkeit, ihre Losgelöstheit, das Bewußtsein, daß in diesem Augenblick niemand ahnte, wo sie sich befinde, gab ihr für kurze Zeit eine merkwürdige Ruhe, fast ein Wohlgefühl. Warum war ihr denn nur in den letzten Tagen und Wochen so schlimm zumute gewesen, als wenn irgendeine wirkliche Gefahr sie bedrohte? Was hatte sie denn zu furchten im Grunde? Wem war sie Rechenschaft schuldig? Ihrer Mutter? Ihrem Bruder vielleicht? Die sich doch beide nicht um sie kümmerten? Den Leuten, bei denen sie in Stellung war, von denen sie bezahlt wurde und von denen sie in jedem Fall, ob nach Jahren oder nach Monaten, wenn es ihnen gerade paßte, wie irgendeine Fremde an die Luft gesetzt werden würde? Was gingen sie alle diese Leute an? Überdies besaß sie, wie sie neulich in Salzburg
Es war im Zimmer ganz dunkel geworden. Vor dem offenen Fenster lag der trübe Lichtschein der abendlichen Stadt. Was nun? Hinunter auf die Straße? Ziellos hin und her? Und dann die Nacht? Und morgen? Sie würde ihm ja doch nicht begegnen, auch wenn er da war. Was hatte sie hier noch zu tun? Und erlösend kam ihr der Entschluß, in dieser Stunde noch, mit dem Nachtzug, nach Ischl zurückzufahren. Sie klingelte, beglich ihre Rechnung, lief die Treppen hinab, fuhr mit ihrer Handtasche zur Bahn und verfiel in ihrer Coupéecke in einen so tiefen Schlaf, daß sie erst eine Viertelstunde vor dem Ziele aufwachte.
Therese wurde im Hause Eppich mit viel Rücksicht behandelt, auch die Gäste kamen ihr mit Höflichkeit entgegen, wie einem zwar mit Glücksgütern weniger gesegneten, aber sonst gleichberechtigten
Ende August kam der junge Herr Eppich an. Seine Schwestern, die sich in der Stadt nicht sonderlich mit ihm vertrugen, waren glückselig über sein Kommen, ihre Freundinnen waren alle in ihn verliebt. Er hatte sich, wie es jetzt Mode war, sein kleines Schnurrbärtchen abrasieren lassen, und man fand, daß er einem sehr bekannten Schauspieler und Frauenliebling ähnlich sehe. Gegenüber Theresen benahm er sich anfangs zurückhaltend; doch eines Nachmittags, auf der Stiege bei einer zufälligen Begegnung, ließ er sie wie zum Scherz nicht vorbei, und sie setzte seinen Zudringlichkeiten nicht so viel Widerstand entgegen, als sie sich vorgenommen hatte. Sie versperrte die Türe hinter sich und sah bald von ihrem Fenster aus, wie der junge Herr unten aus dem Gartentor schritt, eine Zigarette zwischen den Lippen, ohne sich auch nur umzuwenden.
Indes war Dr. Eppich zwei Tage lang hier gewesen; zwischen ihm und seiner Gattin schien etwas Ärgerliches vorgefallen zu sein, wie alle merkten; und er war ohne Abschied wieder abgereist. Die jüngere Tochter ging am nächsten Tag verweint herum, und Therese merkte bald, daß diese Zwölfjährige von den Dingen, die sich rings um sie abspielten, mehr wußte und daß sie sie schmerzlicher fühlte als die andern.
In einer Nacht schreckte Therese plötzlich auf, es war ihr, als
Das Herbstwetter brach an, man übersiedelte in die Stadt, und Therese studierte in den Zeitungen, wie früher die Stellenangebote, andere, die ihr augenblicklich von Nutzen sein konnten. Eines Nachmittags stieg sie in einem alten Haus der inneren Stadt eine winkelige Treppe hinauf und saß wenige Minuten später einer freundlichen Dame von mittleren Jahren gegenüber, die von der Farbe der Fenstervorhänge in blaßrötliches Licht gebadet war. Der behagliche, in der Art eines bürgerlichen Salons ausgestattete Raum ließ den Beruf der Mieterin in keiner Weise ahnen, und Therese brachte ohne Scheu, wenn auch mit einiger Vorsicht, ihr Anliegen vor. Die freundliche Dame erwähnte, daß vor kaum einer halben Stunde eine junge Baronesse in gleicher Angelegenheit bei ihr vorgesprochen habe, und zwar schon zum zweitenmal in diesem Jahr. Sie erzählte weiteres von ihrem vornehmen Kundenkreis, der sich bis in die allernächste Nähe des Hofes zu erstrecken schien, scherzte mild über den Leichtsinn der jungen Mädchen, kam dann ziemlich unvermittelt auf einen steinreichen Fabrikanten zu sprechen, der neulich mit einer Schauspielerin hier gewesen sei, und trug Theresen an, zwischen ihr und dem Fabrikanten, der seiner Geliebten schon müde sei, eine Bekanntschaft zu vermitteln. Therese empfahl sich mit dem Bemerken, daß sie sich die Sache überlegen und morgen wiederkommen wolle. Als sie aus dem Tor trat, stand ein Herr da in dunklem Überzieher mit schwarzem, abgeschabtem Samtkragen
Diese erste Erfahrung entmutigte sie übrigens nicht, und schon am Abend darauf begab sie sich zu einer Frau, die gleichfalls in der Zeitung Damen Rat und Hilfe angeboten, doch ihre Adresse erst auf briefliche Anfrage angegeben hatte. In einer vorstädtischen Hauptstraße, im dritten Stockwerk eines neugebauten Hauses, stand auf einer Tafel in goldenen Lettern der Name Gottfried Ruhsam zu lesen. Das nett gekleidete Stubenmädchen führte Therese in einen kleinen, beinahe eleganten Salon, wo sie eine Weile wartete und in einem Photographiealbum mit allerlei Familienporträts und Bildern bekannter Bühnenkünstler blätterte. Endlich trat ein Herr ein, der flüchtig grüßte und durch eine andere Tür wieder verschwand. Nach wenigen Sekunden schon kam er in Begleitung einer schlanken, nicht mehr ganz jungen Dame in bequemem, aber gut fallendem Hauskleid zurück, murmelte ein leises Pardon und verschwand wieder. Therese sah noch, wie Frau Ruhsam einen zärtlichen Blick der Türe zusandte, die er hinter sich geschlossen hatte. »Mein Mann«, sagte sie, und wie entschuldigend setzte sie hinzu: »Er ist meistens auf Reisen. Also, womit kann ich dienen, mein liebes Kind?« Therese drückte sich noch vorsichtiger aus, als sie es gestern getan; doch die Frau verstand sie ohne weiteres und fragte sie einfach, wann sie die Wohnung bei ihr zu beziehen gedächte. Als sie aus Theresens Erwiderung entnahm, daß diese keineswegs plante, hier ihre Entbindung abzuwarten, wurde sie etwas steif und erklärte, daß sie sich zu dem, was Therese offenbar wünschte, nur in den seltensten Fällen zu entschließen pflege, und nannte dann sofort einen Betrag, für den sie ausnahmsweise das Risiko auf sich zu nehmen bereit sei. Er war unerschwinglich für Therese. Daraufhin riet ihr Frau Ruhsam, doch lieber keine Dummheiten zu machen, erzählte ihr von einem Herrn, der ein junges Mädchen erst geheiratet hatte, nachdem er erfahren, daß es von einem andern Mann ein Kind gehabt hatte, warnte Therese vor den annoncierenden Damen und erwähnte zwei, die erst in den letzten Tagen verhaftet worden seien.
Therese ging, hochrot und verwirrt. Wie traumbefangen wandelte sie unter einem lauen Herbstregen durch die Straßen der
Die nächste Zeit verstrich, ohne daß Therese irgend etwas unternommen hätte. Kam nach peinlichst erfüllter Tagespflicht die abendliche Ruhe des Alleinseins über sie, so geschah es manchmal, daß ihr, während sie schlaflos im Bette lag, nicht nur ihr gegenwärtiger Zustand – daß ihr ganzes Leben, die Vergangenheit bis zum heutigen Tage, ihr so fern und fremd erschien, als wenn es gar nicht die ihre wäre. Ihr Vater, ihre Mutter, Alfred, Max, Kasimir schwebten wie unwirklich durch ihre Erinnerung, und wie das Unwirklichste, ja, wie das Unmöglichste von allem empfand sie es, daß in ihrem Schöße sich etwas Neues, etwas Lebendiges, etwas Wirkliches bilden sollte, ohne daß sie selbst auch nur das geringste davon spürte; daß in ihrem stummen, fühllosen Schöße ihr Kind heranwuchs, ihrer Eltern Enkelkind, ein Geschöpf, das zu Schicksalen bestimmt war, zu Jugend und Alter, zu Glück und Unglück, zu Liebe, Krankheit, Tod, wie andere Menschen, wie sie selbst. Und da sie es durchaus nicht zu verstehen vermochte, war es ihr immer wieder, als wenn es überhaupt niemals sein könnte, – als wenn sie sich – trotz allem – täuschen müßte.
Eine flüchtige, gutgemeinte, aber nicht mißzuverstehende Bemerkung des Dienstmädchens brachte ihr zu Bewußtsein, daß man ringsum zu vermuten begann, wie es mit ihr stünde. In
Therese war wie erlöst. Die ruhige Stimmung, in der sie die ihr gesetzte Frist verbrachte, ließ ihr wieder zu Bewußtsein kommen, wie angstvoll und bedrückt bei eingebildeter Ruhe sie die letzten Wochen verlebt hatte. Ihr Zustand erschien ihr vollkommen natürlich und beinahe unbedenklich. Die Unannehmlichkeiten oder gar die Gefahren, die sie gefürchtet, hörten auf zu bestehen, alles war ohne Grauen.
Doch als sie zur bestimmten Stunde die Treppe hinaufschritt, war es mit ihrer Ruhe plötzlich wieder vorbei. Sie klingelte rasch, um nicht versucht zu sein, die Treppe hinunterzueilen und die Flucht zu ergreifen. Das Dienstmädchen teilte ihr mit, daß ihre Herrin zu einer Kundschaft aufs Land gefahren sei und erst in einigen Tagen wiederkommen werde. Therese atmete befreit auf, so, aus wäre nun eine peinliche Angelegenheit nicht etwa aufgeschoben, sondern ein für allemal erledigt. Im ersten Stockwerk, an einer halb offenen Gangtür, standen zwei Frauen im Gespräch, brachen es plötzlich ab und betrachteten Therese mit einem sonderbaren, hinterhältigen Lächeln. Unten vor dem Tor stand ein Fiaker. Der ihr unbekannte Kutscher grüßte so devot, als wollte er sie zum besten halten. Auf dem Heimweg hatte sie ein Gefühl, als ob man sie verfolgte; sie erkannte freilich bald, daß das nur eine Täuschung gewesen war, fand es nun auch nicht mehr auffallend, daß jener Kutscher sie höflich gegrüßt, und nicht bedrohlich, daß zwei Weiber im Stiegenhaus mit hinterhältigem Blick sie gemessen hatten; trotzdem war sie sich klar darüber, daß sie diesen Weg unmöglich noch einmal gehen oder auch bei einer anderen gefälligen Dame ihr Glück versuchen könne. Es kam ihr der Einfall, nach Salzburg zu ihrer Mutter zu fahren und ihr alles
Indes mußte die Frau, bei der sie zuletzt Rat und Hilfe gesucht hatte, längst vom Lande zurückgekehrt sein, und an irgendeinem Morgen sagte sich Therese, daß sie nichts Vernünftigeres tun konnte, als doch noch einmal den Weg zu ihr zu gehen. Schriftlich, ohne ihren Namen zu nennen, aber mit deutlicher Bezugnahme auf die neulich stattgehabte Unterredung, kündigte sie sich für den nächsten Tag an.
Wenige Stunden vor dem beabsichtigten Besuch kam ein Brief von Kasimir. Er war daheim gewesen, so schrieb er ihr, daheim bei seiner Mutter, wundere sich, daß er aus Ischl nichts von Therese gehört habe, heute erst, soeben, hatte er ihren Brief bei dem Portier des Hauses vorgefunden, – »wo wir einst so selig gewesen sind«. Ja, so stand wörtlich zu lesen, und es schwindelte Theresen. Er müsse sie wiedersehen, so endete sein Schreiben, und wenn sein Leben auf dem Spiel stünde.
Sie trafen einander beim Stadtpark, wie in jenen fernen schönen Zeiten. Es war ein kalter unfreundlicher Herbstabend, und Kasimir wartete schon, als sie kam. Er schien ihr noch schlanker, hagerer geworden; trug keinen Havelock, sondern einen ziemlich kurzen, allzu leichten, hellen Überzieher mit aufgestelltem Kragen. Er begrüßte sie, als hätten sie einander tags zuvor zum letztenmal gesehen. Ja, wie kam es nur, fragte er, daß sie ihm gar nicht geschrieben hatte? Aber sie habe es doch getan, versicherte sie schüchtern, und die Briefe seien auch abgeholt worden. Wie? Abgeholt? Offenbar von einem Unberufenen! Ungeheuerlich! Er würde dem Portier schon einen Tanz machen. Sie fragte ihn, warum er ihr denn nicht einfach nach Ischl geschrieben, daß er zu seiner Mutter gefahren sei? – Ja, damit habe sie freilich nicht unrecht. Aber wenn sie eine Ahnung hätte von den Zuständen daheim. Ein Bruder seiner Mutter habe Selbstmord verübt, und er wies leicht auf den schwarzen Flor, den er um seinen grauen weichen Hut trug. Aber er wollte heute lieber nichts von den Dingen erzählen, die er daheim erfahren hatte. »Davon, Geliebte, ein andermal.« So drückte er sich aus. Jetzt sei ja alles wieder gut. Er habe sogar Aussicht auf eine fixe Anstellung bei einer illustrierten Zeitung, außerdem habe ein Kunsthändler einige seiner Bilder zum Verkauf übernommen.
Im Gasthofzimmer – ach, sie kannte es von früher her – und es war seither nicht freundlicher geworden – war er zärtlich wie noch nie und lustig, wie in jenen allerersten Tagen. Er fragte nach ihren Sommererlebnissen und erkundigte sich scherzhaft, ob sie ihm denn auch treu geblieben sei. Sie starrte ihn nur an und begriff seine Frage wirklich so wenig, als hätten gewisse verworfene
Schon drei Tage darauf, an einem Sonntagnachmittag, waren sie wieder beisammen. Er hatte ihr, das erstemal seit ihrer Bekanntschaft, ein paar Blumen gebracht, und was sie am meisten ergriff, er bot ihr einen ganz kleinen Betrag als Rückzahlung eines Teils seiner Schuld an. Sie lehnte ab; er drang in sie, und sie erklärte sich endlich bereit, das Geld von seinem ersten fixen Monatsgehalt anzunehmen, aber früher in keinem Fall. Damit gab er sich zufrieden und steckte das Geld wieder ein. Und nun hatte er sie noch um Entschuldigung zu bitten wegen einer Sache, von der er ihr noch nichts verraten und die er ihr nun nicht länger verhehlen wollte. Die Einleitung machte sie ängstlich; aber wie bat sie ihm ab, als er ihr nichts anderes zu gestehen hatte –, als daß er diesmal mit seiner Mutter von ihr gesprochen. Warum auch nicht? Wie bald sollten sich die beiden Frauen von Angesicht zu Angesicht kennen- und lieben lernen. Theresen standen die Tränen im Auge. Und nun wollte auch sie kein Geheimnis mehr vor ihm haben. Er hörte sie ruhig, ernst, ja mit offenbarer Rührung an. Er hatte es ja geahnt; und im Grunde war es ein Zeichen, daß sie füreinander bestimmt seien, daß sie ewig zusammen bleiben sollten; ein wahres Schicksalszeichen. Aber er hielt es für seine Pflicht, sie vor Übereilung zu warnen. Sie solle vorläufig ihre Stelle im Hause Eppich doch lieber nicht aufgeben; man sehe ihr ja nicht das geringste an, vor Neujahr müsse sie das
Doch sie mußte auf die versprochene Nachricht eine Woche lang warten; und als sie kam, war es eine bittere Enttäuschung, denn Kasimir hatte in der leidigen Erbschaftsangelegenheit unvermutet nach Hause reisen müssen. Sie schrieb ihm sofort an die Adresse, die er ihr angegeben; schrieb ein zweites, ein drittes Mal; es kam keine Antwort. Endlich entschloß sie sich auf das Kuvert, was sie bisher nicht getan, ihren Namen und ihre Adresse zu setzen; – drei Tage darauf nahm sie persönlich von dem Postboten den Brief wieder in Empfang mit dem Vermerk: Adressat hierorts unbekannt. Ihre Erschütterung war nicht so tief, als sie erwartet hätte; sie war ja im Innersten auf dergleichen vorbereitet gewesen. Aber sie wußte nun auch, daß es keinen Ausweg mehr für sie gab als den einen längst beschlossenen, wie immer die Sache enden sollte. Dennoch verschob sie die Ausführung des Entschlusses von Tag zu Tag; ihre angstvolle Unruhe wuchs. In der Nacht quälten sie böse Träume. Der Zufall wollte überdies, daß eben wieder in der Zeitung von einem Prozeß gegen einen Arzt wegen Verbrechens gegen das keimende Leben zu lesen war, und plötzlich war Therese völlig überzeugt davon, daß es ihr sicherer Tod wäre, wenn sie den gefürchteten Eingriff an sich vornehmen ließe. Und als sie sich entschieden hatte, nichts zu unternehmen und den Dingen ihren Lauf zu lassen, kam eine seltsame, ihr zugleich unheimliche und sie doch beglückende Ruhe über sie.
Als sie einmal mit ihren Zöglingen durch die innere Stadt ging, trat sie mit ihnen halb zufällig, halb absichtlich in die Stefanskirche. Seit jenem Sommertag, an dem ihr die Kunde vom Tod ihres Vaters geworden war, hatte sie kein Gotteshaus betreten. Sie standen vor einem Seitenaltar fast im Dunkel. Das jüngere Mädchen, das zu Frömmigkeit neigte, ließ sich auf die Knie nieder und schien zu beten. Das ältere ließ ihre Blicke gleichgültig und etwas gelangweilt umherschweifen. Therese fühlte ihr Herz
Wenige Tage vor Weihnachten bat Frau Eppich Therese zu sich ins Zimmer und eröffnete ihr, daß man sie nun leider nicht länger im Hause behalten könne. Eigentlich habe sie erwartet, daß Therese selbst rechtzeitig ihren Abschied nehmen werde; da diese sich aber offenbar einer in solchen Fällen nicht seltenen Täuschung hingebe, müsse sie schon mit Rücksicht auf die beiden Mädchen darauf bestehen, daß Therese heute, spätestens morgen das Haus verlasse. »Morgen«, wiederholte Therese tonlos. Frau Eppich nickte kurz. »Man ist im Hause schon vorbereitet. Ich
Der Abschied ging rasch und ohne besondere Rührung vonstatten. Doktor Eppich äußerte die Hoffnung, daß ihre Mutter sich bald wieder erholen werde, die Mädchen glaubten oder taten so, als glaubten sie an eine baldige Rückkehr Theresens; in dem spöttischen Blick des jungen Herrn George aber las sie deutlich: Oh, wie bin ich klug gewesen!
Sie übernachtete wieder einmal bei Frau Kausik. Doch schon am nächsten Morgen sah sie ein, daß in diesen trübselig-dürftigen Verhältnissen ihres Bleibens nicht mehr sein konnte. Sie machte einen Überschlag. Da der Rest des kleinen väterlichen Erbteils an sie ausbezahlt worden war, hoffte sie bei einiger Sparsamkeit wohl ein Jahr lang auszulangen. Vor allem galt es, eine Zuflucht für die nächste schwere Zeit zu finden; aber was dann, fragte sie sich, wenn es sich nicht mehr um sie allein handeln würde? Gedanke und Atem stockten ihr, als wäre ihr nun erst, was ihr bevorstand, mit völliger Klarheit zu Bewußtsein gekommen. Und plötzlich, als wäre dies das einzige Wesen, bei dem sie Verständnis nicht nur für ihre äußere Lage, sondern auch für ihren Seelenzustand finden könnte, fiel ihr Frau Ruhsam ein, deren freundliche Erscheinung in ihrer Erinnerung wie eine neue Hoffnung auftauchte, und sie machte sich auf den Weg zu ihr, ohne sich einzugestehen, daß auch noch eine andere Hoffnung sie dorthin zog als die, für die Dauer der schwersten Zeit ein Heim bei ihr zu finden.
Frau Ruhsam schien gar nicht erstaunt, Therese wiederzusehen. Als diese zögernd und ungeschickt mit ihren Fragen hervorrückte, ließ Frau Ruhsam einige Ungeduld merken, nahm offenbar an, daß ihr zu der eigentlich beabsichtigten Frage nur der Mut fehle, kam ihr zu Hilfe und erklärte sich bereit, ihr einen Arzt zu empfehlen, der die kleine Operation hier im Hause vornehmen könne. Die Kosten freilich – Therese unterbrach sie. Nicht darum war sie gekommen, an dergleichen denke sie nicht mehr. »Also, wegen der Wohnung«, meinte Frau Ruhsam. »Das
So entschloß sie sich denn, vorläufig weiter bei Frau Kausik zu wohnen, und schickte sich bald wieder in die kleinen Verhältnisse, die sie dort vorfand. Frau Kausik war den ganzen Tag außer Haus; um so mehr war Therese mit den Kindern zusammen, und es war ihr lieb, indem sie ihnen bei den Aufgaben half und mit ihnen spielte, ihre eigenen erzieherischen Talente anfangs in einer gewissen Übung zu erhalten. Überdies empfand sie sich hier außerhalb jeder Entdeckungsmöglichkeit, wie in einer fremden Stadt, wie in einem anderen Land beinahe. Und allmählich, nicht nur in ihrer äußeren Existenz, auch in ihrer Redeweise, ja fast im Dialekt, paßte sie sich dem Ton der Leute an, unter denen sie jetzt lebte. Auf ihre Kleidung verwandte sie von Tag zu Tag weniger Sorgfalt, und die rasch fortschreitende Veränderung ihrer Gestalt förderte sie in einer Nachlässigkeit, die gleichfalls angetan war, sie von ihrer früheren Welt, von ihrem früheren Dasein gleichsam abzuschließen.
Um sich die Langeweile zu vertreiben, die sie oftmals überkam, nahm sie in einer vorstädtischen Leihbibliothek ein Abonnement, und wahllos, aber immer gespannt und oft ganz versunken in eine phantastisch-triviale Welt, durchflog sie ganze Bände während der zahlreichen Stunden, die sie allein in ihrer trübseligen Kammer verbrachte. Gelegentliche Unterhaltungen gab es nur, meist im Stiegenhaus, mit den kleinbürgerlichen Nachbarsfamilien, und wenn von irgendeiner Seite eine Bemerkung über Theresens Zustand fiel, so geschah das beiläufig, gutmütig,
Doch gab es Augenblicke, besonders am frühen Morgen, wenn sie noch zu Bette lag, in denen sie, aus ihrer Dumpfheit erwachend, ihr ganzes Dasein als unbegreiflich und beinahe als unwürdig empfand. Aber kaum war sie wieder, meist schon nach der ersten unwillkürlichen Bewegung, zum Bewußtsein ihrer Körperlichkeit gelangt, da war ihr, als flute von dem neuen Leben, das sich in ihr entwickelte, durch alle ihre Glieder wie aus einem verborgenen Quell ein Strom süßen Erschlaffens, in dem ihr ganzes Wesen, einem naturhaften Geschick angstlos und demütig hingegeben, sich wundersam löste. Von all den Beschwerden, die die Schwangerschaft so vielen Frauen zu bringen pflegt, blieb sie vollkommen frei, ja eher befand sie sich in einem Zustand erhöhten Wohlseins. Nur eine gewisse körperliche Trägheit steigerte sich von Tag zu Tag, und es begegnete ihr, daß sie des Morgens, während sie auf dem Bett sitzend sich kämmte, minutenlang wie erstarrt blieb, den Kamm in den Haaren, und das fremde Gesicht anblickte, das ihr aus dem holzgerahmten Spiegel an der im übrigen kahlen Wand entgegensah –, ein bleiches, feistes, bei nahe gedunsenes Gesicht mit halb offenen, etwas bläulichen Lippen und großen, staunenden, leeren Augen. Dann, aus ihrer Erstarrung zu sich kommend, schüttelte sie wohl den Kopf, kämmte sich weiter, sang leise vor sich hin, erhob sich schwer und trat näher zum Spiegel hin, so daß ihr Bild für eine kurze Weile im Hauch ihres Atems verschwand. Wenn es dann wieder erschien, lag eine seltsame Traurigkeit darin, von der Therese früher nichts geahnt hatte.
An einem klaren Febertag hatte die Lektüre eines Romankapitels, darin großstädtisches Treiben in abendlich erleuchteten Straßen verlockend geschildert war, die Sehnsucht in ihr wachgerufen, selbst wieder einmal etwas so Fröhliches und Leuchtendes zu schauen; und es fiel ihr ein, daß nichts leichter war, als diese Sehnsucht zu befriedigen. Es genügte, das Gesicht hinter einem Schleier zu verbergen; an ihrer Gestalt, dessen konnte sie sicher sein, würde sie niemand erkennen. Am späten Nachmittag verließ sie das Haus, verspürte anfangs eine beträchtliche Schwere in den Beinen, die aber wie durch einen Zauber verschwand, als Therese auf eine Hauptstraße geraten war, deren lange wohlbeleuchtete Zeile ihr schon einen Gruß aus noch helleren und prächtigeren
Das Unternehmen war schwieriger, als sie gedacht hatte. Jedes Quartier hatte seine Unzukömmlichkeiten, die sich nicht immer im ersten Augenblick erkennen ließen, und so war Therese innerhalb von wenigen Wochen dreimal genötigt zu übersiedeln, bis sie endlich bei einer ältlichen Frau in einem vierten Stockwerk ein Zimmer fand, das reinlich und nett gehalten war – und in dessen Nachbarschaft nicht ein halbes Dutzend Kinder schrien und lärmten oder ein betrunkener Mann seine Frau prügelte. Die Vermieterin, Frau Nebling, schien nach Aussehen und Redeweise besseren Kreisen anzugehören. Sie trug zu Hause ein abgetragenes, aber gutgeschnittenes Morgenkleid aus rosa Samt, und beim Aufräumen, das sie selbst besorgte, hatte sie lange, freilich vielfach gestopfte Handschuhe über die Finger gezogen. In den ersten Tagen sprach sie nur wenig mit Theresen und besorgte ihr das bescheidene Mittagessen, ja nahm auch zuweilen daran teil, ohne sich mit ihr in längere Unterhaltungen einzulassen. Nachmittags entfernte sie sich und kam erst am späten Abend oder nachts wieder nach Hause.
So war Therese viel allein und machte gern von dem ihr eingeräumten Recht Gebrauch, sich im sogenannten Salon aufzuhalten, der mit seinen hellen Vorhängen und den Ölbildern an den Wänden freundlicher erschien als das schmucklose Kabinett, Mutter ... Sie wußte, daß sie es werden sollte, daß sie es war, aber es ging sie eigentlich nichts an. Sie fragte sich wohl, ob es anders wäre, wenn sie ihr Frauenlos in einer anderen, in einer schöneren Weise hätte erleben dürfen, als ihr nun einmal beschieden war, wenn sie, wie andere Mütter, in einer wenigstens äußerlich gefestigten Beziehung zu dem Vater des Kindes, oder wenn sie gar als Ehefrau innerhalb eines geordneten Hausstandes die Stunde der Geburt hätte erwarten dürfen. Aber all das war ihr so unvorstellbar, daß sie es sich auch nicht als ein Glück vorstellen konnte.
Und ein oder das andere Mal kam ihr wieder der Einfall – da sie jetzt so gar keine Regung von Mütterlichkeit in sich verspürte, keine Sehnsucht nach, kaum ein Wissen von dem Kinde –, ob nicht doch alles nur ein Schein, nur ein Irrtum sein könnte? Sie hatte einmal gehört oder gelesen, daß es gewisse Zustände
Was Therese zuweilen sonderbar berührte, das war, daß Frau Nebling von ihrem Zustand überhaupt nichts zu bemerken schien, jedenfalls in keiner Weise die geringste Notiz davon nahm. Mittags aßen die beiden Frauen gemeinsam, nachmittags verließ Frau Nebling das Haus und kam nach wie vor erst in später Stunde wieder. Zuweilen überfiel Therese das Gefühl ihrer Einsamkeit drohend, wie ein plötzlicher Schreck. Da kam ihr einmal der Einfall, Sylvie mittelst eines kurzen Billetts zu sich zu bitten. Doch als diese tatsächlich am darauffolgenden Sonntag nach ihr fragte, ließ Therese ihr durch Frau Nebling bestellen, daß sie schon wieder, unbekannt wohin, übersiedelt sei.
Eines Tages, als sie zum Fenster hinausblickte, sah sie ihren Bruder um die Ecke biegen, hatte eben noch Zeit, rasch ins Zimmer zurückzutreten, und ängstigte sich ein paar Minuten lang, daß er sie gesehen haben, ins Haus treten und nach ihr fragen könnte. Dann wieder schämte sie sich dieser lächerlichen Angst in der Erwägung, daß sie doch keinem Menschen auf der Welt weniger Rechenschaft schuldig sei als gerade ihm. Im übrigen befand sie sich wohl und sicher; Frau Nebling hatte mit keinem Worte darauf angespielt, daß ihr ein weiterer Aufenthalt Theresens unbequem oder gar peinlich sein könne, an Geldmitteln
In diesen Tagen spielte sie auch manchmal mit dem Gedanken, an Alfred zu schreiben. Sie wußte zwar, daß sie es doch nicht tun würde; aber sie spann den Gedanken gerne fort, stellte sich vor, daß er zu ihr hereinträte, von ihrem Schicksal ergriffen, ja erschüttert wäre; – und sie träumte weiter: er liebte sie noch immer, ganz gewiß, auch ihr Kind würde er lieben; er nahm sie zur Frau; er war Arzt auf dem Lande, sie lebten zusammen in einer schönen Gegend, sie bekam zwei Kinder von ihm, drei; – und war er denn nicht eigentlich auch der Vater dieses ersten, das sie erwartete? Jener Kasimir Tobisch, existierte denn der wirklich? Hatte er nicht immer etwas Gespenstisches an sich gehabt? Ja, war er nicht vielleicht der Satan selber gewesen? Alfred war ihr Freund, ihr einziger Freund, ja ihr Geliebter, auch wenn er nichts davon wußte. Und seine Erscheinung veränderte sich wundersam in der Erinnerung ihres Herzens. Sein sanftes, allzu sanftes Antlitz veredelte sich, so daß es beinahe dem eines Heiligen glich; seine Stimme klang ihr dunkel und süß durch Zeitenfernen, und wenn sie sich in rückgewandten Gedanken mit ihm auf jener weiten abendlichen Ebene zärtlich umschlungen sah, so war es ihr zugleich, als schwebte sie mit ihm vom Erdboden langsam empor dem Himmel zu.
In einer Aprilnacht, wohl zehn Tage früher, als sie erwartet, wurde sie von den Wehen überrascht. Sie sprang aus dem Bett, klopfte an die Türe der Frau Nebling, die aber noch nicht zu Hause war, dachte daran, die Stiegen hinunterzueilen oder wenigstens im Treppenhaus nach der Hausbesorgerin zu rufen; aber an der Wohnungstüre hielt sie inne; die Schmerzen hatten nachgelassen; sie begab sich in ihr Zimmer zurück und legte sich zu Bett. Doch nach wenigen Minuten schon setzten die Schmerzen wieder ein. Ob nicht noch Zeit wäre, ins Krankenhaus zu fahren – ob sie nicht vom Fenster aus nach einem Wagen rufen
Frau Nebling stand plötzlich in der offenen Tür mit erschrockenen Augen. Nun ja, bis ins Stiegenhaus hatte sie Therese schreien gehört. Wie, sie hatte geschrien? Oh, es war nichts. Es konnte ja auch noch nichts sein. Frühestens in zehn Tagen. Sie war nur aus einem bösen Traum aufgefahren. Frau Nebling entfernte sich wieder. Therese hörte das Möbelrücken, das Huschen im Nebenzimmer, wie sie es allnächtlich gewohnt war; ein Fenster wurde aufgemacht und wieder geschlossen. Sie begann einzuschlafen. Plötzlich weckte der Schmerz sie von neuem auf. Sie verbiß ihn in ungeheuerer Überwindung, preßte ihr Taschentuch zwischen die Zähne, krampfte die Hände in die Bettkissen. Bin ich verrückt? fragte sie sich. Was tu' ich denn, was will ich denn? Ach, könnte ich sterben. Vielleicht sterbe ich, dann wäre alles gut. – Was soll ich mit einem Kinde anfangen? Was würde mein Bruder dazu sagen? Alle Scham ihrer Mädchenjahre war in ihr erwacht. Es kam ihr unfaßbar vor, wie ein böser Traum, daß es dahin mit ihr gelangt war, daß so schreckliche Dinge, wie sie doch sonst nur andern passierten, wie man sie manchmal in der Zeitung oder in Romanen las –, daß sich die an ihr, an Therese Fabiani erfüllen sollten. War es nicht jetzt noch Zeit, allem ein Ende zu machen? »Hilfe! Hilfe!« schrie sie plötzlich auf. Wieder sprang sie aus dem Bett, schleppte sich durch das Nebenzimmer vor die Türe der Frau Nebling, horchte, klopfte, alles blieb still. Sie erholte sich wieder. Was wollte sie denn von Frau Nebling? Sie brauchte sie nicht. Niemanden brauchte sie. Allein wollte sie
Die Erlösung war da. In todestiefer und doch beglückender Ermattung lag Therese. Eine Kerze auf dem Tisch brannte durch die Nacht. Wann nur hatte sie jene angezündet? Sie wußte es nicht mehr. Und da war das Kind. Mit halboffenen, blinzelnden Augen, mit einem verrunzelten, häßlichen Greisengesicht lag es da und rührte sich nicht. Es war wohl tot. Gewiß war es tot. Und wenn es nicht tot war, – in der nächsten Sekunde würde es sterben. Und das war gut. Denn auch sie, die Mutter, die es geboren, mußte sterben. Sie hatte nicht die Kraft, den Kopf zu wenden, die Lider fielen ihr immer wieder zu, und sie atmete flach und rasch.
Mit einem Male war ihr, als regte sich etwas in den Zügen des Kindes; auch die Ärmchen und Beinchen bewegten sich, der Mund aber verzog sich wie zum Weinen, und ein leises klägliches Wimmern klang an ihr Ohr. Therese erschauerte. Nun, da das Kind Zeichen seines Lebens gab, wurde ihr sein Dasein unheimlich, ja bedrohlich. Mein Kind, dachte sie. Und dieses Kind war ein selbständiges, ganz für sich allein bestehendes Wesen, hatte Atem, Blick und ein Stimmchen, ein ganz kleines, wimmerndes Stimmchen, das aber doch aus einer neuen lebendigen Seele kam. Und es war ihr Kind. Aber sie liebte es nicht. Warum liebte sie es nicht, da es doch ihr Kind war? Ach, das kam wohl daher, daß sie müde war, viel zu müde, um irgend etwas auf der Welt lieben zu können. Und es war ihr, als wenn sie aus dieser Müdigkeit ohnegleichen nie wieder völlig erwachen könnte. »Was willst du in der Welt?« sprach sie in der Tiefe ihres Herzens zu dem leise wimmernden, verrunzelten Geschöpf, während sie zugleich den rechten Arm darnach ausstreckte und es an sich zu ziehen versuchte. Was sollst du ohne Vater und Mutter auf der Welt, und was soH ich mit dir? Es ist gut, daß du gleich sterben wirst. Ich werde allen sagen, daß du überhaupt nie gelebt hast.
Sie wachte auf wie aus einem furchtbaren Traum. Sie wollte schreien, aber sie vermochte es nicht. Was war denn nur geschehen? Wo war das Kind? Hatte man es ihr weggenommen? War es tot? War es begraben? Was hatte sie denn mit dem Kind getan? Da sah sie die Kissen hoch aufgeschichtet neben sich. Sie schleuderte sie fort. Und da lag das Kind. Mit weit offenen Augen lag es da, verzog die Lippen, die Nasenflügel, bewegte die Finger und nieste. Therese atmete tief, fühlte sich lächeln und hatte Tränen im Aug'. Sie zog den Knaben nah an sich heran, nahm ihn in die Arme, preßte ihn an ihre Brust. Er drängte sich an sie und trank. Therese seufzte tief auf, sie schaute um sich, es war ein Erwachen wie nie zuvor. Morgenschein schwebte durch den Raum, Geräusche des Tages drangen herauf, die Welt war wach. Mein Kind, fühlte Therese, mein Kind! Es lebt, lebt, lebt! Aber wer wird es an die Brust nehmen, wenn ich tot bin? Denn sie selbst wollte ja, mußte ja sterben. Doch in ihrer Todessehnsucht war
Als Frau Nebling eintrat, zeigte sie sich über das Vorgefallene nicht im geringsten erstaunt. Sofort, ohne sich mit Bemerkungen oder Fragen aufzuhalten, mit der Geschicklichkeit einer gelernten Hebamme, sorgte sie für alles, was der Augenblick erforderte, und es erwies sich nun, daß sie in jeder Hinsicht auch trefflich vorgesorgt hatte. Ein Arzt erschien, ein freundlicher älterer Herr, auch etwas altmodisch gekleidet, setzte sich an Theresens Bett, nahm, soweit es nötig, seine Untersuchungen vor, gab Verordnungen und Ratschläge und tätschelte beim Abschied Theresens Wangen väterlich und zerstreut.
An diesem ersten Tage und an den nächstfolgenden befand sich Therese in so guter Hut und Pflege, daß es auch einer glücklichen jungen Ehefrau im Wochenbett eines wohlgeordneten Heims nicht besser hätte ergehen können. Frau Nebling selbst aber schien seit der Geburt des Kindes geradezu eine andere geworden. Die früher so schweigsam gewesen, plauderte mit Therese wie eine alte Freundin, und ohne auch nur fragen zu müssen, erfuhr Therese allerlei aus ihrem Leben, unter anderm, daß sie an einer Operettenbühne für ältere Rollen engagiert sei, wo sie zufällig gerade in diesen Wochen unbeschäftigt sei, daß sie dreimal Mutter Mutterschaft und Mutterglück die Rede war, von Liebesglück und -leid hatten die beiden Frauen einander so wenig mitzuteilen, als hätten diese Dinge mit Mutterleid und Mutterglück überhaupt nicht das geringste zu tun. Der Arzt erschien noch etliche Male zu eher freundschaftlichen Besuchen; es stellte sich heraus, daß er Theaterarzt war und mit Frau Nebling auf gutem Fuße stand; gelegentlich erzählte er mit einem gewissen trockenen Humor spaßhafte Geschichten aus seiner Welt, Anekdoten, auch Zweideutigkeiten, die ihm Therese nicht übel nahm. Ein anderer Besuch stellte sich gleichfalls öfters ein: der einer jungen Frau, die im gleichen Hause wohnte; die kinderlose Gattin eines kleinen Angestellten, der den ganzen Tag auswärts im Amte war. Sie saß am Bette Theresens und starrte mit feuchten Augen auf den Buben, den die Wöchnerin an der Brust liegen hatte.
Nach einer Woche besann sich Therese, daß es nun wohl an der Zeit sei, sich um die Zukunft zu kümmern, und es zeigte sich, daß Frau Nebling auch in dieser Hinsicht nicht untätig gewesen war. Eines Tages meldete sich eine wohlgenährte ländlich gekleidete Frau, die sich bereit erklärte, das Kind gegen einen verhältnismäßig geringen Monatsbetrag in Pflege zu nehmen. Ihr eigenes Kind, ein achtjähriges Mädchen, Agnes, hatte sie mitgebracht, das vertrauenerweckend rotbäckig aussah und unmerklich schielte. Sie hatte schon öfters Kinder in Pflege gehabt, erzählte sie. Das letzte sei erst kürzlich aus ihrem Hause geschieden, da die Eltern geheiratet und das Kleine zu sich genommen hätten. Dies erwähnte sie freundlich lächelnd, als müßte es auch für Therese als gute Vorbedeutung gelten. Und ein paar Tage darauf saß Therese, ihren Kleinen im Arm, mit Frau Nebling in einem Einspänner, der sie zum Bahnhof führte. Bald, nachdem sie das Haus verlassen, an einer Straßenecke, überquerte ein Fußgänger die Fahrbahn und warf einen zufälligen Blick in den Wagen. Therese hatte sich schon früher vorsichtshalber unter das aufgespannte Dach gelehnt, doch ein Aufleuchten in dem Blick des Fußgängers verriet ihr, daß er sie gesehen und erkannt hatte, gerade so wie sie ihn. Es war Alfred, dem nach so langer Zeit zum
Nach einer Fahrt von kaum zwei Stunden im Bummelzug waren sie an ihrem Bestimmungsort angelangt. Die Bäuerin, Frau Leutner, erwartete sie an der Station, und zwischen freundlichen, meist noch unbewohnten kleinen Villen wanderten sie langsam durch den Ort, bis ein schmalerer Seitenweg gelinde aufwärts zu einem von blühenden Obstbäumen umstandenen, nicht unansehnlichen Gehöft führte, von dem aus, trotz der geringen Hohe, sich eine ausgebreitete Rundsicht bot. Das Dorf, zugleich eine bescheidene Sommerfrische, lag ihnen zu Füßen, das Bahngeleise lief ins Weite; die Landstraße verlor sich zwischen Hügeln in den Wald. Hinter dem Gehöft zog sich die Wiese bis an einen nahen Steinbruch, dessen oberer Rand von Sträuchern überwachsen war. In einem reinlich gehaltenen, etwas muffig riechenden niederen Raum setzte die Bäuerin ihren Besuchern Milch, Brot und Butter vor, fing gleich an, sich mit Theresens Kind zu beschäftigen, erklärte weitläufig, wie sie es mit der Ernährung und Pflege halten wolle; dann, während Frau Nebling bei dem Kleinen blieb, wies sie Theresen das Haus in allen seinen Räumen, den Garten, den Hühnerhof, die Scheune. Der Bauer, hochaufgeschossen, gebeugten Ganges, mit hängen dem Schnurrbart, kam vom Felde heim, machte nicht viel Worte, betrachtete das Kind mit glasigen Augen, nickte ein paarmal, schüttelte Theresen die Hand und ging wieder. – Agnes, die Achtjährige, kam aus der Schule, schien erfreut,
Die Stunden flogen dahin; erst als der Augenblick des Scheidens nahte, kam es Theresen zu Bewußtsein, daß sie nun von ihrem Kind fort sollte, fort mußte und daß ein merkwürdiger und bei allen Sorgen schöner Abschnitt ihres Lebens ein für allemal abgeschlossen war. Auf der Heimfahrt sprach sie kein Wort mit Frau Nebling, und als sie ihr Zimmer wieder betrat, in dem sie noch alles an den Buben erinnerte, war ihr kaum anders zumute, als käme sie von einem Begräbnis nach Hause.
Das Erwachen am nächsten Morgen war so traurig, daß sie am liebsten gleich wieder nach Enzbach hinausgefahren wäre. Ein plötzlich einbrechender Regenguß hinderte sie daran; auch am nächsten Tage regnete und stürmte es, und am übernächsten erst konnte sie wieder bei ihrem Kinde sein. Es war mildes Frühlingswetter, man saß im Freien unter einem stillen blaßblauen Himmel, der sich in den Augen des Kindes widerspiegelte. Frau Leutner sprach viel mit Therese, über allerlei häusliche und ländliche Angelegenheiten und allerlei Erfahrungen, die sie im Laufe der Jahre mit ihren Pflegekindern gemacht hatte; der Bauer gesellte sich diesmal für etwas länger zu ihnen, im übrigen verhielt er sich so schweigsam wie das erstemal. Agnes ließ sich nur beim Mittagessen sehen, kümmerte sich heute wenig um das Kind und tollte gleich wieder davon. Therese nahm beruhigter und minder traurig Abschied als das vorige Mal.
Am Abend dieses Tages bemerkte sie zu Frau Nebling, daß es nun hohe Zeit wäre, sich nach einer neuen Stellung umzusehen. Auch darum hatte sich Frau Nebling in ihrer umsichtigen Weise schon gekümmert und hielt eine ganze Anzahl von geeigneten Adressen bereit. Schon am Tage darauf sprach Therese in einigen Häusern vor, hatte am Abend die Wahl zwischen dreien und entschied sich für eines, wo sie nur ein siebenjähriges Mädchen
Rasch fand sie eine neue Stellung als Erzieherin im Haus eines Arztes zu zwei Mädchen und einem Knaben. Die beiden Mädchen, zehn und acht Jahre alt, besuchten die Schule, eine Französin und ein Klavierlehrer erteilten häuslichen Unterricht; der sechsjährige Knabe war völlig Theresens Obhut anvertraut. Es war ein musterhafter Haushalt: Wohlhabenheit ohne Überfluß, das beste Verhältnis zwischen den Ehegatten, die Kinder alle gutartig, wohlerzogen; und trotz der angestrengten Tätigkeit, aus der der Arzt immer heimkam, gab es niemals ein Wort der Ungeduld oder gar der Ungute, nie Übellaune oder gar Zank, wie sie das von so manchen andern Familien her kannte.
Gegen Mitte August durfte sie drei volle Tage bei ihrem Kind verbringen. Unglücklicherweise waren zwei Regentage darunter, und es gab ein paar Stunden, in denen sich, während sie mit den Bauersleuten in der muffigen Stube saß, ein Gefühl der Langeweile und Ödigkeit ihrer zu bemächtigen anfing. Als ihr das deutlicher bewußt wurde, eilte sie, wie von einem inneren Vorwurf getrieben, zu ihrem Kinde hin, das ruhig schlafend in der Wiege lag. In der trüben Beleuchtung dieses Regentages erschien ihr das kleine rundliche Antlitz seltsam blaß, schmal und fremd. Erschrocken beinahe hauchte sie auf die Lider des Kindes, das nun den Mund verzog wie zum Weinen und dann, da es das bekannte Gesicht der Mutter über sich gebeugt sah, zu lächeln anfing. Therese, neu beseligt, nahm das Kind in die Arme, herzte und liebkoste es und weinte vor Glück. Die Bäuerin, anscheinend gerührt, prophezeite ihr allerlei Gutes und ganz besonders einen
Nach diesen drei Tagen war die Trennung dreifach schwer. Und als Therese auf dem Semmering ankam, wo Frau Regan mit den Kindern Sommeraufenthalt genommen hatte, konnte der bekümmerte Ausdruck ihrer Mienen der Mutter ihrer Zöglinge nicht verborgen bleiben. In ihrer milden freundlichen Art, ohne irgendeine Frage zu stellen, sprach Frau Regan die Hoffnung aus, daß Therese in der frischen Bergluft sich bald wieder wohl fühlen würde. Unwillkürlich küßte ihr Therese wie gerührt die Hand, nahm sich aber gleich vor, nichts von ihrem Geheimnis zu verraten. In der Tat erholte sie sich rascher, als sie gedacht, gewann Farbe und Laune wieder, Spaziergänge, auch größere Ausflüge wurden unternommen, und der sommerlich leichte Verkehrston brachte es mit sich, daß Therese gelegentlich jüngere und ältere Herren kennenlernte, die ihr Wohlgefallen und ihre Wünsche zu verbergen sich keine Mühe nahmen. Doch Therese blieb jedem Annäherungsversuch gegenüber gleichgültig, und als man schon in den ersten Septembertagen wieder in die Stadt zog, bedauerte sie das nicht im mindesten und war nur froh, daß sie nun wieder ihrem Kind näher sein durfte.
Die wenigen Stunden, die sie alle acht bis vierzehn Tage draußen in Enzbach verbrachte, bedeuteten ihr immer von neuem das reinste Glück. Und jenes Gefühl der Ödigkeit und Leere, das einmal an einem sommerlichen Regentage sie draußen überkommen hatte, stellte sich auch in den trübsten Herbststunden nicht wieder ein. Vor den winterlichen Fahrten hatte sie sich ein wenig gefürchtet, doch in dieser Hinsicht erfuhr sie die angenehmste Enttäuschung. Nichts Köstlicheres als wenn das Gehöft rings im Schnee lag und sie aus dem wohlgeheizten Zimmer, ihr Kind im Arm, durch die angelaufenen Fensterscheiben auf die weißverdämmernde Landschaft mit ihren schlafenden Landhäusern und auf den kleinen Bahnhof hinuntersah, von dem aus die dunklen Linien der Geleise in die durchfrostete Ferne hinausliefen. Später kamen wundervolle Sonnentage, an denen sie, den Nebeln der Stadt entflohen, draußen nicht nur Helligkeit und Weite, sondern auch frühlingshafte Wärme fand und sich auf der Bank vor dem Hause mit ihrem Buben in Sonnenglanz baden konnte.
Drei Jahre folgten, so gleichmäßig in ihrem Verlauf, daß sie später in Theresens Erinnerung immer ein Frühjahr ins andere, Sommer in Sommer, Herbst in Herbst, Winter in Winter gleichsam zusammenflössen; – trotzdem sie oder weil sie eine Art von Doppelleben führte: das eine als Erzieherin in der Familie Regan, das andere als die Mutter eines kleinen Jungen, der draußen auf dem Lande bei Bauersleuten in Pflege war.
Wenn sie in Enzbach den Tag verbrachte, ja schon auf der Fahrt hinaus, versank alles, was sie in der Stadt zurückließ, das Ehepaar Regan und die Kinder, versank für sie das Haus, das Zimmer, das sie bewohnte, die ganze Stadt in einen grauen Dunst von Unvorstellbarkeit, aus dem alles, wenn sie aus dem Zuge stieg, und oft erst, wenn sie die Wohnung betrat, wieder zur Wirklichkeit emportauchte.
Wenn sie aber mit der Familie Regan bei Tische saß, mit den Kindern lernte oder spazieren ging oder abends nach erfüllter Berufspflicht ermüdet sich ins Bett strecken durfte, dann erschien ihr wieder die Enzbacher Landschaft, in Sommerglanz oder in Winterstarre – das Gehöft auf dem Hügel in Grün oder in Weiß gebettet – der Ahornbaum mit dem umkränzten Marienbild – das
Nicht immer war ihr draußen so wohl, als ihre Sehnsucht es ihr vorgespiegelt hatte. Herr Leutner hatte zuweilen seine bösen Tage, auch die Bäuerin, meist wohlgelaunt und allzu schwatzhaft, war manchmal wie ausgewechselt, unfreundlich, feindselig geradezu, und wenn Therese sich nur im geringsten unzufrieden zeigte, widersprach sie heftig, schalt über die Plage, die sie mit dem Buben habe und die man ihr nicht genügend danke und lohne. Auch nach wiederholter Erhöhung des Kostgeldes gab es Mißstimmungen aller Art. Einmal hatte man verabsäumt, Therese von einer allerdings leichten Erkrankung des Kindes zu verständigen, dann wieder wurden Ausgaben für Arzneimittel angerechnet, die offenbar nicht ganz stimmen konnten, und immer wieder glaubte Therese an dem oder jenem Anzeichen zu merken, daß Frau Leutner sich keineswegs so sehr um den Buben kümmerte, wie es ihre Pflicht war. Andere Male wieder gab es Eifersüchteleien nicht nur zwischen Therese und der Bäuerin, sondern auch zwischen Therese und der kleinen Agnes; und dann beklagte sich Therese geradezu, daß Frau Leutner und ihre Tochter das Kind so verzärtelten, als wenn sie es ihr abspenstig machen wollten. Auch gelegentliches schlechtes Wetter war nicht angetan, die Launen und das Einvernehmen zu fördern. Es war zu ärgerlich, wenn man mit nassen Füßen in dem kalten oder überheizten Räume sitzen mußte und es nach schlechtem Tabak roch, der in die Augen biß und gewiß auch dem Kind schadete. – Nicht ganz selten ertappte sich Therese auf dem Wunsch, nicht nach Enzbach hinausfahren zu müssen, und sie ließ einen und den andern freien Sonntag hingehen, ohne ihr Kind zu sehen. Andere Male wieder glaubte sie es vor Sehnsucht gar nicht aushalten zu können, und in ihrer Sehnsucht war so viel Angst, daß sie die Nächte in bösen Träumen hinbrachte.
Im Hause Regan fühlte sie sich auch weiterhin recht zufrieden. Der Doktor, in seiner Tüchtigkeit von Selbstgefälligkeit nicht ganz frei, blieb immer liebenswürdig, trotz angestrengtester Berufstätigkeit, Frau Regan erwies sich auch weiterhin zwar als sehr genaue, aber doch nie launenhafte und stets gerechte Hausfrau, die Mädchen waren lebhaft, doch fleißig und gehorsam und ihrer Erzieherin sehr zugetan, der Knabe war von stillerer Art, sehr musikalisch, so daß er schon in seinem achten Jahr an musikalischen Familienabenden den Klavierpart in Haydn- und Mozartschen Quartetten durchzuführen imstande war; Therese spielte öfters vierhändig mit ihm und heimste an solchen Abenden ihren bescheidenen Anteil am Beifall für sich ein. In der Atmosphäre von Tätigkeit, Ordnung und Beständigkeit, die sie hier umgab, war sie selbst mehr als zuvor auf ihre eigene Fortbildung bedacht und fand Zeit, ihre Klavier- und Sprachstudien in beschränktem Maße weiter zu betreiben.
In diesem wohlgeordneten Dasein gab es kleine Ereignisse, die den gewohnten Lauf der Tage unterbrachen. Etliche Male geschah es, daß Frau Fabiani nach Wien kam, um persönlich mit Redakteuren und Verlegern zu verhandeln, und die Familie Regan bestand liebenswürdigerweise darauf, die Mutter des Fräuleins zu Tische einzuladen, bei welchen Gelegenheiten Frau Fabiani ein tadelloses, geradezu vornehmes Benehmen zur Schau trug und auch ihres Sohnes Erwähnung tat, des Medicinae-Studiosus, der trotz seiner Jugend an der Universität bereits eine politische Rolle zu spielen beginne und neulich anläßlich eines Kommersabends eine aufsehenerregende Rede gehalten habe.
Nach einem dieser mütterlichen Besuche traf Therese den Bruder, den sie wieder einige Monate lang nicht gesehen hatte, in der Stadt, und sie redeten von der Mutter, über deren letzten, in einer Wiener Zeitung laufenden Roman Karl sich in spöttischabschätziger Weise äußerte. Therese fühlte sich sonderbarerweise verletzt; die Geschwister nahmen kühlen Abschied; an der nächsten Ecke wandte Therese sich nach dem Bruder um, und es fiel ihr auf, wie sehr er sich im Laufe weniger Jahre nicht eben zu
Anfangs hatte sie auch einige Male die Verpflichtung verspürt, Frau Nebling aufzusuchen, und eines Abends wohnte sie einer Operettenvorstellung bei, zu der ihr die Schauspielerin ein Billett geschenkt hatte. Mit schriller, fremder Stimme sang und spielte sie ein ältliches, männersüchtiges, aufgeputztes Weib und betrug sich in einer Weise, daß Therese sich für sie beinahe schämte und bei dem Gedanken schauerte, einer der Söhne könne aus der Fremde zurückkehren und die eigene Mutter in so unanständigem Aufzug, scharlachrot geschminkt, mit lüsternen Gebärden und Bücken, zum Gespötte selbst der Mitspielenden, wie Therese deutlich merkte, auf der Bühne umherspringen sehen.
Einmal auf der Straße war ihr, als käme ihr Kasimir Tobisch entgegen. Doch sie hatte sich getäuscht, eine Ähnlichkeit zwischen dem Vater ihres Kindes und dem an ihr vorbeistreifenden Herrn war kaum vorhanden, und als ihr in kurzen Zwischenräumen solche Irrtümer noch zwei- oder dreimal begegneten und sie immer die gleiche peinliche Erregung verspürte, erkannte sie, daß sie im Grunde Angst hatte, Kasimir Tobisch wiederzusehen; ungefähr so, als wenn er, gerade er, von ihrer weiteren Existenz, insbesondere aber von dem Dasein des Kindes, seines Kindes, nie und nimmer etwas erfahren dürfe. Das Bild eines andern aber, den sie gerne wiedergesehen hätte, Alfred, täuschte ihr auch kein zufällig Begegnender vor. Ihn, von dem sie bestimmt wußte, daß er in derselben Stadt lebte wie sie, führte nie ein freundlicher Zufall ihr entgegen.
Auch die Sommerwochen mit der Familie Regan, obwohl sie jedesmal an einem anderen Gebirgsort verbracht wurden, flossen später für Therese in sonderbarer Weise wie in einen Sommeraufenthalt zusammen, und die jüngeren und älteren Herren, die sich ihr auf dem Lande zu nähern versuchten, unterschieden sich später in der Erinnerung wenig voneinander. Daß ihr von all diesen keiner wirklich nähertrat, lag vielleicht nicht so sehr an ihrem eigenen Widerstand, an ihrer Vorsicht, an ihrer Kühle – denn im Gegensatz zu manchen früheren und manchen späteren Epochen ihres Lebens schienen in jenen Jahren ihre Sinne fast in
Nichts deutete auf eine kommende Veränderung hin; Doktor Regan und seine Frau kamen ihr nach wie vor mit Freundlichkeit, ja mit Herzlichkeit entgegen, zwischen ihr und den Mädchen, besonders dem älteren, hatte sich fast eine Art von Freundschaft herausgebildet, und das Vierhändigspiel mit dem begabten Knaben war ihr eine liebe Gewohnheit geworden, – als eines Morgens im Juni, kurz bevor man aufs Land ziehen sollte, Frau Regan sie zu sich ins Zimmer rief und ihr, gewiß in einiger Verlegenheit, aber doch recht gefaßt und kühl, ankündigte, daß man sich entschlossen habe, eine Französin ins Haus zu nehmen, und man sich daher – freilich mit dem größten Bedauern – genötigt sehe, sie, Therese, ziehen zu lassen. Natürlich eile das nicht im geringsten, man gab ihr Wochen, Monate lang Frist, bis sie eine geeignete Stellung gefunden, und was die nächste Zeit anbelange, so stehe es ganz in Theresens Belieben, ob sie die Familie Regan in die Dolomiten begleiten oder, was ihr unter diesen Umständen vielleicht lieber sein würde, die ganzen Ferien ungestört zu ihrer Verfügung haben wolle.
Therese stand blaß, ins Herz getroffen, erklärte aber sofort – ohne von ihrer Bewegung etwas zu verraten –, von dem Entgegenkommen der Frau Regan keinerlei Gebrauch zu machen und womöglich noch vor Ablauf der üblichen vierzehn Tage das Haus verlassen zu wollen. Seltsam erschien es ihr selbst, daß ihre
Sie verließ das Haus mit Bitterkeit im Herzen und schwor sich zu, es niemals wieder zu betreten.
Die nächsten Wochen verbrachte sie in Enzbach bei ihrem Kind. Die ländliche Atmosphäre beruhigte, ja beglückte sie anfangs so sehr, daß ihr der Gedanke kam, sich vorläufig um Lektionen bei den Sommerparteien zu bemühen und sich später vielleicht in dem Orte ansässig zu machen. Es war ihr diesmal, als müßte sie sich innerhalb der einfachen und ihr gegenüber meist freundlichen Menschen immer viel wohler fühlen können als in der Stadt unter den Leuten, deren Kinder sie aufziehen mußte und die sie dann vor die Türe setzten.
Es gab unter den Einheimischen gar manche, mit denen sie zuweilen zu reden pflegte und die ihr wie auch ihrem Buben eine gewisse Sympathie entgegenbrachten. Schon vor längerer Zeit
Und so war der Sommer noch lange nicht zu Ende, als sie neuerlich eine Stellung annahm, und zwar in einem, dem ersten Anschein nach, ziemlich vornehmen Haus als Erzieherin oder Gesellschafterin bei der vierzehnjährigen Tochter. Schon wenige Tage nach ihrem Eintritt reiste sie mit Mutter und Kind in einen kleinen steiermärkischen Kurort, wo man in einem schlecht geführten, nicht einmal ganz reinlichen Gasthof Wohnung nahm, während der Gatte, ein höherer Staatsbeamter, in Wien zurückgeblieben war. Die Baronin war höflich gegenüber Theresen, ohne je ein überflüssiges Wort an sie zu richten. Es gab in dem Ort fast nur alte, meist gichtkranke Leute; ein hagerer, schlecht
In der schlimmsten Sommerhitze zog man nach Wien zurück, und die Mahlzeiten gestalteten sich keineswegs unterhaltender dadurch, daß der Hausherr daran teilnahm, der an Therese überhaupt niemals das Wort richtete. Als Therese zum erstenmal wieder Gelegenheit hatte, nach Enzbach zu fahren, atmete sie auf, wie wenn sie einem Gefängnis entronnen wäre. In der Entfernung erschien ihr das Haus der Baronin, in dem sie nun zu leben verdammt war, noch unleidlicher als sonst, ja geradezu unheimlich, und sie verstand kaum, daß sie es so lange dort ausgehalten hatte. Aus einer gewissen Trägheit, vielleicht auch ein wenig bestochen durch den Klang des adeligen Namens, schob sie ihren Abschied immer wieder hinaus, bis endlich, als man sie zu Weihnachten mit einem beschämend niedrigen Geldgeschenk abfand, ihre Geduld zu Ende war und sie kündigte.
Doch nun kam eine schlimme Zeit für sie. Es war, als hätte es das Schicksal darauf angelegt, sie alle Widerwärtigkeiten und Häßlichkeiten bürgerlicher Familienverhältnisse in der Nähe sehen zu lassen. Oder war es nur, daß allmählich ihre Augen sich weiter aufgetan hatten als bisher? Dreimal hintereinander sah sie in verwüstete Ehen. Zuerst waren es zwei noch junge Eheleute, die, ohne Rücksicht auf ihre zwei Kinder von sechs und acht Jahren und ohne die geringste Rücksicht auf Therese, einander während
Die nächste Stellung in einem wohlgehaltenen und wohlhabenden Hause, wo ihr der Beruf des Mannes, der auch abends nur selten daheim war, ein Geheimnis blieb, benagte ihr anfangs nicht übel. Das siebenjährige Mädchen, das ihrer Obhut anvertraut war, war hübsch, zutraulich und klug, die Mutter, die an manchen Tagen ihr Zimmer kaum verließ, an anderen von früh bis abends außer Hause blieb und sich um ihr Kind in einer für Therese völlig unfaßbaren Weise überhaupt nicht zu kümmern schien, kam ihr besonders freundlich entgegen; diese Freundlichkeit nahm immer zu, und allmählich nahm sie eine Form an, die Therese anfangs mit Befremden, bald mit Abscheu und endlich mit Angst erfüllte. Fluchtartig verließ sie eines Morgens, nach einer Macht, in der sie ihr Zimmer hatte versperrt halten müssen, das Haus und schrieb am Bahnhof, von dem aus sie für ein paar Tage zu ihrem Buben nach Enzbach fuhr, an den Herrn des Hauses, daß sie plötzlich zu ihrer erkrankten Mutter habe reisen müssen.
In der nächsten Stellung als der Erzieherin zweier aufgeweckter Knaben von sieben und acht Jahren war es das Verhalten ihres Dienstherrn, das ihr ein Verbleiben unmöglich machte. Zuerst glaubte sie gewisse Blicke und scheinbar zufällige Berührungen nur mißzuverstehen, um so mehr, als das Verhältnis zwischen dem Mann und der jungen, noch hübschen Frau ein völlig ungetrübtes zu sein schien. Bald aber konnte sich Therese über die Absichten des Gatten, der ihr im übrigen gar nicht übel gefiel, keiner Täuschung mehr hingeben, sie mußte sich gestehen, daß sie ihm auf die Dauer nicht hätte Widerstand leisten können oder
Nun trat sie in ein sogenanntes großes Haus ein, was die Stellenvermittlerin als einen besonderen und gewissermaßen unverdienten Glücksfall angesehen wissen und wofür sie auch mit einem besonderen Honorar bedacht werden wollte. Der Bankdirektor Emil Greitler war ein Mann von über fünfzig, von höflich-liebenswürdigem, fast diplomatisch reserviertem Benehmen; seine Gattin, unscheinbar und verblüht, hing an ihm mit unerwiderter liebe und schaute mit Bewunderung zu ihm auf. Es waren vier Kinder da; mit den beiden älteren, einem Studenten der Rechte und einem, der sich dem Bankfach widmete, hatte Therese nichts zu tun, das dreizehnjährige Mädchen und der jüngste, neunjährige Sohn besuchten öffentliche Lehranstalten und hatten überdies so viele Privatlehrer, daß Theresens Wirksamkeit sich so ziemlich darauf beschränkte, die beiden Kinder zur Schule, von dort nach Hause und auf Spaziergängen zu begleiten. Gern hätte sie sich dem jungen Mädchen herzlicher angeschlossen, doch dieses, auch in den Gesichtszügen dem Vater ähnlich, in all ihrer Kindlichkeit unnahbar wie er, blieb ihrem gleichsam mütterlichen Werben gegenüber kühl. Therese kränkte sich anfangs, wurde dann selbst herber, ja strenger zu dem Kinde, als sie gewollt, bis sich endlich eine gleichgültige Beziehung entwickelte, in der nur zuweilen eine lächerliche Gereiztheit von Theresens, eine hochmütige Verschlossenheit von Margaretens Seite an den vergeblichen, halb unbewußt geführten Kampf von früher erinnerte. Der neunjährige Siegfried war ein fröhliches, für sein Alter merkwürdig witziges Kind, dem Therese öfters sein vorlautes Wesen verweisen, über dessen spaßhafte Einfälle und Redewendungen sie aber doch, wie die anderen Leute, manchmal lachen mußte. Sie hatte viel freie Zeit für sich, doch sah man es nicht gerne, wenn sie auf allzu lange das Haus verließ, und obwohl man ihrer wenig bedurfte, mußte sie doch immer zur Verfügung stehen. Oft gab es kleinere und größere Gesellschaften, denen sie kaum jemals beigezogen wurde. Gegen Schluß des Karnevals aber fand
Da die Gehaltsauszahlung im Hause Greitler sich meistens um einige Tage verzögerte, war es ihr nicht aufgefallen, als einmal der ganze Monat verstrichen war, ohne daß sie ihre Entlohnung erhalten hätte. Doch als auch am nächsten Fälligkeitstag die Bezahlung ausblieb, sah sich Therese, die das Geld brauchte, genötigt, Frau Greitler zu mahnen. Sie wurde gebeten, sich nur noch ein paar Tage zu gedulden, und erhielt tatsächlich bald darauf den größeren Teil ihres Gehaltes ausbezahlt. Sie wäre nun einigermaßen beruhigt gewesen, wenn nicht am gleichen Tag das Dienstmädchen die Frage an sie gerichtet hätte, wieviel man ihr schuldig sei. Es war bisher ihr Grundsatz gewesen, sich niemals mit dem Personal eines Hauses, in dem sie selbst in Stellung war, in Unterhaltungen über die »Herrschaft« einzulassen, – diesmal konnte sie der Versuchung nicht widerstehen, und so erfuhr sie bald, daß das Haus Greitler nach allen Seiten hin verschuldet, daß zum Beispiel nicht einmal die Rechnung des Zuckerbäckers
Sie hatte die erste beste Stellung annehmen müssen, die sich ihr geboten: als »Fräulein« bei drei völlig unerzogenen Kindern zwischen sechs und zehn Jahren, mit denen sie in jeder Hinsicht ihre Plage hatte; der Vater war ein Versicherungsagent, nur abends daheim und stets von übler Laune, die Mutter eine dicke, törichte, anscheinend phlegmatische Person, die aber zwei- bis dreimal im Tage, wie anfallsweise, mit den Kindern herumzuschreien, mit jedem, der ihr in die Nähe kam, zu zanken, Therese wie einen Dienstboten abzukanzeln begann, um dann wieder in eine Art von Lethargie zu versinken, aus der weder wirtschaftliche Verpflichtungen noch das Toben der Kinder sie zu erwecken imstande waren, so daß Theresen die ganze Verantwortung aufgelastet blieb. Zwei Monate hielt sie diese Existenz aus, dann kündigte sie und fuhr nach Enzbach.
Es war nicht allein der Widerwille, die Ermüdung nach den Aufregungen der letzten Monate; es war auch eine plötzliche, von Gewissensregungen nicht ganz freie Sehnsucht nach Franz, die sie diesmal so mächtig dorthinzog. In den letzten drei Jahren hatte sie sich allzu wenig um ihn gekümmert, an seinem Wachsen und Werden kaum mehr inneren Anteil genommen. So sehr sie sich damit zu beruhigen suchte und wohl auch durfte, daß es ihr an Zeit gemangelt, daß auch an Urlaubstagen ihr körperlicher und seelischer Zustand sie selbst die kleine Reise nach Enzbach schon als Mühe empfinden ließ, so war sie sich doch klar darüber, daß allzu oft der Wunsch, ihren Buben wieder zu sehen, sich nicht eben sehr dringend gemeldet hatte; ja, daß er in den Wochen der Trennung ihr immer ferner und fremder wurde und daß sie manchmal die verhältnismäßig geringe materielle Verpflichtung gegenüber der Frau Leutner als eine Last empfand. Dies entschuldigte sie bei sich wieder damit, daß ihr Franzens Anhänglichkeit an seine Pflegemutter manchmal stärker schien als an sie selbst, daß er allmählich ein rechtes Bauernkind zu werden anfing und daß er trotzdem in gewissen Augenblicken in einer fast unheimlichen Weise dem kläglichen Menschen ähnlich sah, der sein Vater war. In der letzten Zeit nun gesellte sich diesen Regungen, wie es immer wieder geschah, ein gewisses Schuldgefühl bei, es war ihr, als hätte sie an ihrem Buben etwas gutzumachen, als müßte die Schwäche und Unsicherheit ihres mütterlichen Gefühls sich sowohl an ihr wie an ihm einmal rächen, und so kam es, daß sie die
Und sie brach in Tränen aus, als er ihr freudig entgegenlief, wie kaum je zuvor, und sie drückte ihn ans Herz, als hätte sie sich ihn für immer wiedergewonnen. Auch die Frau Leutner erschien ihr herzlicher denn je, sie schien ganz erschrocken über Theresens schlechtes Aussehen und riet ihr dringend, doch bis zum Herbst auf dem Lande zu bleiben. Therese fühlte sich körperlich und seelisch so ermüdet, daß sie sich sofort einverstanden glaubte, und in den ersten Tagen schon erholte sie sich sichtlich. Sie hatte mehr Freude an ihrem Buben als seit langer Zeit, das Fremde seines Wesens schien diesmal geschwunden; er schloß sich ihr, was er früher nie getan, freiwillig auf kleinen Spaziergängen an, sein Blick erschien ihr, zum ersten Male eigentlich, ganz offen und frei. Seit ein paar Monaten besuchte er die Schule, und der Lehrer, mit dem sie einmal sprach, nannte ihn ein kluges und aufgewecktes Kind. Frau Leutner hatte allerlei Unerläßliches für ihn angeschafft; da Therese auch mit dem Kostgeld in Rückstand war, konnte sie die Bezahlung nicht lange aufschieben, und zum erstenmal sah sie sich genötigt, ihre Mutter um Hilfe anzugehen. Das Geld blieb einige Zeit hindurch aus, worauf sich die Haltung und die Laune der Frau und besonders des Herrn Leutner Theresen gegenüber in unerfreulicher Weise zu ändern anfing. Der Betrag, den ihr die Mutter endlich auf eine neue Mahnung sandte, war so geringfügig, daß er nicht ausreichte. Therese beglich einen Teil ihrer Schuld. Die Stimmung wurde übler von Tag zu Tag, Therese erkannte, daß ihres Bleibens in Enzbach nicht länger sein konnte, und an einem glühend heißen Augusttag, kaum zehn Tage nach ihrer Ankunft, reiste sie wieder nach Wien zurück, um eine neue Stellung anzutreten, die erste beste, die sich auf ihre schriftlichen Bemühungen hin ihr geboten.
Die zwei Mädchen von vier und sechs Jahren, die ihrer Obhut anvertraut waren, machten ihr um so mehr zu schaffen, als die Mutter, den ganzen Tag in einem Bureau tätig, am späten Abend erst nach Hause kam. Der Vater befand sich angeblich auf einer Geschäftsreise, es kamen niemals Briefe von ihm, und Therese war sich bald klar darüber, daß er seiner Frau, einem reizlosen und mürrischen Geschöpf, auf Nimmerwiedersehen durchgegangen war. Das jüngere Mädchen war kränklich, in der Nacht meist unruhig, was die im Nebenzimmer schlafende Mutter kaum zu stören schien. Als Therese einmal davon sprach, daß es doch vielleicht gut wäre, einen Arzt zu Rate zu ziehen, herrschte die Mutter Therese an, erklärte ihr, daß sie selber wisse, was sie zu tun habe, ein Wort gab das andere, und Therese kündigte ihre Stellung. Sie hatte vorher nicht gewußt, daß ihr der Abschied von dem kleinen kränklichen Mädchen so nahe gehen würde, als es nun der Fall war; und noch lange mußte sie an das blasse, rührende Antlitz des Kindes denken und an sein Lächeln, wenn es nachts wimmernd die Ärmchen um ihren Hals gelegt hatte.
Sie wollte nicht früher wieder nach Enzbach fahren, als sie ihre kleine Schuld an Frau Leutner abtragen konnte, und da sich nicht sofort eine neue Stellung fand, zog sie es vor, in einem kleinen Gasthof abzusteigen. Niemals hatte sie in einem kläglicheren und verwahrlosteren Quartier gewohnt. Sie schlief, ohne sich auszukleiden. Unglücklicherweise regnete es während dieser Tage, an denen sie in hundert Straßen treppauf treppab nach einer neuen Stellung lief, beinahe ununterbrochen. Sie wollte diesmal nicht voreilig sein und sich lieber einige Zeit behelfen, wie es eben ging, als wieder in ein Haus eintreten, wo ihres Bleibens nicht sein könnte. Es begegnete ihr, daß man in Häusern, wo sie selbst offenbar sympathisch wirkte und wo sie auch gern geblieben wäre, wegen ihrer fast dürftigen Kleidung – wie sie an den Blicken der Leute wohl merkte – nicht aufgenommen wurde. Was sollte sie tun? Sich noch einmal an die Mutter wenden und mit einer Art Almosen abgefunden werden? Den Bruder aufsuchen, mit dem sie nun fast jahrelang in keinerlei Verbindung mehr stand? Irgendeine der Damen anbetteln, bei denen sie früher in Stellung gewesen war? Vor all dem scheute sie zurück. Auch wußte sie nicht, wo sie eine ausgiebige Hilfe hätte erwarten dürfen. Wieder einmal, in einer endlosen Nacht, da sie angekleidet
In der Stille und Dunkelheit des Gemachs, während an das Fenster unablässig die Regentropfen schlugen, unter ihrem abgetragenen Mantel, innerhalb der ärmlichen Hüllen und Kleidungsstücke wurde sie sich plötzlich wieder ihres Leibes, ihrer Haut, ihrer pulsenden Adern so schwellend heiß bewußt, wie es ihr kaum je in einem lauen Bade oder in jenen, freilich längst vergessenen Umarmungen geliebter Männer begegnet war.
Des Morgens erwachte sie wie aus einem wollüstigen Traum, dessen sie sich in den Einzelheiten nicht zu erinnern vermochte. In dieser Stimmung mit neuerwachtem Mut wagte sie den Gang zu einer ihr von besseren Zeiten her bekannten Schneiderin. Man kam ihr mit der größten Freundlichkeit entgegen; zur Entschuldigung ihres etwas defekten Aussehens erzählte sie eine Geschichte von einem verlorengegangenen Koffer, auf ihre Bitte verfertigte man ihr innerhalb vierundzwanzig Stunden ein einfaches, gutsitzendes Kostüm, ohne auf sofortiger Bezahlung zu
Sie fand eine ihr zusagende Stellung im Hause einer Professorswitwe, wo sie die Erziehung zweier stiller blonder Mädchen von zehn und zwölf Jahren zu leiten hatte, die ihrer Kränklichkeit wegen in diesem Jahre eine öffentliche Schule nicht besuchten. Die gute Behandlung, die Therese in diesem Hause zuteil wurde, der angenehme Verkehrston, die Bescheidenheit und Folgsamkeit der jungen Mädchen, die Freundlichkeit der Mutter, deren Wesen noch von der Trauer um den erst kürzlich verstorbenen Gatten umschattet schien, wirkte anfangs wohltuend auf sie ein. Auch der Unterricht bereitete ihr um so mehr Vergnügen, als er ausschließlich in ihre Hand gelegt war; sie begann wieder, wie sie es bei Eppichs getan, sich für die Lektionen vorzubereiten, frischte dabei ihre Kenntnisse in manchen Gegenständen auf und fand in sich manches Interesse wieder, das sie schon erloschen geglaubt hatte. Über Weihnachten erteilte man ihr gerne Urlaub, sie fuhr nach Enzbach, hatte diesmal besonders viel Freude an ihrem Buben –, und was sie trotzdem schon am frühen Nachmittag des zweiten Feiertags in die Stadt hineintrieb, hätte sie selbst nicht zu sagen gewußt. Als sie am Abend mit der Witwe und den zwei Mädchen bei dem kärglichen Nachtmahl saß, schweigsam wie gewöhnlich, während von den andern in melancholischen Andeutungen des verstorbenen Familienoberhauptes gedacht wurde, überfiel sie plötzlich eine so quälende Langeweile, daß sie einen dumpfen Groll gegen diese Menschen zu empfinden begann, in deren trübselige Stimmung sie als ganz Unbeteiligte hineingezogen wurde. Sie hatte es freilich oft genug erfahren, daß auf ihre eigene seelische Verfassung niemals die geringste Rücksicht genommen wurde, daß man sich vor ihr in Freude und in Schmerz mit gleicher Lässigkeit gehen ließ; aber noch nie war ihr dies mit einem solchen Gefühl innerer Auflehung bewußt geworden als gerade hier, wo sie sich eigentlich über nichts zu beklagen hatte, ja, wo man ihr offenbar wohl wollte. Dazu kam noch, daß man auf ihr Nachhausekommen zum Abendessen heute nicht gerechnet hatte und sie daher noch hungriger von Tische aufstand als sonst. Sie faßte in dieser Nacht schon den Entschluß, das Haus baldmöglichst zu verlassen; doch es dauerte noch bis zum Frühjahr, ehe Therese ihren Entschluß zur Ausführung bringen konnte.
Nach einem beinahe schmerzlichen Abschied, bei dem sie sich vielleicht zum ersten Male gegenüber den Menschen, deren Haus sie verließ, im Unrecht fühlte, trat sie ihren neuen Posten, bei einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie, einem Hutmacher in der inneren Stadt, als Erzieherin des einzigen, recht verzogenen und besonders schönen siebenjährigen Buben an. Was Theresen am meisten auffiel, war die ununterbrochen gute Laune, die in diesem Hause herrschte. Zu Tische war beinahe immer irgendwer zu Gaste – ein Onkel, eine Kusine, ein Geschäftsfreund, ein verwandtes Ehepaar aus der Provinz –, es wurde vorzüglich gegessen und getrunken, man erzählte Anekdoten, Tratsch aus der Nähe und aus der Ferne, lachte viel und war sichtlich erfreut, ja irgendwie geschmeichelt, wenn Therese mitlachte. Man behandelte sie wie eine gute alte Bekannte, fragte sie nach ihrem Elternhaus, nach ihren Jugenderlebnissen; es war das erstemal, daß sie wieder von ihrem. Vater, dem verstorbenen hohen Offizier, von ihrer Mutter, der beliebten Romanschriftstellerin, von Salzburg, von allerlei Menschen, die sie im Laufe der Zeit kennengelernt, reden durfte, ohne vordringlich zu erscheinen. So konnte sie sich leicht behaglich fühlen. Der Bub aber, soviel er ihr auch durch sein verwöhntes, anspruchsvolles Wesen zu schaffen machte, entzückte sie geradezu. Sie entdeckte bald, daß seine Eltern ihn wohl zu verwöhnen, aber doch eigentlich nicht ganz zu würdigen verstanden. Sie fand, daß er nicht nur klug, weit über seine Jahre, sondern von einer ganz eigenen, fast überirdischen Schönheit war, die sie übrigens an das Kostümbild irgendeines Prinzen erinnerte, sie wußte nicht an welches, das sie einmal in einer Galerie gesehen. Und bald erkannte sie, daß sie dieses Kind geradesosehr, ja, noch mehr liebte als ihr eigenes. Als es eines Abends an hohem Fieber erkrankte, war sie es, die angstverzehrt drei Nächte lang an seinem Bette wachte, während die Mutter, in diesen Tagen selbst etwas leidend, sich nur Bericht über den Zustand des Kindes erstatten ließ, das übrigens am dritten Tag schon vollkommen hergestellt war. Bald nachher wurden allerlei Sommerpläne gemacht; man zog die Umgebung von Salzburg in Betracht, und auch Theresens Rat war willkommen.
Da geschah es an einem heitern Sonntagmorgen, daß die Frau des Hauses sie zu sich ins Zimmer bat und ihr freundlich wie
Endlich war der Tag des Abschieds da. Es war Sorge dafür getragen, daß der Kleine sich auf Besuch bei den Großeltern befand; man gab Theresen eine billige Bonbonniere und die besten Wünsche mit auf den Weg, ohne auch nur mit einem Worte anzudeuten, daß man sie gelegentlich wiederzusehen wünsche. Als sie die Treppe hinunterschritt, starr und tränenlos, wußte sie, daß sie dieses Haus nie wieder betreten würde. Es war nicht das erstemal, daß sie sich dergleichen vorgenommen; aber auch dort, wo ein solcher Vorsatz nicht in ihr aufgetaucht war, wo sie in Frieden, ja sozusagen in Freundschaft geschieden war, auch dorthin hatte sie beinahe niemals wieder den Fuß gesetzt. Wann hätte sie auch Zeit dazu gefunden?
Sie fuhr nach Enzbach mit der Hoffnung, sich in der freien Natur zu erholen, mit der Sehnsucht, sich unter den Menschen draußen wohl zu fühlen, mit dem gleichsam verzweifelten Wunsch, ihr Kind mehr, besser zu lieben, als sie es bisher getan. Nichts von all dem glückte ihr, alles schien vielmehr aussichtsloser als je. Niemals noch war sie in einer so völlig fremden Welt gewesen. Es war ihr, als käme man ihr übelgesinnt, geradezu feindselig entgegen,
Am schlimmsten wurde es, als Agnes, die indes in Wien Kindermädchen gewesen war, für ein paar Tage nach Enzbach kam. Die Zärtlichkeit der Sechzehnjährigen für den Buben war Theresen in der Seele zuwider, sie ertrug es nicht, das junge Mädchen dem Kind gegenüber sich gleichsam mütterlicher gebärden zu sehen, als sie selbst es vermochte. Manchmal wieder schien ihr das Verhalten von Agnes keineswegs von mütterlichen Gefühlen bestimmt; es hatte vielmehr den Anschein, als habe Agnes es nur darauf angelegt, Therese zu ärgern, zu verletzen, eifersüchtig zu machen. Als ihr das Therese auf den Kopf zusagte, erwiderte sie höhnisch und frech. Frau Leutner schlug sich auf die Seite ihrer Tochter; es kam zu einem Zank, in dem auch Therese alle Haltung verlor; empört über die andern, unzufrieden mit sich selbst, erkannte sie, daß alles nur schlimmer werden konnte, wenn sie noch länger blieb, und es geschah zum erstenmal, daß sie Enzbach ohne eigentlichen Abschied – fluchtartig verließ.
Über die neue Stellung, die sie an einem heißen Augusttag antrat, war sie von ihrem Bureau, wie sich bald zeigte, ziemlich falsch unterrichtet worden. Sie kam keineswegs in eine elegante Villa zu einem gutsituierten Fabrikanten, wie man ihr vorgespiegelt, es war vielmehr ein höchst vernachlässigtes, freilich als Landhaus gebautes weitläufiges Gebäude, in dem vier Familien zum Sommeraufenthalt wohnten, die sich nebst ihren Kindern in stetem Hader miteinander befanden, so daß man sich sogar im Garten um die Plätze, die Bänke, die Tische zu zanken pflegte und es immer wieder gegenseitige Beschwerden auszutragen gab. Die schlechtest erzogenen Kinder von allen waren die drei – im Bureau hatte man ihr nur von zweien gesagt –, die Theresens Obhut anvertraut waren, drei Buben zwischen neun und zwölf Jahren. Die Mutter war eine noch leidlich junge, zu früh fett gewordene, schon am frühen Morgen geschminkte Person, die zu Hause und im Garten in Hauskleidern von fragwürdiger Reinlichkeit umherzugehen, sich aber für die Promenade um so großartiger und auffallender herzurichten pflegte. Sie selbst, wie auch die Kinder, sprachen einen häßlichen jüdischen Jargon, gegen den,
Wenige Tage später langte eine sehr sachlich und doch zugleich herzlich gehaltene Anfrage der Mutter ein, auf welches Honorar Therese für ihre Mitarbeiterschaft Anspruch erhebe, und schon zwei Tage darauf, unerbeten, traf zwar nicht eine Geldsumme, aber einige Wäschestücke und eine weiße Batistbluse ein, die Therese zwar anfangs zurückschicken wollte, aber dann doch lieber behielt, da sie ihr sehr gelegen kamen.
Wenige Tage, ehe man aus der Sommerfrische nach Wien übersiedeln sollte, erhielt Therese einen Brief, in dem sie um ein Rendezvous ersucht wurde. Mit vollem, ihr bis dahin unbekanntem Namen unterschrieben war ein Offizier, der kein anderer sein konnte als ein gewisser, sehr hagerer Oberleutnant mit schwarzem Schnurrbart, dem sie oft im Kurpark flüchtig zu begegnen und der sie mit besonders frechen Blicken zu mustern pflegte. In unverblümten Worten, die sie anfangs empörten, dann aber tief erregend in ihr nachwirkten, gestand ihr der Offizier seine Liebe, seine Leidenschaft, sein Verlangen. Nachdem sie den ganzen Tag über inneren Widerstand geleistet, fand sie sich in später Abendstunde, sobald sie die Kinder zu Bette gebracht hatte, im Kurpark ein, der Oberleutnant, der sie erwartet, trat auf sie zu, ergriff ihre Hand in wilder, fast gewalttätiger Weise; in einer dunklen Allee gingen sie eine Weile auf und ab; bald, fast ohne zu wissen, wie ihr geschah, erwiderte sie seine gierigen Küsse. Er wollte
In dem Hause eines Großindustriellen, wo sie ihre nächste Stellung antrat, sollte sie, wie sich bald herausstellte, nicht so sehr als Erzieherin denn vielmehr als Pflegerin bei einem rettungslos dahinsiechenden, fast gelähmten neunjährigen Mädchen Dienste leisten. In einem ihr selbst kaum begreiflichen qualvollen Mitleid mit dem armen Kind, das sich nicht nur seiner Leiden, sondern auch des nahen Todes bewußt schien, und auch im Mitgefühl für die unglücklichen Eltern, die schon Jahre hindurch diesen Leiden hilflos zusehen mußten, glaubte sich Therese anfangs bereit, das Opfer zu bringen, das man von ihr verlangte. Aber schon nach wenigen Wochen sah sie ein, daß weder ihre körperlichen noch
Von einem freundlichen Briefe ihrer Mutter bestimmt, fuhr sie für einige Tage nach Salzburg, wo sie mit Herzlichkeit empfangen wurde. Die Stellung der Frau Fabiani in der kleinen Stadt schien sich im Laufe der letzten Jahren auf das vorteilhafteste verändert zu haben. Damen der Gesellschaft besuchten ihr Haus, und Therese lernte unter anderem die Frau eines erst kürzlich hieher versetzten Majors und die Gattin eines Redakteurs kennen, die der Schriftstellerin Julia Fabiani alle nur denkbare Achtung erwiesen. Therese fühlte sich in dem Hause der Mutter wohler und doch zugleich fremder als früher – etwa so, als wenn sie nicht bei ihrer Mutter, sondern bei einer älteren Dame zu Besuch wäre, mit der sie auf Reisen vertrautere Bekanntschaft geschlossen. Als Therese gesprächsweise von allerlei Menschen erzählte, denen sie während der letzten Jahre begegnet, hörte die Mutter mit wachsendem Interesse zu, scheute sich nicht, Notizen zu machen, ja manche von Theresens Berichten wörtlich aufzuzeichnen, und erklärte ihrer Tochter endlich, daß sie darauf bestehe, ihr für solche »Berichte aus dem Leben«, die sie von ihr regelmäßig zu erhalten hoffe, ein angemessenes Honorar zu bezahlen. Auch in Salzburg hatte sich indes allerlei zugetragen: so war der Graf Benkheim, der sich um Therese bemüht, dann jene Schauspielerin, die ihm nahe gestanden, geheiratet hatte, kürzlich gestorben und hatte seiner Witwe ein bedeutendes Vermögen hinterlassen. Auch von dem Bruder wurde gesprochen, der in der Wiener Studentenschaft als Vizepräsident eines deutsch-nationalen Vereins eine immer größere Rolle spiele und nun öfters nach Salzburg komme, wo er in politisch interessierten Kreisen zu verkehren pflegte. Daß er sich um seine Schwester nicht im allerentferntesten, aber auch um die Mutter nur wenig kümmerte, schien ihm diese, die nun auf ihn stolz zu werden begann, nicht weiter übelzunehmen.
Als Therese in den letzten Oktobertagen wieder nach Wien reiste, fühlte sie sich zwar körperlich erholt, doch innerlich verarmt. Sie war im besten Einvernehmen von ihrer Mutter geschieden und wußte tiefer als je, daß sie keine hatte. Die besten Stunden, deren sie sich aus ihrem dreiwöchigen Aufenthalt in Salzburg erinnerte,
Therese trat nun eine Stellung bei einem Landesgerichtsrat an, der mit Frau und Kindern, zusammen mit einer anderen Partei, von der man nichts sah und hörte, ein kleines Haus in einer Gartenvorstadt bewohnte. Der Landesgerichtsrat war ein schweigsamer, unfroher, aber höflicher Mann, die Mutter beschränkt und gutmütig, die beiden Töchter, zehn und zwölf Jahre alt, nicht sonderlich begabt, aber sehr gutartig und leicht lenkbar. Man lebte sparsam, aber Therese hatte nichts zu entbehren, auch was man ihr an menschlicher Teilnahme entgegenbrachte, war gerade so viel, daß sie sich weder verwöhnt und beschenkt, noch aber zurückgesetzt oder vernachlässigt erscheinen durfte.
In der gleichen Wohnung lebte als Zimmerherr ein junger Bankbeamter, der in keinerlei Verkehr mit der Familie stand. Therese sah ihn nur selten im Vorzimmer, auf der Stiege; bei flüchtigen Begegnungen grüßte man einander, gelegentlich wurden ein paar Worte über das Wetter gewechselt, trotzdem empfand sie es nicht als Überraschung, sondern fast als etwas längst Erwartetes, als er sie einmal spät abends, da sie im Vorzimmer zusammentrafen, heftig in die Arme nahm und küßte. In der Nacht darauf – sie wußte kaum, ob er sie darum gebeten, ob sie es ihm versprochen – war sie bei ihm, und von dieser Nacht an, manchmal nur auf Viertelstunden – denn sie hatte immer Angst, daß die beiden Mädchen, mit denen gemeinsam sie in einem Zimmer schlief, ihre Entfernung bemerken könnten – war sie allnächtlich bei ihm. Außerhalb dieser Zeit dachte sie seiner kaum, und wenn sie ihm begegnete, kam es ihr kaum zu Bewußtsein, daß er ihr Geliebter war. Trotzdem bereute sie oft genug, daß sie so viele Jahre ihres Lebens, wie sie sich nun sagte, versäumt, daß sie seit Kasimir Tobisch keinen Geliebten gehabt hatte. Als sie anfing zu merken, daß er eine ernstlichere Leidenschaft für sie faßte und Fragen an sie richtete, die Eifersucht auf ihre Vergangenheit verrieten, hielt sie es für angezeigt, mit ihm zu brechen. Sie machte ihn glauben, daß man in der Familie des Landesgerichtsrates Verdacht gefaßt habe, und spiegelte ihm immer wieder von neuem eine zuweilen auch echte Angst vor möglichen Folgen ihres Verhältnisses vor. Endlich machte sie ein rasches Ende, in dem sie sich ohne sein Wissen nach einer anderen Stellung umsah und eines Morgens das Haus für immer verließ, ohne ihn verständigt zu haben.
In der nächsten Stellung bei dem Inhaber eines kleinen Wechslergeschäftes der inneren Stadt fügte es sich, daß sie sehr viel freie Zeit übrig hatte. Ja, die Mutter des siebenjährigen Knaben, der ihr Zögling war, eine in ihrer Ehe sehr unglückliche Frau, schien niemals froher, als wenn sie mit ihrem Einzigen ungestört und allein beisammen sein konnte. So hätte Therese öfter als je Gelegenheit gehabt, nicht nur für Stunden, sondern auch für Tage nach Enzbach zu Franzl zu fahren, doch zog sie es manchmal vor, in den Straßen der Stadt planlos umherzuspazieren, und als erwünschte Ausrede vor sich selber diente ihr der Umstand, daß die Bauersleute draußen, daß insbesondere Agnes in ihrer vorlauten und doch wieder hinterhältigen Art ihr nun völlig unleidlich geworden waren.
So geschah es eines Abends, daß Therese in der Stadt dem hübschen Krauskopf begegnete, den sie auf dem Ball bei Greitlers vor bald zwei Jahren kennengelernt hatte. Er nannte es Schicksalsfügung, daß man einander wieder traf, und mit einer Willensschwäche, die sie sich selbst nicht erklären konnte, war sie schon beim nächsten Zusammensein bereit, ihm alles zu gewähren, was er verlangte. Er war Student der Rechte, lustig und frech; Therese verliebte sich heftig in ihn und opferte ihm öfters die Tage, die eigentlich für ihr Kind bestimmt gewesen wären. Ihm hätte sie gern mehr von sich erzählt, aber er schien darauf keinen Wert zu legen, ja, wenn sie ernsthafter mit ihm zu reden versuchte, langweilte ihn das offensichtlich, und aus Angst, ihn zu verstimmen, gab sie es auf, ihn mit ihren persönlichen Angelegenheiten zu belästigen. Zu Beginn des Sommers kam ein fröhlicher Abschiedsbrief: sie wäre ein famoses Mädel gewesen, und sie möge ihm ein so freundliches Angedenken bewahren wie er ihr. Sie weinte zwei Nächte lang, dann fuhr sie nach Enzbach zu ihrem Kind, das sie ganze vier Wochen nicht gesehen hatte, liebte es mehr als je, tat vor dem Marienbild am Ahornbaum ein Gelübde, Franzl nie wieder zu Vernachlässigen, vertrug sich auch mit den alten Leutners aufs beste, da Agnes nicht daheim war, und kehrte am Abend des gleichen Tages ziemlich getröstet nach Wien zurück.
Sie fand nun wieder zu sich selbst zurück. Es war ihr im Grunde nicht anders, als hätte sie einen quälenden Durst gestillt und könnte nun wieder beruhigt ihren Pflichten und ihrem
Sie kam nun in ein ruhiges, behagliches Haus, in dem sie hoffte lange bleiben zu dürfen: zu einem Fabrikanten, der tätig und seiner Tätigkeit froh zu sein schien, einer liebenswürdigen und heiteren Frau und zwei Mädchen, die eben der Kindheit zu entwachsen begannen, klugen, wohlerzogenen, leicht zu behandelnden Geschöpfen, die beide musikalisch besonders begabt waren. Therese war nun gewöhnt, sich rasch in neue Verhältnisse zu finden, und sie verstand es, die Elemente von Fremdheit und Vertrautheit, die beide gewissermaßen das Wesen ihres Berufes ausmachten, gegeneinander auszugleichen und in das richtige Verhältnis zu bringen. Vor allem hütete sie sich, ihr Herz an die jungen Wesen zu hängen, deren Erziehung ihr überantwortet war, blieb aber doch keineswegs gleichgültig; eine Art von kühler Mütterlichkeit, die sie beinahe nach Belieben ein paar Grade höher oder niederer stellen konnte, blieb die Grundstimmung dieser Beziehungen. So war sie innerlich vollkommen frei, wenn sich die Türe des Hauses hinter ihr schloß, und doch wieder daheim, wenn sie zurückkehrte. Ihren Buben besuchte sie regelmäßig, ohne daß in der Trennungszeit besondere Sehnsucht nach ihm sie gequält hätte.
Einmal zu Beginn des Winters, als sie nach Enzbach hinausfuhr, mußte sie wegen Überfullung des Zuges in einem Coupé erster Klasse Platz nehmen. Ein eleganter, nicht mehr ganz junger Mann, neben ihr der einzige Passagier in diesem Coupé, knüpfte ein Gespräch mit ihr an. Er befand sich auf einer Reise ins Ausland, und nur, weil er zu kurzem Aufenthalt auf einem, von einer kleinen Zwischenstation aus erreichbaren Gut genötigt war, hatte er für den ersten Abschnitt seiner Fahrt diesen Personenzug
Als sie den verschneiten Weg dem wohlbekannten Ziele zuwanderte, fühlte sie ihren Schritt leichter als sonst und ihr Selbstbewußtsein gehoben. Ihrem Kind gegenüber aber hatte sie diesmal ein merkwürdiges Gefühl von Entfremdung, und in erhöhtem Maße fiel ihr Franzls Sprechweise auf, die, wenn nicht gerade entschiedenen Dialekt, doch immer unverkennbarer den bäuerischen Tonfall merken ließ. Sie erwog, ob es nicht an der Zeit und ob es nicht ihre Pflicht wäre, den Buben von hier weg und in die Stadt zu nehmen. Aber wie ließ sich das ermöglichen? Und während sie in dem niederen, muffelnden Raum bei dem Schein einer Petroleumlampe Kaffee trank, Frau Leutner ihr allerlei vorschwatzte, Agnes in ihrem Sonntagsgewand mit einer Näharbeit am Ofen saß, Franz in einem Bilderbuch leise vor sich hin buchstabierte, sah sie immer den fremden Herrn vor sich, wie er jetzt allein im Coupé in seinem eleganten Reisepelz mit gelben Handschuhen durch den treibenden Schnee in die weite Welt hineinsauste, und erschien sich selbst ein wenig als die verheiratete Frau, die sie ihm vorgespielt hatte. Wenn er ahnte, daß sie keineswegs zu einer Freundin aufs Land gefahren war, sondern zu ihrem Kind, zu einem unehelichen Kind, das sie von einem Schwindler namens Kasimir Tobisch hatte? Gleich aber durchschauerte es sie; sie rief ihren Buben herbei, herzte und küßte ihn, als hätte sie etwas an ihm gutzumachen.
Die nächsten vierzehn Tage verflossen in einer so quälenden Langsamkeit, als hätte das Wiedersehen mit jenem Fremden das Ziel ihres Lebens zu bedeuten, und je näher es heranrückte, um so mehr fürchtete sie, daß der Fremde die Verabredung nicht einhalten würde. Doch er war da; er hatte sogar schon eine Weile an der Straßenecke gewartet. Sein Anblick enttäuschte sie heute ein wenig. Im Coupé war es ihr nicht aufgefallen, daß er von etwas kleinerer Statur als sie und beinahe kahlköpfig war. Aber seine Art,
Beim nächsten Zusammentreffen an einem kalten Winterabend lud der Ministerialrat sie in sehr respektvoller Weise ein, bei ihm den Tee zu nehmen. Sie zierte sich nicht länger als dringend nötig war, und es hätte vielleicht nicht einmal der behaglichen Wohnung, des zartgedämpften Lichtes und des zweck- und geschmackvoll zusammengestellten Mahles bedurft, um das Abenteuer zu dem von ihr vorhergesehenen und gewünschten Abschluß zu fuhren. Er fragte zwar nichts und schien bereit, ihr alles zu glauben, was sie ihm erzählte; und doch, schon das nächste Mal, um nicht eines Tages als entlarvte Lügnerin dazustehen, hielt sie es für richtig, ihm doch wenigstens einen Teil
Sie trafen einander regelmäßig alle vierzehn Tage. Und Therese freute sich auf die stimmungsvolle Wohnung mit dem zartgedämpften Licht, sogar auf das jedesmal mit besonderem Raffinement zusammengestellte Abendessen, ja einfach auf die Abwechslung, die dieser Tag in ihrem Leben bedeutete, beinahe mehr als auf den Geliebten selbst. Seine Stimme klang noch immer so angenehm verschleiert, seine Redeweise noch immer so entzückend affektiert wie am ersten Tag, aber an den Dingen, die er ihr erzählte, vermochte sie kein besonderes Interesse zu finden. Am liebsten hörte sie ihm noch zu, wenn er von seiner Mutter sprach, die er eine »edle und gütige« Frau nannte, und von seinen Opernbesuchen, über die er übrigens in Phrasen zu berichten pflegte, die ihr aus Zeitungen wohl bekannt erschienen. Auch von Politik sprach er zuweilen, so sachlich und trocken, als wenn er einen Kollegen aus dem Ministerium vor sich hätte, und tat das manchmal auch in Stunden, die für solche Erörterungen wenig geeignet waren. In seiner diskreten Weise, die von Selbstgefälligkeit nicht ganz frei war, hatte er sich erbötig gemacht, ihre materielle Lage durch einen kleinen monatlichen Zuschuß zu erleichtern, was sie nach anfänglicher Weigerung annahm.
Es war im ganzen eine ruhige, es hätte geradezu eine glückliche Zeit für sie sein können; trotzdem empfand sie das Richtungs-, ja das Sinnlose ihres Lebens noch stärker als sonst. Manchmal drängte es sie, dem Manne, der doch am Ende ihr Geliebter war, ihr Herz auszuschütten. Aber immer wieder hielt sie eine innere Hemmung oder auch, wie ihr manchmal schien, ein Widerstand von seiner Seite zurück; ja, sie merkte deutlich, daß er solche Anzeichen ihres Vertrauens abwehren wollte, um Unbequemlichkeiten oder eine höhere Verantwortlichkeit zu vermeiden. So blieb sie sich bewußt, daß auch diese Beziehung in absehbarer Zeit enden würde, ebenso, wie sie nicht daran zweifelte, daß sie auch in dem Hause des Fabrikanten, so freundlich sich ihr Verhältnis zu Eltern und Töchtern auch gestaltet, eine dauernde Stellung oder gar ein Heim keineswegs gefunden hatte.
Im Mai, nach Tagen, in denen Sorge und trügerische Beruhigung miteinander gewechselt hatten, könnte sie sich keiner Täuschung mehr darüber hingeben, daß sie wieder in der Hoffnung war. Ihre erste Regung war natürlich, ihren Geliebten davon in Kenntnis zu setzen. Doch als sie es beim nächsten Zusammensein aus einer ihr unbegreiflichen Scheu versäumt hatte, war sie völlig entschlossen, ihn überhaupt nichts wissen zu lassen und ihrem Zustand diesmal auf alle Gefahr hin ein schleuniges Ende zu machen. Lieber den Tod als noch ein Kind. Sie zögerte diesmal nicht lang, und nach wenigen Tagen schon, gegen Zahlung einer nicht übergroßen Summe, die sie ursprünglich für ein neues Kleid bestimmt hatte, war sie rasch und ohne jede böse Folge von ihrer Sorge befreit. In der Familie des Fabrikanten wurde es übel vermerkt, daß sie ein paar Tage das Bett hüten mußte. Man schien Verdacht zu hegen, die Stimmung gegen sie verschlechterte sich, sie empfand die Ungerechtigkeit des Tones, den man gegen sie anschlug, gab sich nicht die Mühe, es zu verbergen, und fühlte, daß ihre Stellung in dem Hause unhaltbar zu werden anfing. Davon, ohne Angabe der Gründe, erzählte sie das nächste Mal ihrem Geliebten, dem Ministerialrat. Seine offenbare Gleichgültigkeit, die er diesmal unter affektierten Phrasen des Bedauerns zu verbergen sich nur wenig Mühe nahm, erbitterte sie. Alles, was sich an unausgesprochenen Vorwürfen nicht nur gegen ihn, sondern gegen ihr Schicksal im Laufe der letzten Monate in ihr
Wenige Tage später nahm die Familie des Fabrikanten Landaufenthalt; man benützte die Gelegenheit, um auf Theresens weitere Dienste zu verzichten. Sie atmete auf. Der schöne Sommertag, an dem sie den nun schon hundertmal gegangenen, langsam ansteigenden Weg von Enzbach nach dem Leutner-Hof hinaufschritt, erschien ihr von vorbedeutungsvoll versöhnender Anmut. Nicht nur ihrem Buben, sondern auch Herrn und Frau Leutner und sogar Agnes, die sie immer weniger leiden mochte, hatte sie kleine Geschenke mitgebracht. In diesem Sommer wollte sie sich ernstlich mit der Erziehung ihres Buben beschäftigen; doch sie fühlte immer wieder, daß es nicht leicht war, gegenüber den stillen und stetig wirkenden Einflüssen einer so völlig anderen, durchaus ländlichen Umgebung ihr eigenes Wesen und ihren eigenen Willen durchzusetzen. Mit Schreck merkte sie, daß Franz eine Redeweise, ja sogar gewisse Gebärden angenommen hatte, die in einer manchmal fast komischen Weise an die unwirsche Art des Herrn Leutner erinnerten. Therese versuchte vor allem, ihm die schlimmsten bäuerlichen Redewendungen und Gebärden abzugewöhnen und sich über seine Fortschritte in den verschiedenen Lehrgegenständen klar zu werden. Über Lesen, Schreiben und die Anfangsgründe des Rechnens war er natürlich noch nicht hinausgekommen. Er faßte ziemlich leicht auf, doch machte ihm das Lernen kein Vergnügen. Gern hätte sie ihn an ihrer eigenen Naturfreude teilnehmen lassen, lenkte seinen Sinn auf die Anmut von Landschaften, auf den Duft der Wiesen und Wälder, den Flug der Schmetterlinge hin. Aber sie mußte bald erkennen, daß er noch nicht reif oder gar nicht
Um sich die Langeweile zu vertreiben, die sie in den zwei Monaten ihres Aufenthaltes öfter empfand, als sie sich eingestehen wollte, schrieb sie mehr Briefe als seit langer Zeit. Mit einigen ihrer Berufsgenossinnen stand sie in flüchtiger Korrespondenz, bei manchen ihrer früheren Zöglinge brachte sie sich durch gewohnheitsmäßige Kartengrüße in Erinnerung; am ausführlichsten pflegte sie ihrer Mutter zu schreiben, der sie bis zum heutigen Tage von der Existenz ihres eigenen Kindes noch immer keine Mitteilung gemacht hatte und der wie den meisten anderen Leuten sie weiter vorspiegelte, daß sie sich auf dem Lande bei einer Freundin zur Erholung für ein paar Sommerwochen befinde. Daß ihre Mutter etwas ahnte, wenn nicht gar wußte, davon war sie überzeugt; der einzige Mensch, der ihrem Wunsch nach niemals von der Existenz ihres Kindes etwas erfahren sollte, war ihr Bruder, zu dem sich gerade im letzten Jahr nach einer zufälligen Begegnung auf der Straße eine neue, ziemlich förmliche Beziehung entwickelt hatte, so daß er sie im Hause des Fabrikanten, wo sie zuletzt in Stellung gewesen war, einmal besucht hatte.
An den Ministerialrat hatte Therese im Anfang ihres Enzbacher
Im September trat sie eine neue Stellung an als eine Art von Gesellschafterin bei einem siebzehnjährigen, blassen, unscheinbaren und etwas einfältigen jungen Mädchen, der einzigen Tochter eines verwitweten und seit vielen Jahren erblindeten, ehemaligen Großkaufmanns, dem überdies zwei erwachsene Söhne, Jurist der eine, der andere Techniker, im Hause lebten. Man wohnte in einer stillen Vorstadtstraße im ersten Stockwerk eines ziemlich alten, etwas düsteren, jedoch wohlgehaltenen Gebäudes, in das manche moderne Neuerungen, wie zum Beispiel elektrische Beleuchtung, noch keinen Eingang gefunden hatten. Der Kaufmann, ein fünfzigjähriger, graubärtiger, noch stattlicher Mann, hatte Therese persönlich aufgenommen mit der Bemerkung, daß ihn ihre Stimme, ihre treue Stimme, wie er sich ausdrückte, angenehm berühre. Da seiner Tochter jede Eignung zur Führung des Haushaltes fehlte, war Therese vorzugsweise die Sorge dafür überlassen, und sie freute sich, auch nach dieser Richtung hin eine ausgesprochene Begabung in sich zu entdecken. Es ging im Hause geselliger und heiterer zu, als Therese erwartet hätte. Die jungen Herren sahen Kollegen bei sich, die Tochter Berta erhielt Besuche von Verwandten und Freundinnen; und dem alternden blinden Mann tat es offenbar wohl, einen jugendlich lebendigen, manchmal sogar ziemlich lauten Kreis um sich zu versammeln und an den Unterhaltungen teilzunehmen. Therese konnte sich hier durchaus als Gleichgestellte, ja bald wie eine Angehörige der Familie fühlen. Eine der Kusinen, ein aufgewecktes, übermütiges Ding, machte Therese zur Vertrauten einer ernsten Leidenschaft, die sie für ihren älteren Vetter, den Juristen, zu hegen behauptete. Theresen aber schien es, als gefiele dem jungen Mädchen der andere Bruder oder auch ein gewisser blonder junger Mensch in Freiwilligenuniform, der öfters ins Haus kam,
Einmal, als sie abends von einer Besorgung nach Hause kam,
Wenn aber niemand auch nur das geringste von den Beziehungen zwischen ihm und Theresen zu ahnen schien, der Kaufmann, blind und seherisch zugleich, hatte offenbar etwas gemerkt, und seiner Art nach, in etwas salbungsvoller Weise, warnte er Therese vor den Enttäuschungen und Gefahren, denen junge Geschöpfe in ihrer Lebenslage ganz besonders ausgesetzt seien. Obwohl Therese wohl fühlte, daß hier nicht allein Sorge um ihre Tugend im Spiele war, verfehlten seine Worte nicht ihren Eindruck, und unwillkürlich änderte Therese ihr Verhalten gegenüber Ferdinand. Sie war nicht mehr das heiter-unbedenkliche Geschöpf, das er in den Armen zu halten gewohnt war, ließ Besorgnisse laut werden, mit denen sie die schönen Stunden des Beisammenseins zu stören bisher unterlassen hatte, und nach einem neuerlichen Gespräch mit Herrn Trübner, in dem er wieder in ziemlich allgemein gehaltenen Worten von der Leichtfertigkeit der jungen Leute und von den sittlichen Verpflichtungen alleinstehender weiblicher Wesen geredet hatte, schrieb Therese, fast wie unter einem Bann, an Ferdinand einen Abschiedsbrief. Zwar war sie schon drei Tage später wieder in der alten Weise mit ihm zusammen, aber sie wußten beide, daß es zu Ende gehe.
Einmal im Vorfrühling bei einem Einkaufsgang durch die
Herr Trübner ließ sich bald nicht nur philosophische Werke vorlesen; es gab, zu anfangs willkommener Abwechslung, auch leichtere Lektüre, und Therese geriet zuweilen an Stellen, über die sie nur verlegen und stockend hinwegzulesen vermochte. Einmal aber, in einem Kapitel eines übersetzten französischen Memoirenwerkes, hielt sie inne, da sie ihre Stimme nicht nur aus einem gewissen Schamgefühl, sondern auch in plötzlicher Erregung versagen fühlte. Herr Trübner faßte nach ihrer Hand, zog
Mit dem vorzüglichen Zeugnis, das sie erhalten, hatte sie Freiheit der Wahl. Sie entschied sich für eine Familie Rottmann, wo ihr die beiden Töchter von dreizehn und zehn Jahren durch ihr offenes und lebhaftes Wesen schon bei der ersten Begegnung sympathisch gewesen waren. Die Mutter, Pianistin und, wie Therese gleich bei der ersten Unterredung erfuhr, häufig auf Konzertreisen, kam ihr mit fast übertriebener Liebenswürdigkeit entgegen, doch ihr unruhig-fahriges Wesen behagte Theresen nicht sonderlich. Aus dem Vater, einem ernsten, etwas melancholisch und auffallend jung wirkenden Mann, vermochte sie anfangs nicht klug zu werden. In den ersten Tagen hatte sie den Eindruck, als wenn er ein gern gesehener, mit Zuvorkommenheit behandelter Gast, aber nicht eigentlich der Herr des Hauses wäre. Dies änderte sich mit einem Schlag, als Frau Rottmann sich auf eine Konzertreise begab. Der Ton im Hause wurde freier, ungezwungener, von den beiden Mädchen schien ein Druck genommen, die Melancholie des Vaters verschwand, und die Dienstleute ordneten sich dem neuen Fräulein viel lieber unter, als sie es der Hausfrau gegenüber getan hatten. Von der Abwesenheit wurde kaum gesprochen; Briefe von ihr kamen nie, nur flüchtige Kartengrüße aus den verschiedenen deutschen Städten, in denen sie konzertierte. Therese war tätiger und befriedigter von ihrer Tätigkeit als jemals vorher, – sowohl als Leiterin des Haushaltes wie auch als Erzieherin der Kinder, deren erfreuliche Begabung den Unterricht geradezu zu einem Vergnügen gestaltete.
Als Frau Rottmann nach sechs Wochen wiederkam, wurde das sofort wieder anders, ja, ihr übler Einfluß wurde auch darin
Kaum war man wieder in die Stadt gezogen, als die Geständnisse der Frau Rottmann ein jähes Ende nahmen. Im Herbst begab sie sich neuerdings auf Reisen, diesmal nach London, angeblich zu dem Zweck, um sich dort bei einem Pianisten von Weltruf weiter auszubilden. Sofort atmete wieder alles im Hause auf, und Therese fühlte sich in der Gesellschaft der beiden Mädchen und ihres Vaters so wohl, ja heimatlich, daß sie oft mit dem Gedanken spielte, ob sie sich nicht viel besser zu Rottmanns Frau und zur Mutter seiner Töchter eignen würde als jene andere. Der Mann gefiel ihr ganz besonders; sie ließ es ihn merken, die Nähe und Vertrautheit des täglichen Umganges tat das Weitere, und sie wurde seine Geliebte. Beide legten Wert darauf, daß das Verhältnis geheim bliebe, und sie hüteten sich sorgfältig im Beisammensein mit den andern, sich auch nur durch das geringste Zeichen gegenseitigen Einverständnisses zu verraten. Doch als Frau Rottmann vor Weihnachten wieder zurückkehrte, schien er mit einemmal vollkommen vergessen zu haben, was sich indes zwischen ihm und Therese ereignet hatte. Seine übergroße Vorsicht verletzte Therese, sie litt sehr, nicht nur aus beleidigtem Stolz; und als er wenige Wochen darauf nach neuerlicher Abreise seiner Gattin die Beziehungen zu Therese wieder aufnehmen wollte, wehrte sie sich anfangs mit Entschiedenheit. Aber er verstand es so gut, ihr die Notwendigkeit seines Verhaltens zu erklären, daß sie sich bald wieder seinen Wünschen fügte. Zuweilen ertappte sie sich auf dem Wunsche, daß Herr Rottmann auf irgendeine Weise, etwa durch anonyme Briefe, die Wahrheit über seine Frau erfahren möge; und einmal, in einer zärtlichen Stunde, wagte sie sogar selbst eine leise, wie scherzhafte Anspielung auf die Gefahren, denen schöne Frauen, insbesondere Künstlerinnen,
Frau Rottmann kehrte um einige Tage früher als erwartet von ihrer Tournee heim, zeigte sich in ihrem Benehmen gegen Therese völlig verändert, richtete kaum das Wort an sie und hatte noch in der Ankunftsstunde hinter geschlossenen Türen eine Auseinandersetzung mit ihrem Gatten. Kaum hatte dieser das Haus verlassen, berief sie Therese zu sich, erklärte ihr, daß sie alles wisse, und nachdem sie anfangs die Überlegene gespielt, beschimpfte sie sie in der unflätigsten Weise.
Therese fand kein Wort der Erwiderung, ihre Empörung, daß der Mann sich feige jeder Auseinandersetzung entzogen und offenbar seiner Frau Vollmacht gegeben, die Angelegenheit ganz nach ihrem Willen zu erledigen, war stärker als ihr Schmerz. Frau Rottmann hatte auch dafür gesorgt, daß die Töchter einige Stunden vom Hause abwesend waren, und verlangte von Therese kategorisch, daß sie innerhalb dieser Zeit das Haus verlassen haben müsse.
Während Therese, in ihrem Zimmer allein gelassen, ihre Sachen packte, kam ihr die ganze schmachvolle Unsinnigkeit ihres Erlebnisses zu Bewußtsein. Und plötzlich faßte sie den Entschluß, nicht zu gehen, ehe sie der Frau und auch dem Manne alles ins Gesicht geschleudert, was sie zu hören verdienten. Aber Frau Rottmann war nicht mehr daheim, und das Dienstmädchen verständigte Therese mit einem unverschämten Grinsen, daß das Ehepaar sich gemeinsam ins Theater begeben habe. Ob sie vielleicht für das Fräulein den Wagen holen und das Gepäck hinunterbringen solle? Nein, erwiderte Therese, sie habe mit den Herrschaften noch zu sprechen, sobald sie aus dem Theater kämen. Zum Fortgehen angezogen saß sie da, mit zusammengebissenen Lippen; Handkoffer, Reisetasche lagen bereit; ein ungeheurer Zorn wühlte in ihr; und sie wartete. Die beiden Mädchen kamen nach Hause, waren aufs höchste erstaunt, als sie Therese reisefertig fanden. Sie bestürmten sie mit Fragen; Therese schluchzte, konnte längere Zeit nicht reden, endlich erklärte sie, sie habe ein Telegramm erhalten, daß ihre Mutter schwer erkrankt sei und sie sofort nach Salzburg reisen müsse. Dann erhob sie sich, umarmte die Mädchen so zärtlich, als wenn sie ihre eigenen gewesen wären, bat sie, ihr den Abschied nicht schwer zu machen, ging, wartete im Hausflur, bis ihr das Dienstmädchen einen Wagen geholt hatte, und fuhr davon.
In später Nachtstunde kam sie in Enzbach an; eine Davongejagte, Erniedrigte, Unglückliche, angeekelt von der Welt, aber mehr noch von sich selbst. Ihr Bub schlief fest; im Dunkel sah sie eben nur einen blassen Schimmer des geliebten Kindergesichtes; es fiel ihr schwer auf die Seele, daß sie zwei Monate lang nicht bei ihm gewesen war. Andern Menschen hatte sie gehört, hatte andern gehören müssen; wieder einmal ging ihr das Ungerechte ihres Schicksals auf, und sie schwor sich zu, daß sie sich nicht in aller Zukunft für die Kinder fremder Leute aufopfern, daß ihr eigenes Kind nicht lange mehr unter fremden Leuten leben sollte.
Es dauerte lange, ehe der Schlummer sich ihrer erbarmen wollte. In der Nacht vorher – sie faßte es kaum – hatte sie noch im Hause Rottmanns, ja in seinem Bett geschlafen. Als könnte sie damit etwas ungeschehen machen, hüllte sie sich tief in Kissen und Decke. Was war aus ihr geworden in diesem letzten Jahr!
Des Morgens aber erwachte sie frischer, froher als seit langer Zeit. Es war wie ein Wunder. Diese eine Nacht fern von der Stadt, der Familie Rottmann entronnen, hatte sie, so schien es ihr, geradezu gesund gemacht. Blieb das Leben nicht leicht, solange solche Wunder möglich waren? Das freie Sonnenlicht, die ländliche Ruhe, immer wohltuend für sie, beglückten sie diesmal, wie sie es noch nie getan. Wenn man hier bleiben könnte! Immerhin – eine Reihe von guten Tagen lag vor ihr, und sie war nun froh, daß sie trotz anfänglicher Weigerung es nicht verschmäht hatte, gelegentlich kleine Geldgeschenke von Herrn Rottmann anzunehmen, die es ihr ermöglichten, den Enzbacher Aufenthalt etwas länger auszudehnen als sonst. An ihrem Buben entzückte sie diesmal alles, ja sogar eine gewisse Haltung des Kopfes, die ihr früher manchmal peinlich, ja unheimlich gewesen war, weil Franzl sie in solchen Momenten allzusehr an Kasimir Tobisch erinnert hatte, störte sie kaum. Sie machte weite Spaziergänge mit ihm, tollte auf den Wiesen mit ihm herum, sie war jung, ein Kind, und Franzl war es auch, ja, er war es eigentlich niemals so sehr gewesen.
Eines Tages, kaum eine Woche nach Theresens Eintreffen, kam Agnes aus der Stadt zu Besuch. Franzl empfing sie mit Ausbrüchen der Freude, die Therese befremdeten, und kümmerte sich an diesem Tag so gut wie gar nicht um seine Mutter. Und
Ihre Stimmung schlug an diesem einen Tage völlig um. Den Gedanken, ihr Kind zu sich zu nehmen, hatte sie schon früher als vorläufig unausführbar wieder verworfen. Es blieb ihr ja doch nichts anderes übrig, als auch weiterhin ihren Lebensunterhalt als Erzieherin fremder Kinder zu erwerben und den Buben auf dem Land zu lassen. Eines aber schwor sie sich zu: niemals wieder eine Dummheit zu machen. In der letzten Zeit war sie, wie sie wohl empfand, als Frau immer reizvoller geworden; so einfach, ja beinahe ärmlich sie sich notgedrungen kleidete, sie wußte die Vorzüge ihrer Gestalt immer besser zur Geltung zu bringen, und trotz ihres anständigen, ja im allgemeinen zurückhaltenden Auftretens hatte sie zuweilen eine Gebärde, ein Aufblitzen im Blick, das auch dann allerlei zu verheißen schien, wenn sie nicht im entferntesten daran dachte, ein solches Versprechen einzulösen. Sie nahm sich vor, von nun an besseren Gebrauch von den Gaben zu machen, die ihr die Natur geschenkt. Nach ihren letzten Erfahrungen im Hause Rottmann fühlte sie sich berechtigt, innerlich bereit und fähig, den Männern gegenüber berechnend, kalt, nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht zu sein. Sie stand in Verhandlung mit einigen Büros und bot sich auf Annoncen hin da und dort als Erzieherin an, insbesondere bei Witwern mit Kindern, aber es wollte vorerst nichts zum Abschluß kommen.
Unter den Briefen, die sie erhielt, befand sich einmal unter anderen die verspätete gedruckte Einladung zu Alfreds Promotion, die indes schon stattgefunden hatte; – und zufällig am gleichen Tage kam eine Anfrage ihrer Mutter, ob sie nicht den Aufenthalt bei ihrer Freundin – das Wort war mit Anführungszeichen versehen – abkürzen und für einige Tage nach Salzburg kommen wollte. Therese nahm dies als Schicksalswink und verließ Enzbach am Morgen darauf. Was sie aber vor allem nach Salzburg zog, war die Hoffnung, Alfred dort anzutreffen, der, wie sie vermutete, nach der Promotion eine Zeitlang bei seinen Eltern verweilen würde.
Sie hatte sich nicht getäuscht. Am ersten Tag ihres Aufenthaltes schon, auf dem Domplatz, trat er ihr entgegen. Sie nahmen einen Weg, den sie vor vielen Jahren oft gegangen waren, und in der Mittagsschwüle – kein Blatt rührte sich über ihnen – saßen sie auf der gleichen Bank, an der einstmals zwei junge Offiziere, der eine schwarzäugig, die Kappe in der Hand, an ihnen vorüberspaziert waren. Therese erzählte diesmal Alfred gar manches aus ihrem Leben; sie fühlte, daß er alles verstehen müßte und daß er wohl noch mehr hätte verstehen können, als sie ihm anvertraute. Auch daß sie Mutter eines neunjährigen Buben war, verschwieg sie ihm nicht, und Alfred gestand ihr, daß er das längst gewußt habe. Als sie damals in dem Wagen mit aufgeschlagenem Dach an ihm vorübergefahren war, hatte er wohl gemerkt, daß ihre Begleiterin, eine alte Frau, ein Kind auf dem Schöße gehalten, und hatte keinen Augenblick gezweifelt, daß es Theresens Kind sei. Er war übrigens gar nicht damit einverstanden, daß sie die Existenz ihres Kindes so geheim hielte. Man sei doch im ganzen etwas vorurteilsfreier geworden, und es gebe Familien, wo man ihre Vergangenheit gewiß nicht übelnehmen würde.
Sie trafen einander auch in den nächsten Tagen, immer zufällig, und hatten es doch immer beide vorhergewußt. Alfred sprach von seinem Beruf, im Herbst sollte er als Sekundararzt ins Allgemeine Krankenhaus eintreten. Sie verabredeten nichts Bestimmtes miteinander, aber als er ihr bei der letzten Begegnung seine Abreise nach Wien für denselben Abend ankündigte, wußten sie, daß sie einander in Wien bald wiedersehen würden.
Drei Tage später fuhr auch Therese nach der Hauptstadt. Die Mutter begleitete sie zur Bahn. Noch nie war sie so herzlich zu der Tochter gewesen als in diesen Tagen, und trotzdem verspürte Therese noch immer eine Art von innerem Widerstand, ihr Allerpersönlichstes mitzuteilen. Da, unvermuteterweise, als Therese schon am Coupéfenster stand, als Abschiedswort, rief ihr die Mutter zu: »Küß mir deinen Buben.« Therese errötete zuerst, dann lächelte sie, und als der Zug sich in Bewegung gesetzt hatte, nickte sie der Mutter zu wie einer neugewonnenen Freundin.
Es war nun doch kein Witwer, sondern ein Ehepaar mit einem Kind, bei dem sie ihre neue Stellung antrat. Der Knabe, den sie zu unterrichten hatte, stand im gleichen Alter mit Franz. Der Vater war Zeitungsredakteur, ein noch ziemlich junger, aber grauhaariger, schmächtiger Mensch, freundlich, zerstreut und meistens etwas aufgeregt, der gegen Mittag aufzustehen und nachts um drei nach Hause zu kommen pflegte. Seine Frau, zierlich und klein wie er, war Direktrice eines Modesalons und verließ das Haus stets zu sehr früher Stunde. Die Mahlzeiten wurden getrennt und zu den verschiedensten Zeiten genommen; trotzdem erinnerte sich Therese nicht, jemals einen so wohlgeordneten Haushalt und eine so gute Ehe gesehen zu haben. Dem Rate Alfreds getreu, hatte sich Therese im Monat zwei freie Tage nacheinander ausbedungen, um ihren Buben auf dem Land besuchen und ein wenig bei ihm verweilen zu können. Frau Knauer hatte nichts einzuwenden, ja, sie schien, als sollte sich Alfreds Voraussage gleich erfüllen, gerade um dieses Umstandes willen eine besondere Sympathie für Therese zu gewinnen und ließ sich gleich nach der ersten Rückkehr Theresens aus Enzbach und von nun an oft und gern mit ihr in Gespräche über das Kind ein.
Ihr eigenes, der neunjährige Robert, war ein blondlockiger, besonders wohlgestalteter Knabe, so bildhübsch, daß Therese kaum begreifen konnte, wie diese Eltern eigentlich zu diesem Kind gekommen wären. Vom ersten Augenblick an schloß sie es mit einer Zärtlichkeit in ihr Herz, wie sie sie noch keinem ihrer Zöglinge gegenüber empfunden hatte. Da Robert keine öffentliche Schule besuchte, hatte Therese den ganzen Unterricht zu leiten und widmete sich dieser Beschäftigung mit einer Inbrunst wie nie zuvor. Nicht selten war ihr, als hätte sie ihrem eigenen Kind etwas abzubitten; sie war dann liebevoller zu ihm als sonst, und sie freute sich, daß er, wenn auch nicht gerade hübscher und vornehmer, doch jedenfalls kräftiger und rotbäckiger aussah als ihr Pflegebefohlener. Und wenn auch Franzls Redeweise vom bäuerischen Dialekt keineswegs frei und sein Gehaben manchmal ein wenig zu ländlich schien, an Auffassungsgabe stand er hinter dem kleinen Robert gewiß nicht zurück. Doch immer von neuem gewann Robert den Vorrang in ihrem Herzen; sie begann darunter zu leiden, wie unter einer Schuld, und wußte, daß es nicht die erste war, deren sie sich ihrem Kind gegenüber anzuklagen hatte.
Bald darauf fügte es sich einmal, daß Therese von Frau Knauer gebeten wurde, auf ihren nächsten zweitägigen Urlaub zu verzichten, doch stellte man es ihr frei, zum Ersatz ihren Buben einmal nach Wien zu Knauers zu bringen. Therese hatte zuerst eine gewisse Scheu, diesen Vorschlag anzunehmen, sie fürchtete halb
Über ihre sämtlichen Beobachtungen und Ansichten pflegte sie sich Alfred gegenüber auszusprechen, der zu ihrer Neigung, überall Eigentümlichkeiten und Sonderbarkeiten zu entdecken, wo wahrscheinlich gar keine vorhanden wären, nachsichtig lächelte. Bei ihren meist sehr flüchtigen, aber doch immer häufiger werdenden Zusammenkünften, auch bei Gelegenheit gemeinsamer Theaterbesuche mit darauffolgendem Abendessen in bescheidenen Gasthäusern wurden sie immer vertrauter, und es erging Theresen ähnlich mit dem Freunde, wie so viele Jahre vorher: sie wünschte ihn verwegener, draufgängerischer, als er war. Und doch, sobald er etwas kühner wurde, fühlte sie sich verängstigt, beinahe abgestoßen, als sei das Schönste, was sie bisher erlebt, gerade dadurch, daß es noch schöner würde, zu allzu frühem Ende bestimmt.
Als sie endlich an einem Vorfrühlingsabend in dem etwas kahlen, doch sehr ordentlich gehaltenen Zimmer der Alservorstadt, das er bewohnte, die Seine wurde, hatte sie weniger das Gefühl einer lang ersehnten Erfüllung als das Bewußtsein einer endlich eingelösten Verpflichtung; und es war das erstemal, daß sie über eine ihrer Seelenregungen mit Alfred zu sprechen nicht imstande war, was ihr beinahe leid tat. Allmählich aber begann sie sich in seiner Nähe, in seinen Armen so beglückt zu fühlen, wie es ihr noch niemals begegnet war. Alfred war doch der erste Mensch, dem sie wirklich vertrauen, der erste, den wahrhaft zu kennen und von dem gekannt zu werden sie sich einbilden durfte. Aller andern gedachte sie wie fremder Menschen, denen sie sich in einem nicht ganz zurechnungsfähigen Zustand hingegeben hatte oder denen sie zum Opfer gefallen war. Er aber gehörte ihr. Das einzige, was sie manchmal befremdete, war, daß er es nun gern vermied, sich mit ihr öffentlich zu zeigen, mit der Begründung, daß es ihm peinlich wäre und doch auch ihr peinlich sein müßte, wenn sie zusammen zufällig Karl begegneten. Ihre gelegentlichen Aufforderungen aber, sie doch wieder einmal nach Enzbach hinauszubegleiten, schienen ihn geradezu zu verstimmen, und so stand sie in der Folge von der Äußerung solcher Wünsche ab.
Einer ihrer schönsten Tage war es, als Frau Knauer ihr einmal gestattete, Robert mit sich aufs Land zu nehmen, und ihr nun die Freude ward, »ihre beiden Kinder«, wie sie sie manchmal für sich selbst und diesmal auch vor Frau Leutner nannte, miteinander auf der Wiese umhertollen zu sehen. Sie faßte den festen Entschluß, im kommenden Herbst Franzl aus Enzbach fortzunehmen und in ihrer Nähe einzuquartieren.
Rascher, als sie selbst es für möglich gehalten, wurde diese Veränderung ins Werk gesetzt. Ohne sonderliche Mühe fand sie Unterkunft für ihren Sohn in der Familie eines in Hernals wohnenden Schneidermeisters, und so hätte Therese Gelegenheit gehabt, ihr Kind viel öfter zu sehen als bisher. Doch sie machte davon weniger Gebrauch, als sie sich vorgenommen hatte. Insbesondere die Sonntagnachmittage verbrachte sie regelmäßig mit Alfred, der indes Sekundararzt im Allgemeinen Krankenhaus geworden war.
Im nächsten Frühjahr schon war sie genötigt, ihren Buben aus dem Hause des Schneidermeisters zu entfernen, weil er sich mit
Dies ging Therese nicht so nahe, als natürlich gewesen wäre, und sie konnte sich nicht verhehlen, daß im Mittelpunkt ihres Gefühlslebens nicht die Liebe für ihr eigenes Kind, auch nicht die Neigung für Alfred, sondern die Beziehung zu dem kleinen Robert stand, die allmählich den Charakter einer fast krankhaften Schwärmerei angenommen hatte. Sie hütete sich, von diesem Überschwang die Eltern etwas merken zu lassen, als würde dadurch die Gefahr einer Trennung heraufbeschworen. Aber wenn jene es auch an äußerer Zärtlichkeit für ihr Kind nicht fehlen ließen, Theresen entging es nicht, daß dieses im Grunde ihnen doch nicht viel mehr bedeutete als eine Art von Spielzeug, freilich ein sehr lebendiges und köstliches. Sicher war, daß sie ihr Glück in seiner ganzen Größe nicht zu schätzen wußten. Der Kleine selbst schien in seinen Gefühlen gegenüber den Eltern und denjenigen gegenüber seiner Erzieherin kaum einen Unterschied zu machen und nahm nach Art verwöhnter Kinder alle ihm dargebrachte Liebe und Vergötterung wie etwas Selbstverständliches hin.
Im Laufe des Winters erkrankte Frau Knauer an Lungen- und Rippenfellentzündung und schwebte einige Tage in Lebensgefahr. Obwohl Therese ihr alles erdenkliche Gute wünschte, vermochte sie gewisse, nicht in Worte, kaum in Gedanken zu fassende Hoffnungen nicht völlig zu unterdrücken. Zwar hatte Herr Knauer niemals auch nur durch einen Blick vermuten lassen, daß Therese als Frau im geringsten auf ihn wirke; ihr selbst war er in seiner leeren Freundlichkeit so fremd geblieben wie je und als Mann eine fast widerwärtige Erscheinung, aber sie wußte:
Frau Knauer erholte sich langsam, war als Rekonvaleszentin höchst reizbar geworden, und es gab etliche, freilich unbeträchtliche Auseinandersetzungen zwischen ihr und Therese, an die diese im Augenblick nachher nicht mehr dachte. So geschah es einmal, daß Therese einen Einkauf für Frau Knauer hätte besorgen sollen. Sie fühlte sich an diesem Tage nicht wohl und schickte sich an, dem Stubenmädchen diesen Auftrag zu überweisen. Frau Knauer wollte nichts davon wissen, Therese erwiderte lebhafter, als es sonst ihre Art war, und Frau Knauer stellte ihr anheim, das Haus zu verlassen, wann es ihr beliebe. Therese nahm diese Äußerung nicht ernst, sie war ja hier überhaupt nicht mehr zu entbehren, und man konnte doch nicht daran denken, sie von Robert oder Robert von ihr zu entfernen. Und es war auch tatsächlich in den nächsten Tagen weder im Benehmen der Frau noch des Herrn Knauer ihr gegenüber eine Veränderung, eine Entfremdung oder gar eine Feindseligkeit zu bemerken. Schon war Therese daran, den kleinen Zwischenfall völlig zu vergessen, als eines Tages Frau Knauer wie von einer Tatsache, über die eine Diskussion gar nicht mehr möglich war, von dem bevorstehenden Scheiden Theresens aus dem Hause sprach. Sie erkundigte sich mit der größten Liebenswürdigkeit, ob Therese schon eine neue Stellung gefunden, und bemerkte, daß sie selbst während der kommenden Sommermonate auf dem Land ganz ohne Erzieherin auszukommen gedächte. Therese war überzeugt, daß eben sie für den Herbst als Erzieherin ausersehen sei, aber sie war zu stolz, sich selber anzutragen oder auch nur eine Frage zu stellen, und so vergingen die Tage wieder ungenützt. Noch immer war es ihr unmöglich zu glauben, daß sie wirklich fort sollte; eine solche Grausamkeit, nicht nur gegen sie, sondern auch gegen den kleinen Robert, war ja nicht auszudenken; und wenn nicht früher, davon war sie überzeugt, im letzten Augenblick noch würde man sie zurückzuhalten suchen. So schob sie alle Vorbereitungen hinaus bis zum letzten Tag, an dessen Morgen sie das erlösende Wort von Frau Knauer zu hören hoffte. Doch diese
Nach dem Mittagessen bat Therese Frau Knauer um die Erlaubnis, in dieser Nacht noch hier schlafen zu dürfen. Frau Knauer erteilte sie ihr ohne weiteres, doch war ihr anzumerken, daß sie sich dabei etwas gnädig vorkam. Therese versprach, als wäre sie dazu verpflichtet, morgen früh das Haus zu verlassen, ohne Robert noch einmal zu sehen, Herr Knauer dankte Theresen für die musterhaften Dienste, die sie geleistet, er hoffe, sie manchmal wiederzusehen, sie würde, mit ihrem Buben, im Hause immer willkommen sein.
Alfred gegenüber, zu dem sie sich in den Nachmittagsstunden dieses Tages flüchtete, machte sie kein Hehl aus ihrer Verzweiflung. Sie erklärte, daß sie diese Existenz überhaupt nicht mehr zu ertragen imstande sei, daß sie irgendeinen anderen Beruf ergreifen wolle, daß sie nach Salzburg zu ihrer Mutter ziehen werde. Alfred setzte ihr geduldig auseinander, daß sie ja Zeit habe zu überlegen; diesen Sommer müsse sie jedenfalls ganz ihrer Erholung widmen; sie solle ein paar Wochen in Salzburg und eine Zeit mit Franzl verbringen, am besten in Enzbach, wo sie ja immer wieder bei Frau Leutner freundliche Aufnahme finden würde. Durch einen Schleier von Tränen blickte sie in Alfreds Antlitz und merkte, daß er mit gleichgültigen, ja gelangweilten Augen über sie hinweg oder durch sie hindurch sah, ganz in der gleichen Art, wie es Herr Knauer, wie es Frau Knauer, wie es wenige Stunden vorher ihr geliebter kleiner Robert getan. Ihr Befremden, ihre innere Qual entging ihm nicht; er lächelte befangen, bemühte sich, zärtlich zu sein, sie nahm es hin, denn sie lechzte nach Liebe. Und zugleich fühlte sie, daß heute, auch wenn sie noch Jahre, wenn sie noch das ganze Leben lang mit Alfred zusammenbliebe, daß in diesem Augenblick der Abschied, der große Abschied anfing. Wie er es schon öfters bisher ohne Erfolg getan, bot ihr Alfred für die nächsten Monate seine Unterstützung an, die sie diesmal nicht zurückweisen konnte.
Am nächsten Morgen verließ sie das Haus. Sie fuhr nach Salzburg und wurde von der Mutter herzlich aufgenommen. Es schien Theresen diesmal, als hätte alles Krankhafte, Zerfahrene, Unreine
Nach einer Woche holte Therese ihren Buben aus Wien ab, um für eine Weile mit ihm nach Enzbach zu ziehen. Sie war diesmal entschlossen, ihn sehr zu lieben, und es gelang ihr vorerst, während sie an Robert, nach dem sich ihr Herz in Sehnsucht verzehrte, nur mit Bitterkeit zu denken vermochte. Alfred holte sie ab und machte mit ihr eine kleine Reise in die steierischen Voralpen, auf der Therese sehr glücklich war. Er mußte wieder nach Wien ins Spital; sie kam allein nach Enzbach zurück. Frau Leutner vermochte Theresen nicht lange zu verschweigen, daß sie sich über Franzl diesmal in mancher Beziehung zu beklagen habe. Der Aufenthalt in Wien schien ihm doch gar nicht gutgetan zu haben. Er sei ungebärdig, ja frech, in einer Villa unten mit anderen Jungen zusammen hatte er mutwillig Gartenbeete verwüstet, und das schlimmste war, daß er sogar kleine Diebereien beging. Der Bub leugnete. Ein paar Blumen hatte er in jenem Garten gepflückt, das war alles. Und daß er die paar Kreuzer eingesteckt, die Frau Leutner auf dem Tisch hatte liegen lassen, das war nur zum Spaß gewesen. Auch Therese konnte und wollte diese Kleinigkeiten nicht recht ernstnehmen. Sie versprach Frau Leutner, daß sich
Einmal kam Agnes zu Besuch in auffallendem Sonntagsputz, mit ihren achtzehn Jahren um vier oder fünf Jahre älter aussehend, und Franzl empfing sie wieder mit Entzücken. Sie küßte ihn, als wenn sie seine Mutter wäre, und doch ganz anders, und schielte dabei frech zu Theresen hin. Bei Tisch erzählte sie allerlei Schlimmes über das vornehme Haus, wo sie »zweites Stubenmädchen« war, behandelte Therese gleich zu gleich, erkundigte sich, wo sie jetzt »in Dienst« sei, und ließ es an Anspielungen nicht fehlen über mancherlei, was man sich als junge hübsche Person von den jungen und ganz besonders von den älteren Herren gefallen lassen müßte, – wovon Therese wohl auch etwas erzählen könne. Therese, entrüstet, verbat sich Bemerkungen solcher Art. Agnes wurde anzüglich; Frau Leutner machte dem beginnenden Zank ein Ende. Agnes sagte: »Komm, Franzl«, und lief mit ihm davon. Therese weinte bitterlich. Frau Leutner tröstete sie; es kam Besuch aus der Nachbarschaft; der Bub und Agnes kamen wieder zurück; und ehe diese ziemlich früh am Abend wieder in die Stadt hineinfahren mußte, trat sie auf Therese zu, streckte ihr die Hand hin: »Sein S' nicht bös, es war ja nicht so gemeint« – und der Friede schien wieder hergestellt.
Indes nahte die Zeit heran, in der Therese sich nach einer Stellung umsehen mußte. Ein Versuch, an einer Erziehungsanstalt als Lehrerin einzutreten, war erfolglos geblieben, da sie die notwendigen Prüfungen nicht abgelegt hatte. Wieder einmal nahm sie sich vor, dies bei nächster Gelegenheit nachzutragen. Sie tat nun, was sie schon so oft getan: las Zeitungsannoncen, schrieb Offerte; es kam ihr alles mühseliger und aussichtsloser vor als je. Manchmal fiel ihr ein, daß sich auch Alfred ein wenig für sie bemühen könne, zum mindesten, indem er sie auf Zeitungsanzeigen aufmerksam machte, die ihm zufällig vor Augen kämen, doch um alle Dinge, die ihren Beruf angingen, schien er sich wie mit Absicht nicht zu kümmern. In Enzbach hatte er sich nicht mehr blicken lassen.
Therese fand eine Stellung im Hause eines Bankdirektors zu zwei kleinen Mädchen von acht und zehn Jahren. Sie hatte sich fest vorgenommen, niemals wieder etwas über ihre Pflicht hinaus zu tun, ihr Herz und ihre Seele ganz unberührt zu halten und stets eingedenk zu sein, daß sie in jedem Hause eine Fremde war und blieb. Trotzdem verspürte sie schon nach wenigen Tagen eine lebhafte, immer wachsende Sympathie für das jüngere Mädchen, das von rührend anschmiegsamer Natur war; um so absichtsvoller verhärtete sich ihr Herz gegenüber dem älteren Mädchen. Der Bankdirektor war ein Mann in den Fünfzigern, noch immer das, was man einen schönen Mann zu nennen pflegt, nicht ohne Geckenhaftigkeit, die sich hauptsächlich in der Gewohnheit eines koketten Augenaufschlags und einer höchst gewählten Umgangssprache kundgab. Er hatte auch eine gewisse Art, im Vorübergehen wie zufällig an Theresen anzustreifen und seinen Atem in ihren Nacken zu hauchen, und Therese war vollkommen überzeugt, daß es nur von ihr abgehangen hätte, in ein näheres Verhältnis zu ihm zu treten, um so mehr, da seine Frau, nicht mehr jung, etwas schwerfällig, im Äußeren beinahe vernachlässigt und immer leidend war. Jedenfalls war sie sorgfältig auf ihre Gesundheit bedacht, und immer wieder erbitterte es Therese, daß die Frau Direktor sich bei jeder Gelegenheit nach Herzenslust schonen und ins Bett legen konnte, während man auf sie, die am Ende doch auch eine Frau war, nie und nimmer Rücksicht nahm und niemals Rücksicht genommen hatte. Sie erinnerte sich, wie sie Vorjahren in einem ihrer Häuser im Zustande eines heftigen Unwohlseins bei miserablem Wetter die Kinder aus der Schule hatte abholen müssen und beinahe schwer krank geworden wäre; und was sie damals als eine der unvermeidlichen Peinlichkeiten ihres Berufs hingenommen, das ließ sie nun in ihrem Herzen die Leute entgelten, bei denen sie jetzt in Stellung war, ohne es sie äußerlich merken zu lassen. Wenn Alfred aber, zu dem sie sich über alle diese Dinge aussprach, ihr gelegentliche Übertriebenheiten und offenbare Ungerechtigkeiten nachwies und sie zu einiger Milde und Nachsicht zu überreden suchte, dann warf sie ihm vor, daß er als Sohn aus gutem bürgerlichen Hause, der niemals Sorgen gekannt, sich natürlich auch mit jüdischen Bankdirektoren solidarisch fühle, schalt ihn egoistisch und herzlos und ging endlich so weit, ihm ins Gesicht zu sagen, daß er, nur er
Ihren Sohn hatte sie zwischen Stadt und Land in dem Vorort Liebhartstal, der für sie leicht erreichbar war, günstig untergebracht, zufällig wieder im Hause eines Schneidermeisters; und da Therese längst nicht mehr daran dachte, Franzl eine Mittelschule besuchen zu lassen, so nahm sie das als ein Schicksalszeichen und ließ Franz, noch während er eine nahegelegene Volksschule besuchte, seine Lehrlingszeit beginnen. Es schien ihr, als entwickle er sich nun wieder besser als im vergangenen Jahr: der Meister, ein gutmütiger, nur dem Trunk etwas zugeneigter Mensch, wie auch die Meisterin hatten nichts an ihm auszusetzen, mit dem Sohn, der um etliche Jahre älter war als Franzl, vertrug er sich ganz gut, und so glaubte Therese wieder einmal sich hinsichtlich seiner Zukunft beruhigen zu dürfen.
Alfred überraschte sie eines Tages mit der Mitteilung, daß er demnächst eine kleine Universitätsstadt in Deutschland beziehen werde, um sich bei einem berühmten Psychiater in seinem Spezialfach weiter auszubilden. So sehr er selbst überzeugt schien, daß das keine dauernde Trennung bedeuten sollte, Therese zweifelte nicht, daß nun das Ende da war. Aber sie ließ sich nichts anmerken und war in diesen letzten Wochen, die ihnen noch übrig blieben, von einer Gefaßtheit und zugleich von einer Zärtlichkeit, die Alfred lange nicht mehr an ihr gekannt hatte.
In den ersten Briefen aus seinem neuen Aufenthaltsort gab er sich freier und heiterer, als es zuletzt im persönlichen Beisammensein mit ihr der Fall gewesen war. Doch dem freundschaftlichen Ton dieser Briefe fehlte fast jeder Beiklang von Liebe oder gar Leidenschaft; und Therese, halb absichtlich, halb unbewußt, verstand es bald, sich diesem Tone anzupassen. Im Sommer bezog sie mit den Kindern und der Frau des Bankdirektors eine behagliche Villa in der Umgebung Wiens; fing eben an, sich zu erholen, ja dank dem freundlich-herzlichen Entgegenkommen der Frau Direktor und dem heiteren Wesen der Kinder wohl zu fühlen, als ein Brief von der Frau des Schneidermeisters eintraf mit der kurzen Mitteilung, daß man Franz aus Familiengründen leider nicht länger im Hause behalten könne.
Es kam ihr der Einfall, ihren ungeratenen Sohn von einem kinderlosen Ehepaar adoptieren zu lassen, was Alfred einmal flüchtig im Gespräch berührt und sie entrüstet zurückgewiesen hatte, und sich dann nicht mehr um ihn zu kümmern. Doch kaum hatte sie begonnen, diesen Plan weiterzudenken, als ihre Stimmung wieder umschlug. Alle mütterlichen Gefühle für den armen Buben, der ja an seiner Natur und an seinem Los völlig unschuldig war, der sich unter anderen Umständen ganz anders, vielleicht zu einem braven, tüchtigen Menschen entwickelt hätte, brachen mit ungeheurer Macht wieder hervor, und sie fühlte ihre eigene Schuld tiefer denn je. War sie denn innerlich jemals treu zu ihm gestanden? war sie nicht immer wieder von ihm abgefallen und manchmal sogar zugunsten von andern Kindern, die sie gar nichts angingen und die sie vielleicht nur deshalb liebte, weil sie aus besseren Häusern, weil sie wohlgepflegt, weil sie glücklicher waren als ihr eigenes Kind?
Und an einem heißen Sommertag, während der Staub der Stadt durch den ärmlichen Vorort gegen die Hügel zu fegte, saß Therese mit ihrem Buben auf einer Bank am Rande der Straße, die bergaufwärts führte, redete ihm ins Gewissen, glaubte in seinen Augen etwas wie Einsicht, ja wie Reue zu lesen, fühlte neue Hoffnung in sich aufsteigen, als er sich näher an sie herandrängte,
In einer unendlichen Traurigkeit ging sie den Weg mit ihm über die staubige Straße wieder hinab. Noch hielt sie seine Hand in der ihren, aber unmerklich glitten die Finger auseinander, und sie war allein. Sie führte Franz für diesmal noch in das Haus seiner Kostgeber zurück, begab sich, fürs erste ohne Erfolg, auf die Suche nach einem neuen Quartier, nach neuen Pflegeeltern für ihren Sohn, übernachtete in einem kleinen Vorstadtgasthof und schrieb Alfred einen ausführlichen Brief, in dem sie sich wieder einmal zu ihm wie zu einem Freunde aussprach. Und am nächsten Morgen in einer beruhigteren Stimmung glückte es ihr, für Franz bei einem kinderlosen Ehepaar ein reinliches Kabinett zu finden, so daß sie immerhin im Gefühl einer erledigten Pflicht aufs Land zurückreisen konnte. Diese letzten Wochen in der Villa hatte sie Gelegenheit, sich zu erholen, ja aufzuatmen. Die Mädchen gaben ihr wenig zu tun, man lebte zurückgezogen; der Herr des Hauses war auf einer größeren Reise abwesend, kaum jemals erschien ein Gast, – so verbrachte auch Therese beinahe den ganzen Tag lesend und viel schlummernd, von der Frau Direktor und von den Kindern wenig gestört, in dem großen schattigen Garten, dessen Mauer das ganze Haus und seine Inwohner gegen die Umwelt abschloß.
Im Herbst übersiedelte Frau Fabiani nach Wien, vorerst in eine Fremdenpension. Ihr Sohn hatte indes eine Hausbesitzerstochter aus einer österreichischen Provinzstadt geheiratet, wo er kurze Zeit hindurch Hilfsarzt gewesen war, und sich in Wien als praktischer Arzt etabliert. Doch blieb die Politik nach wie vor der Hauptgegenstand seines Interesses. Materieller Sorgen war er nun so ziemlich enthoben, was ihn auch liebenswürdiger und umgänglicher zu machen schien, wie Therese anläßlich einer Begegnung, die zufällig bei ihrer Mutter stattfand, zu bemerken Gelegenheit hatte. Seine junge Frau, die zugleich anwesend war, gutmütig, hübsch, beschränkt, von ziemlich kleinstädtischem Gehaben, kam Therese mit naiver Herzlichkeit entgegen, lud sie sofort ins Haus, und so fügte es sich, daß Therese, worauf sie noch vor wenigen Wochen keineswegs gefaßt sein konnte, an einem Familienessen bei Doktor Faber, wie ihr Bruder nun wirklich mit behördlicher Bewilligung hieß, teilzunehmen das Vergnügen hatte. Von einer verwandtschaftlichen Atmosphäre fühlte sie wenig, einmal mehr in ihrem Leben war sie bei Fremden zu Gaste, und trotzdem das Zusammensein harmlos und unbefangen verlief, behielt sie von diesem Familienmahl einen unangenehmen Nachgeschmack zurück.
Ihren Sohn sah sie nicht viel häufiger als früher. Die Leute, bei denen er in Pflege war, ein pensionierter Beamter namens Mauerhold und seine Frau, hatten ihn nicht aus Erwerbsgründen bei sich aufgenommen, sondern weil sie ihr einziges Kind vor einigen Jahren verloren hatten und bei nahendem Alter das Bedürfnis fühlten, wieder ein junges Geschöpf in ihrer Umgebung zu wissen. Es hatte den Anschein, als übte die Gutmütigkeit und Nachsicht der beiden Leute auf Franzls Wesen einen höchst günstigen Einfluß; weder von ihnen, noch von seinem Lehrer bekam Therese Abfälliges über ihn zu hören, und so verlief dieser Winter ohne sonderliche Aufregungen für sie. Daß Alfreds Briefe immer seltener und immer kühler wurden, berührte Therese kaum; in der gewissenhaften Erfüllung ihrer Pflichten als Erzieherin und als Stütze der Hausfrau, wozu sie sich in der letzten Zeit bei dem meistens leidenden Zustand der Frau Direktor immer mehr herangebildet hatte, fand sie fast völlige Befriedigung.
Manchmal, ganz flüchtig, kam ihr der Gedanke, ob nicht einer der Herren, die im Hause verkehrten, der Hausarzt zum Beispiel,
Im Stadtpark, wo sie bei beginnendem Frühjahr mit den beiden Mädchen öfters spazieren zu gehen pflegte, traf sie nach Jahren wieder mit Sylvie zusammen, die dort mit ihrem Zögling, einem achtjährigen Knaben, sich auf einer Bank sonnte. Sie zeigte sich höchst erfreut, Therese wiederzusehen, erzählte, daß sie zuletzt auf einem ungarischen Gut, vorher noch weiter, in Rumänien, in Stellung gewesen sei, und schien sich im übrigen innerlich nicht im geringsten verändert zu haben. Immer wohlgelaunt, empfand sie ihr Los keineswegs als ein beklagenswertes oder gar, wie es bei Theresen doch noch zuweilen der Fall war, als ein ihrer nicht ganz würdiges, sah zwar etwas faniert, im ganzen aber beinahe reizvoller aus als zu der Zeit, da Therese sie kennengelernt hatte.
Beim nächsten Zusammentreffen schon, ganz unvermittelt, lud sie Therese für den nächsten freien Sonntag zu einem Ausflug ein. Sie sei mit einem guten Freund verabredet, Einjährig-Freiwilligem bei den Dragonern, der auch seinerseits, wenn Therese mit von der Partie sein wolle, einen Kameraden mitbringen werde. Therese maß sie mit einem erstaunten, fast beleidigten Blick, der Sylvie nur lächeln machte. Es war ein schöner Frühlingstag; die beiden saßen nahe dem Teich, die Kinder, die ihrer Obhut anvertraut waren, futterten die Schwäne, und Sylvie plauderte unbeirrt weiter. Sie hatte ihren Freund in diesem Winter auf einem Maskenball kennengelernt – ja, auf Maskenbälle ging sie auch, warum denn nicht –, er war hübsch, blond, eher klein, der lustigste Junge, den man sich denken konnte; er werde wahrscheinlich beim Militär bleiben, weil ihm das Studieren nicht viel Spaß
Als Therese am Morgen des nächsten Sonntags erwachte und den Himmel mit dunklen Wolken verhängt sah, empfand sie das wie eine Enttäuschung; doch mittags heiterte es sich auf, Sylvie holte Therese am frühen Nachmittag ab, und man fuhr zum Praterstern, wo die beiden Herren am Tegetthoffmonument Zigaretten rauchend warteten. Sie begrüßten die Damen mit vollendeter Höflichkeit, sahen in ihren Uniformen recht elegant ausvollendete Kavaliere, dachte Therese – und auf den ersten Blick gefiel ihr der blonde kleine Mensch, der Sylvies Geliebter war, viel besser als der andere. Der war ein hagerer, in seiner Figur an Kasimir Tobisch erinnernder Mensch mit einem schmalen, fahlen, etwas gelblichen Gesicht, schwarzem Schnurrbart und einem Spitzbärtchen, wie es bei österreichischen Freiwilligen und Offizieren sonst kaum üblich war, und hatte auffallend schlanke, allzu magere Hände, von denen Therese in einer sonderbaren, ihr unbegreiflichen Weise wie gebannt war. Man dankte ihr, daß sie gekommen war; Sylvie führte das Gespräch sofort in ihrer flinken und lustigen Weise, sie redeten alle französisch, der Blonde sehr geläufig, der andere etwas mühseliger, aber mit einem viel besseren, wenn auch etwas affektierten Akzent. Man ging durch die Hauptallee, aber da gab es so viele Menschen – und sie dufteten nicht besonders gut, wie der Hagere bemerkte –, und so nahm man bald einen Seitenweg, der unter hohen frühlingsgrünen Bäumen in ein stilleres Revier führte. Der Blonde erzählte von seinem vorjährigen Aufenthalt in Ungarn, wohin man ihn zur Jagd geladen; Sylvie nannte die Namen einiger Aristokraten, die sie in ihrer letzten Stellung kennengelernt hatte, ihr Freund erlaubte sich freche Anspielungen, die sie lachend hinnahm und mit ähnlichen erwiderte. Der andere, mit Theresen ein wenig zurückbleibend, schlug einen ernsteren Ton an, seine Stimme war leise, klang manchmal wie absichtlich verschleiert; er hatte das Monokel aus dem Auge fallen lassen und sah mit einem blasierten Blick
Auf dem Konstantinhügel trank man Kaffee und aß Kuchen. Die beiden Herren äußerten sich spöttisch über die etwas »mindere« Gesellschaft an den anderen Tischen. Therese fand die Leute gar nicht so übel, und es schien ihr, als vergäßen die beiden Kavaliere allzusehr, daß sie da mit zwei armen Geschöpfen zusammensaßen, die man wohl auch eher zur minderen Gesellschaft rechnen mußte. Am Ufer des kleinen Teiches unterhalb des Konstantinhügels mietete man ein »Schinakel«. Therese fühlte wohl, daß es den beiden jungen Herren wie ein Spaß, ja wie eine Art von Herablassung vorkam, als sie sich unter das Volk mischten und ihren Kahn zwischen anderen, in denen »mindere Leute« saßen, vorwärts und allmählich in den schmalen Flußarm ruderten, der sich zwischen grünen Ufern gegen die Donauauen hin schlängelte. Sylvie rauchte eine Zigarette, auch Therese versuchte es nach langer Zeit wieder, seit den Salzburger Abenden in der Offiziers- und Schauspielergesellschaft hatte sie es nicht getan; es schmeckte ihr so wenig wie damals, und ihr Begleiter, der es merkte, nahm ihr die Zigarette aus den Fingern und rauchte sie selbst weiter. Er legte die Ruder hin und überließ dem Blonden alle Arbeit. Dem würde es sehr gesund sein, bemerkte er, bei seiner Anlage zum Dickwerden. An den Ufern, unter hohen uralten Bäumen, lagerten Paare und Gruppen. Später wurde es stiller
Als sie später durch Dickicht wieder auf einen schmalen Weg gelangten, schmiegte sie sich hingebungsvoll an den Mann, den sie vor drei Stunden noch nicht gekannt hatte und der jetzt ihr Geliebter war. Er sprach von gleichgültigen Dingen: »Die Rennen müssen gerade aus sein«, sagte er. »Die ersten heuer, die ich versäumt habe.« Und als sie wie gekränkt zu ihm aufsah: »Tut's dir leid?« – strich er ihr übers Haar und küßte sie, mitleidig gleichsam, auf die Stirn: »Dummes Mädel.« Sie traten aus den Auen ins Freie, und bald sahen sie, der breiten Fahrbahn sich nähernd, in dünnen Staub gehüllt, die Wagen und Equipagen vorbeisausen. Sie kamen zu dem Uferplatz, wo der Kahn ihrer wartete, und fuhren die Strecke zurück, die sie gekommen waren. Therese fürchtete sich zuerst, in Sylvies Blicken eine frivole oder unzarte Anspielung entdecken zu müssen, doch zu ihrer angenehmen Verwunderung schien Sylvie vielmehr ernster und gelassener als sonst. Ihr Freund begann von einer gemeinsamen Reise zu faseln, die man zu viert im Sommer unternehmen könnte. Doch sie wußten alle, daß das nur Geschwätz war, und Richard stand nicht an, das Reisen ganz im allgemeinen zu mißbilligen. Die mit jeder Ortsveränderung nun einmal verbundenen kleinen Unannehmlichkeiten empfand er als unleidlich; fremde Gesichter waren ihm in der Seele zuwider, und als ihm darauf der andere entgegnete, daß er doch auch für seine Bekannten und Freunde niemals besondere Sympathie zu erkennen gebe, ließ er das ohne weiteres gelten. Sylvie, vor sich hinsehend, bemerkte, daß es doch immerhin Momente gäbe, die des Lebens wert seien. Richard zuckte die
In einem der stilleren Gasthausgärten aßen sie zu Abend. Therese trank mehr, als sie gewohnt war, und wurde bald so müde, daß sie kaum mehr die Augen offenhalten konnte und das Geplauder der andern nur wie von ferne an ihr Ohr klingen hörte. Sie wünschte sehr auf dem Heimweg ihrem Freund sagen oder
Auf der Heimfahrt durch die abendlichen Straßen ließ sie Sylvie reden, die nun plötzlich von unerwünschten Geständnissen übersprudelte. Therese hörte ihr kaum zu, ein bitterer Nachgeschmack war ihr zurückgeblieben, und sie dachte ihres Geliebten von heute abend mit einer sonderbaren Rührung, als hätte er für immer von ihr Abschied genommen, ja als wäre er schon weit, weit fort.
Wenige Tage später wurde sie von Herrn Mauerhold brieflich um ihren »ehebaldigsten« Besuch gebeten. Sie hatte Franzl schon drei Wochen lang nicht gesehen und geriet sofort in eine unverhältnismäßig heftige Aufregung. Herr Mauerhold empfing sie freundlich, aber in sichtlicher Verlegenheit. Seine Frau schwieg befangen. Endlich erklärte er, daß er aus Familienrücksichten mit seiner Frau Wien verlassen, in ein kleines niederösterreichisches Städtchen übersiedeln und daher Therese bitten müsse, den Buben anderswohin in Pflege zu geben. Therese atmete erleichtert auf; sie äußerte, daß es vielleicht ganz gut wäre, wenn Franzl aus der Großstadt wieder fort und in eine kleine Ortschaft käme, und sie erklärte sich gerne bereit, ihn auch nach der Übersiedlung bei seinen jetzigen Pflegeeltern zu belassen, wo er sich ja so wohl zu fühlen scheine. An der wachsenden Verlegenheit der beiden merkte sie, daß man ihr offenbar irgend etwas verschwieg, und als sie immer dringender Aufklärung verlangte, erfuhr sie endlich, daß Franzl sich neulich einen kleinen Hausdiebstahl hatte zuschulden kommen lassen. Und nun, da dies ausgesprochen war, hielt die Frau, die bisher stumm dagesessen war, nicht mehr länger an sich. Diese kleinen Diebereien waren nicht das Schlimmste.
Zufällig traf sie am nächsten Tag im Stadtpark wieder mit Sylvie zusammen. Sie wäre wohl die letzte gewesen, die Therese unter anderen Umständen ins Vertrauen ziehen und um Rat hätte fragen wollen. Aber in ihrer Unruhe, ihrer Ungeduld, ihrem Drang, eine mitfühlende Seele zu finden, sprach sie sich zu Sylvie aus und erzählte ihr alles, mehr als sie je irgend jemand anderem erzählt hatte; und als wollte sich dieses Vertrauen belohnen, gerade in Sylvie fand sie eine Ratgeberin, eine Freundin so herzlich, klug und ernst, wie Therese es nie und nimmer erwartet hätte. Sie redete Theresen zu, ihre jetzige Stellung aufzugeben, überhaupt keine von dieser Art vorläufig anzunehmen, mit ihrem Sohn zusammen eine kleine möblierte Wohnung zu nehmen und nur mehr Privatlektionen zu erteilen. Sie selbst, Sylvie, machte
Und mit neuer Hoffnung und plötzlich wiedergefundener Energie wurde die Ausführung des erfolgversprechenden Entschlusses ins Werk gesetzt. Ihre Kündigung wurde in der Familie des Bankdirektors mit einiger Überraschung aufgenommen, die beiden Mädchen ließen das Fräulein nur ungern ziehen, das ältere weinte herzbrechend, und Therese war gerührt von der Liebe, die sie in einem jungen Mädchenherzen erweckt hatte, ohne es auch nur zu ahnen.
An einem schwülen Hochsommertag bezog Therese mit Franzl zwei möblierte Zimmer mit Küche in einer bequem gelegenen stillen Vorstadtstraße, in einem ziemlich neuen, bescheidenen, aber reinlich gehaltenen Hause. Vorher schon durch Bemühungen aller Art: Anfragen bei Familien, wo sie früher in Stellung gewesen, Antworten auf Zeitungsannoncen, zum Teil unter tätiger Mithilfe von Sylvie, hatte sie sich ein paar Lektionen gesichert, mit deren Ertrag sie zur Not ihr Auskommen zu finden hoffte. Auch eine kleine Summe, die die Frau des Bankdirektors ihr beim Abschied geschenkt hatte, kam ihr zustatten. Unendlich viel bedeutete es für sie, daß sie nun, eigentlich zum erstenmal in ihrem Leben, in einer Art von eigenem Heim wohnen durfte. Sie glaubte zu fühlen, daß ihrem Sohn bisher vielleicht gar nichts anderes zu einer gedeihlicheren Entwicklung gefehlt hatte als das Zusammenleben mit seiner Mutter. Die Schule, die er jetzt besuchte, war von der früheren weit genug entfernt, um den Verkehr mit den bisherigen Kameraden so gut wie unmöglich zu machen. Wie sie es nun schon öfters erfahren, in den ersten Wochen ließ er sich in der neuen Umgebung gar nicht übel an. Ja, ihr war, als lerne sie ihn erst jetzt wirklich kennen. Eine gewisse Kindlichkeit seines Wesens, die allzu früh verlorengegangen war, kam allmählich aufs neue zum Vorschein. Wie schön war es doch, mit ihm gemeinsam am Mittagstisch zu sitzen bei einem Mahl, das sie selbst bereitet, wie wunderbar, abends, wenn sie von ihren Lektionen
Eines Tages, zu ihrer Überraschung, erhielt sie nach fast einem Jahr wieder eine Einladung zum Mittagstisch bei ihrem Bruder und fand dort noch andere Gäste, einen jungen Arzt und einen Gymnasialprofessor, beide mit Dr. Karl Faber, wie das Gespräch bei Tische bald erwies, durch politische Interessen verbunden. Karl war es, der das große Wort führte, die beiden andern, auch der um mindestens zehn Jahre ältere Professor, lauschten respektvoll, und Therese gewann den Eindruck, als lege ihr Bruder Wert darauf, ihr einen deutlichen Begriff von seiner hervorragenden Stellung unter den Parteigenossen zu geben. Ihre Schwägerin, die vor wenigen Monaten Mutter eines Kindes geworden war, entfernte sich nach Schluß des Mittagsessens, Therese aber blieb in Gesellschaft der Herren, die Unterhaltung nahm eine gemütliche Wendung, und als von dem Beruf Theresens und von ihren persönlichen Erfahrungen als Erzieherin und Lehrerin die Rede war, verhehlte der Gymnasialprofessor nicht sein Bedauern, daß sie so oft genötigt gewesen, in einer untergeordneten, ja, man dürfe wohl sagen, dienenden Stellung im Hause fremdrassiger Leute zu leben, und er bezeichnete es als eine der wichtigsten Aufgaben der Gesetzgebung, so unwürdige Zustände ein für allemal unmöglich zu machen. Er sprach volltönend und druckfertig, im Gegensatz zu dem jungen Arzt, der immer wieder ins Stottern geriet; der Bruder aber, wenn auch beifällig nickend, blinzelte manchmal spöttisch, ja, zuweilen streifte er den Professor mit jenem eigentümlichen, etwas tückischen Blick, den Therese so gut an ihm kannte.
Von Richard hatte sie Wochen, ja Monate nichts gehört und
Die Einladungen in das Haus ihres Bruders wiederholten sich von Zeit zu Zeit, und bald begegnete Therese dort auch dem Professor wieder, der nun einen ungeschickt-galanten Ton ihr gegenüber anzuschlagen begann und es sich nicht nehmen ließ, sie gegen Abend den ziemlich langen Weg bis zu ihrem Hause zu begleiten. Wenige Tage später eröffnete ihr der Bruder, daß der Professor sich lebhaft für sie interessiere, sich voraussichtlich bei nächster Gelegenheit ihr gegenüber in aller Form erklären werde, und gab ihr den brüderlichen Rat, einen Antrag auch für den Fall, daß sie sich augenblicklich anderweitig gebunden fühle, nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen. »Ich habe keinerlei Verpflichtungen«, erwiderte Therese hart und ablehnend. Karl schien ihren Ton nicht bemerken zu wollen und äußerte sich in Worten trockener Anerkennung über seinen Parteigenossen, der, bei den Vorgesetzten sehr gut angeschrieben, im Laufe der nächsten Jahre wahrscheinlich zum Gymnasialdirektorin einer größeren Provinzstadt ernannt werden dürfte. »Und um gleich alles in Betracht zu ziehen,« fugte er mit einem schiefen Blick hinzu, »das, woran du jetzt eben denkst, braucht auch kein Hindernis zu sein.« Theresen stieg das Blut ins Gesicht. »Du hast dich nie um meine Gedanken gekümmert, sie dürften auch jetzt keinerlei Interesse für dich haben.« Er tat wieder, als wenn er ihren ablehnenden Ton nicht merkte, und sprach unbeirrt weiter. »Man könnte es ja auch so auffassen, daß du schon einmal verheiratet warst. Nehmen wir an, du warst es wirklich – und es hat sich herausgestellt, daß es eine rechtsungültige Ehe war. Solche Dinge kommen bekanntlich vor. Du bist an der Sache sozusagen ganz unschuldig.«
Ihre Schwägerin trat ein, mit dem Kind im Arm. Therese nahm es in die ihren, erinnerte sich der ersten Lebenswochen ihres eigenen Sohnes, der kärglichen Stunden, da sie ihn so wie jetzt das Kind ihres Bruders an ihre Brust hatte drücken dürfen. Und es fiel ihr ein, daß sie ja nun vielleicht in einer neuen, in einer wirklichen Ehe wieder ein Kind bekommen und ein Glück erleben konnte, das ihr mit Franzl versagt geblieben war. Doch diesen Gedanken empfand sie gleich wieder wie ein Unrecht, ja, wie eine Untreue gegen ihren Sohn. All das andere Unrecht kam ihr zu Sinn, das sie im Lauf der Jahre mit und ohne Schuld an ihm begangen hatte. Tränen traten ihr in die Augen, während sie das Kind des Bruders noch in den Armen hielt. Sie fühlte sich außerstande, die Unterredung fortzusetzen, und verabschiedete sich in der schmerzlichsten Verwirrung.
Der Zufall fügte es, daß sie wenige Tage nachher Richard begegnete. In seiner Zivilkleidung erschien er ihr diesmal zugleich elegant und herabgekommen. Der schwarze Samtaufschlag des vortrefflich sitzenden Überziehers war etwas abgeschabt und der Lack der wohlgeformten Schuhe an manchen Stellen abgesprungen. Das Monokel saß ihm unbeweglich im Auge. Er küßte ihr die Hand und fragte sie, fast ohne weitere Einleitung, ob sie nicht den heutigen Abend mit ihm verbringen wolle. Sie lehnte ab. Er
Doch schon wenige Tage darauf erhielt sie einen Brief von ihm. Sein Wunsch, wieder mit ihr zusammenzukommen, freute sie mehr, als sie vorher erwartet hätte. Beglückt folgte sie seinem Ruf. Diesmal war er ein ganz anderer, heiter, ausgelassen beinahe, und es war ihr, als begänne er erst heute, sich um sie, ihr eigentliches menschliches Wesen und um ihre äußere Existenz zu kümmern. Sie mußte ihm viel von sich erzählen, von ihrer Jugend, ihren Eltern, ihrem Verführer, ihren anderen Liebhabern. Und in dieser Stunde sprach sie auch von ihrem Kind, von ihren Pflichten gegenüber diesem Kind und davon, daß sie diese oft vernachlässigt habe. Fast ärgerlich zuckte er die Achseln. Es gebe keine Pflichten, sagte er, man sei niemandem etwas schuldig, die Kinder nicht den Eltern und die Eltern den Kindern auch nicht.
Dieser Erinnerung gegenüber wirkte ein Brief, der am nächsten Morgen von Alfred an sie anlangte, unsäglich langweilig und öde auf sie. Sie hatte ihm von der wahrscheinlich bevorstehenden Werbung des Professors Mitteilung gemacht, und Alfred riet ihr zwar, die Sache sorgfältig zu überlegen, doch war deutlich aus seinen Worten herauszulesen, daß ihm eine Heirat Theresens, die ihn auch von der letzten Verantwortung befreit hätte, keineswegs unerwünscht war. Sie erwiderte ihm kühl, übellaunig, beinahe mit Hohn.
Mit Franzl war sie weiterhin leidlich zufrieden. Wenn sie nach Hause kam, fand sie ihn meist über Büchern und Heften sitzen, von seiner früheren Ungebärdigkeit war wenig mehr zu merken; schlug er gelegentlich einen etwas mürrischen Ton gegenüber der Mutter an, ließ er sich in seiner Ausdrucksweise, in seinem Betragen allzusehr gehen, so genügte meist eine Mahnung von ihrer Seite, ihn sein Unrecht einsehen zu lassen. Sie war daher aufs peinlichste erstaunt, als er zu Semesterschluß ein ganz schlechtes Zeugnis heimbrachte, das überdies eine große Anzahl versäumter Stunden auswies. In der Schule erfuhr sie zu ihrem Schreck, daß er im Laufe der letzten Monate überhaupt nur selten dem Unterricht beigewohnt hatte, und der Klassenvorstand wies ihr Entschuldigungen vor, die ihre Unterschrift trugen. Therese hütete sich, zu gestehen, daß sie gefälscht waren, sie behauptete
Und als der Professor Wilnus bei einem nächsten Zusammentreffen
Es war ihr gelungen, Franz, der sich eben wieder wie gewöhnlich zu dieser Stunde hatte davonmachen wollen, zu Hause zu halten. Der Professor erschien nicht ohne Befangenheit, die er unter einem aufgeräumten, sozusagen weltmännischen Gebaren nur mit Mühe zu verbergen imstande war. Franz betrachtete den Besucher mit unverhohlenem Mißtrauen. Und als dieser nun plötzlich den überraschenden Wunsch äußerte, in die Schulhefte Franzls Einsicht zu nehmen, kostete es einige Mühe, den Widerstand des Knaben zu überwinden. Was sich endlich den Augen
Sylvie war blaß und erregt. Hastig fragte sie Therese, ob sie heute noch keine Zeitung gelesen habe. »Was ist geschehen?« fragte Therese. – »Richard hat sich umgebracht«, erwiderte Sylvie. – »Um Gottes Willen«, rief Therese aus, und hilflos legte sie ihre Hände auf Sylviens Schultern. Sie habe Richard schon lange nicht mehr gesehen. Und Sylvie, mit gesenktem Blick, gestand, daß sie umso öfter mit ihm zusammengewesen war. Therese verspürte keinerlei Eifersucht, aber auch keinen wirklichen Schmerz. Sie war mit einemmal die Überlegene; sie war es, die die Freundin zu trösten hatte. Sie strich ihr über die Haare, streichelte ihr die
Zwei Tage darauf, zur Einsegnung, waren sie beide in der Kirche. Nach Schluß der Zeremonie bewegte sich der Zug der Trauernden an Therese vorüber, die weit rückwärts am Ende einer Bank saß. Richards Mutter, eine hagere, blasse Frau, in deren verschlossenen, hochmütigen Zügen Therese etwas von Richards Ausdruck wiederzufinden glaubte, streifte so nahe an ihr vorbei, daß sie unwillkürlich fortrückte. Im gleichen Augenblick, es war ihr peinlich, ergriff Sylvie heftig ihren Arm. Die Trauergäste kamen vorüber; auch bekannte Gesichter sah Therese unter ihnen, darunter den Bankdirektor, in dessen Hause sie zuletzt in Stellung gewesen war und der sie anstarrte, ohne sie im Dämmerlicht der Kirche zu erkennen, und einen jungen Menschen, der einmal ihr Geliebter gewesen war, den Krauskopf. Mit dem Taschentuch, als wenn sie weinte, verbarg sie ihr Gesicht. Sie sah dem Sarg nach, während er durch das Kirchentor ins Freie hinausgetragen wurde, wo ein dunkelblaues Sommerlicht ihn empfing. Jener Abend in den Donauauen fiel ihr ein, der in wenigen Tagen sich zum zweitenmal jähren mußte. Zu gut für ihn? dachte sie. Warum eigentlich? Als ob sie überhaupt für jemanden zu gut oder zu schlecht wäre. Sie hörte, wie draußen der Leichenwagen sich in Bewegung setzte. Das Kirchentor schloß sich langsam, Duft von Weihrauch war um sie. Sylvie hatte den Kopf auf dem Betpult liegen und schluchzte leise. Therese erhob sich lautlos und ging allein. Ein lauer Sommertag nahm sie draußen auf. Sie mußte rasch nach Hause, um fünf Uhr erwartete sie Zöglinge zum Unterricht.
Eine Zeitlang lebte sie vollkommen und ausschließlich ihrem Berufe, in dem sie sich nicht nur durch dessen fortgesetzte Ausübung, sondern auch durch Arbeit in freien Stunden weiter ausgebildet hatte und immer weiter ausbildete, so daß sie allmählich zu einer tüchtigen und gesuchten Lehrerin wurde. Es waren durchaus junge Mädchen, die sie unterrichtete und zu Prüfungen vorbereitete. Zwei Jünglinge, die sich gemeldet, hatte sie fortweisen müssen, da sie offenbar andere Zwecke im Auge hatten, als sich im Englischen und Französischen zu vervollkommnen. Einen Brief des Professor Wilnus mit der Bitte, sie wieder einmal besuchen zu dürfen, hatte sie mit einer endgültigen Absage beantwortet. Sie bereute es keinen Augenblick, obwohl ihr manchmal war, als hätte sie ihm dankbar sein können, denn seit seinem Besuch war in Franzens Verhalten eine vorläufig noch andauernde Wandlung zum Bessern erfolgt, er schien regelmäßig zur Schule zu gehen, wie eine gelegentliche Erkundigung Theresens bestätigte, – wo und mit wem er die vielen Stunden außer Hause verbrachte, dem wagte sie freilich nicht nachzuforschen.
Von ihrem Bruder hörte sie nichts, und sie war überzeugt, daß er ihr die Absage an den Professor übelnahm. Auch die Mutter blieb ihr fern, und so wäre sie ganz allein gewesen, wenn nicht Sylvie manchmal des Abends sie besucht hätte. Richard verschwand merkwürdig schnell aus den Gesprächen, doch allerlei andere Erlebnisse aus früheren Tagen teilten sie einander mit, Therese mehr in Andeutungen, Sylvie in manchmal überlebhaften Schilderungen. Und wenn auch die Männer, denen die beiden Frauen im Lauf des Daseins begegnet waren, nicht eben gut wegzukommen pflegten, beide wärmten ihre müden Herzen an der Erinnerung vergangener Jugend. Sylvie hatte die Absicht, baldmöglichst in ihre Heimat nach Südfrankreich zurückzukehren, die sie fast zwanzig Jahre lang nicht gesehen hatte. Was sie dort tun, wie sie sich dort erhalten sollte, da sie doch nur wenig hatte ersparen können, wußte sie freilich nicht, aber ihre Sehnsucht nach Hause hatte einen fast krankhaften Charakter angenommen. Dem immer noch heiteren Geschöpf liefen die Tränen über die Wangen, wenn sie von ihrer Heimatstadt sprach; Therese merkte in solchen Momenten, wie welk, wie alt die Züge Sylvies geworden waren, und sie erschrak. Doch sie beruhigte sich damit, daß sie selbst um sieben oder acht Jahre jünger war.
In diesem Sommer traf es sich, daß sie eine zehnjährige Schülerin, das jüngste Kind eines bekannten Schauspielers, zur Aufnahmeprüfung ins Lyzeum vorbereiten sollte und man sie zu diesem Zweck an einen Salzkammergutsee mitnahm. Ihre Tätigkeit beschränkte sich fast nur darauf, die Kleine täglich ein paar Stunden, meistens im Garten, zu unterrichten. Eine ältere, schon achtzehnjährige Tochter war in einen jungen Mann verliebt, der häufig zu Besuch kam. Ein Vetter machte der noch immer hübschen Hausfrau den Hof, der Gatte brachte seine Aufmerksamkeit einer kaum sechzehnjährigen Freundin der Tochter entgegen, einem höchst verdorbenen Geschöpf, ja, er stellte ihr recht eigentlich nach. Es war für Therese sonderbar, zu beobachten, wie Vater, Mutter, Tochter, jeder für sich, kaum etwas von dem bemerkten oder zum mindesten ganz harmlos zu nehmen schienen, was die andern durchfühlten und durchlitten. Therese selbst, mit ihren durch so viele Erfahrungen geschärften Augen, sah diesem Spiel der Leidenschaften zu, ohne selbst berührt zu sein, war kaum anders bewegt als eine Zuschauerin im Theater, und vor allem war sie sehr froh, daß sie mit solchen Herzensdingen äußerlich und innerlich abgeschlossen hatte. Es schien wirklich alles recht harmlos abzulaufen; zum Schluß aber hatte es doch den Anschein, als wenn ein Opfer fallen sollte. Die Tochter des Hauses verübte einen Selbstmordversuch, und nun war es, als ob alle mit einemmal aus einem gefährlichen Traume jäh erwachten. Ohne daß es zu irgendwelchen peinlichen Auseinandersetzungen gekommen wäre, lösten sich alle diese Beziehungen, die nur im Spiel der Sommerlüfte sich geknüpft hatten, gleichsam in nichts auf; früher, als beabsichtigt gewesen war, verließ man die Villa, die ganze Familie reiste nach dem Süden, und Therese kam früher wieder nach Wien zurück, als sie gedacht.
Ihren Sohn hatte sie indes der Obhut einer Nachbarin empfohlen, einer Beamtenswitwe, einer gutmütigen, ziemlich einfältigen Person, selbst Mutter eines achtjährigen Buben. Wenn sie auch nichts geradezu Nachteiliges über Franzl aussagen wollte, sie konnte nicht verschweigen, daß sie ihn manchmal ganze Tage
Noch am gleichen Abend, nach langer Zeit wieder, schrieb sie an Alfred. Die Antwort traf schon am übernächsten Tage ein, Alfred gab Theresen den Rat, den Buben irgendwohin in die Provinz zu schicken, als Lehrling, als Kommis, als was immer, – ihre Verpflichtungen habe sie reichlich erfüllt, sie solle sich keinerlei Skrupel machen, das Wichtigste sei, daß sie endlich von Angst und Sorge befreit werde. Angst? fragte sie sich; das Wort befremdete sie zuerst, doch gleich fühlte sie, daß es das richtige war. In einem neuen Absatz teilte Alfred ihr mit, daß er sich mit der Tochter eines Tübinger Universitätsprofessors verlobt habe, zwischen Weihnachten und Neujahr vermutlich werde er mit seiner jungen Gattin nach Wien zurückkehren. Niemals aber werde er vergessen, was sie, Therese, für ihn bedeutet habe, was er ihr schuldig sei, und sie könne in jeder Lebenslage auf ihn als auf ihren besten Freund zählen. Ein bitterer Geschmack trat auf ihre zuckenden Lippen, aber auch jetzt weinte sie nicht.
Für den nächsten Sonntag war sie zu ihrem Bruder zum Mittagessen eingeladen. Da sie nicht furchten mußte, den abgewiesenen Freier dort zu finden, nahm sie an. Karl empfing sie mit auffallender Freundlichkeit, und sie merkte bald, daß er ihre Absage an den Professor durchaus guthieß: dieser habe sich als ein sehr unzuverlässiger Mensch erwiesen, aus opportunistischen Gründen
Eines Abends begegnete ihr in der inneren Stadt Agnes. Therese erkannte sie nicht gleich. Sie sah auffallend, fast verdächtig aus, und Therese war es unbehaglich, mit ihr auf der Straße stehen zu bleiben. Agnes erzählte, daß sie seit einiger Zeit nicht mehr »im Dienst«, sondern Verkäuferin in einem Parfümeriegeschäft sei. Therese erkundigte sich nach den alten Leutners, Agnes erwiderte, daß sie nur selten nach Enzbach käme, übrigens sei der Vater im vergangenen Sommer gestorben. Dann trug sie ihr einen Gruß für den Franzl auf und verabschiedete sich.
Und wenige Tage darauf, unaufgefordert, fand sie sich bei Theresen ein. Franz, mit dem Therese kein Wort mehr gesprochen, seit er die Hand gegen sie erhoben, und der sich nur mehr, und immer verspätet, zu den Mahlzeiten einfand, war sonderbarerweise zu Hause, begrüßte Agnes nicht ohne einige Verlegenheit, die sich aber ihrer Ungezwungenheit gegenüber rasch verlor; und bald, Theresens Anwesenheit kaum beachtend, plauderten sie in einer Art kameradschaftlichen Straßenjargons miteinander, dem Therese kaum zu folgen vermochte. Sie tauschten Enzbacher Erinnerungen aus, mit versteckten Anspielungen, von denen sie mit einigem Recht annehmen durften, daß sie für Therese unverständlich blieben. Manchmal aber, mit ihrem frechen, schiefen Blick, grinste Agnes zu Therese hinüber, und es stand deutlich darin zu lesen: Du glaubst, er gehört dir? Mir gehört er.
Endlich schüttelte sie Theresen derb-freundschaftlich die Hand,
Wenige Tage später erkrankte Franz unter schweren Allgemeinerscheinungen. Der Arzt stellte Gehirnhautentzündung fest, und beim dritten Besuch schien er den Kranken aufgeben zu wollen. Therese sandte mit einem flehentlichen Brief nach ihrem Bruder. Dieser kam, schüttelte bedenklich den Kopf und verordnete innere und äußere Mittel, die tatsächlich die Gewalt der Krankheit schon nach wenigen Stunden zu brechen schienen. Er kam an den folgenden Tagen wieder, und bald war Franz außer Gefahr. Karl verbat sich jeden Dank. Und nun war es für Therese überraschend und wunderbar, wie Franz sich in dieser Zeit allmählichen Gesundwerdens zu verändern schien. Wenn Therese an seinem Bette saß, hielt er gern ihre Hand in der seinen, sie empfand den Druck seiner Finger wie eine Bitte um Verzeihung Und wie ein Versprechen. Zuweilen las sie ihm vor. Mit dankbaren, ja, kindlichen Blicken hörte er zu. Es schien ihr, als wenn er für mancherlei Gegenstände, insbesondere für Geschichten aus dem Tierleben, für Reisen und Entdeckungen, ein gewisses Interesse erkennen ließe, und sie nahm sich vor, sobald als möglich ernsthaft mit ihm über die Zukunft zu reden. Sie träumte sogar davon, daß er das Studium fortsetzen, daß er viel leicht Lehrer oder gar Doktor werden könnte. Aber noch getraute sie sich nicht, ihm von solchen Plänen mehr zu sagen.
Doch die Täuschung dauerte nicht lang, und sie wußte bald, daß sie sich Franzens Wandlung im Grunde nur hatte einbilden wollen. Je entschiedener Franz sich erholte, um so rascher wandelte er sich wieder in den, der er früher gewesen war. Der kindlich-dankbare Blick seiner Augen verschwand, seine Sprache
Therese fragte nicht mehr, sie ließ alles geschehen, sie war müde. Es gab Stunden, in denen sie sich ohne jeden Schmerz mit ihrem Leben am Ende fühlte. Sie war kaum dreiunddreißig Jahre alt, doch wenn sie in den Spiegel sah, besonders des Morgens gleich nach dem Erwachen, fühlte sie, daß sie um Jahre älter aussah, als sie war. Solange ihre tiefe Mattigkeit andauerte, nahm sie das ruhig hin. Doch als der Frühling wieder kam und sie sich frischer werden fühlte, lehnte sie sich auf, ohne recht zu wissen, gegen was. Die Lektionen begannen ihr eine peinigende Langeweile zu verursachen. Es kam vor, daß sie ihren Schülerinnen gegenüber, was bisher niemals geschehen war, Ungeduld, ja Unfreundlichkeit zeigte. Sie fühlte sich einsam, doch war ihr niemals schlimmer zumute, als wenn Franz daheim war, was sie zugleich wieder als ein Unrecht gegen ihn empfand. Am liebsten hätte sie mit Sylvie gesprochen, die aber ihre Stellung gewechselt, bei einer Familie auf dem Lande und unerreichbar war. So besuchte sie öfters, um sich von dem manchmal unerträglichen Gefühl der Verlassenheit zu befreien, das Haus ihres Bruders, was, wie sie selbst merkte, von diesem nicht ohne Verwunderung, jedenfalls aber ohne Freude aufgenommen wurde. Um so herzlicher kam ihr die Schwägerin entgegen, die nun das zweite Kind erwartete. Ein und das andere Mal sprach sich Therese ihr gegenüber aus, beichtete ihr mancherlei, war gerührt, bei ihr ein Verständnis, ein Mitgefühl zu finden, das sie nicht erwartet hatte. Es war, als machte die Schwangerschaft sie nicht nur weicher, sondern auch klüger, als sie von Natur aus war. Doch kaum hatte sie das Kind geboren, so verfiel sie wieder in ihre frühere Teilnahmslosigkeit und Beschränktheit, und es war, als wüßte sie überhaupt nichts mehr von den Geheimnissen mancher Art, die die Schwägerin ihr vertraut hatte. Im Grunde war Therese froh darüber.
Zu Beginn des Winters geschah es, daß sie Alfred in der Stadt zufällig begegnete. Auf ihren letzten Brief war keine Antwort erfolgt. Er behauptete, niemals einen erhalten zu haben. Anfangs ein wenig kühl und nicht ganz unbefangen ihr gegenüber, war er bald wieder so herzlich wie nur je. Die Art, wie er von seiner jungen Gattin sprach, ließ nicht auf besondere Leidenschaft von seiner Seite schließen. Therese stellte sie sich sofort als eine dürftige, blasse, deutsche Kleinstädterin vor, an deren Seite er sich gewiß oft nach ihr, Theresen, zurücksehnte. Er gefiel ihr besser denn je. Auch auf seine äußere Erscheinung schien er mehr Sorgfalt aufzuwenden, als er es früher getan. Sie verabredeten nichts, als sie voneinander Abschied nahmen, aber nun war er wieder da, und es lag nur an ihr, ihn wiederzusehen, wann sie wollte. Sie träumte sich in eine neue Verliebtheit und war beglückt. Sie begann wieder frischer und jünger auszusehen. Ein junger Mann, fast Knabe noch, der manchmal seine Schwester von ihrer Lektion bei Therese abholte, verliebte sich in sie. Einmal erschien er am frühen Morgen, um ihr eine Bestellung von seiner Schwester zu überbringen. Seine Schüchternheit belustigte sie; sie kam ihm ein wenig entgegen. Er blieb so schüchtern, wie er war, verstand wohl kaum ihr Lächeln, ihre Bücke, – als er wieder fort war, schämte sie sich und benahm sich von nun an völlig abweisend gegen ihn.
Eines Tages wurde Therese wieder in die Schule beschieden und erfuhr, daß Franz seit vielen Wochen nicht mehr dort gewesen war. Sie war nicht sonderlich überrascht. Als sie ihn daheim zur Rede stellte, teilte er ihr seinen Entschluß mit, als Matrose auf ein Schiff zu gehen. Therese besann sich, daß er Ähnliches schon früher geäußert, daß auch in seinem Gespräch mit Agnes, dem sie beigewohnt, flüchtig davon die Rede gewesen war. Nun aber schien es ihm ernst damit zu sein. Therese hatte nichts dawider, ja, sie sprach mit ihm diesen Plan gründlich durch, und nach langer Zeit redeten sie vernünftig und geradezu freundschaftlich miteinander, nicht wie Feinde, die zusammen unter einem Dache wohnen mußten. Aber in den nächsten Tagen war von diesem Plan nicht weiter die Rede. Therese getraute sich nicht, darauf zurückzukommen, als fürchtete sie sich, dereinst den Vorwurf hören zu müssen, daß sie selbst ihn in die Welt hinausgetrieben habe.
Ein hoch aufgeschossener Bursch, angeblich Verkäufer in einem Delikatessengeschäft, war in der letzten Zeit zuweilen in der
Sie fragte von nun an nach nichts mehr, ohne jeden Widerstand ließ sie es geschehen, daß er jeden Abend das Haus verließ und erst in den Morgenstunden zurückkehrte. Doch einmal, als der Morgen da war, ohne daß er heimgekehrt wäre, geriet sie in eine ihr unerklärliche, ahnungsvolle Angst. Sie zweifelte nicht, daß er wieder bei einem schlimmen Streich abgefaßt worden war und daß es diesmal nicht so glimpflich abgehen würde als das erstemal. Und als er endlich vor ihr stand, gab sich ihre Erregung, gerade weil sie eigentlich überflüssig gewesen war, in besonders erbitterter Weise kund. Er ließ sie eine Weile reden, erwiderte kaum, ja, lachte zu ihren Worten, als hätte er seine Freude an ihrem Zorn. Therese, dadurch noch heftiger aufgebracht, redete sich in eine Erbitterung ohne Maß. Da, ganz plötzlich, schrie er ihr ein Wort ins Gesicht, das sie zuerst nur falsch verstanden zu haben glaubte. Mit großen, fast irren Augen sah sie ihn an, er aber wiederholte den Schimpf, sprach weiter. »Und so eine will mir was sagen. Was glaubst denn du eigentlich?« Seine Zunge war entfesselt. Weiter sprach er, schimpfte, höhnte, drohte, und sie hörte zu, wie erstarrt. Es war das erstemal, daß er ihr den Makel seiner Geburt ins Gesicht schrie. Aber er sprach nicht zu ihr wie etwa zu einer Unglücklichen, die von einem Liebhaber im Stich gelassen worden war, sondern wie zu einem Frauenzimmer, das eben einmal Pech gehabt und gar nicht wußte, wer der Vater ihres Kindes sei. Es waren auch nicht Vorwürfe eines Kindes, das durch seine uneheliche Geburt sich benachteiligt, gefährdet oder gar geschändet fühlte, es waren bübische, gemeine Schimpfworte, wie Gassenjungen sie Dirnen auf der Straße nachrufen. Sie fühlte auch, daß er bei all seiner Verdorbenheit in seiner tiefsten Seele kaum verstand, was er sagte. Er drückte sich eben so aus, wie es in seinen Kreisen üblich war, sie empfand weder Kränkung noch Schmerz, es war nur das Grauen einer ungeheuren, nie von ungeahnten Einsamkeit, in das aus unendlicher Ferne die Stimme eines unbegreiflich Fremden tönte, der ein Mensch war wie sie und den sie geboren hatte.
Noch in dieser Nacht schrieb sie an Alfred, daß sie ihn dringend zu sprechen wünsche. Es verstrichen einige Tage, ehe er sie zu sich beschied. Er war freundlich, aber etwas kühl, und sein prüfender Blick erregte in ihr das Bedürfnis, sich zu vergewissern, ob an ihrer Kleidung, ihrem Aussehen irgend etwas nicht in Ordnung
Sie hatte noch mehr, noch Wahreres sagen wollen, aber im letzten Augenblick hielt sie sich zurück, aus Angst, durch ein noch weitergehendes Geständnis sich dem Freund zu entfremden, sich ihm, und am Ende nicht ihm allein, gewissermaßen auszuliefern. Und sie schwieg. Alfred aber, wenn er auch tröstend, gütig beinahe die eine Hand auf ihre Schulter legte, – es konnte ihr nicht entgehen, daß er mit der andern die Uhr aus der Westentasche zog; und als Therese daraufhin sich mit einer gewissen Hast erhob, bemerkte er wie entschuldigend, daß er leider vor sechs auf der Klinik sein müsse. Therese aber solle keineswegs etwas veranlassen, ehe sie noch einmal mit ihm gesprochen. Und – es war wohl vorerst nicht seine Absicht gewesen, so weit zu gehen – er schlug ihr vor, nächstens mit Franz zu ihm in die Sprechstunde zu kommen oder besser noch, er selbst wolle dieser Tage, vielleicht Sonntags um die Mittagsstunde, sie besuchen, um bei dieser Gelegenheit wieder einmal mit Franz zu reden, und so zu einem klaren, persönlichen Eindruck zu gelangen.
Therese verstand selbst nicht, daß dieses so natürliche Anerbieten des einstigen Geliebten, des Freundes, des Arztes auf sie wirkte, als hätte er ihr damit die Hand zur Rettung gereicht. Sie dankte ihm aus erfülltem Herzen.
Der angekündigte Besuch Alfreds fand nicht statt, denn am nächsten Morgen war Franz aus der Wohnung der Mutter verschwunden, ohne auch nur ein Wort der Erklärung zu hinterlassen. Theresens erste Regung war, die Polizei zu verständigen, aber sie unterließ es in der Besorgnis, daß die Behörde Grund haben möchte, Franzls Verschwinden als eine Art von Flucht aufzufassen, und gerade durch eine Anzeige vorzeitig auf eine Spur gelenkt werden könnte. Sie setzte sich in Verbindung mit Alfred, der zuerst ungehalten schien, daß sie ihn anrief, dann aber ihr zu verstehen gab, daß er diese neueste Wendung keineswegs schlimm
In der Nachbarschaft erzählte sie, daß Franz eine Stellung in einem österreichischen Provinzstädtchen gefunden habe. Ob man es nun glaubte oder nicht – es kümmerte sich niemand besonders um die Familienverhältnisse des Fräuleins Fabiani.
Ihre Berufstätigkeit, die sie geraume Zeit hindurch ohne innere Anteilnahme, mechanisch gleichsam, ausgeübt hatte, begann ihr wieder eine gewisse Befriedigung zu gewähren. Sie erteilte nicht nur Einzelunterricht, sie kam auch in die Lage, aus einigen auf ungefähr gleicher Stufe stehenden jungen Mädchen Kurse zusammenzustellen.
Im übrigen lebte sie wieder völlig eingezogen, weder Mutter noch Bruder und Schwägerin kümmerten sich um sie, und auch Alfred ließ nichts von sich hören. Sie ging so wenig wie möglich aus dem Hause und wußte es so einzurichten, daß sie nur selten mehr außerhalb ihrer vier Wände Unterricht zu erteilen hatte. Kaum jemals geschah es, daß sie an einer ihrer Schülerinnen ein persönliches Interesse nahm, das über die Dauer der Unterrichtsstunden hinausgegangen wäre, und manchmal erinnerte sie sich fast wehmütig früherer Zeiten, da sie als Erzieherin, freilich ihren Zöglingen schon durch gemeinsame Häuslichkeit näher, als es heute der Fall war, an manchen mit ihrem ganzen Herzen gehangen, ja, fast wie eine Mutter für sie empfunden hatte.
Einmal aber, ein paar Monate nachdem Franz das Haus verlassen, ereignete es sich, daß eines der Mädchen, die den Kurs besuchten, ein paar Tage ausblieb und sie sich durch das Fehlen dieses kaum sechzehnjährigen Wesens stärker berührt fühlte, als es jemals bei solcher Gelegenheit der Fall gewesen war. Als ein Brief des Vaters das Ausbleiben der Tochter mit einer fieberhaften
In einer Art Benommenheit blieb Therese zurück. Etwas Neues war in ihr Leben getreten. Sie fühlte sich älter und jünger: mütterlich-älter und schwesterlich-jünger zugleich.
Sie hütete sich, sowohl vor den übrigen Mädchen als auch vor Thilda selbst merken zu lassen, daß sie zu ihr anders stand als zu den übrigen; und sie fühlte, daß Thilda ihr dafür Dank wußte. Die Belohnung ließ nicht lange auf sich warten: eines Tages nach Beendigung des Kurses lud Thilda im Namen des Vaters Therese für den nächsten Sonntag zum Mittagessen ein. Therese errötete vor Freude, und Thilda tat ihr den Gefallen, es nicht zu bemerken. Sie brachte mehr Zeit als sonst mit dem Zuklappen der Hefte und Bücher zu, dann, den Mantel nehmend, sprach sie von einem Bulwerschen Roman, den ihr Therese empfohlen und der sie ein wenig enttäuscht habe, und endlich mit einem fröhlichen Gesicht wandte sie sich nochmals an Therese: »Also morgen um eins, nicht wahr?« und war fort.
Das alte, wohlerhaltene, offenbar erst in der letzten Zeit wieder instand gesetzte Haus in einer Seitenstraße der Mariahilfer Vorstadt gehörte der Familie Wohlschein seit beinahe hundert Jahren. Im rückwärtigen Trakt befand sich die Fabrik für Leder- und Galanteriewaren, im Erdgeschoß des vorderen der Verkaufsladen. Ein größerer und vornehmerer war in der inneren Stadt gelegen, aber die alten Kunden zogen es vor, ihre Einkäufe im Stammhaus zu besorgen. Die Wohnräume lagen im ersten Stockwerk. Der Salon, in den man Therese eintreten ließ, war behaglich und etwas altmodisch mit dunkelgrünen, schweren Vorhängen und gleichfarbigen Plüschmöbeln eingerichtet. Das Speisezimmer, zu dem die Türe offen stand, wirkte dagegen hell und modern. Thilda kam heiter auf den Gast zu und sagte: »Der Vater ist auch schon zu Hause, wir können uns gleich zu Tisch setzen.« Sie trug ein blaues Stoffkleid mit weißem Seidenkragen, die braunen Haare fielen ihr offen über die Schulter herab, während Therese sie bisher immer nur mit aufgestecktem Zopf gesehen hatte; sie sah jünger und kindlicher aus als sonst. Es war ein trüber Wintertag; in der massiven Bronzelampe über dem gedeckten Tisch brannten die Flammen. »Was denken Sie, wo wir heute waren, der Vater und ich?« sagte Thilda. »Im Dornbacher Park und auf dem Hameau. Um halb acht sind wir fortgegangen.« – »War's nicht etwas neblig?« – »Nicht so arg, und gegen Mittag wurde es fast klar. Wir hatten eine sehr schöne Fernsicht über die Donauebene.«
Herr Siegmund Wohlschein trat aus dem Nebenzimmer. Er war ein etwas untersetzter und trotz kleiner Glatze und grauer Schläfen noch jugendlich aussehender Herr mit vollem Gesicht, dichtem, dunklem Schnurrbart und hellen, nicht großen, aber freundlichen Augen. »Freut mich, Sie bei uns zu sehen, Fräulein Fabiani. Thilda hat mir schon viel von Ihnen erzählt. Bitte zu entschuldigen, daß ich als Hochtourist vor Ihnen erscheine.« Er sprach mit auffallend tiefer Stimme, den Dialekt leicht wienerisch gefärbt, trug einen eleganten Touristenanzug und zu den dunkelgrünen Stutzen Hausschuhe aus schwarzem Lackleder. Die Suppe wurde von einem nicht mehr ganz jungen Dienstmädchen aufgetragen. Herr Wohlschein selbst teilte vor, und so hielt er es auch bei den nächsten Gängen. Es war ein bürgerlich-sonntägliches, trefflich zubereitetes Mahl mit einem leichten Bordeauxwein
Herr Wohlschein erschien später, in städtischem Gewand, mit hohem, etwas zu engem Kragen, im Pelz, küßte seine Tochter auf die Stirn und sagte, daß er sich zu einer Tarokpartie in ein nahes Café begebe, aber um acht zum Abendessen wieder daheim sein werde. »Und du?« wandte er sich wie entschuldigend an Thilda. »Was hast du vor?« – »Du darfst auch länger ausbleiben«, erwiderte sie nachsichtig lächelnd. »Ich habe Briefe zu schreiben.« – Briefe? dachte Therese, wahrscheinlich auch an die Mutter, die im Ausland lebt. Gewiß hatte Herr Wohlschein den gleichen Gedanken, denn er schwieg eine Weile, und seine gutmütige Stirn runzelte sich ein wenig. Dann empfahl er sich freundlich von Therese, ohne den Wunsch nach einem Wiedersehen auszusprechen. Bald nach ihm hielt es auch Therese an der Zeit, zu gehen, und Thilda hielt sie nicht zurück.
So war ihr Eintritt in dieses Haus vollzogen, es folgten in Abständen von zwei bis drei Wochen weitere Einladungen zu sonntäglichen Mahlzeiten, bei denen manchmal auch andere Gäste
Und diese Ferne blieb. Immer, nicht nur in den Unterrichtsstunden, auch bei den Gesprächen nachher oder in Thildas Mädchenzimmer, auch im Museum, das sie mit Thilda zuerst an einem der Weihnachtsfeiertage besuchte, war Therese dieser etwas schmerzlichen Ferne sich bewußt, und manchmal war ihr, als müßte sie die blonde Frau des Palma Vecchio, den Maximilian von Rubens und manche andere dieser entrückten Bildnisse beneiden, denen gegenüber Thilda sich freier, vertrauter, inniger zu geben schien als gegenüber Theresen und vielleicht gegenüber allen anderen lebenden Menschen.
Eines Abends – sie wollte eben zu Bette gehen – wurde an ihrer Türe geklingelt. Es war Franz, der draußen stand, beschneit, ohne Winterrock, doch in einem anscheinend neuen Anzug von vorstädtisch elegantem Schnitt. Das rot geränderte Taschentuch ragte ihm wie üblich aus der Rocktasche. Ein ganz anderer stand vor ihr als der, den sie vor mehr als einem halben Jahr zum letztenmal gesehen. Nicht im geringsten ein Knabe mehr – ein junger Herr, wenn auch keiner von der besten Sorte, ja, mit seinem blassen Gesicht, dem pomadisierten, gescheitelten Haar, der Ahnung eines Schnurrbartes unter der stumpfen Nase, den unsicheren und stechenden Augen eine einigermaßen verdächtige Erscheinung.
»Also, du bist wieder da«, sagte Therese nach einiger Zeit und fühlte, daß sie blaß geworden war. – »Nicht aufständig«, erwiderte Franz mit vollem Mund und rasch, als müsse er sie beruhigen. »Weißt, Mutter, ich bin nämlich krank geworden auf dem Weg.«
»Auf dem Weg nach Amerika«, ergänzte Therese ungerührt.
Ohne darauf zu achten, sprach Franz weiter: »Eigentlich war es nur ein weher Fuß, aber – es ist halt auch mit dem Geld nicht ausgegangen, und mein Freund, der mit war, hat mich im Stich gelassen. Dann hat mir einer g'sagt, man muß einen Ausweis haben auf'm Schiff. Also mit der Zeit verschaff' ich mir schon einen. Aber für'n Moment hab' ich mir denkt, is doch das gescheiteste, fahrst wieder retour.«
»Seit wann bist du denn wieder da?« fragte sie langsam.
»Ich hab' nicht sehr weit zurück gehabt«, erwiderte er ausweichend mit seinem trotzigen Lachen. Dann erzählte er, daß er auch »gearbeitet« habe, nämlich als Aushilfskellner an Sonn- und Feiertagen in einem Wirtshaus. Und wie er behauptete, hatte er Aussicht, in der allernächsten Zeit als »Speisenträger« fest angestellt zu werden. Er hätte schon längst eine solche Anstellung gekriegt, wenn es ihm nicht an allerlei Notwendigem fehlte, vor allem an Hemden; und auch mit seinem Schuhwerk sei es übel bestellt. Er wies der Mutter das Paar, das er an den Füßen trug: dünne Lackstiefeletten mit völlig durchtretenen Sohlen. Therese nickte nur. Sie wußte selbst nicht, ob die Regung, die sie verspürte, Mitleid war oder Angst, daß der Junge ihr wieder in der Tasche liegen würde.
»Wo wohnst du denn eigentlich?« fragte sie. – »Ah, mit dem Quartier hat's keine Not. Obdachlos, Gott sei Dank, bin ich nicht. Da hat man immer schon Freunde.« – »Du kannst ja hier wohnen, Franz«, sagte sie. Doch kaum hatte sie's ausgesprochen, so bereute sie's schon.
Therese erhob sich, zögerte aber gleich wieder. Sie hatte aus dem Wäscheschrank eine der wenigen Banknoten nehmen wollen, die sie dort verwahrte, aber sie fühlte, daß das höchst unvorsichtig wäre. So sagte sie: »Ich mach' dir dein Bett auf dem Diwan, und – vielleicht finden sich auch ein paar Gulden, daß du dir ein Paar Schuhe kaufen kannst.« – Franz runzelte die Stirn und nickte, ohne zu danken. »Kriegst es zurück, Mutter, ich versprech dir's, in spätestens drei Wochen.«
»Ich verlang' nichts zurück«, sagte sie. Franz zündete sich eine Zigarette an und starrte in die Luft. – »Eine Flasche Bier hast nicht zu Hause, Mutter?« Sie schüttelte den Kopf. – »Aber – einen Rum vielleicht?« – »Ich mach' dir einen Tee.« – »Ah, kein Tee, Rum allein macht wärmer. Ich weiß ja, wo du ihn aufgehoben hast.« Er stand auf und ging in die Küche.
Therese breitete die Leinwand auf den Diwan. Draußen hörte sie Franz rumoren. Mein Sohn?! fragte sie sich fröstelnd. Während Franz noch draußen war, nahm sie rasch eine Fünf-Gülden-Banknote aus ihrem Schrank, aber noch während sie wieder zusperrte, stand Franz, unhörbar hereingeschlichen, hinter ihr, die Rumflasche in der Hand. Er tat, als hätte er nichts gesehen. Sie hielt den Schein in der hohlen Hand verborgen und hielt ihn weiter so, bis das Lager fertig war. Er schenkte sich den Rum in ein Wasserglas, füllte es fast zur Hälfte, setzte es an die Lippen. »Franz!« rief sie. Er trank aus und zuckte die Achseln. »Wann einem kalt ist«, sagte er. Er warf Rock, Gilet und Kragen ab. Er hatte nur ein zerschlissenes Trikotleibchen an, kein Hemd, streckte sich auf den Diwan und zog die Decke über sich. »Gute Nacht, Mutter«, sagte er.
Sie stand regungslos, stumm; er drehte sich zur Wand hin und schlief gleich ein. Da nahm sie eine zweite Banknote zu fünf Gulden aus dem Schrank und legte beide Scheine auf den Tisch. Dann setzte sie sich eine Weile hin, den Kopf in die Hände gestützt. Endlich löschte sie das Licht und ging in ihr Schlafgemach, sie kleidete sich nicht völlig aus, legte sich hin, versuchte einzuschlafen, doch es gelang ihr nicht. Kurz nach Mitternacht erhob sie sich wieder, auf den Zehenspitzen schlich sie ins Nebenzimmer. Franz atmete ruhig. Sie mußte daran denken, wie sie in
Unwillkürlich, wie aus einer verschütteten Tiefe, war dieses Wort ihr ins Bewußtsein emporgestiegen, und sie hatte doch etwas ganz anderes gemeint: wenn ich mich um ihn mehr hätte kümmern können – das hatte sie denken wollen –, dann sähe er wohl anders aus. Wenn ich eine andere Mutter gewesen wäre, wäre mein Sohn ein anderer Mensch geworden. Sie erbebte in tiefster Seele. Leise, fast ohne ihn zu berühren, strich sie ihm über das gescheitelte, pomadisierte Haar. Ich will ihn bei mir behalten, sagte sie vor sich hin. Morgen früh will ich noch einmal mit ihm reden. Dann begab sie sich wieder zu Bette und schlief nun wirklich ein.
Als sie um sieben Uhr früh erwachte und ins Nebenzimmer trat, lag die zerknüllte Decke auf dem Fußboden, die Rumflasche war zu drei Vierteilen leer, und Franz war fort.
Sie sprach zu niemandem ein Wort von diesem Besuch, und rascher, als sie gedacht, wurde er eine blasse Erinnerung. Auch der Umstand, daß etwa acht Tage nachher ein übel aussehendes, ältliches Frauenzimmer mit Kopftuch ihr einen Brief Franzens überbrachte, in dem nur dieses stand: »Hilf mir noch einmal, Mutter, ich brauche dringend zwanzig Gulden«, berührte sie nur wenig. Ohne ein Begleitschreiben schickte sie ihm die Hälfte des verlangten Betrags, was freilich auch schon ein Opfer für sie bedeutete.
Wieder kurz darauf, höchst unerwartet, erschien ihre Schwägerin. Sie war freundlich, doch befangen. Längst schon wäre sie da gewesen, aber das Hauswesen und die zwei Kinder nähmen ihre ganze Zeit in Anspruch, und wenn sie heute käme – sie stockte und reichte Theresen einen Brief hin. Es waren ein paar Zeilen von Franz in kindisch unbeholfener Schrift und mangelhafter
»Du hast ihm hoffentlich nichts geschickt?« sagte Therese hart.
»Ich hätt' gar nicht können, ich muß ja so genau Rechnung legen. Ich hab' dich nur bitten wollen, daß du ihm sagst, er soll um Gottes Willen nicht noch einmal – wenn mein Mann so einen Brief erwischt – es ist auch deinetwegen, Theres'.«
Therese runzelte die Stirn. »Der Franz wohnt längst nicht bei mir, ich weiß überhaupt nichts mehr von ihm. Was mir möglich war, hab' ich getan, hab' ihm erst vor ein paar Tagen wieder was geschickt – was an mir liegt – du glaubst doch nicht, ich hab' ihn angeleitet? Ich weiß nicht einmal, wo er wohnt.« Und plötzlich brach sie in Tränen aus.
Die Schwägerin seufzte auf. »Es hat halt jeder sein Kreuz.« Und als hätte sie nur eine Gelegenheit gesucht, selbst ihr Herz zu erleichtern, sprach sie weiter. Ihr ging es auch nicht zum besten. Wenn sie die Kinder nicht hätte, – das dritte sei schon auf dem Weg. Eine Sorge mehr – hoffentlich auch ein Glück mehr, sie könnte es brauchen. »Du kannst dir ja denken, mit dem Karl ist es nicht so einfach.« Er habe nur mehr Sinn für seine Versammlungen und Vereine, keinen Abend beinahe sei er zu Hause, die Praxis leide natürlich darunter. Sie klagte bitter über seine Unfreundlichkeit, seine Härte, seinen Jähzorn.
Sie hatte noch Tränen im Auge, als sie ging, weil sie gehen mußte, denn eben kamen zwei Schülerinnen zum Kurs. Thilda war die eine. Ihr Blick ruhte fragend, nicht ohne Mitgefühl, auf Therese, so daß diese zu einer Erklärung sich gewissermaßen verpflichtet fühlte. Und sie bemerkte: »Es war die Frau meines Bruders.«
»My brother's wife«, übersetzte Thilda kühl, packte ihre Hefte und Bücher aus, und ihr Interesse an Theresens Familienangelegenheiten war damit erschöpft.
In den nächsten Wochen war von gemeinsamen Spaziergängen und Galeriebesuchen keine Rede. Auch blieb Thilda nach Beendigung der Unterrichtsstunde bei der Lehrerin nicht zurück, wie es früher so oft geschehen war. Eines Tages aber, schon gegen das Frühjahr zu, lud sie Therese plötzlich wieder für den Sonntagmittag ein. Therese atmete auf, denn sie hatte schon gefürchtet, daß sie weiß Gott wodurch im Hause Wohlschein Mißfallen erregt hätte. Überdies war sie gerade gestern durch eine neue Geldforderung ihres Sohnes – in gleicher Weise durch jenes übel aussehende Frauenzimmer mit dem Kopftuch ihr überbracht – in Unruhe versetzt worden. Sie hatte ihm fünf Gulden gesandt und die Gelegenheit benützt, ihn dringend zu warnen, sich jemals wieder an ihren Bruder zu wenden. »Warum suchst du nicht einen Posten auswärts«, schrieb sie weiter, »wenn du hier keinen findest? Ich bin nicht mehr in der Lage, dir auszuhelfen.« Kaum war der Brief fort, so hatte sie ihn schon wieder bereut in der Empfindung, daß es gefährlich sei, Franz zu reizen. Nun, da Thilda wieder gut zu ihr war, schien sie sich selbst stärker, wie gewappnet gegen manches Unheil, das drohen mochte.
Thilda war allein. Mit besonderer Herzlichkeit begrüßte sie die Lehrerin und gab ihrer Freude Ausdruck, sie heute wohler aussehend zu finden als neulich. Und wie zur Antwort auf Theresens fragenden Blick, beiläufig und etwas altklug, bemerkte sie: »Es ist schon so, Familienbesuche bringen selten was Angenehmes, besonders unerwartete.« – »Nun«, erwiderte Therese, »glücklicherweise bekomme ich selten welche, weder erwartete noch unerwartete.« Und sie sprach von ihrer zurückgezogenen, fast einsamen Lebensweise. Seit auch ihr Sohn »draußen« eine Stellung gefunden – sie wurde dunkelrot, und Thilda machte sich an der Bibliothek zu schaffen –, sehe sie fast niemanden von ihrer Familie. Die Mutter scheine völlig in ihre Schreibereien versponnen, der Bruder habe seinen Beruf und überdies mit der Politik viel zu tun, und die Schwägerin gehe völlig in der Sorge für Haus und Kinder auf.
Ganz unvermittelt bemerkte Thilda: »Wissen Sie, Fräulein Fabiani, was mein Vater neulich gesagt hat? Aber Sie dürfen nicht böse sein.« – »Böse?« wiederholte Therese etwas betroffen; und Thilda fügte rasch hinzu: »Der Vater findet – wie hat er sich nur ausgedrückt –, daß Sie nicht genug aus sich zu machen
Therese wehrte ab. »Ach Gott, Thilda, den meisten ist ja schon das zuviel. Ich bin nur Privatlehrerin, habe nie Prüfungen gemacht, bin nie öffentlich angestellt gewesen.« Und sie erzählte, wie früh schon sie sich selbst hatte erhalten müssen, wie sie nie dazu gekommen sei, das Versäumte nachzuholen – nun ja, vielleicht bis zu einem gewissen Grad durch eigene Schuld –, aber wie es nun immer sei, jetzt war es zu spät, von vorn anzufangen.
»Ach Gott, es ist nie zu spät«, meinte Thilda. Und wieder ganz unvermittelt richtete sie an Therese die Frage, ob sie sich eine Bitte erlauben dürfe. Sie wisse nämlich nicht genau, wann Theresens Namenstag sei. »Bei uns gibt's nämlich keine.« Und daher bitte sie Fräulein Fabiani recht sehr, heute ein nachträgliches Namenstagsgeschenk anzunehmen; und ehe Therese etwas erwidern konnte, war Thilda im Nebenzimmer verschwunden, kam mit einem englischen Drap-Mantel auf dem Arm zurück, ersuchte Fräulein Fabiani, sich freundlichst erheben zu wollen, und half ihr in die Ärmel. Der Mantel paßte wie nach Maß gemacht; wenn aber vielleicht doch noch etwas zu richten sei, die Firma, wo er gekauft war, übernehme jede Änderung.
»Was fällt Ihnen nur ein«, sagte Therese. Sie stand vor dem großen Schrankspiegel in Thildas Mädchenzimmer und betrachtete sich. Wahrhaftig, es war ein geschmackvoller, vortrefflich sitzender Mantel, und sie sah aus, wie eine noch ziemlich junge Dame aus wohlhabenden Kreisen.
»Ja richtig«, sagte Thilda und reichte Theresen ein kleines Päckchen in Seidenpapier. »Das gehört dazu.« Es waren drei Paar Handschuhe, weiß, dunkelgrau und braun, von bester schwedischer Sorte. »Sechsdreiviertel, die Nummer stimmt doch?«
Während Therese eben daran war, einen Handschuh zu probieren, trat Herr Wohlschein ein. »Ich gratuliere, Fräulein Fabiani«, sagte er. – »Wozu denn, Herr Wohlschein?« – »Sie haben Geburtstag, sagt mir Thilda.« – »Aber nein, weder Geburtstag noch Namenstag, ich weiß wirklich nicht –« – »Nun, heute wird er gefeiert«, erklärte Thilda, »und damit basta.«
Das Mittagsmahl verlief in bester Laune, auch einen weißen Burgunder gab es; man trank auf Theresens Wohl, und Therese kam sich wirklich vor wie ein Geburtstagskind. Zum schwarzen Kaffee erschien die Schwester des Herrn Wohlschein und später
Wie oft hatte sie in früherer Zeit solchen Unterhaltungen beigewohnt und kaum je als völlig gleichberechtigt an ihnen teilgenommen. Sie ertappte sich heute darauf, daß sie wohl gelegentlich auch ein Wort hätte sagen mögen, sich aber nicht recht getraute. Bei irgendeinem Anlaß aber – niemand außer Therese merkte die Absicht – zog Thilda sie ins Gespräch; allmählich – auch der Wein mochte ein wenig schuld daran sein – schwand Theresens Befangenheit, sie sprach frei und lebhaft, wie schon lange nicht mehr, und sah manchmal den etwas verwunderten, aber höchst wohlgefälligen Blick des Hausherrn auf sich gerichtet.
Am nächsten Sonntag ereignete sich endlich, was schon öfters geplant, aber bisher noch nie zur Ausführung gelangt war: ein gemeinsamer kleiner Ausflug mit Thilda und ihrem Vater, dem sich auch ein Ehepaar anschloß, das man zufällig in der Straßenbahn getroffen hatte. Es war ein schöner Frühlingstag, in einem Waldwirtshaus ließ man sich zu einem Imbiß nieder, und Therese merkte, daß es das gleiche war, in dem sie vor vielen Jahren einmal mit Kasimir eingekehrt war. Saß sie nicht an demselben Tisch, vielleicht auf demselben Stuhl wie damals? Waren es nicht am Ende dieselben Kinder, wie damals, die dort auf der Wiese herumliefen, – wie es der gleiche Himmel über ihr, die gleiche Landschaft und das gleiche Gewirr von Stimmen war? Saßen nicht dieselben Leute dort am Nebentisch, mit denen damals ihr Begleiter zu ihrem Mißvergnügen sich in eine Unterhaltung
»Ihre Suppe wird kalt, Fräulein Fabiani«, sagte Thilda.
Therese blickte auf und wußte gleich wieder, wo sie war. Die andern hatten ihre Versunkenheit kaum bemerkt, sie aßen, plauderten, lachten, und auch Therese atmete wieder frei, ließ sich das Essen schmecken, freute sich an der Luft, der Landschaft, den Menschen, dem Frühling und der Sonntagslaune ringsum. Das befreundete Ehepaar empfahl sich, es wollte noch weiter auf eine der nahen Anhöhen. Die anderen traten den Rückweg an. An einer schönen freien Stelle mit weitem Ausblick über die Donau gegen die Ebene zu rasteten sie. Herr Wohlschein legte sich auf die Wiese hin und schlief ein, Therese und Thilda lagerten sich in einiger Entfernung und kamen ins Plaudern. Therese war die Gesprächige. Es fiel ihr heute so viel aus vergangenen
Herr Wohlschein blinzelte zu ihnen herüber, erhob sich, trat herbei und fragte, ob sie einander viel Interessantes zu erzählen hätten. Therese und Thilda erhoben sich nun auch, schüttelten Gras und Staub von ihren Röcken, und alle drei stiegen weiter nach abwärts. Thilda hing sich zutraulich in Theresens Arm, sie liefen manchmal voraus, Herr Wohlschein, den Rock übergehängt, folgte ihnen. Es war der gleiche Weg, den Therese vor vielen Jahren mit Kasimir Tobisch hinabgegangen war ... in den ersten Tagen, da sie sein Kind unter dem Herzen trug.
Noch lange vor Dunkelheit nahmen Wohlschein und Thilda von Theresen an ihrem Haustor Abschied. Doppelt einsam war ihr an diesem Feiertagsabend in ihrem Heim zumute, in das die Wärme des beginnenden Frühlings noch keinen Eingang gefunden, und bald war das Leben wieder so arm wie vorher.
Eine Woche und mehr vergingen, während deren sich Thilda Theresen gegenüber kaum vertrauter benahm als die anderen Schülerinnen und es nach den Kursen sogar immer recht eilig hatte, bis sie ihr, wieder ganz unerwartet, eines Tages eine Einladung des Vaters in die Oper überbrachte. Für Therese bedeutete es ein Fest, nach vielen Jahren wieder einmal in dem
Aber die wirkliche Ursache von Wohlscheins Verstimmung oder von dem, was Therese dafür gehalten, wurde ihr wenige Tage später klar, als Thilda sie in ganz leichtem Ton mit der Mitteilung überraschte, daß sie sich mit Herrn Verkade verlobt habe. Die Heirat sollte im Spätherbst stattfinden, als künftiger Aufenthalt des Paares war Amsterdam vorgesehen, wohin übrigens Herr Verkade gestern für längere Zeit wieder abgereist sei. Während Thilda das erzählte, war nur ein starres Lächeln in Theresens Antlitz; es konnte zugleich als Gebärde eines Glückwunsches gelten, den mit Worten über die Lippen zu bringen Therese nicht vermochte.
Sie begriff Wohlschein nicht, der die Zustimmung zu dieser Heirat gegeben, schalt ihn bei sich schwach oder gefühllos, ja, sie schob ihm sogar niedrige Motive unter, wie etwa, daß die Firma sich in finanziellen Schwierigkeiten befände und Wohlschein selbst die Verlobung kupplerisch gefördert, um sich und die Fabrik zu retten. Sie konnte nicht glauben, daß Thilda, ein Kind beinahe, diesen um zwanzig oder fünfundzwanzig Jahre älteren, nicht sonderlich interessanten, kaum hübschen Mann wirklich liebte. Sie war geneigt, das holde junge Geschöpf als ein unschuldiges Opfer anzusehen, das sich ihres Schicksals nicht recht bewußt sei, und flüchtig kam ihr sogar der Einfall, Herrn Wohlschein
Der Gedanke der nahen Trennung erfüllte sie so sehr, daß die anderen mannigfachen kleineren und größeren Sorgen des Alltags kaum von ihr empfunden wurden. Da sie eine Anzahl von Schülerinnen verloren hatte, war sie genötigt, noch bescheidener zu leben als bisher. Sie spürte die Unannehmlichkeiten, ja die Entbehrungen kaum. Aber auch der Umstand, daß eines Abends Franz plötzlich wieder erschien mit einem kleinen Köfferchen und eine Schlafstelle sowie Teilnahme an den Mahlzeiten wie sein selbstverständliches gutes Recht wortlos in Anspruch nahm, bedeutete eben eine Widerwärtigkeit mehr, aber keine schlimmere als die anderen. Es fügte sich auch anfangs, daß er sie wenig störte; meist lag er bis gegen Mittag auf dem Diwan, dann verschwand er nach einer flüchtigen Mahlzeit, um erst in später Abenstunde, öfter in der Nacht oder erst gegen Morgen heimzukehren, so daß auch keine Begegnung mit ihren Schülerinnen erfolgte, wie ihr solche immer unerwünscht gewesen waren.
Manchmal wurde Franz, der sich stiller und höflicher betrug als früher, gleich nach Tisch von Freunden abgeholt. Einer von ihnen war ein langer, aufgeschossener, ganz hübscher Junge, der aussah wie ein Student aus ärmeren bürgerlichen Kreisen. In einem anderen aber erkannte sie den übel aussehenden Burschen wieder, den Franz ihr zuletzt mit einem Bettelbrief ins Haus geschickt hatte. Er schien als verdächtiges Subjekt gleichsam kostümiert zu sein, so daß er jedem Wachmann hätte auffallen müssen: karierte lichte Hose, kurzer brauner Janker, graue Kappe, im linken Ohrläppchen ein kleiner Ring, die Stimme heiser, der Blick schief und verschlagen. Therese schämte, ja ängstigte sich beinahe bei dem Gedanken, daß irgendeine Hauspartei ihn aus ihrer Türe könnte treten sehen, und sie vermochte nicht eine Bemerkung in diesem Sinn Franz gegenüber zu unterdrücken. Daraufhin stellte sich Franz plötzlich feindselig vor sie hin und verbat sich in gröbster Weise, daß sie seine Freunde beleidige. »Der ist aus einem besseren Haus als ich«, rief er, »der hat wenigstens einen Vater.« Therese zuckte die Achseln und verließ das Zimmer. Auch dies drang kaum an ihre Seele, die von Schmerzlicherem bedrückt war.
Thilda kam weiter regelmäßig in den Kurs, sprach aber weder jemals von ihrem Bräutigam noch überhaupt von der Tatsache ihrer bevorstehenden Heirat, so daß Therese sich zuweilen mit der Hoffnung schmeichelte, das Verlöbnis sei gelöst worden. Doch als sie an einem der nächsten Sonntage wieder einmal bei Wohlscheins zu einem Mittagessen geladen war, an dem auch die Schwester des Hausherrn teilnahm, war kaum von etwas anderem die Rede als von Dingen, die mit der Hochzeit in Zusammenhang standen, von holländischen Sprachstunden, die Thilda in der letzten Zeit nahm und von denen Therese erst jetzt erfuhr, von der Ausstattung, von der Villa des Herrn Verkade am Strande von Zandvord, von der Farm in Java, die einem seiner Brüder gehörte. Und Herr Wohlschein war heute keineswegs verstimmt oder nachdenklich, er war geradezu vergnügt, als wäre diese Heirat ganz nach seinem Sinn und das Natürlichste von der Welt, daß man sein eigenes Kind, das einem durch Jahre so unendlich nahe gewesen, eines Tages einfach in die Welt hinausschickte mit einem fremden Mann, um es für ewig zu verlieren.
Früher als anfänglich festgesetzt, in den ersten Julitagen schon, fand im Rathaus die Hochzeit statt. Therese erfuhr es tags darauf aus einer gedruckten Anzeige, die die Post ihr brachte. Als sie die Karte in der Hand hielt, glaubte sie dergleichen vorher geahnt zu haben; es war ihr, als hätte Thilda ihr neulich nach der letzten Unterrichtsstunde bedeutungsvoller als sonst die Hand gedrückt; und auch eines Blickes von der Türe her erinnerte sie sich, in dem zwar ein gewisser Ausdruck des Bedauerns, zugleich aber eine Spur von Spott gelegen war, wie der eines Kindes, dem ein Streich geglückt, dessen Tragweite für den Betroffenen es gar nicht zu beurteilen vermöchte. Trotzdem hoffte Therese, wenigstens an einem der nächsten Tage von der Hochzeitsreise aus eine persönliche Nachricht zu erhalten; aber nichts dergleichen kam und sollte noch lange nicht kommen; kein Brief, keine Karte, kein Gruß.
An einem schönen Sommerabend gegen Ende der Woche nahm Therese den Weg nach Mariahilf mit dem uneingestandenen Vorsatz, Herrn Wohlschein nachträglich zur Vermählung der Tochter ihren Glückwunsch abzustatten. Doch als sie vor dem Hause stand, sah sie alle Fenster verhängt, und es fiel ihr ein, daß vor Wochen schon Herr Wohlschein die Absicht ausgesprochen,
Als der Juli fortschritt und nun auch die letzten Schülerinnen auf Sommerferien gegangen waren, wurde die Einsamkeit um Therese eine vollkommene. Ihrer Gewohnheit nach stand sie früh am Morgen auf und wußte kaum, was mit dem Tag beginnen. Die häusliche Arbeit war rasch geleistet, Vormittagsgänge in den heißen Straßen der Stadt ermüdeten sie, nachmittags versuchte sie zu lesen, meist Romane, die sie entweder langweilten oder in ihrer Ausmalung bewegterer Lebensschicksale und zärtlicher Liebesgeschichten unnütz und oft schmerzlich erregten.
Mit der tiefsten Traurigkeit aber erfüllten sie Abendspaziergänge auf dem Ring oder in Parkanlagen. Immer noch geschah es, daß sich in den Dämmerstunden irgendein Herr, der auf Abenteuer aus war, an ihre Schritte heftete, aber sie hatte eine Scheu, sich ansprechen oder gar begleiten zu lassen. Sie wußte, daß ihre Erscheinung im ganzen immer noch jugendlich genug wirkte, sie selbst aber trug unausgesetzt das Bild in sich, das ihr der Spiegel des Morgens nach dem Aufstehen zu zeigen pflegte: ein blasses, feines, aber vor der Zeit verblühtes Antlitz mit zwei dicken grauen Strähnen in dem immer noch vollen braunen Haar. Wenn dann die Einsamkeit, die sie tagsüber mit leidlicher Geduld getragen, wie eine immer schwerere Last auf ihre Schultern drückte, kam ihr wohl flüchtig der Gedanke, das Haus des Bruders aufzusuchen, aber sie schreckte doch davor zurück, unsicher, in welcher Weise, ja ob man sie dort überhaupt empfangen würde. Die Mutter aber wiederzusehen, empfand sie eine fast noch größere Scheu, gerade weil sie einen Besuch bei ihr innerhalb des letzten Jahres immer wieder aufgeschoben hatte.
Und doch, an einem strahlenden Sommermorgen, machte sie sich plötzlich, als wäre ihr der Entschluß im Traum gekommen,
Die Mutter wohnte in einem häßlichen vierstöckigen Zinshaus der Hernalser Hauptstraße, in einem armseligen Kabinett bei einer Beamtenswitwe. Es war Theresen unbekannt, ob die Mutter das Geld, das sie ein paar Jahre hindurch reichlich verdient, in einer unglücklichen Spekulation verloren, ob sie es töricht verschenkt hatte oder ob es nur ein krankhafter Geiz war, der sie ein so klägliches Leben führen ließ. Doch so gering demnach die Aussichten auf ein Darlehen von dieser Seite waren – vielleicht war es die Dringlichkeit ihres Wunsches, vielleicht die anfängliche Freude der Mutter über den unerwarteten Besuch, vielleicht nur die abergläubische Zuversicht, mit der Therese ihre Bitte vorbrachte –, ohne Zögern fast fand sich die Mutter bereit, Theresen hundertfünfzig Gulden zur Verfügung zu stellen, gegen einen Schuldschein allerdings, mit Rückzahlungsverpflichtung spätestens ersten November und einer Verzinsung von monatlich zwei Prozent bei Nichteinhaltung des Termins. Im übrigen fragte sie die Tochter kaum, wozu sie den Betrag benötige, fragte überhaupt nach nichts, was jene betraf, schwätzte nur in einer seltsam hemmungslosen Weise von alltäglichen Wirtschaftsdingen, geriet von da aus auf den gleichgültigsten Nachbarnklatsch, zeigte ihr dann unvermittelt das Manuskript ihres neuen Romans, hunderte eng beschriebene Blätter, die sie in der Lade des Küchentisches aufbewahrt hatte, beantwortete eine Frage Theresens nach der Familie des Bruders zerstreut und unklar, grüßte vom offenen Fenster aus zu einer Frau gegenüber, die die Blumen auf dem Fensterbrett begoß, und ließ die Tochter endlich gehen, ohne den Versuch, sie noch eine Weile zurückzuhalten oder sie zum Wiederkommen aufzufordern.
Am nächsten Morgen schon fuhr Therese nach Enzbach. Sechs Jahre war es nun her, daß sie zum letzten Male dort gewesen. Bald nach dem Tod des alten Leutner hatte die Witwe in eine benachbarte Ortschaft geheiratet, Therese hatte zuerst daran gedacht, sich in einem der anderen Bauernhäuser einzumieten, aber in der Scheu, mit irgendeinem der früher bekannten Einwohner in nähere Berührung zu treten, zog sie es vor, in dem höchst bescheidenen Gasthof des Ortes Quartier zu nehmen.
Auf einem kleinen Spaziergang in der vertrauten Gegend, über Wiesen und Felder nach dem nahen Wäldchen, begegnete sie wohl manchem ihr von früher her bekannten Dorfbewohner, doch auch von diesen schien keiner sie zu erkennen. Sie war so allein, als sie es gewünscht hatte, aber das Wohlgefühl, das sie erhofft, wollte sich nicht einstellen. Sie war recht müde, als sie wieder in ihren Gasthof zurückkam. Der Wirt erkannte sie, während sie bei Tische saß, und fragte sie sogar nach dem Franzl. Innerlich so unbewegt, daß ihr selbst leise schauerte, erzählte sie, daß ihr Sohn in Wien eine gute Stellung habe.
Nachmittags blieb sie auf ihrem Zimmer, draußen flimmerte die heiße Sommerluft, und durch die schadhaften Rolläden in blendenden schmalen Streifen glühte die Sonne auf die Wand. Im halben Schlummer lag sie auf dem harten unbequemen Bett, Fliegen summten, Stimmen, nah und fern verhallend, allerlei Geräusche, vielleicht von der Straße, vielleicht von den Feldern her, drangen in ihren Traum. In der Dämmerung erst erhob sie sich und ging wieder ins Freie. Sie kam an dem Haus vorüber, in dem der Franz Kind gewesen und das nun in anderen Besitz übergegangen war. Fremd lag es da, als hätte es niemals etwas für sie bedeutet. Auf der Wiese vor dem Haus war ein feiner Bodennebel, als melde der Herbst sich vorzeitig an. Unverändert und ungerührt, von verwelkten Blätterkränzen umgeben wie sonst und immer noch mit dem Sprung im Glas, schaute das Muttergottesbild unter dem Ahorn sie an. Von der Anhöhe stieg sie zur Hauptstraße nieder, wo die bescheidenen Villen standen; auf Veranden da und dort unter Deckenampeln saßen Sommergäste, Ehepaare, Kinder, geradeso wie sie immer dagesessen waren. Andere Eltern, andere Kinder, und doch immer dieselben für die Spaziergängerin, der die unbekannten Gesichter im Halbdunkel verschwanden. Oben auf dem Bahndamm sauste eben der
Die nächsten Tage aber vermochte sie sich schon an der Sommerluft, der Stille, dem Heuduft zu freuen, wie so oft in früherer Zeit. Sie lag lang am Waldesrand, dachte manchmal an den Franz von einst, wie an ein Kind, das längst gestorben war, und verspürte Sehnsucht nach Thilda in einer milden, fast wohltuenden Art. Diese Sehnsucht, so fühlte sie, war nun das Beste in ihrem Leben und trug sie in irgendeine Höhe, wo sie für gewöhnlich gar nicht zu Hause war, und ein alter Wunsch stieg langsam in ihr wieder auf, der Wunsch, irgendwo auf dem Land, im Grünen, möglichst fern von den Menschen, ruhig dahinzuleben. Lebensabend, dachte sie, das Wort stand plötzlich vor ihr, und da sie ihm gleichsam ins Auge sah, lächelte sie ein wenig trüb. Abend? War es schon so weit?
Ihre Müdigkeit schwand allmählich, ihre Wangen hatten sich gerötet, und im Spiegel erschien sie sich gegenüber den letzten Wochen ganz erheblich verjüngt. Unbestimmte Hoffnungen wachten in ihr auf: es kam ihr der Einfall, daß sie sich wieder einmal bei Alfred in Erinnerung bringen könnte, dann dachte sie, daß Herr Wohlschein doch bald wieder zurück sein müßte, bei dem sie Erkundigungen nach Thilda einholen wollte, von der sie noch immer keine Zeile erhalten hatte.
Auch der Gedanke an ihren Beruf meldete sich wieder und damit eine leise Sehnsucht nach Tätigkeit. Die letzten Urlaubstage, die sie sich noch zu vergönnen beabsichtigt hatte, verbrachte sie in einer wachsenden Ungeduld, ja Unruhe, und als plötzlich Regenwetter eintrat, kürzte sie ihren Aufenthalt ab und traf noch vor dem Termin, den sie sich selbst gesetzt hatte, in der Stadt wieder ein.
Die Schülerinnen sammelten sich allmählich, auch ein Kurs kam wieder zustande, und ausgeruht und frisch, wie sie nun war, kam sie ihren Pflichten mindestens ohne Überwindung nach. Nach ihrer Art trat sie allen Schülerinnen mit der gleichen, etwas gleichgültigen Freundlichkeit gegenüber, und wenn ihr auch die eine oder andere mehr Sympathie einflößen mochte, eine Thilda war nicht unter ihnen. – Da geschah es an einem Nachmittag, daß sie in der inneren Stadt einen bürgerlich elegant gekleideten älteren Herrn mit steifem, schwarzem, ganz wenig auf die Seite gerücktem Hut begegnete, in dem sie erst, als er ihr Aug' in Aug' gegenüberstand, Herrn Wohlschein erkannte. Sie lächelte über das ganze Gesicht, als wäre ihr ein unerwartetes Glück geschehen, auch er war sichtlich erfreut und schüttelte ihr kräftig die Hand.
»Warum sieht man Sie denn gar nicht, liebes Fräulein? Ich hätte Ihnen schon geschrieben, ich wußte aber leider Ihre Adresse nicht.«
Nun, dachte Therese, die wäre wohl zu erfahren gewesen. Aber sie unterließ jede Bemerkung und fragte gleich: »Wie geht es Thilda?«
Ja, wie mochte es der wohl gehen? Nun waren es wieder einmal vierzehn Tage oder mehr, daß Herr Wohlschein keine Nachricht von ihr hatte. Übrigens war es kein Wunder, denn die Hochzeitsreise des jungen Paares – wie, auch das wußte Fräulein Fabiani nicht? – sei zu einer Art Reise um die Welt geworden. Und jetzt befanden sie sich wohl irgendwo auf dem Weltmeer, und vor dem Frühling würden sie nicht wieder zurück sein. »Und Sie, Fräulein Fabiani, haben wirklich noch gar keine Nachricht von Thilda?« – Und da sie, fast beschämt, den Kopf schüttelte, zuckte er die Achseln. »Ja, so ist sie nun einmal, und dabei – Sie können mir glauben – für Sie, Fräulein Fabiani, hat sie eine ganz besondere Zuneigung gehabt.« Und er redete weiter von der geliebten, fernen Tochter, die man nun einmal nehmen müsse, wie sie sei, sprach von seinem trübseligen, leeren, großen Haus, seinen langweiligen Whistpartien im Klub und von dem traurigen Schicksal, sich eines schönen Tages, nachdem man manches Jahr hindurch ein Mann mit Weib und Kind gewesen, ganz unversehens als eine Art von Junggeselle oder Hagestolz wiederzufinden, als wären zehn Jahre glücklicher und ein paar Jahre unglücklicher Ehe, als wäre dieses ganze Dasein mit Frau und Kind überhaupt nur ein Traum gewesen.
Sie wunderte sich, daß er sich ihr gegenüber so offen, freundschaftlich
Am nächsten Sonntag aber brachte ihr morgens die Post einen Expreßbrief mit einem Theaterbillett, dem eine Visitenkarte beigelegt war: »Siegmund Wohlschein, Leder- und Galanteriewarenhandlung, gegründet 1804.« Irgend etwas der Art hatte sie wohl erwartet, nur war die Form der Einladung nicht recht nach ihrem Geschmack; immerhin leistete sie ihr Folge. Das Haus war schon verdunkelt, als Herr Wohlschein erschien, neben ihr Platz nahm und eine Tüte Bonbons in ihre Hand drückte. Sie nickte zum Dank, ließ sich aber weiter nicht stören. Die schmeichelnden Tanzmelodien behagten ihr, der spaßige Text unterhielt sie; sie fühlte selbst, daß ihre Wangen sich allmählich röteten, ihre Züge sich strafften, daß sie von Szene zu Szene gewissermaßen jünger und hübscher wurde. Herr Wohlschein war in den Zwischenakten recht galant zu ihr, aber doch nicht ganz unbefangen, und als das Stück zu Ende war, beim Fortgehen und in der Garderobe, hielt er sich wohl in ihrer Nähe, aber nicht wie jemand, der unbedingt zu ihr gehörte, sondern etwa so, als hätte man einander zufällig im Theater begegnet.
Es war ein schöner klarer Herbstabend, sie wollte gern zu Fuß gehen, er begleitete sie den langen Weg nach Hause; jetzt erst sprach er von Thilda, von der natürlich noch immer keine Nachrichten gekommen seien. Seine Einladung zum Abendessen lehnte sie ab, er drang nicht in sie und nahm an ihrem Haustor höflichen Abschied.
Tags drauf, mit einem Strauß von Rosen, sandte er ihr die Bitte, ihn am nächsten Sonntag – »zur Erinnerung an Thilda« – auf einem Spaziergang in den Wiener Wald zu begleiten. Und so wanderte sie mit ihm im ersten milden Schneefall dieses Winters denselben Weg, wie sie ihn an jenem Frühlingstag vor einem halben Jahr in Gesellschaft von Thilda gewandert waren. Wohlschein hatte drei Ansichtskarten von Thilda mitgebracht, die, alle zugleich, gestern angelangt waren. Auf einer stand als Nachschrift zu lesen: »Und möchtest du dich nicht auch einmal um Fräulein Fabiani kömmern? Sie wohnt Wagnergasse 74, zweiten Stock. Grüße sie vielmals, ich schreibe ihr demnächst ausführlich.« Auf diesem Spaziergang war es auch, daß Therese Herrn Wohlschein zum erstenmal von ihrem Sohn erzählte, der vor einem Jahr nach Amerika ausgewandert sei und von dem sie seither nichts mehr gehört habe.
Nach einigen weiteren gemeinsamen Abenden in Theatern und Restaurants wußte Herr Wohlschein nicht wenig von Therese trotz aller Flüchtigkeiten und willkürlichen Abänderungen, die sie sich in ihren Erzählungen gestattete und die er gläubig hinnahm. Er selbst sprach auch weiterhin viel von seiner Frau und zu Theresens Verwunderung immer in einem Ton von Hochachtung, fast von Anbetung, wie von einem besonderen Wesen, das man nicht mit dem gleichen Maße messen dürfe wie andere Menschenkinder; und Therese glaubte zu fühlen, daß Wohlschein Thilda eigentlich vor allem als die Tochter dieser ihm verlorenen Frau liebte, mit der sie manche verwandte Züge zu haben schien; und sie wußte, daß sie, Therese, ihr die echtere, in sich selbst ruhende, unmittelbarere Liebe entgegenbrachte.
Auch in den nachfolgenden Wochen änderte sich zwischen Wohlschein und Therese nicht viel. Sie gingen miteinander in Theater und Gasthäuser; er schickte ihr weiter Blumen, Backwerk;
Als sie fertig angekleidet war, in ihrem Touristenkostüm, erschien sie sich wieder frischer, jünger, an mutig beinahe. Nach einem gemeinsamen Frühstück in dem zirbelholzduftenden Gasthofzimmer, aus dessen Ecke der hohe Kachelofen knisternde Wärme verbreitete, fuhren sie im offenen Schlitten zwischen Kiefern und Tannen durch ein enges Tal, saßen mittags inmitten eines beschneiten Wiesenplanes im Freien, von der Sonne so prall beschienen, daß Therese ihre Jacke, Herr Wohlschein seinen kurzen Pelz ablegte, worauf er in Hemdärmeln, den Jägerhut mit Gemsbart auf dem Kopf und mit dem aufgezwirbelten schwarzen, schneefeuchten Schnurrbart eigentlich etwas komisch aussah.
Es war, als hätte Franz aus unbekannten Fernen her die Veränderung gewittert, die in den äußeren Lebensverhältnissen seiner Mutter eingetreten war. Gerade als Therese wieder einmal einen Korb mit allerlei Eßwaren erhalten hatte, erschien er unerwartet und sah im Winterrock, trotz des abgeschabten Samtkragens, fürs erste recht anständig, fast vertrauenerweckend aus. Doch als er den Rock zurückschlug und unter einem etwas fleckigen Smoking eine auch nicht mehr ganz weiße Hemdbrust sichtbar wurde, war der anfangs günstige Eindruck gleich wieder fort. »Was verschafft mir das Vergnügen?« fragte die Mutter kühl. Nun, er war wieder einmal stellenlos und ohne Obdach. Das Kabinett, in dem er ein paar Wochen lang gewohnt, war ihm gekündigt worden. Daheim sei er schon seit ein paar Monaten wieder. »Na ja«, meinte er hämisch, »wenn man auch keinen Vater hat, eine Vaterstadt hat man doch.« Und es sei doch eigentlich sehr rücksichtsvoll von ihm gewesen, daß er sich in der ganzen Zeit nicht gemeldet. Ob ihm die Mutter nicht zur Belohnung auf zwei, drei Tage Quartier und Kost geben möchte?
Therese schlug es ihm rundweg ab. Aus dem Korb da, den ihr die Schülerinnen zum Nikolofeste gemeinsam geschenkt, könne er sich nehmen, was er wolle. Und zehn Gulden schenke sie ihm auch. Aber ein Einkehrwirtshaus halte sie nicht. Basta. Er steckte ein paar Konservendosen ein, nahm eine Flasche unter den Arm und wandte sich zum Gehen. Die Absätze seiner Schuhe waren vertreten, sein Hals dünn, die Ohren standen ab, merkwürdig gebeugt war sein Rücken. »Na, so eilig ist es nicht«, sagte Therese in plötzlich aufsteigender Rührung. »Setz' dich ein bissl her und – erzähl' mir.« – Er wandte sich um und lachte auf. »Nach so einem Empfang – könnt' mir einfallen«; er klinkte die Türe auf und schlug sie hinter sich zu, daß es durch das Haus dröhnte.
Von diesem Besuch erzählte sie Herrn Wohlschein nichts. Doch als er sie eine Woche darauf abends aus ihrer Wohnung abholen
Sie widersprach. Und unter keiner Bedingung wollte sie etwa davon hören, als er ihr eine kleine Monatsrente zur Verbesserung ihrer Lebensumstände anbot. Sie habe ihr anständiges Auskommen, und es sei ihr Stolz, ihr einziger Stolz vielleicht, daß sie zeitlebens mit ihrem Berufe sich selbst und lange genug auch ihren Sohn habe erhalten können.
Doch als er in einem nächsten Gespräch darauf bestand, sich wenigstens die Auffrischung und Ergänzung ihrer Garderobe in bescheidenem Maße angelegen sein zu lassen, widersprach sie kaum mehr; und als sie eine Woche lang wegen einer fieberhaften Erkältung gezwungen war, das Bett zu hüten, mußte sie sich's, wohl oder übel, gefallen lassen, daß er für die Bezahlung des Arztes und des Apothekers, für die notwendige Kostverbesserung und am Ende auch für den Schaden aufkam, der ihr durch den Entfall der Lektionen erwachsen war. Auch bestand er darauf, daß sie nach ihrer Erkrankung sich Schonung auferlegte, und es blieb ihr nichts übrig, als seine Unterstützungen dankbar anzunehmen.
Eines Tages im Januar gab es eine wunderbare Überraschung. Thilda war plötzlich da, ehe der Vater nur gewußt hatte, daß das junge Paar schon in Europa gelandet war. Therese erfuhr die Neuigkeit durch Wohlschein, der sich am Telephon – das sie auch
Thilda kam Theresen so unbefangen entgegen, als hätte sie ihr
Thilda schüttelte den Kopf: »Wenn ich mich sehr gesehnt hätte – dann wäre ich vielleicht nicht gekommen.« Und auf Theresens etwas verwunderten Blick, mit einem Lächeln, das diesen verwunderten Blick gleichsam wieder erkannte: »Dann hätte ich nämlich versucht dagegen anzukämpfen. Wo käme man hin, wenn man einmal anfinge, jeder Sehnsucht nachzugeben. Nein, gesehnt habe ich mich nicht besonders. Aber nun freue ich mich sehr, daß ich da bin. Übrigens, daß ich nicht vergesse ...«
Sie reichte Theresen ein verschnürtes Päckchen, das auf dem Diwan bereit lag. Während Therese es öffnete und eine große Schachtel holländischer Schokolade und ein halbes Dutzend gestickter Taschentücher von feinster Seide zutage förderte, trat Herr Wohlschein ins Zimmer, zugleich mit seiner Schwester; und während die Tante Thilda umarmte, konnte die Begrüßung zwischen Therese und Herrn Wohlschein in aller Unbefangenheit durch einen verständnisvoll herzlichen Blick geschehen.
Es war kein weiterer Gast zugezogen, das Mittagessen verlief ganz wie in früheren Zeiten in gedämpfter Gemütlichkeit; und hätte Thilda nicht allerlei von ihrer Reise und von ihrer neuen Heimat zu erzählen gehabt, so hätte man glauben können – und Herr Wohlschein unterließ nicht, es zu bemerken – daß sie überhaupt
Es war ein recht trauriger Abend daheim, zwei traurige Tage folgten, in denen weder von Herrn Wohlschein noch von Thilda eine Nachricht kam, und ungute Gedanken stiegen in ihr auf.
Am dritten Tag aber, schon in früher Morgenstunde, erschien Herr Wohlschein in Person. Er kam geradeswegs von der Bahn, hatte Thilda begleitet, die früher als geplant, auf ein dringliches Telegramm des Gatten hin, plötzlich abgereist war. Ach, sie stellte sich wohl selbständiger und überlegener an, als sie war, die gute Thilda. Wie eilig und erregt sie nur die Depesche geöffnet, wie sie dann die Stirne gerunzelt und ein wenig gelacht hatte, und wie sie dunkelrot geworden war, ob vor Ärger oder
Nun, Thilda hatte gestern bei Tische eine Bemerkung gemacht, die ihr eigentlich ganz ähnlich sah, aber doch überraschend gekommen war: »Nun, Vater,« hatte sie gesagt, »warum heiratest du sie eigentlich nicht?« – »Wen, sie?« – Herr Wohlschein lachte: ob ihn Therese für einen Don Juan hielte, dem die Wahl gleich zwischen einer ganzen Anzahl von Damen freistünde? Nein, Thildas Bemerkung hatte sich ganz zweifellos ausschließlich auf Fräulein Therese Fabiani bezogen. »Warum heiratest du sie eigentlich nicht?« Sie konnte einfach nicht begreifen, warum er, Herr Wohlschein, Therese nicht zur Frau nähme. Denn wie es zwischen ihnen stünde, das hätte das kleine, schlaue Frauenzimmer sofort erkannt, aus der Art schon, behauptete sie, wie er in seinen Briefen Theresens Namen schrieb. Ja, Graphologin war sie auch. Und »du könntest wahrhaftig nichts Vernünftigeres tun,« hatte sie hinzugesetzt, »meinen Segen habt ihr.« Nun, was meinte Fräulein Therese dazu?
Therese lächelte, aber ihr Lächeln war keineswegs heiter. Und Herr Wohlschein wunderte sich, daß vorerst keine andere Antwort kam als dieses etwas starre Lächeln. Und fast noch mehr als er wunderte sich Therese selbst. Denn was sich in ihr regte, war nicht Freude, war gewiß kein Gefühl von Glück; es war eher Unruhe, wenn nicht gar Bangigkeit, war Angst vor der großen Veränderung, die ein solches Ereignis für ihr Leben bedeuten
»Warum sprichst du nicht?« fragte Wohlschein endlich betroffen.
Da faßte Therese nach seiner Hand. Etwas hastig, mit einer Miene, die sich allzu rasch erhellte, und in einem anfangs wie zweifelnden, dann aber eher scherzhaften Ton fragte sie: »Glaubst du denn, daß ich die rechte Frau für dich wäre?« – Wohlschein, rasch beruhigt, wie zur Erwiderung, näherte sich ihr in der etwas täppischen Weise, die sie meistens abzuwehren pflegte, sich aber diesmal doch gefallen ließ, um nicht die Stimmung und damit vielleicht mehr als die Stimmung dieses Augenblicks zu gefährden. Er wünschte, daß sie schon von den nächsten Tagen an ihre Lektionen einzuschränken beginne. Sie wollte anfangs davon nichts wissen, ja, sie erklärte sogar, daß sie auch nach ihrer Verheiratung eine Tätigkeit keineswegs völlig aufzugeben gedenke, die ihr Befriedigung, manchmal sogar Freude gewähre. – Immerhin, als ihr zufällig im Laufe der nächsten Tage eine neue Lektion angeboten wurde, lehnte sie ab, und in einer anderen Familie setzte sie die bisherige Anzahl der wöchentlichen Unterrichtsstunden von sechs auf drei herab, was Wohlschein fast wie eine ihm erwiesene Gefälligkeit zur Kenntnis nahm.
In diesen Tagen kam ein Brief von Franz mit einer sehr bündigen Geldforderung. Er nannte zugleich eine Deckadresse, an die der Betrag von hundert Gulden unverzüglich zu senden sei. Therese wollte und konnte die Tatsache ihrem Bräutigam nicht verschweigen, um so weniger, als ihr die Summe bei der Bezahlung des bald fälligen Zinses gefehlt hätte. Wohlschein gab ihr ohne weiteres den Betrag und nahm den Anlaß wahr, um eine offenbar schon längst von ihm gehegte Absicht kundzutun: er war bereit, Franz die Überfahrt nach Amerika zu bezahlen, vielmehr – da man doch einem solchen Menschen gegenüber keine Vorsicht außer acht lassen durfte – ihn in Begleitung einer Vertrauensperson nach Hamburg zu schicken und ihn dort, mit dem
Als Wohlschein aber ein paar Tage darauf eine kleine Geschäftsreise antrat, von der er vorher nicht gesprochen hatte, hielt Therese es keineswegs für ausgeschlossen, daß diese vorübergehende Trennung vielleicht einen endgültigen Bruch vorbereiten sollte; und ein größeres Geldgeschenk, das er für sie zurückgelassen, hätte sie beinahe in ihrer Befürchtung bestärken können. Sie merkte aber, daß diese zeitweilige Trennung ihr eher wohltat, und bildete sich ein, daß sie sich auch mit dem Gedanken eines wirklichen Abschieds nicht allzu schwer abfinden würde.
Er kam früher zurück, als sie ihn erwartet, trat ihr mit sonderbarer Gemessenheit gegenüber, so daß ihr wieder etwas ängstlich zumute wurde, doch er ließ sie nicht lange in Ungewißheit, daß er sich indes auf eigene Faust mit der Angelegenheit ihres Sohnes weiter befaßt und in Erfahrung gebracht habe, Franz, womit auch die Deckadresse sich ungezwungen erklärte, büße eben im Landesgericht eine mehrmonatige Gefängnisstrafe ab; – nicht seine erste, wie sie wohl wissen dürfte. Nein, – sie wußte nichts. Nun, und was meinte Therese jetzt? Wollte sie, wollten sie beide – und er faßte ihre Hände – ihr ganzes Leben unter einem solchen Druck verbringen? War denn überhaupt abzusehen, wohin dieser Bursche noch geraten, was er noch anstellen, in welche peinliche Situationen er sie beide noch bringen konnte, wenn er weiterhin
Sie hörte still zu, ohne Widerrede, aber von Sekunde zu Sekunde spürte sie eine nagendere und schlimmere Qual im Herzen, die niemand hätte verstehen können, Herr Wohlschein am wenigsten, da doch auch sie selbst sie kaum verstand. »Wann kommt er heraus?« fragte sie, sonst nichts. – »Noch sechs Wochen, glaube ich, hat er abzusitzen«, erwiderte Wohlschein. – Sie schwieg, aber sie war entschlossen, Franz im Landesgericht zu besuchen, ihn einmal noch zu umarmen, ehe sie für ewig von ihm Abschied nehmen sollte.
Und doch schob sie den Besuch im Gefängnis immer wieder auf. Denn so schmerzlich ihr der Gedanke war, Franz nie wiedersehen zu sollen – sie verspürte doch keine Sehnsucht nach ihm und viel eher eine Scheu vor einem solchen Wiedersehen. Zwischen ihr und Wohlschein wurde vorläufig weiter über die Sache nicht gesprochen, aber auch die Frage des Hochzeitstermins wurde nicht berührt. Immerhin nahm der Verkehr zwischen ihnen einen gewissermaßen offizielleren Charakter an. Während er bisher mit ihr meist einfachere Wirtshäuser aufgesucht, soupierten sie jetzt manchmal in feineren Stadtrestaurants, zuweilen verbrachte er die ganze Nacht bei ihr, nahm oben das Frühstück, und endlich lud er sie für Sonntag mittag in sein Haus ein. Aber gerade dieses Zusammensein verlief freudlos und befangen. Und daß Wohlschein, da sie doch nun einmal so gut wie verlobt waren, vor dem die Speisen auftragenden Mädchen immer Sie zu ihr sagte und auch seiner nachher offenbar ohne sein Vorwissen erscheinenden, etwas überraschten Schwester gegenüber sich keineswegs als Theresens Bräutigam benahm, erschien ihr allzu vorsichtig und beinahe geschmacklos.
Was die abendlichen Kunstgenüsse anbelangt, so tat er nun seinem etwas bequemen Geschmack keinen Zwang mehr an. Eines Abends besuchten sie gemeinsam ein Varieté in der Vorstadt, ein
Ein paar Stunden später aber, in ihrem Bett an der Seite des schnarchenden Wohlschein, lag sie ohne Schlaf, weinte still, und das Herz tat ihr weh.
Einmal in früher Vormittagsstunde – Therese hielt eben ihren Kurs ab – erschien zu ihrer Überraschung Karl bei ihr. Seine Miene, schon die Art, wie er eintrat, ließen sie Böses ahnen. Da sie ihn fragte, ob er sich nicht eine Viertelstunde gedulden
Sie las für sich: »Werter Herr Onkel. Da ich in wenigen Tagen nach unverschuldeter, wegen widriger Umstände verbüßter Haft das Gericht verlasse und ferne von der Heimat eine neue Existenz gründen will, ersuche Euer Hochwohlgeboren in Anbetracht näherer Verwandtschaft um Beitrag zu Reisekosten im Betrag von zweihundert Gulden österreichischer Währung, die von morgen an bereit zu halten bitte. Mit vorzüglicher Hochachtung bin ich, sehr werter Herr Onkel, Ihr –«
Therese ließ den Brief sinken, zuckte die Achseln.
»Nun,« schrie Karl, »möchtest du so freundlich sein, dich zu äußern.«
Therese unbeweglich: »Ich habe mit diesem Brief nicht das geringste zu tun, und ich weiß nicht, was du von mir willst.«
»Ausgezeichnet. Dein Sohn schreibt mir aus dem Landesgericht einen Erpresserbrief – jawohl, einen Erpresserbrief.« Er riß ihr den Brief aus der Hand und wies auf die Stellen: »in Anbetracht naher Verwandtschaft« – »von morgen an bereit zu halten bitte«. – »Dieser Lump weiß, daß ich mich in öffentlicher Stellung befinde. Er wird zu anderen Leuten gehen, sie anbetteln, sich dort als mein Neffe ausgeben, als der Neffe des Abgeordneten Faber ...«
»Von einer solchen Absicht kann ich in dem Brief nichts entdecken, und dein Neffe ist er ja wirklich.«
Die abweisende, spöttische Haltung Theresens machte Karl völlig rasend. »Du wagst es, dieses Subjekt noch in Schutz zu nehmen? Meinst du, ich weiß nicht, daß er ein paarmal zu uns um Geld geschickt hat? Marie, gutmütig, aber blöd wie immer, hat es mir verheimlichen wollen. Glaubt ihr, mir kann man etwas verheimlichen? Meinst du vielleicht, ich hab' nicht immer gewußt, was du für eine Existenz führst, unter dem Deckmantel deines sogenannten Berufes? Ja, schau' mich nur an mit deinen großen Kuhaugen. Glaubst du, ich fall' dir darauf hinein? Ich bin
»Hinaus«, sagte Therese. Sie hob nicht den Arm, streckte die Hand nicht aus, unhörbar beinahe sagte sie: »Hinaus!«
Karl aber ließ sich nicht beirren. Er sprach weiter, ungehemmt, wie es ihm über die Lippen kam. Ja, so, wie Therese es in der Jugend getrieben, sagte er, so treibe sie es jetzt weiter, – in einem Alter, wo andere Frauenzimmer doch allmählich zur Besinnung zu kommen pflegen, schon aus Angst, sich lächerlich zu machen. Ob sie sich denn einbilde, daß sie ihm je etwas habe vormachen können? Als junges Mädel schon habe sie mit seinem Freund und Kollegen angebandelt, dann war die Geschichte mit dem lumpigen Leutnant gekommen, – und von wem der saubere Sohn sei, an dem sich nun ihr Schicksal erfülle, das werde sie wohl selbst schwerlich mit Sicherheit sagen können. Was sie dann später als »Fräulein«, als »Hüterin der Kleinen« angestellt, das sei ja nur gelegentlich gerüchtweise an sein Ohr gedrungen. Und nun – auch darüber sei er informiert – ziehe sie mit irgendeinem älteren, reichen Juden umher, den sie jedenfalls dadurch zu halten versuche, daß ihre sogenannten Schülerinnen –
In diesem Augenblick trat Herr Wohlschein ein. Es war ihm zwar nicht anzumerken, daß er die letzten Worte gehört oder gar verstanden hätte; immerhin blickte er betroffen von Karl zu Theresen hin. Karl hielt den Augenblick gekommen, sich zu entfernen. »Ich will nicht länger stören«, sagte er; und mit einer kurzen, fast höhnischen Verneigung gegenüber Wohlschein schickte er sich an, das Zimmer zu verlassen. Therese aber: »Einen Augenblick, Karl«, hielt ihn zurück. Sie stellte vor, völlig ruhig. »Doktor Karl Faber, mein Bruder; Herr Wohlschein, mein Bräutigam.« Karl verzog leicht den Mund. »Besondere Ehre.« Und er wiederholte: »Um so weniger will ich stören.« – »Pardon,« sagte Herr Wohlschein, »ich habe fast den Eindruck, als wenn ich derjenige wäre, der gestört hat.« – »Nicht im geringsten«, sagte Therese. – »Gewiß nicht,« bekräftigte Karl, »kleine Meinungsverschiedenheit, wie das in Familien nicht zu vermeiden ist. Also
Kaum war er zur Tür draußen, so wandte sich Therese an Wohlschein. »Verzeih, ich konnte nicht anders.« – »Wie meinst du das, daß du nicht anders konntest?« – »Ich meine, es verpflichtet dich zu nichts, daß ich dich als meinen Verlobten vorgestellt habe. Du bist nach wie vor völlig frei in deinen Entschließungen.« – »Ach so – so meinst du das. Aber ich will gar nicht frei sein, wie du das nennst,« er riß sie mit brutaler Zärtlichkeit an sich, »und jetzt möchte ich wissen, was dein Herr Bruder eigentlich von dir gewollt hat.«
Sie war froh, daß er von der Unterhaltung nichts gehört hatte, und erzählte ihm so viel davon, als sie eben für richtig hielt. Beim Abschied stand fest, daß die Hochzeit am Pfingstsonntag stattfinden und daß die Abreise Franzens nach Amerika jedenfalls vorher erfolgen solle.
Bis zu Pfingsten war es noch lang, drei Monate beinahe. Daß Herr Wohlschein die Hochzeit so weit hinausschob, hatte seine Ursache darin, daß er vorher zwei Geschäftsreisen zu erledigen hatte, nach Polen und nach Tirol; und auch darin, daß gewisse bauliche Veränderungen in der Wohnung vorgenommen werden mußten. Überdies gab er allerlei mit dem Anwalt zu besprechen, da gewisse, testamentarische Bestimmungen – »wir sind alle sterblich«, bemerkte Wohlschein – besser schon vor der Hochzeit getroffen werden sollten. Therese hatte gegen den Aufschub nichts einzuwenden; es war ihr nicht unlieb, daß sie nicht alle ihre Lehrverpflichtungen kurzerhand lösen mußte, die ihr um so mehr Zerstreuung bereiteten, je weniger sie nun als eigentliche Verpflichtungen erschienen.
Die Tage von Wohlscheins Abwesenheit, eine Woche im Februar, eine andere im März, in denen sie keine seiner plötzlichen Morgenbesuche befürchten mußte, empfand sie als Erholung; trotzdem verspürte sie zuweilen einige Sehnsucht nach ihm. Sie hatte sich doch im Laufe der letzten Monate an eine Art von Eheleben gewöhnt, das, wie sie sich nicht verhehlen konnte, in jeder Art günstig auf sie wirkte. Und an manchen Anzeichen, äußeren und inneren, spürte sie, daß ihr Dasein, auch ihr Frauendasein,
Die Osterfeiertage, bald nach Wohlscheins Rückkehr von der zweiten Reise, verbrachte sie mit ihm in einem behaglichen kleinen Gasthof der Wiener Umgebung. Es waren noch recht kühle Tage, aber die Bäume schlugen schon aus, und die ersten Sträucher blühten. Und Abende gab es in ihrem gemütlichen Zimmer, wo die beiden sich ganz als Liebespaar fühlten, so daß es ihr, als sie nach der Rückkehr viele Stunden allein in ihrer Wohnung verbrachte, manchmal vorkam, als werde sie sich in einem gemeinsamen Heim als verehelichte Wohlschein sehr gut zu behagen wissen. Köstlicher als alles aber wirkte eine Karte von Thilda in ihr nach, die ihr Wohlschein gezeigt hatte: »Mit tausend Ostergrüßen für Dich und Therese« – ja, so stand es geschrieben, einfach: Therese.
Zu einem Besuch im Gefängnis hatte sich Therese noch immer nicht entschließen können. Ihre Scheu vor diesem Wiedersehen, das doch zugleich ein Abschied auf immer sein sollte, blieb unüberwindlich. Wohlschein hatte die ganze letzte Zeit über kein Wort von Franz gesprochen, Therese nahm an, daß er sie erst verständigen wollte, bis alles erledigt sein würde. Und wirklich teilte er ihr bald nach ihrem Osterausflug mit, daß er seinen Anwalt zu Franz ins Gefängnis geschickt, daß dieser sich aber dem Amerikaplan gegenüber vorläufig unzugänglich erwiesen und erklärt habe, er sei ja nicht zur Deportation verurteilt; trotzdem war Wohlschein überzeugt, daß sich Franz durch die verbriefte Zusage eines größeren Geldbetrages, der ihm erst in Amerika ausbezahlt werden sollte, – noch umstimmen lassen würde.
Einige Tage später erwartete Therese Herrn Wohlschein, der sie um zehn Uhr vormittags mit dem Wagen abholen sollte, um mit ihr, wie schon einige Male vorher, Einkäufe zu besorgen. Es war ein warmer Frühlingstag, das Fenster stand offen, und es duftete aus den nahen Wäldern. Wohlschein pflegte pünktlich zu sein; als er eine halbe Stunde nach der verabredeten Zeit noch immer
Sie dachte nicht daran, in die Trambahn zu steigen, sich einen Wagen zu nehmen; mechanisch, wie in einem dumpfen Traum, nicht eigentlich erschüttert, zuerst nicht einmal eilig, dann freilich immer geschwinder, nahm sie den Weg in die Zieglergasse.
Da war das Haus. Keine Veränderung zu bemerken. Ein Wagen stand vor dem Tor, wie es häufig der Fall war. Sie eilte die Treppe hinauf, die Tür war geschlossen. Therese mußte klingeln. Das Mädchen öffnete. »Küss' die Hand, Fräulein.« Es klang wie gewöhnlich. Einen Augenblick dachte Therese, es sei nicht wahr, sie hätte falsch verstanden oder man habe sich einen niederträchtigen Spaß mit ihr gemacht. Und sie fragte in der merkwürdigen Empfindung, als könnte ihre Frage noch etwas ändern: »Ist Herr Wohlschein –«
Aber sie sprach nicht weiter. »Ja, wissen denn Fräulein nicht?« – Nun nickte sie rasch, machte eine sinnlos abwehrende Bewegung mit der Hand, und ohne weiter zu fragen, öffnete sie die Türe in den Salon. Um den Tisch saßen der Buchhalter und zwei Herren, die sie nicht kannte, einer empfahl sich eben. Zwei Damen saßen in der Nähe des Kamins, die eine war die Schwester des Verstorbenen. Auf sie trat Therese zu: »Ist es denn wahr?« Die Schwester nickte, reichte ihr die Hand. Therese schwieg hilflos. Die Türe ins Nebenzimmer stand offen, dorthin wandte sich Therese und fühlte, wie man ihr nachschaute. Das Speisezimmer war leer. Im nächsten, dem kleinen Rauchzimmer, standen zwei Herren am Fenster und redeten angelegentlich, aber leise miteinander. Auch die Türe ins nächste Zimmer war offen. Hier stand Wohlscheins Bett. Die Umrisse eines menschlichen Körpers waren sichtbar, ein weißes Linnen war über sie gebreitet. Da lag er also, tot und so allein, wie nur Tote sind. Therese spürte
Auf dem Tisch im Salon stand Backwerk, Wein, Gläser. »Wollen Sie nicht etwas nehmen, Fräulein Fabiani?« fragte die Schwester. – »Danke«, sagte Therese, nahm nichts, aber setzte sich zu den Damen. Die Schwester stellte vor. Den Namen der Dame verstand Therese nicht. Und nun kam der ihre: »Fräulein Fabiani, die langjährige Lehrerin von Thilda.« Die Dame reichte Theresen die Hand. »Das arme Kind«, bemerkte die Dame. Die Schwester nickte. »Jetzt wird sie wohl das Telegramm schon haben.« – »Lebt sie in Amsterdam oder im Haag?« fragte die Fremde. – »In Amsterdam«, erwiderte die Schwester. – »Waren Sie einmal in Holland?« – »Nein, noch nie. In diesem Sommer wollte ich hin – mit meinem armen Bruder.« – Kurzes Schweigen. – »Er war doch nie so eigentlich leidend gewesen«, meinte die fremde Dame. – »Manchmal ein wenig Herzschmerzen«, erwiderte die Schwester, und zu Theresen: »Wollen Sie nicht doch etwas nehmen,
»Das arme Kind«, bemerkte der Herr. Therese empfahl sich, man hielt sie nicht zurück.
In seinen letztwilligen Verfügungen hatte Wohlschein ein ganz einfaches Begräbnis bestimmt. Universalerbin war Thilda. Legate waren ausgesetzt für wohltätige Zwecke; für seine geschiedene Frau war ausreichend gesorgt, die langjährigen Angestellten aus der Fabrik waren nicht vergessen, die Dienstboten gingen nicht leer aus, die Klavierlehrerin, zwei frühere Erzieherinnen Thildas und Fräulein Therese Fabiani, diese nach einem Kodizill aus dem vergangenen Sommer, erbten je tausend Gulden. Durch eine besondere Verfügung war dafür gesorgt, daß die Legatäre sofort nach Eröffnung des Testaments verständigt werden und ihre Anteile ausbezahlt erhalten sollten.
Therese war zum Anwalt beschieden, um den für sie bestimmten Betrag persönlich in Empfang zu nehmen. Der Anwalt, in dem sie einen der Herren erkannte, die sie am Todestag in der Wohnung des Verstorbenen angetroffen hatte, schien eingeweiht, und er bemerkte bedauernd zu Fräulein Fabiani, daß Herr Wohlschein leider allzu früh abberufen worden sei. Er habe, wie der Anwalt nicht verschwieg, kurz vor seinem Tode die Absicht geäußert, wesentliche Änderungen an dem Testament vorzunehmen, dies aber nach leidiger Gewohnheit immer aufgeschoben, bis es zu spät geworden war.
Therese war kaum enttäuscht. Sie merkte nun erst, daß sie niemals ernstlich erwartet hatte, Frau Therese Wohlschein zu heißen, daß sie nie geglaubt hatte, es würde ihr jemals ein ruhiges, sorgenfreies Leben beschieden sein und sie könnte je die Stiefmutter von Frau Thilda Verkade werden.
Und nun war sie allein, so völlig allein, wie sie es noch nie gewesen war. Sie hatte Wohlschein niemals geliebt. Und doch, an manchem Abend, wie schmerzlich-qualvoll war es, daß diese Türe sich niemals wieder öffnen, daß die Klingel draußen niemals sein Kommen wieder anzeigen sollte.
Und einmal klingelte es doch am späten Abend. Ihr Wissen um das unwiderruflich Entschwunden sein Wohlscheins war noch nicht so eins mit ihr geworden, daß sie den Bruchteil einer Sekunde nicht gedacht hätte: – Er! Was will er denn noch so spät? – Freilich, noch ehe sie sich erhob, wußte sie, daß es jeder sein konnte, nur nicht er.
Es war Franz, der vor der Türe stand. War er schon frei? Im schlecht beleuchteten Stiegenhaus, die Kappe in die Stirn gedrückt, einen Zigarettenstummel zwischen den Lippen, hager und blaß, den Blick zugleich flatternd und gesenkt, sah er eher bedauernswert als gefährlich aus. Therese aber fühlte nichts; weder Angst noch Mitleid. Am ehesten noch eine gewisse Befriedigung, wenn nicht gar eine kleine Freude, daß doch irgend jemand kam und sie für eine Weile von dem furchtbaren Druck des Alleinseins befreien würde, der auf ihr lastete. Und milde sagte sie: »Guten Abend, Franz.«
»Ja«, sagte er. »Seit gestern schon. Wegen braver Aufführung habens' mir eine Wochen g'schenkt. Was, da schaust, Mutter. Also keine Angst brauchst nicht haben. Quartier hab' ich auch schon. Aber sonst nichts.« Er lachte kurz.
Ohne erst zu antworten, deckte Therese den Tisch für ihn, setzte ihm vor, was sie eben zu Hause hatte, und schenkte ihm Wein ein. Er ließ es sich schmecken. Und da er sogar ein Stück geräucherten Lachs aufgetischt bekam, sagte er: »Dir geht's ja gut, Mutter.« In seinem Ton lag nun mit einem Male eine Forderung, beinahe eine Drohung.
Sie sagte: »Nicht gar so gut, wie du glaubst.«
Er lachte auf. »Na, ich trag' dir nix fort, Mutter.«
»Möchtest auch nicht mehr viel finden.«
»Na, Gott sei Dank, – es wird ja bald wieder nachgeliefert.«
»Ich wüßt' nicht, woher.«
Franz blickte sie böse an. »Bin ja nicht wegen Einbruch gesessen. Wenn einer sein Tascherl liegen laßt, da kann ich ja nix dafür. Mein Verteidiger hat auch gesagt, man könnte mich höchstens wegen Fundverheimlichung verurteilen.« Sie wehrte ab. »Ich hab' dich um nichts gefragt, Franz.« Er aß weiter. Dann plötzlich: »Aber mit Amerika is nix. Ich kann mich hier auch fortbringen. Übermorgen tret' ich einen Posten an. Jawohl. Man hat, Gott sei Dank, noch Freunde, die einen nicht im Stich lassen, auch wenn man einmal Malheur gehabt hat.«
Therese zuckte die Achseln. »Warum soll ein gesünder junger Mensch keinen Posten finden? Ich wünschte nur, daß es diesmal von Dauer wäre.«
»Von mir aus wär' schon mancher von Dauer gewesen. Aber die Leut' glauben, man muß sich alles gefallen lassen. Und dazu bin ich nicht der Mensch. Von niemand. Verstehst du, Mutter? Und wenn ich nach Amerika gehen möcht', ging' ich von selber. Verschicken lass' ich mich nicht. Das kannst deinem – das kannst dem Herrn sagen.«
»Was war gut gemeint?« fragte er grob.
»Das mit Amerika. Übrigens kannst du unbesorgt sein, es wird nicht mehr vorkommen. Der Herr – mein Bräutigam – ist vor drei Wochen gestorben.«
Er sah sie an, ungläubig zuerst, als mutete er ihr zu, daß sie sich durch eine Unwahrheit vor neuen Forderungen sicherstellen wollte. Doch auf ihrer blassen Stirn, in ihren vergrämten Mienen vermochte sogar er zu lesen, daß es kein Vorwand, keine Lüge war. Er aß weiter, sprach nichts, dann zündete er sich eine Zigarette an. Und nun erst – und so kalt und gleichgültig es auch klang und wohl auch gedacht war –, Therese hörte doch das erstemal irgend etwas wie Mitgefühl aus seinem Ton: »Hast auch kein Glück, Mutter.«
Dann erklärte er, daß er zu müde sei, um noch sein entlegenes Quartier aufzusuchen, streckte sich, wie er war, auf den Diwan hin, schlief bald ein und war am nächsten Tage fort, ehe Therese erwacht war.
Doch zu Mittag schon, mit einem kleinen, schmutzigen Pappendeckelkoffer, war er wieder zur Stelle, logierte sich bei der Mutter ein, auf drei Tage, wie er erklärte, bis er seinen neuen Posten antreten könne, über dessen Natur er weiter nichts verlauten ließ. Therese erreichte immerhin von ihm, daß er sich vom Hause fernhielt, während sie unterrichtete. Doch sie konnte sich nicht dagegen helfen, daß ein Freund und eine Freundin – es mochten auch drei oder vier Menschen sein, von denen sie übrigens keinen zu Gesicht bekam – die halbe Nacht trinkend, flüsternd, lachend bei ihm verbrachten. Was sie noch an Lebensmitteln daheim besaß, lieferte sie ihm für seine Gastereien aus. Am vierten Morgen wartete er ihr Erwachen ab, erklärte, daß er ihr nun weiter nicht mehr zur Last fallen werde, und verlangte Geld. Sie gab ihm, was sie eben zu Hause hatte, den größeren Teil ihrer Barschaft hatte sie vorsichtigerweise in die Sparkasse getan. Es war ihr Glück, denn Franz scheute sich nicht, ehe er ging, Schrank und Kommode zu durchstöbern. Und nun blieb er viele Wochen lang für sie verschwunden.
Die Tage gingen hin, und der Pfingstsonntag kam, an dem die Hochzeit hätte stattfinden sollen. Sie benützte ihn, um Wohlscheins Grab zu besuchen, auf dem noch neben verwelkten Totenkränzen ohne Namen und Schleife auch ihr eigener kleiner Veilchenstrauß lag. Lange stand sie da unter einem klaren, blauen Sommerhimmel, ohne zu beten, fast ohne zu denken, ja, ohne eigentlich traurig zu sein. Jenes Wort ihres Sohnes, das einzige, in dem sie gleichsam sein Herz klingen gehört hatte, tönte in ihr nach: »Hast auch kein Glück, Mutter.« Aber in der Erinnerung bezog es sich nicht eben, und keineswegs allein, auf den Tod ihres Bräutigams, sondern vielmehr auf ihr ganzes Dasein. Wahrhaftig, sie war nicht auf die Welt gekommen, um glücklich zu sein. Und als verehelichte Frau Wohlschein wäre sie es gewiß so wenig geworden als auf jede andere Weise. Daß jemand starb, das war am Ende nur eine jener hundert Arten, unter denen einer verschwindet oder sich davonstiehlt. Es waren so viele tot für sie, Gestorbene und Lebendige. Der Vater war es, der nun schon so lange moderte, Richard, der ihr von allen Männern, die sie geliebt, doch der Nächste gewesen; doch auch die Mutter war es, der sie wenige Tage vor Wohlscheins Hinscheiden von der bevorstehenden Vermählung Mitteilung gemacht die es aber kaum zur Kenntnis genommen und immer nur mit großer Wichtigkeit von ihrem »literarischen Nachlaß« gesprochen, den sie der Stadt Wien zu vererben gedachte; auch der Bruder, der seit seinem letzten unerwünschten Erscheinen nichts mehr von sich hatte hören und sehen lassen; auch Alfred, der einst ihr Geliebter und Freund gewesen, auch ihr verlorener Sohn, der Zuhälter und Dieb; und Thilda, die in Holland hinter hohen, blanken Fensterscheiben träumte und des Fräuleins längst nicht mehr dachte; und die vielen Kinder, – Buben und Mädchen, denen sie Lehrerin und manchmal fast Mutter gewesen; die vielen Männer, denen sie gehört hatte, – sie waren alle tot. Und fast war es, als wollte sich dieser Herr Wohlschein etwas darauf zugute tun, daß er so unwiderruflich unter diesem Hügel ruhte, und als bildete er sich ein, richtiger tot zu sein als die andern alle. Ach nein, sie hatte keine besonderen Tränen für ihn. Die sie jetzt weinte, die flossen für so viele andere; – und vor allem weinte sie sie wohl für sich selbst. Und vielleicht waren es nicht einmal Tränen des Schmerzes, nur Tränen der Müdigkeit. Denn müde war sie, wie sie es
Aber so leicht sollte es ihr nicht werden. Sie lebte und sorgte sich weiter. Zweimal geschah es, daß sie Franz wieder aushelfen mußte. Das erstemal kam er selbst am hellichten Tag mit seinem kleinen Koffer angerückt, während sie eben Schülerinnen bei sich hatte. Er wollte sich neuerdings bei ihr einmieten. Sie wies ihn ab, ließ ihn nicht einmal zur Türe herein, doch um Schlimmeres zu vermeiden, blieb ihr nichts übrig, als ihm alles zu geben, was sie noch an Bargeld im Hause hatte. Das nächstemal erschien nicht er selbst, sondern zwei seiner Freunde. Sie sahen aus wie eben seinesgleichen, redeten wirres und hochtrabendes Zeug, behaupteten, des Kameraden Leben und Ehre stünden auf dem Spiel, und entfernten sich nicht früher, als bis Therese auch diesmal fast alles hergegeben hatte, was sie besaß.
Nun aber war der Sommer da, die Stunden hatten vollkommen ausgesetzt, die letzten ersparten Gulden waren aufgezehrt, und sie verkaufte ihre unbeträchtlichen Schmuckstücke, ein schmales, goldenes Armband und einen Ring mit einem Halbedelstein, die ihr Wohlschein geschenkt hatte. Der Erlös wäre immerhin ausreichend gewesen, um ihr bis zum Herbst weiterzuhelfen, und sie war sogar leichtsinnig oder kühn genug, im August für ein paar Tage aufs Land zu ziehen, an den gleichen Ort, wo sie die Weihnachtstage mit Wohlschein verbracht hatte, nur diesmal in einem einfacheren Gasthof.
In diesen Tagen war es, daß sie für eine Weile aus ihrer Müdigkeit, aus ihrem Dahindämmern erwachte und sich vornahm, in ihr Dasein, soweit es noch möglich war, Sicherheit und Sinn zu bringen. Vor allem faßte sie den festen Entschluß, jeden weiteren Erpressungsversuch Franzens rücksichtslos abzuweisen, ja, wenn nötig, bei der Polizei gegen ihn Schutz zu suchen. Was lag daran? Man wußte ja doch überall, daß sie einen ungeratenen Sohn hatte, der sogar schon gesessen war, und niemand auf der Welt würde es ihr verübeln, wenn sie ihn endlich seinem Schicksal überließ. Und ferner nahm sie sich vor, sich wieder einmal bei früheren Schülerinnen, die zum Teil schon verheiratet waren, in Erinnerung zu bringen und Empfehlungen zu erbitten. Sie hatte sich bisher durchgebracht, es konnte ihr auch weiterhin nicht fehlen. Schon diese wenigen Tage auf dem Land, die frische Luft, die
Eines Morgens, von ihrem Fenster aus, sah sie einen Wagen davonrollen, in dem er saß, den Rucksack zu seinen Füßen, und als hätte er geahnt, daß sie ihm nachschaute, wandte er sich plötzlich nach ihr um, lüftete mit übertriebener Gebärde den Hut mit dem Gamsbart, und sie winkte ihm einen Gruß zurück. Er aber zuckte leicht die Achseln, wie bedauernd, als wollte er sagen: »Nun ist es leider zu spät« – und fuhr davon. Ihr war einen Augenblick schmerzlich zumut. Fuhr da nicht ein Glück, vielleicht ein letztes Glück davon? Unsinn, sagte sie sich selbst und schämte sich ein wenig solcher rührseliger Gedanken.
Am Abend des gleichen Tages – wie übrigens schon vorher bestimmt war – reiste sie nach Wien zurück.
Sie hatte, hauptsächlich aus Angst vor Franz, keine Mitteilung zurückgelassen, wohin sie gefahren war. So fand sie erst jetzt bei der Heimkehr, um beinahe acht Tage verspätet, einen Partezettel mit der Nachricht vom Tode ihrer Mutter vor; neben Bruder und Schwägerin stand auch ihr Name unterzeichnet. Sie war mehr erschrocken als ergriffen. Am nächsten Morgen, zu einer Stunde, da Karl voraussichtlich nicht zu Hause sein würde, begab sie sich dahin und wurde von der Schwägerin kühl empfangen. Frau Faber machte ihr einen Vorwurf daraus, daß sie unauffindbar gewesen,
Auf dem Heimweg betrat Therese nach langer Zeit wieder einmal eine Kirche. Es war ihr, als müßte sie es zum Andenken der Mutter tun, so wenig diese selbst religiöse Gebräuche jemals gehalten hatte. Und wieder geschah es ihr, wie in verflossenen Jahren so oft, daß in dem Halbdunkel des hohen, weihrauchduftenden Raumes eine wunderbare Ruhe über sie kam, eine andere und tiefere, als die Ruhe war, von der sie sich je in der Stille eines Waldes, auf einer Bergwiese, in irgendeiner anderen Einsamkeit beglückt gefühlt hatte. Und während sie mit unwillkürlich gefalteten Händen in einem Kirchenstuhle saß, erschienen ihr im Dämmer nicht nur die Gestalt der Mutter, wie sie sie zum letztenmal gesehen, auch andere Verstorbene, die ihr im Leben etwas bedeutet hatten, zeigten sich ihr, doch wieder nicht als Tote, sondern vielmehr wie Auferstandene, die zur ewigen Seligkeit
Mit dem Herbst war die Schul- und Lehrzeit wieder da. Nur wenige Schülerinnen vom vergangenen Jahr meldeten sich wieder, doch es gelang Theresen, was sie geradezu als Glücksfall empfand, eine Nachmittagsstellung zu finden, und zwar zu den beiden Töchtern eines vorstädtischen Warenhausbesitzers, die sie zu unterrichten und auf Spaziergängen zu begleiten hatte. Der Vater, selbst nur mäßig gebildet und in eher bescheidenen Verhältnissen, legte um so mehr Wert darauf, seinen Kindern ein Fräulein zu halten, als die Mutter gleichfalls im Geschäfte tätig war. Die beiden Mädchen waren von freundlicher, aber etwas geistesträger Art, und manchmal, wenn Therese an sonnigen Herbstnachmittagen mit ihnen in einer nahen, recht armseligen Gartenanlage spazieren ging und mehr aus Gewohnheit und Pflichtgefühl als aus innerem Bedürfnis mit ihnen vergeblich ein Gespräch zu führen versuchte, sank jene Müdigkeit über sie nieder, die sie wohl von früher her schon kannte, die aber nun so schwer, so bedrückend auf ihr lastete, daß sie manchmal eher einer dumpfen Verzweiflung glich; und die günstige Nachwirkung des kurzen Landaufenthaltes schwand mit bedrohlicher Raschheit wieder dahin.
Und als Franz eines Abends plötzlich erschien, nicht so unwirsch und frech wie sonst, sondern etwas kleinmütig und still, hatte sie nicht die Kraft, ihm, wie es doch ihr Vorsatz gewesen, das Obdach zu verweigern, um das er sie bat. Die ersten Tage störte er sie tatsächlich wenig. Er verbrachte die Zeit auswärts,
Am nächsten Morgen wurde ihr klar, warum es Franz so eilig gehabt hatte: ein Kriminalbeamter weckte sie um sechs Uhr früh aus dem Schlaf, fragte nach Franz und erkundigte sich, ob ihr dessen neues Quartier bekannt sei, machte sie aber höflich aufmerksam, daß sie das Recht habe, die Auskunft zu verweigern. »Wir werden ihn auch so bald wieder haben«, bemerkte er freundlich und entfernte sich mit amtlich bedauerndem Blick.
Nun glaubte Therese auch den letzten Rest von Gefühl für den Sohn in ihrem Herzen erloschen, und alles, was sie noch mit ihm verband, war Angst vor seiner Wiederkehr. Der böse Blick, den er auf sie gerichtet, während sie ihre paar Gulden aus dem Schrank her vor gesucht, ließ sie für ein nächstes Mal Schlimmeres befürchten. Und sie faßte den Entschluß, ihn niemals wieder, unter keiner Bedingung, in ihre Wohnung hereinzulassen, auf die Gefahr hin, die Polizei rufen zu müssen.
Ernstliche Sorgen schlichen immer näher an sie heran. Niemals bisher hatte sie einen Menschen geradezu um Hilfe angegangen, und sie verhehlte sich nicht, daß ein solcher Versuch in ihrer gegenwärtigen Lage nichts anderes zu bedeuten hätte als eine Art von Bettelei. Und wer war denn da, von dem sie eine Hilfe erhoffen durfte? Alfred freilich hätte sie ihr nicht verweigert; auch Thilda würde ihr in der Not sicher beistehen, aber schon der Gedanke, sich brieflich an einen von diesen beiden zu wenden,
Und eines Morgens im Winter erfuhr sie sogar eine wirkliche kleine Freude. Ein Brief von Thilda kam und duftete köstlich nach dem wohlbekannten Parfüm, das sie immer schon als junges Mädchen benützt hatte. »Mein liebes Fräulein Therese Fabiani,« so schrieb sie, »ich denke so oft an Sie, fast so oft, als ich an den armen Papa denke. Wollen Sie nicht so gut sein, liebstes Fräulein, und das nächstemal, wenn Sie auf den Friedhof gehen, auch für mich ein paar Blumen auf sein Grab legen. Und besonders lieb wäre es von Ihnen, wenn Sie mir doch wieder einmal schrieben, wie es Ihnen geht. Existiert der ›Kurs‹ noch? Wie geht's der kleinen Grete? Kann sie noch immer nicht orthographisch richtig schreiben? Bei uns ist es recht neblig in diesen Wintertagen, das macht die Nähe des Meeres. Schnee gibt es fast gar keinen. Mein Mann empfiehlt sich Ihnen bestens. Er ist ziemlich oft auf Reisen, da sind die Abende manchmal recht einsam und lang, aber Sie wissen ja, daß ich gar nicht so ungern für mich allein bin, und so fällt es mir gar nicht ein, mich zu beklagen. Ich grüße Sie herzlich, liebes Fräulein Therese. Hoffentlich sieht man sich einmal wieder. Ihre dankbare Thilda.
P.S. Ein Betrag für die Blumen liegt bei.«
Lange starrte Therese auf den Brief. »Hoffentlich sieht man sich einmal wieder.« Nun, besonders verheißungsvoll klang das im Grunde nicht. Ob der Brief nicht eigentlich nur wegen der Blumen für Vaters Grab geschrieben war? Was übrigens den »Betrag« anbelangte, so lag er nicht bei. Entweder hatte Thilda vergessen, ihn beizuschließen, oder man hatte ihn herausgestohlen. Nun, es mußten ja nur ein paar Astern sein, das konnte man zur Not noch aus Eigenem bestreiten. »Wenn Sie das nächstemal auf den Friedhof gehen.« Seit dem Pfingstsonntag war Therese nicht mehr draußen gewesen. An einem der Weihnachtsfeiertage wollte sie es nachholen. Denn darum eine Stunde versäumen und überdies noch Blumen kaufen, das ging doch über ihre Verhältnisse. Und den Brief wollte sie erst nachher beantworten. Frau Thilda Verkade hatte sie auch lange genug warten lassen.
Wenige Abende darauf zu später Stunde tönte die Klingel. Therese blieb das Herz stehen. Ganz leise schlich sie zur Türe hin und sah durchs Guckloch. Es war nicht ihr Sohn. Eine noch junge Frauensperson stand vor der Türe, die Therese nicht gleich erkannte. »Wer ist da?« fragte sie zögernd. Eine helle, aber etwas heisere Stimme antwortete: »Eine gute, alte Bekannte. Machen S' nur auf, Fräul'n Therese. Die Agnes bin ich, die Agnes Leutner.«
Agnes? Was wollte die? Was mochte die ihr bringen? Wohl irgendeine Nachricht von Franz. Und sie öffnete.
Ganz beschneit trat Agnes ein und schüttelte im Vorraum die Flocken von sich ab. »Guten Abend, Fräulein Theres'.« – »Wollen Sie nicht weiter spazieren?« – »Aber sagen S' mir doch Du, Fräul'n Therese, wie früher.«
Sie folgte Theresen ins Zimmer, ihr irrender Blick fiel vor allem auf den Tisch mit den blau eingeschlagenen Heften und Büchern. Therese betrachtete sie. Oh, man konnte keinen Augenblick in Zweifel sein, was für eine Art von Frauenzimmer man da vor sich hatte. Das Gesicht geschminkt, geradezu angestrichen, unter dem violetten Filzhut mit der billigen Straußenfeder, die blond gefärbten, gebrannten Locken in die Stirn fallend, große falsche Brillanten im Ohr, eine imitierte, ausgefranste Astrachanjacke mit gleichem Muff – so stand sie da, frech und befangen zugleich.
»Nehmen Sie Platz, Fräulein Agnes.« Agnes hatte den musternden, aburteilenden Blick Theresens wohl bemerkt, und in etwas höhnischem Ton, sich entschuldigend, sagte sie: »Also, ich hätte mir natürlich nicht erlaubt – wenn ich nicht mit einer Post zu Ihnen käme.«
»Vom – Franz?«
»Bin so frei.« Und sie setzte sich. »Nämlich, er liegt im Inquisitenspital.«
»Um Gottes Willen«, rief Therese, und sie wußte plötzlich, daß es ihr Sohn war, der im Spital lag, vielleicht krank auf den Tod.
Agnes beruhigte sie. »Na, es is nicht g'fährlich, Fräul'n Therese, er wird schon wieder g'sund werden, noch vor der Verhandlung. Er is nämlich noch in Untersuchung. Übrigens werden s' ihm diesmal nix nachweisen können, grad bei der G'schicht war er nicht dabei. Die Polizei erwischt ja meistens die Unrichtigen.«
»Was fehlt ihm?«
Therese wurde abwechselnd blaß und rot. Diesem Frauenzimmer gegenüber erschien sie sich wie ein junges Mädchen. Sie hatte nur den einen Wunsch, die Person möglichst bald wieder draußen zu haben. Und weit von ihr abrückend, fragte sie: »Was haben Sie mir von Franz zu bestellen?«
Agnes, sichtlich gereizt, in einem äffenden Hochdeutsch: »Was ich von ihm zu bestellen habe?! Wird wohl nicht so schwer zu erraten sein. Oder meinen S' vielleicht, Fräul'n Theres', sie geben denen Inkulpaten genug zu essen im Spital? Da muß einer bereits tuberkulös sein oder so was, daß sie ihm was Ordentliches geben. A Geld brauch' er halt zur Aufbesserung der Kost. Das muß doch eine Mutter einsehn.«
»Warum hat er mir nicht geschrieben? Wenn er krank ist ... Ich hätt's mir schon irgendwie verschafft.«
»Er wird schon wissen, warum er nicht geschrieben hat.«
»Ich hab' ihm immer noch ausgeholfen, wenn ich nur selber ...« Sie hielt inne. War es nicht beschämend, daß sie sich vor dieser Person gewissermaßen zu rechtfertigen suchte?
»Na, nix für ungut, ich kann mir ja denken, daß Sie's auch nicht grad sehr dick haben, Fräul'n Therese. Es geht einem halt bald besser, bald schlechter. Aber Sie schau'n ja noch ganz gut aus. Es kommt schon wieder einmal wer, der was auslaßt.«
Wieder stieg Theresen das Blut in die Stirn. Diese Frauensperson – sprach sie zu ihr nicht gerade so, als wäre sie ihresgleichen? Oh, wie mußte Franz über sie zu Agnes und zu andern Leuten auch geredet haben, der Sohn über die Mutter! Wie mußte er sie sehen! Sie suchte nach einer Erwiderung und fand keine. Endlich, hilflos, stockend beinahe, sagte sie: »Ich – – ich gebe Stunden.«
»Aber freilich«, erwiderte Agnes. Und mit einem verächtlichen Blick auf die Bücher und Hefte: »Man sieht's ja. Das ist halt ein Glück, wenn man eine Bildung genossen hat. Ich möcht' mir auch lieber meine Herren immer aussuchen können.«
Therese erhob sich. »Gehen Sie. Ich werde dem Franz selber bringen, was er braucht.«
»Ich hab' nicht gewußt, daß er im Spital liegt.«
»Ich ja auch nicht. Es war der reine Zufall. Ich hab' einen alten Freund von mir dort besucht, hab' ihm was zu essen mitgebracht. Ja, unsereiner muß sich auch allerlei absparen und verdient sich's schwerer, das können S' mir glauben, Fräulein Theres', als mit Stundengeben. Na, und Sie können sich denken, Fräul'n Theres', es war eine Überraschung, wie ich da den Franz liegen seh', vis-à-vis von meinem Freund. Und er hat sich auch g'freut. Alte Liebe rostet nicht. Na, und wie dann ein Wort das andre gegeben hat, hab' ich ihn gefragt, ob er nicht was braucht von draußen, und da hat er gesagt: Wenn du vielleicht zu meiner Mutter hinschauen möcht'st und sie mir vielleicht ein paar Gulden schicken tat zur Aufbesserung meiner Kost. Warum nicht, hab' ich ihm g'sagt, deine Mutter wird sich doch auch noch an mich erinnern. Und es is ihr vielleicht lieber, sie gibt mir was mit, als daß sie da herkommt ins Inquisitenspital. Das ist ja schenant für Leute, die's nicht gewohnt sind.«
Therese hatte zufällig noch ein paar Gulden in ihrer Geldbörse.
»Da, nehmen Sie. Leider hab' ich nicht mehr.« Sie merkte, daß Agnes einen Blick zum Schrank hinwarf, auch darüber also war sie durch Franz unterrichtet. – Und mit zuckenden Mundwinkeln fügte sie hinzu: »Da drin hab' ich auch nichts mehr, vielleicht, daß ich zu Weihnachten – aber da komm' ich schon selber.«
»Zu Weihnachten, da is er vielleicht schon heraußen. Ich sag' Ihnen ja, Fräulein Therese, sie werden ihm diesmal nichts beweisen können. Also, ich dank' vielmals in seinem Namen. Und – wir sind ja wieder gut, nicht wahr? Hätten S' nicht vielleicht ein paar Zigaretten für ihn?«
Ich hab' keine, wollte sie sagen, aber da fiel ihr ein, daß noch eine angebrochene Schachtel da war von Wohlscheins Zeiten her. Sie verschwand im Nebenraum für ein paar Sekunden und brachte Agnes eine Handvoll Zigaretten mit.
»Das wird den Franz besonders freuen«, sagte Agnes und schob sie in den Muff. »Und eine darf ich selber rauchen, was?« –
»Grüßen Sie ihn von mir, Agnes«, sagte sie milde.
Im Stiegenhaus war es schon dunkel, Therese begleitete Agnes hinab; diese, ehe der Hausbesorger aufzuschließen kam, stellte den Kragen ihrer Astrachanjacke hoch, und Therese fühlte, daß es aus Rücksicht für sie geschah.
Lange noch an diesem Abend saß sie wach. Dies hatte sie nun auch erlebt. War es am Ende etwas so Merkwürdiges? Sie hatte nun einmal einen Sohn, der ein Nichtsnutz war, sich mit Strolchen und Dirnen herumtrieb, öfters von der Polizei gesucht, manchmal auch gefunden wurde und der nun mit einem unsauberen Leiden im Inquisitenspital lag. Sie hätte sich wohl endlich darein finden können – und doch, er war ihr Sohn. Immer wieder, sie mochte sich dagegen wehren, wie sie wollte, – in ihrem eigenen Herzen schwang Mitleid, schwang Mitschuld mit, wenn er Übles litt und Übles tat. Mitschuld, ja, das war es. Seltsam freilich, daß sie in solchen Augenblicken immer nur ihrer Schuld dachte, als wäre nur sie, die ihn geboren, mitverantwortlich für alles, was er tat, und als hätte der Mann, der ihn gezeugt und sich dann ins Dunkel seines Daseins davongeschlichen, überhaupt nichts mit ihm zu tun. Nun ja, für Kasimir Tobisch war die Umarmung, in der das Kind zum irdischen Sein erweckt worden war, unter vielen eine – nicht beglückender und nicht folgenschwerer als jene andern. Er wußte ja nicht, daß der Mensch, den er in die Welt gesetzt, ein Lump war, wußte ja überhaupt nicht, daß er ein Kind hatte. Und hätte er es zufällig erfahren, was wäre ihm daran gelegen – was hätte er davon verstanden? Was hatte der verlorene Junge, der nun im Inquisitenspital lag, mit ihm, dem alternden Mann, zu tun, der nach dunklen, törichten, schwindelhaften zwanzig Jahren draußen in einem Tingeltangel die Baßgeige spielte und dem Klavierspieler das Bier wegtrank? Wie sollte er Zusammenhang und Schicksal spüren, da es doch sogar ihr Mühe verursachte, sich als Wirklichkeit vorzustellen, daß aus einem flüchtigen Moment der Lust ein Mensch hervorgegangen war, der ihr Sohn war. Jene Gemeinsamkeit eines längst vergangenen Augenblicks und diese Gemeinsamkeit von heute – wie war es möglich, sie überhaupt mit dem gleichen Wort zu benennen?
Am ersten Weihnachtsfeiertage fuhr sie auf den Friedhof. Es war ein trügerisches Frühlingswetter. Ein lauer Wind wehte über die Gräber, und die Erde war durchweicht von geschmolzenem Schnee. Sie hatte Astern mitgebracht, weiße für Thilda, violette für sich selbst. Sie fand das Grab Wohlscheins nicht so leicht wieder, als sie geglaubt hatte. Noch war der Grabstein nicht gesetzt, und nur eine Nummer verriet ihr, wo der Vater Thildas begraben lag. Thildas Vater, – daran dachte sie früher, als daß es ihr Geliebter war, der hier den ewigen Schlummer schlief. Nun wären
Und mit einemmal – doch ihr schien, als wäre sie sich auch zu seinen Lebzeiten solcher Einsicht oft bewußt geworden – fragte sie sich, ob ihr Geliebter diese immer sich wiederholende, hinterhältige Untreue nicht im Innersten geahnt und in einem Augenblick, da ihm seine traurige Rolle beschämend zu Bewußtsein gekommen, an dieser Erkenntnis zerbrochen und, wie man es eben ausdrückte, an Herzschlag gestorben war? Oh, es gab solche Zusammenhänge, das fühlte sie. Geheimnisvolle, tief verborgene Schuld gab es, die zuweilen nur flackernd in der Seele aufleuchtet und gleich wieder verlischt – und ihr war, als wenn die Mitschuld an Wohlscheins Ende nicht die einzige wäre, die wie eine unsichere, bleiche Flamme auf dem tiefsten Grund ihrer Seele schwelte. Das Wissen von einer schwereren, dunkleren Schuld schlummerte in ihr; und nach langer, langer Zeit dachte sie wieder einmal einer fernen Nacht, da sie ihren Sohn geboren und umgebracht hatte. Dieser Tote aber gespensterte immer noch in der Welt herum. Nun lag er in einem Bett des Inquisitenspitals und wartete, daß seine Mutter, seine Mörderin käme, ihre Schuld zu bekennen.
Die violetten und die weißen Astern sanken ihr aus der Hand, und mit weit aufgerissenen Augen, wie eine Wahnsinnige, starrte sie ins Leere.
Und doch war es dieselbe, die am Abend dieses gleichen Tages im Familienkreise des Warenhausbesitzers an einem wohlgedeckten Tische saß und mit Mann und Frau sowie einem gleichfalls zu Gast geladenen kleinbürgerlichen Ehepaar über mancherlei Dinge des Alltags, über das Schneewetter, über Marktpreise, über den Unterricht an Bürger- und Volksschulen sprach und ihrer Toten kaum gedachte.
In den nächsten Tagen erwog sie, ob sie an Kasimir Tobisch schreiben sollte. Er hieß vielleicht nicht einmal so. Keineswegs war es sicher, ob er sich so oder anders nannte. Ferner war es möglich, daß er von dem Brief überhaupt keine Notiz nehmen würde, um so weniger vielleicht, je mehr er vermutete, wer ihn abgeschickt. So schien es ihr am Ende das klügste, ihn nach der Vorstellung abzupassen. Sie konnte ja auch tun, als begegne sie ihm zufällig.
Und eines Abends um elf Uhr strahlte ihr das erleuchtete Schild des »Universum« entgegen. Unter der Einfahrt stand ein riesiger Portier in einer abgetragenen grünen Livree mit goldenen Knöpfen, einen langen Stock mit silberner Tresse in der Faust. Die Vorstellung war noch nicht aus. Therese suchte nach der Türe, durch die Kasimir Tobisch das Lokal verlassen müßte. Sie war leicht gefunden: um die Ecke, die Straße weiter, um die nächste Ecke, in eine andere kaum beleuchtete Straße, da stand über einer halb verglasten Tür zu lesen: »Eingang für Mitwirkende«. Eben kam eine Frauensperson heraus, ein mageres, ordinär aussehendes Geschöpf in einem armseligen, viel zu dünnen Regenmantel, und verschwand um die Ecke. Nun, ihr eigener Mantel war dem Schneewetter auch wenig angepaßt. Sie trug den eleganten Frühjahrsmantel, den ihr Thilda geschenkt, darunter freilich eine dicke Wolljacke. Oh, sie war immerhin besser ausgerüstet als manche andere Frauen in ihren Verhältnissen. Nur die Füße wurden ihr kühl und feucht; sie hätte doch lieber die festen Schuhe nehmen sollen, die sie zuletzt auf dem Lande in Wohlscheins Gesellschaft getragen. Trotz steten Hin- und Hergehens fror sie geradezu. Es wäre vielleicht klüger gewesen, sich einen billigen Platz zu kaufen und im Zuschauerraum das Ende der Vorstellung abzuwarten. Und weiter lief sie, hin und her, in den verschneiten Straßen rings um das Gebäude, so daß sie bald den Eingang, bald die Bühnentür im Auge hatte. Es kam ein Moment, in dem ihr dieses Warten unvernünftig, ja, unsinnig vorkam. Was wollte sie eigentlich, wen erwartete sie denn? Einen alten Musikanten, der da drin Cello spielte, oder einen jungen Mann mit Schlapphut, dessen Schnurrbart nach Reseda duftete? Der ging sie doch eigentlich gar nichts an, und doch war ihr immer, als müßte aus der Glastür dort so ein junger Mensch mit einem Havelock treten, den weichen Hut in der Hand. Und sie
»Ich war zufällig in der Vorstellung und hab' dich gesehen.« Sie hielt inne.
»Und mich wiedererkannt?« – »Selbstverständlich. Du hast dich ja kaum verändert.« – »Du eigentlich auch nicht besonders.« Er faßte sie beim Kinn und starrte ihr ins Gesicht mit glasigen Augen. Sein Atem roch nach saurem Bier. »Also, das ist wirklich die Therese. Nein, daß wir zwei uns wieder einmal begegnen. Wie ist es dir denn immer ergangen, Therese?«
Sie fühlte immer noch das Lächeln auf ihren Lippen; sie konnte es gar nicht wegbringen, obwohl es kaum etwas zu bedeuten hatte. »Das ist nicht so einfach zu erzählen, wie es mir ergangen ist.«
»Freilich, freilich«, bestätigte er. »Es ist ja schon eine halbe Ewigkeit, daß wir uns nicht gesehen haben.«
Sie nickte. »Zwanzig Jahre bald.«
»Ja, da kann viel passieren, in zwanzig Jahren. Du bist jedenfalls verheiratet, – hast Kinder?«
»Eins.«
»So, so, ich hab' vier.«
»Vier?«
»Ja, zwei Buben und zwei Mädeln. Aber wollen wir nicht weitergehen? Es wird einem im Stehen so kalt.«
Sie nickte. Plötzlich fühlte sie wieder, daß sie in den Füßen fror.
»Wo wartet denn deine Begleitung?« fragte er dann, plötzlich wieder innehaltend. – Sie sah ihn verständnislos an. – »Du bist doch nicht allein in dem Lokal dadrin gewesen? Mit dem Herrn Gemahl wahrscheinlich?«
»Nein. Mein Herr Gemahl ist leider tot. Schon lang. Ich war mit Bekannten, sie haben aber schon früher fortgehen müssen.«
»Das sind nicht sehr höfliche Bekannte. Also kann ich dich vielleicht zu der nächsten Tramwayhaltestelle begleiten?«
Sie gingen die Straße hinab, Therese Fabiani und Kasimir Tobisch, wie sie vor zwanzig Jahren manche Straße hinauf und hinab gegangen waren, und hatten einander nicht sehr viel zu erzählen. »Das ist aber wirklich eine Überraschung«, begann Kasimir von neuem. »Also verheiratet, vielmehr verwitwet bist du?« Und sie sah, wie er von der Seite ihren Frühjahrsmantel einigermaßen prüfend betrachtete. Und sein Blick trübte sich ein wenig, als er
»Aber geh.«
»Damals warst du doch Maler?«
»Maler und Musikus. Ich bin auch noch immer Maler, das heißt, jetzt mehr Anstreicher, um die Wahrheit zu sagen. Man braucht ja einen Nebenverdienst.«
»Das kann ich mir denken – mit vier Kindern muß es nicht leicht sein.«
»Zwei davon sind schon erwachsen. Der Älteste ist Gehilfe bei einem Zahntechniker.« – »Wie alt ist er denn?« – »Zweiundzwanzig wird er den Monat.« – »Wie?«
Nun standen sie an der Tramwayhaltestelle.
»Zweiundzwanzig –? Da warst du ja schon verheiratet, wie wir uns kennengelernt haben.« Sie lachte hell auf.
»O je«, meinte er und lachte mit. »Mir scheint gar, jetzt hab' ich mich verplauscht.«
»Macht nichts«, sagte sie. Und tatsächlich hatte seine Mitteilung sie kaum bewegt. Sie dachte einfach: Also damals schon hat er eine Frau gehabt und ein Kind. Darum wohl die Flucht und der falsche Name. Denn das war ihr nun ganz klar, Kasimir Tobisch hatte er nie wirklich geheißen. Wie hieß er denn nur, dieser Mann? Wer war er denn eigentlich, dieser Mann, neben dem sie da einherging und von dem sie einen Sohn hatte, der im Inquisitenspital lag und mit dem sie ihn hatte bekanntmachen wollen. Sie hätte ihn ja jetzt um seinen wahren Namen fragen können, und er hätte ihr vielleicht sogar die Wahrheit geantwortet, aber es war ihr über alle Maßen gleichgültig, wie er hieß, ob er Maler war oder Cellospieler oder Anstreicher, ob er vier Kinder hatte oder zehn. Ein dummer, armer Teufel war er jedenfalls und wußte es nicht ein mal. Da war sie gewissermaßen noch besser dran.
»Da kommt grad eine Tram«, sagte er und atmete sichtlich auf.
»Ja, da kommt eine«, wiederholte sie heiter. Aber nun tat es ihr mit einem Male leid, daß dieses Wiedersehen vorüber war und daß Kasimir Tobisch, wie er auch hieße, für sie wieder verschwinden sollte unter andern Namenlosen – für immer. Die Tramway hielt, aber sie stieg nicht ein, obwohl sein Blick sie freundlich dazu einlud. Und sie sprach: »Ich hätte dich eigentlich gern ein bißchen länger gesprochen. Willst du mich nicht einmal besuchen?«
Wieder rollte eine Tramway heran. Therese sah Kasimir Tobisch voll ins Gesicht. Jetzt wäre es wohl an ihm gewesen, weiter zu fragen, jetzt hätte er fragen dürfen, fragen müssen; und in seinem Auge schimmerte sogar etwas wie eine Frage, vielleicht sogar wie eine Ahnung. Ja, gewiß war es eine Ahnung, die in seinem Auge schimmerte, und gerade darum fragte er lieber nicht.
Die Tramway hielt, und Therese stieg ein. Von der Plattform aus sagte sie ihm noch rasch: »Du kannst mir auch telephonieren.« – »So, ein Telephon hast du gar? Dir geht's aber gut. Ich muß immer zum Milchmeier gehen, wenn ich telephonieren will. Also, auf Wiedersehen.«
Die Tramway rollte davon. Kasimir Tobisch blieb eine Weile stehen, winkte Theresen nach. Ihr Lächeln schwand plötzlich. Grußlos, ernst und fern ließ sie von der rückwärtigen Plattform aus ihren Blick auf ihm ruhen, sah noch, wie er sich wandte und den Weg zurück nahm. Sanft und dicht fiel der Schnee, die Straßen waren fast menschenleer. Und der Mann, der so lange Kasimir Tobisch geheißen, der Vater ihres Kindes, entschwand ihr, ein Namenloser unter anderen Namenlosen, und entschwand für immer. –
Der kleine Betrag, den Therese nach dem Besuch der Agnes Leutner an Franz geschickt hatte, kam an sie zurück. Der Adressat war aus dem Inquisitenspital entlassen worden und für die
Doch knapp vor dem Fälligkeitstermin erhielt sie durch den Notar die Verständigung, daß aus der mütterlichen Erbschaft ein kleiner Betrag, aus dem Erlös des Mobiliars gewonnen, für sie bereit liege. Bis zum Herbst durfte sie sich nun leidlich gesichert fühlen. Das hob ihre Stimmung so sehr, daß sie mit neuer Kraft ihre Bemühungen aufzunehmen vermochte, und so fanden sich im März zwei neue, wenn auch recht schlecht bezahlte Lektionen in der Vorstadt für sie.
Und wieder einmal kam eine Nachricht von Franz. Ein ältliches Frauenzimmer brachte den Brief: er habe eine Stelle in Aussicht, die Mutter solle ihm ein letztes Mal beistehen. Er nannte eine bestimmte Summe: hundertfünfzig Gulden. Die Forderung erschreckte sie. Er mußte offenbar wissen, daß sie etwas geerbt hatte. Wortlos sandte sie ihm den fünften Teil und beeilte sich tags darauf, was ihr noch blieb, etwa fünfhundert Gulden, in die Sparkasse zu tragen. Sie atmete auf, nachdem das geschehen war.
Der Frühling war da. Und mit den ersten schmeichlerisch lauen Tagen eine wohlbekannte Mattigkeit, zugleich eine Schwermut von tieferer Art, als sie sie jemals gekannt hatte. Alles, was ihr sonst eine gewisse Erleichterung zu bringen pflegte, machte sie diesmal nur noch trauriger, kleine Spaziergänge, auch ein Theaterbesuch, den sie sich einmal vergönnte. Am traurigsten aber machte sie ein Brief von Thilda, der als verspätete Antwort einlangte auf ihre eigene Mitteilung, daß sie für Thilda des Vaters Grab mit Blumen geschmückt, und der die Andeutung enthielt,
Eines späten Abends im Mai klingelte es wieder einmal an ihrer Tür. Sie schrak zusammen. Gerade heute, zur Bezahlung einer morgen fälligen Rechnung, hatte sie einen größeren Geldbetrag aus der Sparkasse abgehoben und zu Hause in Aufbewahrung. Und gerade darum zweifelte sie nicht, daß es Franz war, der draußen vor der Türe stand. Sie schwor sich zu, daß er keinen Kreuzer von ihr bekommen sollte. Im übrigen hatte sie das Geld so sorgfältig verborgen, daß sie überzeugt war, er könnte es nicht finden. Das Fenster stand offen, schlimmstenfalls würde sie rufen. Auf den Zehenspitzen schlich sie hinaus, zögerte, wagte nicht einmal, durchs Guckloch zu blicken – da schlug es heftig an die Tür, sie fürchtete, die Nachbarn könnten es hören, und öffnete.
Franz, dem ersten Anschein nach besser gekleidet als sonst, sah kränker und bleicher aus denn je. »Guten Abend, Mutter«, sagte er, wollte weiter, Therese aber verstellte ihm den Eingang. »Na, was ist denn?« fragte er mit bösen Augen.
»Was willst du?« fragte sie hart. Er schloß die Türe hinter sich. – »Kein Geld«, erwiderte er, höhnisch auflachend. »Aber wenn du mich heut nacht da möchtest schlafen lassen, Mutter.« – Sie schüttelte den Kopf. – »Für eine Nacht, Mutter. Morgen bist du mich für immer los.« – »Das kenn' ich schon«, sagte sie. – »Ah, ist vielleicht schon wer da? Liegt vielleicht schon einer auf dem Diwan?«
»Die eine Nacht, Mutter.« – »Du hast doch irgendeine Schlafstelle, was willst du bei mir?« – »Für heute nacht bin ich ausquartiert, das kommt halt vor, und für ein Hotel hab' ich kein Geld.« – »Soviel, als du für ein Hotel brauchst, kann ich dir geben.« – Seine Augen blitzten auf. »Na, her damit, her damit!«
Sie griff in ihre Geldbörse, reichte ihm ein paar Gulden. »Das soll alles sein?« – »Damit kannst du drei Tage im Hotel wohnen.« – »Also, meinetwegen, ich geh'.« Doch er blieb stehen. Sie sah ihn fragend an. Er fuhr fort mit höhnischem Lachen: »Ja, ich geh', wenn du mir mein Erbteil auszahlst.« – »Was für ein Erbteil? Bist du verrückt?« – »O nein. Was mir zukommt von der Großmutter, will ich haben.« – »Was kommt dir zu –?«
Er trat ganz nah an sie heran. »Also, pass' einmal auf, Mutter. Du hast's ja g'hört, du siehst mich heut zum letztenmal. Ich hab' einen Posten, nicht da in der Stadt, draußen wo. Und ich komm' überhaupt nie wieder. Wie soll ich denn zu meinem Erbteil kommen, wenn du's mir jetzt nicht gibst?« – »Was redest du denn? Was für einen Anspruch hast du auf ein Erbteil, noch dazu, wo ich selbst nichts geerbt hab'.« – »Ja, glaubst du, Mütter, ich bin aufs Hirn gefallen? Glaubst du, ich weiß nicht, daß du ein Geld hast von Herrn Wohlschein und von deiner Frau Mutter? Und ich soll mir die paar Gulden zusammenbetteln, die ich dringend brauch'. So benimmt sich eine Mutter zu ihrem Sohn?« – »Ich hab' nichts.« – »So, das werden wir gleich sehen, ob du nichts hast.«
Er ging auf den Schrank zu.
»Was unterstehst du dich?« rief sie und faßte ihn bei dem einen Arm, mit dem er sich an der Schranktür zu schaffen machte.
»Den Schlüssel her!« Sie ließ von ihm ab, machte einen Schritt zum Fenster hin, beugte sich hinab, als wollte sie hinunterrufen. Er zu ihr hin, stieß sie vom Fenster fort, schloß es ab. Sie eilte auf die Wohnungstüre zu. Er war sofort neben ihr, drehte den Schlüssel um und steckte ihn ein. Dann faßte er ihre beiden Hände. »Gib's gutwillig her, Mutter.« – »Ich hab' nichts«, flüsterte sie durch die krampfhaft geschlossenen Zähne. – »Ich weiß, daß du was hast. Ich weiß, daß du's da hast. Gib was her, Mutter.« – Sie war erbittert, sie hatte keine Angst, sie haßte ihn. »Und wenn ich tausend Gulden hätte, nicht einen Kreuzer so einem Menschen.« –
Wieder die Klingel, dreimal, fünfmal, immer rascher hintereinander. Was sollte man tun? Zum Fenster hinaus? Drei Stock tief? Wieder ein Blick auf die Mutter. Nein, es war nichts geschehen. Sie blickte mit offenen Augen, bewegte die Arme, ja, ihre Lippen zuckten. Die Klingel schrillte ununterbrochen weiter. Es blieb nichts übrig, als zu öffnen. Man konnte dann immer noch an den Leuten vorbei, hinunter über die Treppe und auf die Straße. Wenn sie nur nicht da auf dem Boden läge wie tot. Er beugte sich herab zu ihr, versuchte sie aufzurichten. Aber es war, als wenn sie sich wehrte. Sie schüttelte sogar den Kopf. Also, tot war sie nicht. Nein. Ohnmächtig. Oder stellte sie sich nur so, um ihn zu verderben?
Die Klingel schrillte weiter. Klopfen zuerst, dann Faustschläge an die Tür. »Aufmachen! aufmachen!« brüllte es draußen. Franz stürzte in den Vorraum, die Wohnungstür zitterte unter den klopfenden Fäusten draußen. Es blieb nun einmal nichts übrig, er mußte öffnen. War es möglich! Nur zwei Frauen standen da und sahen ihn entgeistert an. Er stieß sie beiseite, lief die Treppen hinab. Da hörte er hinter sich: »Aufhalten! Aufhalten!« Auch eine Männerstimme tönte mit. Sie kam von oben. Und noch ehe er durch das Haustor auf die Straße trat, hatte ihn schon irgendwer von rückwärts bei den Schultern ergriffen. Er konnte sich nicht losmachen. Er schimpfte und schrie. Dann wurde er stumm. Aus war's. Aber die Mutter war ja nicht tot. Ohnmächtig höchstens. Was wollten denn die Leute von ihm? Es war der Mutter doch bestimmt nichts geschehen. Rings um ihn standen Leute. Auch ein Polizist war zur Stelle.
Die beiden Frauen waren indes in die Wohnung hineingestürzt und sahen das Fräulein Therese Fabiani ausgestreckt zu Füßen des Bettes liegen. Gleich hinter ihnen kamen andere, noch eine Frau, noch ein Mann, man legte Therese auf das zerwühlte Bett. Sie blickte um sich, zu reden vermochte sie nicht. Sie erkannte wohl auch kaum die Leute, die allmählich in das Zimmer traten, die Nachbarn, den Polizeikommissär, den Polizeiarzt, verstand wohl auch die Fragen nicht, die man an sie richtete. Man stand daher vorläufig von einer Konfrontation ab, der Tatbestand war ja leicht festgestellt, der Arzt konnte auch konstatieren, daß anscheinend keine lebensgefährliche Verletzung vorlag. Die Wohnung
Dort wurde festgestellt, daß ein Kehlkopfknorpel gebrochen war, was die Vorhersage ungünstiger gestaltete, auch für den Sohn, Aussagen der Hausbewohner ergaben, daß die Lehrerin Therese Fabiani die Schwester des Abgeordneten Faber sei, und so wurde dieser noch im Laufe der Nacht von dem Verbrechen verständigt, das an seiner Schwester begangen worden war. In frühester Morgenstunde erschien er in Begleitung seiner Frau am Bette der Leidenden, die in einer Extrakammer lag. Es hatte sich erhöhte Temperatur eingestellt, was die Ärzte nicht so sehr auf die Verletzung als auf den Nervenschock zurückfuhren zu müssen glaubten. Ihr Bewußtsein war offenbar gestört, sie erkannte die Besucher nicht, die sich bald entfernten.
Gegen Mittag erschien Alfred an ihrem Bett, der die Sache aus der Zeitung erfahren hatte. Um diese Zeit war die Temperatur gesunken, doch waren Delirien eingetreten. Unruhig warf sich Therese hin und her mit bald offenen, bald geschlossenen Augen und flüsterte unverständliche Worte. Auch den neuen Besucher schien sie vorerst nicht zu erkennen. Nachdem der behandelnde Sekundarius sich zu dem Herrn Dozenten Dr. Nüllheim über den Fall fachlich ausgesprochen, ließ er ihn allein bei der Kranken. Alfred setzte sich an ihr Bett, fühlte ihren Puls, er war schwach und erregt. Und nun, als ginge von dieser einstens geliebten Hand eine Wirkung auf die Leidende aus, die andern gleichgültigen Berührungen versagt war, schien die Unruhe der Kranken nachzulassen; und als der Arzt den Blick eine Weile ohne besondere Absicht auf ihre Stirn, ihre Augen gerichtet hielt, geschah noch Merkwürdigeres: diese Augen, die bisher, auch wenn sie geöffnet waren, offenbar niemanden zu erkennen vermocht hatten, schimmerten wie in allmählich erwachendem Bewußtsein. Die verfallenen, gleichsam verdämmernden Züge erhellten, strafften, ja verjüngten sich; und wie Alfred sich näher zu ihr herabbeugte, flüsterte sie: »Dank.« Er wehrte ab, faßte nun ihre beiden Hände und sprach tröstliche, herzliche Worte, wie sie sich auf seine Lippen drängten. Sie schüttelte den Kopf, immer heftiger,
Nachdem sie gesprochen, sank sie schwer zurück. Alfred fühlte, wie sie ihm nun wieder entrückt war und immer weiter entrückte, und endlich erkannte sie ihn nicht mehr.
Im Laufe der nächsten Stunden trat eine Verschlimmerung ein, mit der die behandelnden Ärzte immerhin gerechnet hatten, –
Alfred sprach mit dem Ex-officio-Verteidiger, der für den Muttermörder Franz bestellt war, und in der Verhandlung versuchte der beflissene junge Anwalt, jenes Geständnis der Mutter, das Alfred ihm zur Verfügung gestellt hatte, als mildernden Umstand geltend zu machen. Er hatte beim Gerichtshof nicht viel Glück. Der Staatsanwalt bemerkte mit nachsichtigem Spott, daß der Angeklagte jene erste Stunde seines Daseins wohl kaum im Gedächtnis bewahrt haben dürfte, und sprach sich im allgemeinen gegen gewisse, sozusagen mystische Tendenzen aus, die man nun auch schon zur Verdunkelung völlig klarer Tatbestände und damit, wenn auch manchmal in zweifellos guter Absicht, zur Beugung des Rechtes auszunützen versuche. Der Antrag auf Ladung eines Sachverständigen wurde abgelehnt, schon darum, weil man ja wirklich nicht entscheiden konnte, ob in diesem Fall ein Arzt, ein Priester oder ein Philosoph zu so verantwortlichem Amt berufen gewesen wäre. Als mildernden Umstand ließ man einzig und allein des Angeklagten uneheliche Geburt und die damit verbundenen Mängel seiner Erziehung gelten. So lautete das Urteil auf zwölf Jahre schweren Kerker, verstärkt durch Dunkelhaft und Fasten an jedem Jahrestage der Tat.
Therese Fabiani war zu dem Zeitpunkt, als die Verhandlung stattfand, längst begraben. Doch neben einem bescheidenen, dürren, immergrünen Kranz mit der Aufschrift: »Meiner unglücklichen Schwester« lag ein blühender Frühlingsstrauß, noch unverwelkt, auf dem Grab; die schönen Blumen waren mit erheblicher Verspätung aus Holland angelangt.